Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
07/08 | 2021                                                    Juli/August | 3,90 €

        erziehungskunst                                                                  1

                                        spezial         Waldorfpädagogik heute

                            50 Jahre Freunde
                            der Erziehungskunst
                                            2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
2 INHALT & IMPRESSUM
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                                                                              Freundschaft von Nana Göbel 				                                             4

                                                                              Impressionen von Vivian Piña, Ani Barsegyan,
                                                                              Irina Ogorodova, Victor Mwai Wahome,
                                                                              Clara Emilia Polifke und Jonathan Bartleweski		                              7

                                                                              Pädagogik von Bernd Ruf				                                                  14

                                                                              Patenschaft von Kathrin Albrecht 			                                         17

                                                                              Gründer von Andreas Büttner, Justus Wittich
                                                                              und Nana Göbel 					                                                         20

                                                                              erziehungsKUNST spezial
                                                                              Waldorfpädagogik heute

                                                                              85. Jahrgang, Heft 07/08 | Juli/August 2021, Auflage 66.000

                                                                              Herausgeber: Bund der Freien Waldorfschulen e.V., Wagenburgstr. 6 | 70184 Stuttgart, Tel.: 07 11/2 10 42-0
                                                                              Redaktion: Matthias Niedermann, Mathias Maurer, Lorenzo Ravagli

                                                                              Anschrift der Redaktion: Wagenburgstraße 6 | D-70184 Stuttgart, Tel.: 07 11/2 10 42-50 | Fax: 07 11/2 10 42-54
                                                                              E-Mail: erziehungskunst@waldorfschule.de | www.erziehungskunst.de
                                                                              Manuskripte und Zusendungen nur an die Redaktion. Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge tragen
                                                                              die Verfasser.

                                                                              Herstellung & Gestaltung: Verlag Freies Geistesleben, Maria A. Kafitz & Franziska Viviane Zobel

                                                                              Verlag Freies Geistesleben, Postfach 13 11 22 | 70069 Stuttgart, Landhausstraße 82 | 70190 Stuttgart
                                                                              Tel.: 07 11/2 85 32-28 | Fax: 07 11/2 85 32-11 | abo@geistesleben.com | www. geistesleben.com
                           Titelfoto: Aus dem Beitrag von Vivian Piña, S. 7

                                                                              erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
GRUSSWORT         3

             Liebe Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners,
             Schulen und Kindergärten für        von Schulprogrammen treten,         notfallpädagogischen Einsätzen
             alle sind kulturelle Errungen-      die sich politischen, ökonomi-      in vielen Katastrophengebieten.
             schaften der Neuzeit. Erst 1948     schen oder ideologischen Zie-       Rudolf Steiner sehnte sich nach
             und 29 Jahre nach Gründung der      len unterzuordnen hatten. Die       einem »Weltschulverein«. Die
             ersten Waldorfschule wurde mit      Freunde der Erziehungskunst         »Freunde« tun das: praktisch,
             der Allgemeinen Erklärung der       dienen beiden Zielen: Weltweit,     solidarisch, uneigennützig und
             Menschenrechte das Recht eines      unermüdlich und lebensprak-         immer mit dem Ziel, Abhängig-
             jeden Kindes auf Schulbildung       tisch setzen sie sich dafür ein,    keiten zu verringern, statt sie zu
             zu einem weltweiten Grund-          dass sich Kindergärten, Schulen,    erzeugen. Viele Waldorfschulen
             recht erklärt. Die Waldorfschule    heilpädagogische Einrichtungen      und Einzelspender aus unserem
             war eine Antwort auf die Gräuel     und Lehrerbildungstätten im         reichen Land haben es durch ihre
             des Ersten Weltkrieges, die Men-    Geiste dieser doppelten Freiheit    Zuwendungen ermöglicht, dass
             schenrechtscharta auf die men-      der persönlichen Entwicklung        diese Arbeit getan werden konn-
             schenverachtende Vernichtungs-      und der institutionellen Freiheit   te. Zurück bringen die »Freun-
             maschinerie der Nazis. Beiden       entwickeln und oft genug auch       de« uns die konkrete Erfahrung,
             lag ein Menschenbild zugrunde,      überleben können.                   dass dieser pädagogische Impuls
             das die Würde jedes einzelnen       Das unbedingte Interesse an den     »lebendig sich entwickelt«, wo
             Menschen als das konstituieren-     Menschen, die jeweils vor Ort die   immer Menschen eines guten
             de Grundelement einer freiheit-     Verantwortung übernehmen, hat       Willens sind!
             lichen und friedlichen Welt an-     Nana Göbel über die Jahrzehnte
             erkennt, unabhängig von seiner      zur besten Kennerin der welt-       Mit tiefer Dankbarkeit, dass die
             sozio-ökonomischen, kulturellen,    weiten Schulbewegung und der        Kinder dieser Welt euch als ihre
             religiösen oder gar ethnischen      Menschen, die sie tragen, werden    Fürsprecher und »Fürhandler«
             Herkunft.                           lassen, immer unterstützt von       haben. ◆
             Während die Charta 1948 ein         ihrem Berliner Team.
             globales Grundrecht konstitu-       In Karlsruhe liegt das große Zen-
             ierte, war die Waldorfschulgrün-    trum der Freiwilligendienste,
             dung 1919 das gemeinsame Kind       durch deren Vermittlung zigtau-
             einer politischen Bewegung, die     sende junger Menschen in wal-
             sich vehement für eine freiheit-    dorfpädagogischen Einrichtun-
             lich-demokratisch-solidarische      gen auf allen Kontinenten tätig
             Zivilgesellschaft stark machte      geworden sind. Auch hier wurde
             und der anthropologisch-anthro-     der weltumspannende Impuls
             posophischen Forschungen Ru-        der Freunde hautnah und prak-
             dolf Steiners: Die Entwicklungs-    tisch. Bernd Rufs Erfahrungen in
             bedingungen und die präzise         der pädagogischen Traumaarbeit
             Wahrnehmung der Kinder und          führten ihn und sein Team als       Henning Kullak-Ublick für den Bund
             Jugendlichen sollte an die Stelle   jüngstes Kind der »Freunde« zu      der Freien Waldorfschulen

                                                                          2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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                                                                                                  der Schüler und Ehemaligen, Frühjahr 1975,
                                                                                                  Academie voor Eurythmie, Den Haag

                                                                                                                                                      2

        1 Gründung »Vereinigung der Waldorfschüler und Ehemaligen e.V.« Anfang Januar
        1974 bei Familie Maurer in Oyten als zukünftiger Träger von forum international und
        Tagungsaktivitäten – Die Gründung wurde möglich, da ab 1.1.1974 das Alter der Voll-
        jährigkeit auf 18 Jahre gesenkt wurde.

                                                           4

    3

        3 »forum international« Nr. 4             4 Eindrücke von der Eröffnung der Tagung in Den Haag, Herbst 1975, De Vrije School, Den Haag.
        Titel mit Fotos von verschiedenen         Etwa 350 Teilnehmer aus 12 Ländern (damals nur Westeuropa). Verabschiedung der Prinzipien
        Vorbereitungstreffen                      der Schüler- und Ehemaligenbewegung in der Eröffnungszusammenkunft. Die Stadt Den Haag
                                                  ist durch den Wethouder (Bürgermeister) für Bildung vertreten.

                                                      6 Eindrücke von der 4. Inter-                                   6
        5                                                nationalen Tagung, Berlin
                                                           14.-21.10.1978 – Aus der
                                                          Tagungsdokumentation.

        5 Hans Peter van Manen spricht für die
        niederländische Schulbewegung

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
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            Freunde der Erziehungskunst –
            Seit 50 Jahren für die Zukunft
            Von Nana Göbel

            In den 1970er Jahren erwachte         Waldorf­schulen mitwirken, richte-    Waldorfschulen nicht gerade sehr
            bei den bundesrepublikanischen        ten Schülerräte ein und vernetzten    erfolgreich. Wir wollten einen gro-
            Waldorfschülern – es gab 1975 ge-     uns (ohne digitale Medien!) zu-       ßen, weiten Horizont – auf allen
            rade einmal 40 Waldorfschulen in      nächst mit den Waldorfschülern in     Ebenen.
            Deutschland und davon nur 27 mit      Deutschland, dann aber bald inter-    Einige von uns wurden in der Anti-
            einer Oberstufe – das Bedürfnis,      national. Wir richteten die Funk-     AKW-Bewegung aktiv, einige bei
            an den großen Herausforderungen       tion eines Schülervertreters in der   den Anfängen der Grünen und
            der Zeit mitzuwirken. Die Klima-      Lehrerkonferenz ein, organisierten    der Umweltbewegung, und einige
            krise zeigte ihre ersten Vorboten,    zunächst baden-württembergische,      innerhalb der Waldorfbewegung.
            viel beunruhigender erschienen da-    dann deutsche, dann internationa-     Ich selbst war zutiefst dankbar für
            mals aber die Bewaffnung mit ato-     le Schülertagungen, planten eige-     den engagierten, weltverständnis-
            maren Sprengkörpern, die Ausein-      ne Stunden zu den uns wichtigen       eröffnenden Oberstufen-Untericht,
            andersetzungen um die Herrschaft      Themen. Und uns sehr wichtige         den wir genießen durften und in
            über das Öl, die Errichtung von       Themen waren neben den oben           dem jede Frage erlaubt war. Und
            Atomkraftwerken und vor allem die     schon genannten Fragen die Frei-      wir sprachen viel. Diese Art von
            Frage nach einem Gesellschafts-       heit im Bildungswesen, die Selbst-    Unterricht, bei dem die Prüfun-
            modell, mit dem die verkrustete       bestimmung der am Erziehungs-         gen wie selbstverständlich neben-
            Vergangenheit abgeschüttelt wer-      prozess Beteiligten – natürlich       her erledigt werden und nicht zum
            den konnte. Wir lebten zwar nicht     inklusive der Schüler –, die Bil-     wesentlichen Ziel des Unterrichts
            mehr in den bitterarmen Jahren        dungsgerechtigkeit und internatio-    gehörten, wollte ich für jedes Kind
            nach Kriegsende, auch nicht mehr      nales Bewusstsein.                    haben. Dabei begeisterten wir uns
            in den 1960er Jahren mit ihren        Noch in den 1970er Jahren war         für die Idee eines Weltschulvereins,
            Straßenkämpfen, aber in Struktu-      es durchaus nicht normal, dass        wie ihn Rudolf Steiner Anfang der
            ren, die trotz oder gerade wegen      jeder fließend Englisch spricht,      1920er Jahre angeregt hatte. Jedes
            des wirtschaftlichen Aufschwungs      dass man eifrigst durch die Ge-       Kind sollte in Freiheit lernen kön-
            unzureichend schienen. Nicht je-      gend reist und überall auf der Welt   nen, Schulen in freier Trägerschaft
            der sympathisierte gleich mit der     Freunde hat. All das eroberten wir    sollten genauso möglich sein, wie
            RAF, aber alle wollten mehr Mitbe-    uns mit der Zeit und emanzipier-      eigene Lehrpläne, Vielfalt sollte
            stimmung und vor allem das Recht      ten uns aus den kleinbürgerlichen     das Bildungswesen beherrschen
            zu gesellschaftlicher Mitgestaltung   Verhältnissen der Städte, in denen    und dafür sollte politische Unter-
            und Mitwirkung.                       wir aufwuchsen. So lernte ich lei-    stützung organisiert werden. Mit
            Als Oberstufenschüler wollten wir     der erst durch die Vorbereitung der   solchen Ideen gewappnet, besuch-
            mitbestimmen, was wir lernen,         Tagungen Englisch; damals war         ten wir den Nestor der damaligen
            wollten an der Verwaltung der         der Sprachunterricht an einigen       Waldorfbewegung, Ernst Weißert.
                                                                                                                               ▼

                                                                            2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
6 FREUNDSCHAFT
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                                     2001: 30. Jubiläum in Dornach

                          An diesem Gespräch im Juni 1975            Büttner übernahm die Geschäfts-      Asien. Wir wollten im Sinne der
                      ▼

                          in Stuttgart und auf der Mitglie-          führung, 1977/78 sogar mit einem     Ideale des Weltschulvereins welt-
                          derversammlung der Freunde der             vollen Deputat – dank einer Unter-   weit ein freies Bildungswesen auf-
                          Waldorfpädagogik am 29. Novem-             brechung seines Studiums. Wir        bauen, das allen gleichermaßen
                          ber 1975 nahmen Andreas Büttner,           anderen studierten und arbeiteten    offensteht und als ersten Schritt
                          Christa Geraets, Nana Göbel, Jean-         ehrenamtlich mit. Wir begannen       in diese Richtung insbesondere
                          Claude Lin, Andreas Maurer und             sozusagen bei null. 1975 betrugen    wirtschaftlich benachteiligten Kin-
                          Paul Vink teil. Wir fühlten uns von        die jährlichen Spenden-Einnah-       dern und Jugendlichen den Besuch
                          Ernst Weißert verstanden (vermut-          men gerade einmal 5.000 Euro.        einer Waldorfschule ermöglichen.
                          lich spürte er, dass wir uns sowieso       45 Jahre später – im Jahr 2020       Das ist aber nur ein Aspekt. Im
                          nicht abhalten lassen würden) und          – überschritten wir eine bedeu-      Lauf der Jahrzehnte zeigte sich im-
                          er schenkte uns die Hülle eines            tende Grenze, denn wir hatten in     mer deutlicher, dass Bildung und
                          Vereins, den er 1971 gegründet, für        der Zwischenzeit die weltweite       Erziehung auf der Grundlage des
                          den er aber nie Zeit gefunden hat-         Waldorfbewegung mit 100 Millio-      technischen und ökonomischen
                          te. Andreas Büttner und ich wirk-          nen Euro unterstützt. Dazwischen     Menschenbildes des Mainstream
                          ten ab Herbst 1976 aktiv an den            lagen Jahre des Aufbaus, immer       erstarren. Und wie soll aus Erstar-
                          Sitzungen mit, wurden im Herbst            ehrenamtlich, denn wir konnten       rung Neues entstehen?
                          1978 in den Vorstand gewählt und           immer nur einen Geschäftsführer      Entweder durch Gewalt oder durch
                          Andreas Büttner übernahm die Ge-           finanzieren (auf Andreas Büttner     Verwandlung. Wir wollten uns für
                          schäftsführung. Gemeinsam mit              folgte Justus Wittich, dann Chris-   Verwandlung einsetzen und im-
                          Manfred Leist, dem Justitiar des           tian Schulz und Winfried Tauer).     mer mehr Kindern und Jugend-
                          Bundes der Freien Waldorfschu-             Erst nach mehr als zwanzig Jahren    lichen eine spirituell gegründete
                          len und Vorstand der Freunde der           ehrenamtlicher Aufbauarbeit fan-     Erziehung ermöglichen. Weil nur
                          Waldorfpädagogik, entwarfen wir            den wir die Mittel, um mehr Men-     auf diese Weise etwas Neues in die
                          die ersten Flyer, organisierten die        schen zu beschäftigen.               Welt kommen kann. Und in allen
                          ersten ausländischen Schulbesu-            Die Freunde der Erziehungskunst      Bereichen, in denen die Freunde
                          che und suchten nach Menschen,             wuchsen zusammen mit der Welt-       der Erziehungskunst heute tätig
                          die mit ihren Spenden dazu bereit          schulbewegung. Immer wenn in         sind, soll so gearbeitet werden, dass
                          waren, Waldorfschulen im Ausland           einem neuen Land eine Pionier-       etwas Neues in die Welt kommt. ◆
                          zu fördern. Nun, ab Herbst 1976,           schule eröffnet wurde, waren wir
                          begann der Aufbau dessen, was              zugegen und unterstützten. Erst
                                                                                                          --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
                          wir heute bei den Freunden der Er-         waren es vor allem Waldorfschu-      Zur Autorin: Nana Göbel ist Geschäfts-
                          ziehungskunst »Internationale Zu-          len in Lateinamerika, dann in Af-    führender Vorstand der Freunde der
                          sammenarbeit« nennen. Andreas              rika und Osteuropa und zuletzt in    Erziehungskunst seit 1996

                          erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
IMPRESSIONEN   7
                                                                                                                                                                                 ______________________________

             Baum des Lebens und die Krone

             Von Vivian Piña

             In San Miguel de Allende, im Her-      gründet, von dem aus wir eine gute
             zen Mexikos, gibt es eine Schul-       Ernährung, einen verantwortungs-
             gemeinschaft, die wie der Traum        vollen Konsum, den Schutz der
             vieler aussieht – Árbol de Vida,       Umwelt und die Stärkung der Ge-
             eine »Waldorf«-Gemeinschaft. Wie       sundheit sowie der Gemeinschaft
             für alle in der Welt brachte uns das   fördern wollen. Und wir sind noch
             Jahr 2020 die »Krone« und auch         auf viele andere Arten innovativ.
             die notwendige Rüstung, um einer       Respekt, Ehrlichkeit und Solidari-
             unerwarteten und unbekannten           tät halfen uns auf dem Weg und
             Zukunft entgegenzutreten.              gaben uns das Selbstvertrauen,
             Sollen wir die Schule mit nach         uns einzugestehen, dass wir Hil-
             Hause nehmen? Sollen wir digita-       fe brauchten, und dass wir darum
             le Medien als das neue Lehr- und       bitten mussten. Die Freunde der
             Lernmittel annehmen? Was tut uns       Erziehungskunst hörten unseren
             in dieser Situation gut? Wie könn-     Hilferuf, auch den von anderen
             ten wir einem Virus begegnen und       Schulen in Mexiko. Mit Dankbar-
             aus der Konfrontation unbeschadet      keit haben wir die Freundlichkeit
             und gestärkt hervorgehen? Hatten       erhalten; sie hilft uns, die Angst zu
             wir bisher nicht angenommen,           überwinden – nun sind wir alle in
             dass die Waldorfpädagogik Ge-          Sicherheit. ◆
             sundheit statt Krankheit, Vertrau-     --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
             en statt Angst, Partnerschaft statt    Zur Autorin: Vivian Piña ist Geschäfts­
             Segregation fördern sollte? Nun,       führerin von Árbol de Vida
             es war an der Zeit, unsere eigenen
             Überzeugungen zu testen.
             Wir beschlossen, eine verantwor-
             tungsvolle »Präsenz-Alternative«
             anzubieten, die alle waldorpäda-
             gogischen Werkzeuge im Dienst
             der körperlichen, emotionalen und
             spirituellen Gesundheit nutzt und
             eine kollektive Praxis hervorbringt,
             die diese fördert. Wir haben einen
             biodynamischen Bauernhof ge-

                                                                                                                                                 2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
8 IMPRESSIONEN
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                         Schlimmer als im Krieg
                         Von Ani Barsegyan

                         Der Kindergarten in Erewan hat die      Teil unserer Mitarbeiter entlassen.   können nicht zahlen, aber wir kön-
                         Jahre 1992 bis 1995 überlebt. Diese     Weil wir eine Gruppe treuer Eltern    nen ihnen unsere Hilfe auch nicht
                         waren für Armenien sehr schwer,         haben, entschieden wir uns jedoch,    verweigern. Langsam kehrt nun
                         »dunkel und kalt«. Doch die Sack-       in kleinen Gruppen weiterzuarbei-     unser normaler Alltag wieder ein.
                         gasse, in die wir letztes Jahr gerie-   ten. Ein Waldorfkindergarten soll     Die Ausflüge, die wir in den Kin-
                         ten, war eine nie dagewesene Her-       in jeder Situation arbeiten können.   dergartenalltag integriert haben,
                         ausforderung. Trotz des Krieges zu      Das brauchen sowohl die Eltern als    ließen ihn zu einem »wandernden
                         Beginn der 1990er Jahre haben die       auch die Kinder sehr.                 Kindergarten« werden. Die Kinder
                         Eltern ihre Kinder in den Kinder-       In den letzten acht Monaten wur-      befinden sich jetzt mehr an der
                         garten gebracht und versucht, uns       de uns Mitarbeitern zweimal ein       frischen Luft, haben die Möglich-
                         zu helfen. Nun waren wir wegen          staatlicher Zuschuss in Höhe des      keit, sich mehr zu bewegen. So
                         der COVID-19-Pandemie gezwun-           Mindestgehalts AMD 68,000 (110        versuchen wir, sie für das weitere
                         gen, den Kindergarten von Zeit          USD) ausgezahlt. Da wir für unser     Leben besser vorzubereiten. Trotz
                         zu Zeit zu schließen. In diesem         Gebäude Miete bezahlen, haben         der Schwierigkeiten wird der Wal-
                         schweren Jahr 2020 standen uns          uns die Spenden sehr geholfen.        dorfkindergarten Eriwan weiter ar-
                         die Freunde der Erziehungskunst         Obwohl die Vermieter uns ent-         beiten und leben. Dieses Jahr – im
                         bei.                                    gegengekommen waren, mussten          Juni 2021 – wird er 30 Jahre alt. ◆
                         Unser Kindergarten war nie ein          wir auf jeden Fall eine Mindestmie-
                         gewinnorientiertes Unternehmen,         te zahlen. Mit dem Geld konnten
                         und die Gebühren, die wir für Kin-      wir auch die Instandhaltung des
                         der nehmen, haben immer gerade          Gebäudes, die Haushaltskosten
                         die monatlichen Ausgaben ge-            und die Gehälter von 15 Mitarbei-
                         deckt. Aber letztes Jahr begannen       tern bezahlen.
                         Schwierigkeiten, die wohl kaum          Am 27. September 2020 brach der
                         jemand vorhersehen konnte.              Krieg neu aus, doch die Unterstüt-
                         Lange konnten wir wegen der             zung gibt uns die Hoffnung, nicht
                         COVID-Einschränkungen gar nicht         allein auf der Welt zu sein. Viele
                         arbeiten, danach durften wir zwar       Eltern haben wegen der Unsicher-
                         arbeiten, aber keine neuen Kinder       heit ihre Kinder vom Kindergarten
                         aufnehmen. Im Kindergarten durf-        abgemeldet. Ein Teil konnte den
                         ten nicht mehr als zwölf Kinder         Beitrag nicht mehr bezahlen. Bis
                                                                                                       --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
                         sein, wodurch die Einnahmen die         heute haben wir Kinder, die wegen
                                                                                                       Zur Autorin: Ani Barsegyan ist Gruppen-
                         Ausgaben des Kindergartens nicht        des Krieges einen Elternteil ver-     leiterin im Kindergarten »Gelbe Lerche«
                         deckten. Wir mussten auch einen         loren haben. Die Überlebenden         in Jerewan

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IMPRESSIONEN         9
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             Dank aus Russland und Grußwort aus Kenia
             Von Irina Ogorodova und Victor Mwai Wahome

                                                  Erfahrungen und Kenntnisse zu        öffnet und so viele Leben geprägt,
                                                  gewinnen und vor allem, die Kraft    die sonst nicht die Möglichkeit ge-
                                                  zu erhalten, diese in ihre Schulen   habt hätten, Waldorfpädagogik zu
                                                  zu tragen und zu pflegen. Wir sind   erleben, indem sie jedem Kind, das
                                                  dankbar für die Unterstützung des    sie unterrichteten, die günstigs-
                                                  »Periodischen Seminars« in guten     ten Bedingungen boten. Auch ich
                                                  und auch schwierigen Zeiten, für     persönlich habe von dieser Art von
                                                  die unerschütterliche Bereitschaft   Spenden profitiert. Jedes Jahr ver-
                                                  und Offenheit, die Besonderheiten    anstaltet die Ostafrika-Assoziation
                                                  der Verhältnisse in Russland ken-    Konferenzen, die Lehrer aus bis zu
                                                  nen und verstehen zu lernen, und     sechs Ländern zusammenbringen.
             IO I Ich arbeite am »Periodischen    für das tiefe Interesse an unserer   Diese Konferenzen, die ohne die
             Seminar«, einem Ausbildungs-         Arbeit. In diesem Sinne verkörpert   Hilfe der »Freunde« nicht möglich
             programm für Waldorflehrer in        die Verein wahrhaftig seinen Na-     wären, sind entscheidend für die
             Russland, das 1992 seine Arbeit      men »Freunde«.                       berufliche Entwicklung der Lehrer.
             aufgenommen hat. Unser Seminar                                            An der Waldorfschule in Nairobi
             arbeitet mit den Freunden der Er-                                         halfen die »Freunde« beim Bau
             ziehungskunst seit dem ersten Tag    VM I Es ist oft gesagt worden,       einer mobilen Bibliothek, die heu-
             der Seminargründung zusammen.        dass wir unseren Lebensunterhalt     te vielen Familien zur Verfügung
             Auch in den schwierigsten Momen-     durch das verdienen, was wir be-     steht oder bei der Bereitstellung
             ten der Entwicklung des Seminars     kommen. Aber wir schaffen Leben      von Mahlzeiten für Kinder, die
             waren die »Freunde« bereit, Hilfe    durch das, was wir geben. Während    sonst keine gesunde, ausgewogene
             zu leisten und unterstützten unse-   meiner 13-jährigen Tätigkeit als     Ernährung erhalten würden. ◆
             re Bemühungen, Stiftungen anzu-      Vorsitzender der Ostafrika-Asso-
             sprechen. Dadurch konnten wir        ziation der Waldorf/Steinerschulen
             immer wieder Verbindungen zu         habe ich immer wieder erlebt, wie
             ausländischen Dozenten pflegen,      sich durch die Spenden der Freun-
             vor allem aber hat die Unterstüt-    de der Erziehungskunst das Leben
             zung es vielen russischen Lehrern    verändert hat. Der größte Teil der
             ermöglicht, die weiten geographi-    Lehrer in der Region Ostafrika
             schen Entfernungen Russlands         konnte sich durch die Übernahme
             zu überwinden, an den Sitzungen      der Ausbildungsgebühren zu Wal-
             des Seminars teilzunehmen, um        dorflehrern ausbilden lassen. Die-
             die Impulse der Waldorfpädago-       se Lehrer haben die Herzen vieler
             gik aufzunehmen, notwendige          Kinder berührt, ihren Verstand ge-

                                                                           2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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Erziehungskunst spezial - 50 Jahre Freunde der Erziehungskunst
10 IMPRESSIONEN
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                         Wenn Fremdes vertraut wird
                         Von Clara Emilia Polifke

                         Sri Lanka: Anfangs ein fremdes,        ebenso sang und las ich ihnen vor.      und ließ mich an ihrem Leben teil-
                         neues Land. Doch wenn ich nun          Ich sorgte für die körperliche Pfle-    haben. Durch die Menschen, die
                         an die dort verbrachte Zeit zurück­    ge und kümmerte mich darum,             ich kennen lernen durfte und die
                         denke, ist dieses »fremde« und         dass ihre Grundbedürfnisse erfüllt      Erlebnisse, die diese mitbrachten,
                         »neue« Land für mich ein Ort ge-       wurden. Außerdem half ich einem         lernte ich Sri Lanka und die Men-
                         worden, an dem ich mich wohl-          halbseitig gelähmten Jugendlichen       schen vor Ort noch besser kennen.
                         fühlen konnte und ein Gefühl von       bei der Rehabilitation seiner Mus-      Ich habe Menschen getroffen, die
                         »Zuhause-Sein« tief in mir gespürt     keln und wir übten durch Spiele         streng nach ihrem Glauben leben
                         habe. Ich durfte vieles erleben, er-   und Training seine Feinmotorik.         und fest mit singhalesischen Tradi-
                         fahren und lernen.                     Für mich wurden die Mitfreiwilli-       tionen verbunden sind.
                         Meine Tätigkeit in Sri Lanka be-       gen ein wichtiger Teil meines Aus-      Eine Englischschülerin lud mich
                         stand darin, Englischunterricht in     landjahres.                             zu einem Tempelfest sowie zu
                         zwei verschiedenen Kindergärten,       Zusammen mit ihnen konnte ich           einer sogenannten »Big Girl Par-
                         einer Nachmittagsgruppe für Kin-       Ich sein, von meinem Tag erzäh-         ty« ein. Bei diesem Fest wird die
                         der aus der Umgebung und für           len, berichten, wie meine Unter-        erste Periode eines Mädchens ge-
                         zwei 18 Jahre alte Mädchen zu ge-      richtseinheiten für mich waren,         feiert. Durch die gute Beziehung
                         ben. Im Kindergarten sang, spielte     was mich eventuell überforderte,        zu unserer Vermieterin durften
                         und tanzte ich mit den Kindern.        mir Sorge bereitete, mich zum           meine Mitfreiwilligen und ich bei
                         Ebenso brachte ich ihnen das engli-    Lachen brachte oder wie glück-          einer Geistervertreibung in ihrem
                         sche Alphabet bei und zeigte ihnen     lich und dankbar ich für diese Zeit     Haus teilnehmen. Ebenso wurden
                         leichte Wörter, die in unseren Ge-     vor Ort war. Meine Mitfreiwilligen      wir zu einer singhalesischen Hoch-
                         dichten und Liedern auftauchen.        schenkten mir ihre Zeit und hör-        zeit eingeladen. Wir trugen schöne
                         Neben dem Englischunterricht un-       ten mir zu und ebenso öffneten sie      Saris und wurden von einer Visa-
                         terrichtete ich eine 26-jährige Frau   sich auch mir gegenüber.                gistin geschminkt und gestylt wie
                         in Deutsch und unterstützte sie bei    Wenn ich zurück an Sri Lanka den-       Einheimische.
                         der Vorbereitung auf ihre A2-Prü-      ke, sehe ich viele Gesichter vor mir.   Durch den coronabedingten ver-
                         fung im Goethe Institut Colombo.       Menschen, die mir heute noch im-        frühten Abschied hatte ich das Ge-
                         Auch in der Rainbow Foundation         mer ein Lächeln ins Gesicht zau-        fühl, Vieles verpasst zu haben. Ich
                         Baddegama habe ich meine Arbeit        bern.                                   wäre gerne mehr auf Reisen gegan-
                         gefunden.                              Unsere Vermieterin lernte ich über      gen, um das Land nochmals anders
                         In der Einrichtung betreute ich        das Jahr immer besser kennen.           kennenzulernen. Ebenso erlebte
                         Kinder und Jugendliche mit beson-      Ich besuchte sie ab und zu, um          ich, dass wir Freiwilligen erst nach
                         deren Bedürfnissen. Ich bastelte       mit ihr zu reden und zusammen           einem halben Jahr wirklich in un-
                         mit ihnen, wir spielten zusammen       einen Tee zu trinken. Sie erzählte      sere jeweiligen Aufgaben hinein-
                         Gitarre und andere Instrumente,        mir von ihrem verstorbenen Sohn         fanden. Wir entwickelten kurz vor

                         erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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unserer Heimfahrt einen Arbeitsplan und verschiedene Therapiemethoden sowie            »Wenn ich zurück
             Hilfsangebote für unsere zu betreuenden Kindern und Jugendlichen. Erst dadurch
             entstand für mich eine Ordnung und ein System in unserer Arbeit.                       an Sri Lanka
             Durch den Kontrast zwischen »Schauen, was der Tag so bringt« und einem struk-          denke, sehe ich
             turierten Arbeitstag habe ich gemerkt, wie gut es mir getan hat, den Arbeitsplan als
             Orientierung zu entwickeln und ihm zu folgen. Denn davor waren wir oft gefühlt
                                                                                                    viele Gesichter vor
             zu viele Freiwillige in der Einrichtung und ich bekam den Eindruck, nichts wirklich    mir. Menschen,
             Wichtiges zu tun zu haben.
                                                                                                    die mir heute
             Heute würde ich mir schneller bewusst machen, was mich stört und was ich ändern
             will. Dies würde ich frühzeitig mit meinem Team und vor allem mit dem Leiter der       noch immer ein
             Einrichtung besprechen.                                                                Lächeln ins
             Für mich fühlte sich jedoch das Jahr wie ein langes und großes Hoch an. In Sri Lan-
             ka lernte ich viel über mich und über die Beziehungen, die ich führe. Ich wertschät-   Gesicht zaubern.«
             ze die Zeit vor Ort und mache mir immer wieder bewusst, was für ein Privileg ich
             hatte, in diesem schönen Land in einer interessanten und spannenden Einrichtung
             zu sein, umgeben von Menschen, bei denen ich mich wohl fühlte. In Deutschland
             angekommen, vermisste ich vieles und erlebte Deutschland, meine »Heimat«, als
             fremd.
             Erst jetzt sehe ich, wie mich die sieben Monate verändert haben. Ich habe mich mit
             vielen neuen Themen beschäftigt und durch neue Bekanntschaften neue Perspek-
             tiven erlangt. Themen wie »Privilegien«, »Rassismus», die »Macht der Sprache«,
             Buddhismus sowie »Vorurteile« und »Klischees« sind für mich wichtig geworden.
             Wie erzähle ich über mein Gastland? Was erzähle ich? Welches Bild vermittle ich?       ------------------------------------------------------------------------------------
             In meinem Zimmer stehen nun viele Kokosnussschalen, gefüllt mit Ketten, Arm-           Zur Autorin:
             bändern, Ohrringen sowie indischen Fußketten und Zehenringen. Morgens trinke           Clara Emilia Polifke absol-
             ich gerne einen Chai und meine Gewürzschublade ist mit farbenfrohen und lecke-         vierte ihren Freiwilligendienst
                                                                                                    2019/20 in der Rainbow
             ren Gewürzen ausgestattet, sodass ich singhalesisch und indisch kochen kann. Ich
                                                                                                    Foundation Raddegama/Sri
             kenne Lieder, die mich an die Zeit zurückdenken lassen und Gerüche, die mich an        Lanka und macht eine Aus-
             Sri Lanka oder Indien erinnern. Mit meinen Mitfreiwilligen, mit meinen Begleitern      bildung zur Heilerziehungs-
             dieser Zeit, stehe ich immer noch in Kontakt. ◆                                        pflegerin.

                                                 2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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                         Freiwilligendienst – die Erfahrung des Andersseins
                         Im Gespräch mit Jonathan Bartleweski

                         Jonathan Bartlewski, Jahrgang 1992,      ihren Grundlagen erhebt, berech-        nierend, zu erleben, wie manche
                         war von 2011 bis 2012 als Freiwilli-     tigt ist und wollte das untersuchen.    Jugendlichen eine innere Kraft ent-
                         gendienstler in Peru. Nach einem                                                 wickelten, zu lernen, zu arbeiten
                         Studium der Sozialen Arbeit in Leip-     EK | Was war damals Ihr Ziel und        und weiterzukommen, um sich
                         zig studiert er heute Waldorfpäda-       wo wollten Sie hin?                     aus ihrer schwierigen Lebenssitua-
                         gogik im Masterstudiengang an der        JB | Mein Ziel war es, möglichst        tion zu befreien. Davon und daran
                         Freien Hochschule für Waldorfpäd-        weit weg von Schule, Elternhaus         habe ich viel gelernt, auch für mein
                         agogik in Stuttgart. Von ihm wollten     und Altem zu kommen. Ich wollte         späteres Leben.
                         wir wissen, wie sich der Freiwilligen-   unbedingt nach Südamerika. Letzt-
                         dienst auf seine biographische Ent-      lich ist es dann Peru geworden          EK | Gab es Ereignisse, die Sie be-
                         wicklung auswirkte.                      – lustigerweise das Land, in dem        rührt und nachhaltig geprägt ha-
                                                                  mein Vater für einige Jahre gelebt      ben?
                         Erziehungskunst | Wie kam es,            hatte; allerdings vor meiner Zeit.      JB | Ja, viele. Viel wichtiger war
                         dass Sie mit den Freunden der Er-                                                jedoch die Erfahrung des Anders-
                         ziehungskunst einen Freiwilligen-        EK | Was haben Sie in Ihrem Frei-       seins, die ich das ganze Jahr hin-
                         dienst gemacht haben?                    willigendienst gemacht? Was ha-         durch machen konnte. Und zwar
                         Jonathan Bartlewski | Ich kannte         ben Sie gelernt?                        im positivsten Sinne: Dass man
                         einige ehemalige Freiwillige, die        JB | Ich habe für eine kleine Orga-     Leben so anders leben kann; dass
                         ihren Freiwilligendienst (FWD)           nisation gearbeitet, die ein Begleit-   menschliches Leben – im Kleinen,
                         mit den Freunden der Erziehungs-         programm für junge Erwachsene           wie im Großen – so divers, vielfäl-
                         kunst gemacht haben. Das, was            entwickelt hat, um sie auf ihrem        tig und plural ist, das habe ich ge-
                         sie erzählten, sprach mich an und        Weg in einen selbst verantworteten      lernt, und ich behaupte, dass dies
                         nach einem Orientierungsseminar          Alltag zu unterstützen. Die meis-       eine der wichtigsten Lektionen für
                         war mir klar: Das ist es, was du         ten kamen aus Heimen, die sie aus       mich war und bis heute noch ist.
                         suchst.                                  Altersgründen verlassen mussten.
                         Ich wollte wissen, wie »Waldorf»         Ich habe mit ihnen gekocht, Work-       EK | In »Freiwilligendienst« ste-
                         und die Waldorf-Bewegung in der          shops zur Persönlichkeitsbildung        cken die Worte »freiwillig« und
                         Welt lebt. Das wollte ich selber er-     gemacht, Bewerbungen geschrie-          »dienen«. Wie passt das zusam-
                         fahren. Vor allem wollte ich wis-        ben, Ausbildungsplätze für sie ge-      men?
                         sen, wie das, was ich persönlich         sucht und die Freizeit mit ihnen        JB | Wie schon gesagt: Ich wollte
                         erlebt und geschätzt habe, in an-        verbracht – eine schöne und viel-       nur weg! Eigentlich war ich haupt-
                         deren Kulturen lebt und umgesetzt        fältige Tätigkeit.                      sächlich getrieben! Zum Glück
                         wird. Ich fragte mich, ob der An-        Gelernt habe ich unter anderem,         gibt es die Möglichkeit der Frei-
                         spruch der Allgemein-Menschlich-         den Willen eines Menschen zu            willigendienste – hab’ ich mir da-
                         keit, den die Waldorfpädagogik in        erahnen. Es war für mich faszi-         mals gedacht! Und das denke ich

                         erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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IMPRESSIONEN
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             auch heute noch. Und zwar im            lernen, ein Stückchen besser ver-     JB | Äußerlich betrachtet sind es die
             doppelten Sinn: Ohne die Freunde        stehen zu wollen; das alles durch     Freundschaften, die bis heute an-
             der Erziehungskunst, wäre es mir        Begegnungen, die mir von außen        dauern; Studiengangentscheidung;
             nicht so ohne Weiteres möglich ge-      zukamen. Andererseits hoffte ich,     Ehemaligenarbeit für die Freunde
             wesen, das Weg-Sein mit dem Die-        dadurch dass ich alles Alte hinter    der Erziehungskunst, wodurch ich
             nen, mit dem Dienst am Anderen          mir lasse, einen unbefangeneren       viel lernte und mich persönlich
             und für andere zu vereinen. Dass        Zugang zu mir selbst finden zu        weiterentwickelte.
             ich dabei noch etwas über Freiheit      können.                               Aber selbstverständlich auch in
             lernen durfte, dafür kann ich nur       Eine Begegnung mit mir selbst,        meiner seelischen Entwicklung.
             dankbar sein. Und wenn man das          mit meinem »wahren Selbst«; ich       Neben den schon geschilderten Er-
             Wort »Freiwilligendienst« noch          dachte, dass das mir nun erschei-     fahrungen des Andersseins in der
             weiter differenziert, kommt man         nen würde, da ich mich ja radikal     Fremde und der Gastfreundschaft,
             neben der »Freiheit« und dem            von allem mich Formenden gelöst       sind es die existenziellen Fragen –
             »Dienen« noch auf den »Willen«.         hatte. So einfach war es dann na-     die Welt und das Selbst betreffend
             Damit kommt man wieder zum              türlich nicht; und offen gestanden    –, die u.a. auch auf den wunder-
             Ganzen, denn: Der freie Wille ist       auch eine gute Erkenntnis. Bei-       baren Seminaren vor, nach und
             ein dienender. Oder anders gefasst:     des ist mir nur in einem geringen     während dem Freiwilligendienst
             Der aus der Freiheit geschöpfte         Maße begegnet. Ich habe sowohl        gestellt wurden, die mich weiterge-
             Wille ist ein Wille, der die dienende   Erfahrungen an der Welt als auch      bracht haben.
             Tat erschafft.                          an meinem Selbst gemacht. Das         Ohne den Freiwilligendienst– und
                                                     In-der-Fremde-Sein – so schmerz-      das ist sentimental und rational
             EK | Im Rückblick: Was haben Sie        haft und einsam es sein kann –,       gesprochen – wäre ich heute nicht
             damals gesucht und was ist Ihnen        birgt auf der anderen Seite die Er-   der, der ich bin. Und dafür bin ich
             wirklich begegnet?                      fahrung der Gastfreundschaft. Und     sehr dankbar. Herzlichste Glück-
             JB | Das ist eine sehr schwierige       beide Seiten zu kennen, zu erfah-     wünsche, liebe Freunde der Erzie-
             Frage! Ehrlich gesagt war es – auch     ren und zu leben, das macht uns       hungskunst und auf weitere fünf-
             wenn es etwas groß klingt – meine       zu ganzen Menschen.                   zig mal fünfzig Jahre! ◆
             Suche nach Selbsterkenntnis und
             Welterkenntnis. Einerseits war ich      EK | Welche Wirkung hatte diese       --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
             völlig absorbiert von dem Gedan-        Erfahrung auf den Verlauf Ihrer       Das Interview führte
             ken, die Welt erfahren, kennen-         Biographie?                           Matthias Niedermann

                                                                               2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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                          Heilende Pädagogik
                          Wie Waldorfpädagogik Kindern und Jugendlichen in Not hilft
                          Von Bernd Ruf

                          Wenn nichts mehr ist, wie es            schaftlichen Folgen einer »verlo-     einem Zeitpunkt an, wo es sich
                          vorher war                              renen Generation«. Immer wieder       entscheidet, ob das Trauma bewäl-
                          Wenn die Erde infolge eines Be-         müssen Kinder und Jugendliche         tigt werden kann oder ob es zu Fol-
                          bens heftig erschüttert wird, wer-      auch jenseits der Corona-Krise        gestörungen kommt. Es geht dabei
                          den meist viele Gebäude beschä-         Unfassbares erfahren. Nicht nur       nicht um Traumatherapie im klas-
                          digt. Wände bekommen Sprünge,           durch Naturkatastrophen und Krie-     sischen Sinn. Traumapädagogik
                          Decken brechen herab, ganze Eta-        ge sind weltweit Millionen von Kin-   versteht sich als tertiäre Präventi-
                          gen stürzen ein. Oft werden die         dern und Jugendlichen betroffen.      onsmaßnahme, in der die Heilung
                          Häuser unbewohnbar.                     Im Jahre 2015 flüchteten hundert-     und Nachsorge im Vordergrund
                          Dem äußeren Erdbeben folgt meist        tausende Kinder und Jugendliche       steht, um der Phase der posttrau-
                          ein Seelenbeben der betroffenen         nach Deutschland.                     matischen Belastungsstörung, die
                          Menschen. Die aktuelle Corona-          Auch hierzulande werden Kinder        etwa sechs Monate nach dem trau-
                          Krise ist ein solches Seelenbeben.      zu Opfern. Sie verwahrlosen, wer-     matischen Ereignis auftritt, durch
                          Auch hier entstehen Sprünge und         den vernachlässigt, missbraucht       pädagogische Methoden zu begeg-
                          stürzen Welten ein. Viele fühlen        und misshandelt.                      nen, die auch institutionelle Struk-
                          sich von den umwälzenden Ver-           Was kann Waldorfpädagogik als         turen (Raum- und Umweltgestal-
                          änderungen existenziell bedroht.        heilende Pädagogik zur Verarbei-      tung, Zeitgestaltung, verlässliche
                          Sie fürchten um ihre Gesundheit,        tung von traumatisierenden Erfah-     Beziehungen) einbeziehen.
                          ihre ökonomische Existenz und           rungen beitragen?                     Die Selbstheilungskräfte des be-
                          ihre Freiheit. Die mit der Krise ein-                                         lasteten Kindes oder Jugendlichen
                          hergehenden Ängste zeigen bereits       Waldorfpädagogik – Notfallpäd-        sollen mittels pädagogischer Inter-
                          massive gesundheitliche Auswir-         agogik – Traumapädagogik              ventionen stabilisiert und gestärkt
                          kungen. Psychologen, Ärzte und          Während das Ereignis, das eine        werden. Notfallpädagogische Inter-
                          Therapeuten sprechen von einer          Traumatisierung auslöst, selbst       ventionen können traumatisierte
                          kollektiven Traumatisierung.            nicht mehr veränderbar ist, sind      Kinder stabilisieren. Sie können
                          Besonders betroffen von der Coro-       die Individual- und Umweltfakto-      helfen, die traumatische Erfahrung
                          na-Krise und den Maßnahmen zu           ren beeinflussbar und bilden den      im Sinne sekundärer Prävention
                          ihrer Eindämmung sind Kinder            Ansatz für pädagogisch-therapeuti-    zu verarbeiten und in die eigene
                          und Jugendliche – vor allem aus         sche Interventionen. Waldorfpäda-     Biografie zu integrieren.
                          sozial benachteiligten Gruppen.         gogik versteht sich in diesem Sinn
                          Experten warnen vor den nach-           als Präventionspädagogik.
                          haltigen individuellen und gesell-      Notfallpädagogik setzt dagegen zu

                          erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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             Hilfreiche Methoden
             Welche notfallpädagogischen Methoden sind hilfreich? Traumatische Erlebnisse              Erlebnispädagogische
             verschlagen den Opfern die Sprache. Sie können über ihre Erlebnisse meist nicht           Übungen können das
             sprechen und dürfen dazu auch nicht gezwungen werden. Künstlerische Aktivitäten
                                                                                                       traumabedingt verloren-
             wie Malen, Zeichnen, Modellieren, Tanzen, Singen oder Musizieren können helfen,
                                                                                                       gegangene Selbstver-
             dem eigentlich Unbeschreiblichen, verbal nicht Mitteilbaren kreativen Ausdruck zu
             verleihen und es so einer Bearbeitung zuzuführen. Durch gezielte Rhythmuspfle-            trauen wieder aufbauen
             ge kann der traumatisierte kindliche Organismus wieder harmonisiert und seine             und den Verlust sozialer
             Selbstheilungskräfte aktiviert werden. Dabei geht es u.a. um rhythmisierte Tagesab-       Kompetenzen spielerisch
             läufe, geregelte Essens- und Schlafzeiten. Rituale wie Tischsprüche, Morgen- und          ausgleichen.
             Einschlafzeremonien geben Sicherheit, Halt und neue Orientierung. Bewegungs-
             therapeutische Ansätze der Eurythmie und Bothmergymnastik sowie Massagen und
             rhythmische Einreibungen können dazu beitragen, traumabedingte Verkrampfun-
             gen zu lösen. Erlebnispädagogische Übungen können das traumabedingt verloren-
             gegangene Selbstvertrauen wieder aufbauen und den Verlust sozialer Kompetenzen
             spielerisch ausgleichen. Die nach einem extremen Stresserlebnis beeinträchtigte
             Konzentrationsfähigkeit kann z.B. durch Fadenspiele, Memory, Mikado oder Acht-
             samkeitsübungen überwunden werden. Auch das altersgemäße Erzählen »heilen-
             der Bilder« sowie Puppenspiele können helfen.

             Heilung durch Pädagogik
             Die erste Waldorfschule, die 1919 in Stuttgart nach einem Weltkrieg inmitten re-
             volutionärer Gesellschaftsumbrüche eröffnet wurde, war eine Schule für traumati-
             sierte Kinder in einer traumatisierten Gesellschaft. Inhalte, Methoden, Strukturen,
             Angebote und die anthropologisch-entwicklungspsychologischen Hintergründe
                                                                                                   ▼

                                                2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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                         Die Selbstheilungs-        der Waldorfschule bieten alle erforderlichen Elemente zur psychosozialen Stabili-
                                                ▼

                       kräfte des belasteten        sierung psychotraumatisierter Kinder und Jugendlicher sowie für die Aktivierung
                                                    von Selbstheilungskräften zur Traumaverarbeitung. Anthroposophische Notfall-
                        Kindes oder Jugend-
                                                    und Traumapädagogik basiert auf diesen Grundlagen. Sie ist inzwischen Bestand-
                        lichen sollen mittels
                                                    teil pädagogischer Ausbildungen, findet Eingang in die Studiengänge zahlreicher
                       pädagogischer Inter-         Hochschulen und über tausend Studierende nehmen an zertifizierten Modulfort-
                       ventionen stabilisiert       bildungen weltweit teil. Waldorfpädagogik, die per se als Inkarnations- und Entwick-
                       und gestärkt werden.         lungshilfe verstanden werden kann, ist in besonderer Weise geeignet, den Heilungs-
                                                    prozess traumatischer Verletzungen anzuregen, zu fördern und zu begleiten. ◆

                                                    -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
                                                    Zum Autor: Bernd Ruf ist Geschäftsführender Vorstand der Freunde der Erziehungskunst Rudolf
                                                    Steiners e.V., Mitbegründer und Leiter des Parzival-Schulzentrums Karlsruhe mit Kompetenz-
                                                    zentrum für notfallpädagogische Krisenintervention. Leitung notfallpädagogischer Einsätze in
                                                    Kriegs- und Katastrophengebieten weltweit.

                                                    Literatur:
                                                    B. Ruf: Trümmer und Traumata. Anthroposophische Grundlagen notfallpädagogischer Einsätze,
                                                    Arlesheim 2012; ders.: »Das Corona-Trauma und die therapeutischen Möglichkeiten der
                                                    Notfallpädagogik«. In: M. Glöckler (Hrsg.) u.a.: Corona und das Rätsel der Immunität, Stuttgart
                                                    2021; ders.: Krieg-Flucht-Notfallpädagogik. Wie Pädagogik minderjährigen Flüchtlingen helfen kann,
                                                    traumatische Erlebnisse zu überwinden, Arlesheim 2019; ders.: »Traumapädagogik im Kontext von
                                                    Flüchtlingsarbeit. Konzepte und Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten jugendlichen
                                                    Flüchtlingen«. In: C. Adam, A. Schmelzer: Interkulturalität und Waldorfpädagogik,
                                                    Weinheim-Basel 2019; ders.: »Erste Hilfe für die Seele. Wie Kinder durch Notfallpädagogik
                                                    schwere Traumata überwinden lernen«. In: A. Neider (Hrsg.): Krisenbewältigung, Widerstandskräf-
                                                    te, Soziale Bedingungen im Kinder- und Jugendalter, Stuttgart 2011.

                                                    erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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PATENSCHAFT         17
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             Bericht aus der Zenzeleni-Welt
             Von Kathrin Albrecht

             Wir schreiben Freitag, den 13. März   Schlaf und am nächsten Vormit-        gewährte. Inmitten des sandigen
             2020. Es ist der Tag, an dem mein     tag wurden wir in der Zenzeleni       Dünenhinterlandes von Khayelitsha
             Mann Meldt und ich die Zenzeleni      School erwartet. Also ab ins Bett     reihen sich mehrere kleine, solide
             School in Khayelitsha vor den Toren   und das Duschen auf den nächsten      gebaute Satteldachgebäude in zwei
             Kapstadts besuchen dürfen. Am         Morgen vertagt. Ein Fehler, denn:     Halbkreisen um eine grüne Gras-
             Vortag beim Einchecken am Han-        T.I.A. Statt heißem Kaffee und        fläche.
             noveraner Flughafen fragten wir       einer warmen Dusche erlebten          Bevor wir in die Klassenräume
             uns noch, ob wir diesen Kurztrip      wir den ersten von vielen Strom-      unserer Patenklassen eingeladen
             überhaupt wagen sollten. Aber da      ausfällen. Kapstadt hat nicht nur     wurden, zeigte uns Genevieve das
             es in Südafrika zu diesem Zeit-       ein Wasserproblem, sondern muss       Areal.
             punkt erst einen bestätigten Coro-    auch mit seiner Energie haushal-      Besonders berührt haben mich
             na-Fall gab, ermutigte man uns, an    ten, so dass reihum Stadtteile zu     der Gemüsegarten, in dem die
             unseren Reiseplänen festzuhalten.     festgelegten Zeiten vom Stromnetz     Schlacht gegen die Dürre trotz
             Doch schon am Flughafen Pa-           getrennt werden.                      allen Einfallreichtums jüngst ver-
             ris-Charles-de-Gaulle bot sich ein    Genevieve Langenhoven, die »Com­      loren ging, und ein Überseecontai-
             anderes Bild: Etwa die Hälfte der     mu­nication & Development«-Mit­-      ner, in dem von dem ehemaligen
             Menschen trug bereits eine Maske.     arbeiterin des Centre for Creative    Zenzeleni-Schüler und heutigen
             Entsprechend stieg die Nervosität     Education, traf uns bei unserer       Lehrer Khanya Fusa ein Atelier ein-
             während des Weiterflugs nach Kap-     Unterkunft, damit wir ihr im Kon-     gerichtet worden ist.
             stadt. Würden wir vier Tage später    voi nach Khayelitsha vor den Toren    Ähnlich wie wir es hier in Deutsch-
             so einfach wieder nach Europa ein-    Kapstadts folgen konnten. In Rich-    land kennen, werden Schüler bei
             reisen dürfen? Was, wenn nicht?       tung Garden Route schmiegten          Bedarf während der Schulzeit aus
             Nachts in Kapstadt angekommen,        sich die Wellblechhütten bis an den   dem Unterricht genommen und
             stellte sich nach einer Fiebermes-    Zaun der Autobahn; die Fahrbahn       dürfen in einer Eins-zu-Eins-Be-
             sung über eine Distanz von 1,5        teilten wir uns mit manchem Nutz-     treuung künstlerisch mit ihren
             Metern heraus, dass der gesam-        tier. An den Seitenstraßen reihten    Hürden oder Blockaden ringen.
             te Flieger erstaunlich gesund war.    sich Feuertonnen und Grillstände      Während wir das Gelände erkun-
             T.I.A. – This is Africa.              aneinander, darüber ein wildes Ge-    den, fragt mich Genevieve nach der
             In der Unterkunft prasselten die      flecht aus Stromkabeln und Licht-     Motivation für meine Bildungspa-
             ersten Hiobsbotschaften aus Deut­     masten.                               tenschaft. Ganz einfach: Ich habe
             schland auf uns ein. Die Schulen      Und dann war da plötzlich eine        im Februar 2020 ein auf Architek-
             würden ab Montag geschlossen          gesicherte und teilweise gemau-       tur- und Nachhaltigkeitskommu-
             sein; mindestens bis zu den Oster-    erte Grundstücksbegrenzung mit        nikation spezialisiertes Büro ge-
             ferien, hieß es damals noch.          einem elektrischen Rolltor, das       gründet. Nachhaltigkeit hört nicht
             Aber es war spät, wir brauchten       uns Zugang in eine Parallelwelt       auf bei der Wahl recyclefähiger und
                                                                                                                               ▼

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18 PATENSCHAFT
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                          ressourcenschonender Baustoffe;       gebe, der regelmäßig aufgesagt         ten sind sowohl die Klasse unse-
                      ▼

                          vielmehr ist sie eine ganzheitliche   werde (Ja!), interessierten sich die   rer Tochter als auch ich im re-
                          Betrachtungsweise unter ökonomi-      Zenzeleni-Schüler vor allem für        gelmäßigen Austausch mit der
                          schen, ökologischen und sozialen      vermeintlich gefährliche Tiere in      Zenzeleni-Welt. Genevieve lehrte
                          Aspekten. Entsprechend war es         Deutschland.                           mich in einer ihrer Mails das Zu-
                          mir wichtig, mit dem Start mei-       Während wir all dies erlebten,         lu-Wort »Ubuntu« und übersetzte
                          nes Unternehmens einem weniger        schloss Frankreich seine Grenzen       es mit »Ich bin, wer ich bin, weil
                          privilegierten Kind eine etwas an-    und das Bangen um unsere Rück-         wir sind«. Es benennt Solidarität,
                          dere Zukunftsperspektive zu er-       reise wurde stündlich größer. Am       Überleben, Mitgefühl und Respekt
                          möglichen.                            Sonntagabend schafften wir den         mit nur einem Begriff. Zeitgleich
                          Heute gibt es BAUKUNST.PLUS           Sprung nach Johannesburg, um           spiegelt es das Verständnis wider,
                          seit knapp einem Jahr, während        von dort um 23:55 Uhr über Ams-        dass jeder Mensch in Südafrika
                          mein Bildungspatenkind schon die      terdam nach Hannover zurück            die Pflicht habe, anderen in der
                          2. Klasse besucht.                    zu fliegen. Am Montag verhängte        Gemeinschaft zu helfen. Entspre-
                          Meine Begeisterung für das Paten-     Südafrika ein Ein- und Ausreise-       chend wurden »wohlhabendere«
                          konzept hat die Lehrerin und El-      verbot.                                Vororte mit »armen« Gemeinden
                          ternschaft der Klasse unserer Toch-   Nur vier Tage waren wir weg von        gepaart und lindern so den Hun-
                          ter angesteckt, so dass die heutige   daheim und die Welt stand Kopf.        ger mit Suppenküchen. Solange
                          4b der Waldorfschule Hannover-        Es folgten überall die leider nur      die Arbeitslosenquote noch nicht
                          Maschsee parallel eine Patenschaft    allzu gut bekannten einschneiden-      bei 50 Prozent läge (aktuell beträgt
                          mit der 4. Klasse der Zenzeleni       den Auswirkungen der Pandemie,         sie knapp 30 Prozent), würde die
                          School eingegangen ist. In unserer    auch in Südafrika. Dort musste         südafrikanische Bevölkerung an
                          Funktion als »Briefträger« eines      die Zenzeleni Waldorf School, wie      einem Strang ziehen, so meine An-
                          Pakets selbstgebastelter Steckbrie-   alle anderen Schulen, am 18. März      sprechpartnerin.
                          fe nebst Klassenfoto durften wir      2020 schließen. Ab dem 26. März        Mit einer deutschen Arbeitslosen-
                          die afrikanischen Schüler kennen-     galt die erste landesweite Ausgang-    quote von sechs Prozent im April
                          lernen.                               sperre. Die Schulgemeinschaft un-      2021 und unseren diversen Siche-
                          Sie haben uns Lieder vorgesungen,     serer Patenschule traf es besonders    rungsnetzen stehen wir so viel ge-
                          die wir in Teilen aus dem Englisch-   hart, da die meisten Familien im       sünder da und sollten uns Ubuntu
                          unterricht unserer Kinder kann-       Township leben und die Eltern          zu Eigen machen. Also lasst uns
                          ten. Selbst ein deutsches »Bruder     kein gesichertes Einkommen ha-         dem Aufruf der Freunde der Er-
                          Jakob« füllte den Klassenraum.        ben. Neben den fehlenden Schul-        ziehungskunst Rudolf Steiners
                          Obwohl die meisten Kinder dieser      gebühren musste die Schule noch        e.V. folgen und Schüler in Waldorf-
                          Schule zuhause Xhosa sprechen,        einen weiteren herben Schlag hin-      schulen Afrikas und Asiens, aber
                          haben wir uns gut auf Englisch        nehmen: Aufgrund der strikten          auch in Mittel- und Osteuropa so-
                          unterhalten können. Während           Ausgangssperre war der Eltern-         wie in Lateinamerika mit Bildungs-
                          die Hannoveraner Kinder wissen        schaft der Zenzeleni-Schule die        patenschaften unterstützen. ◆
                          wollten, ob in Südafrika an den       tägliche Nachtwache zum Schutz
                                                                                                       --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
                          Waldorfschulen eine Schuluni-         gegen Einbrüche nicht mehr er-         Zur Autorin: Kathrin Albrecht ist Unter-
                          form getragen werde (Nein!) und       laubt. Es kam zu Plünderungen.         nehmerin und Schülermutter an der Freien
                          ob es auch eine Art Zeugnisspruch     Seit Beginn unserer Patenschaf-        Waldorfschule Hannover-Maschsee

                          erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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19       PATENSCHAFT

                                         2021 | Juli/August erziehungsKUNST spezial

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20 GRÜNDER
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                         Das Gründungsmotiv der Freunde
                         Im Gespräch mit Andreas Büttner

                         Andreas Büttner ist Priester der      Menschen um Ernst Weißert vom           der deutschen Waldorfschulen und
                         Christengemeinschaft und war der      Vorstand des Bundes der Waldorf-        bei weiteren Gelegenheiten immer
                         erste Geschäftsführer der Freunde     schulen in Anknüpfung an Rudolf         wieder. Im März 1974 konnte ich
                         der Erziehungskunst. Heute ist er     Steiners Impuls eines »Weltschul-       in Den Haag an einer Konferenz
                         Mitbetreiber der »Werkstatt Zu-       vereins« den Verein Freunde der         zum Thema »Weltschulverein«
                         kunft«. Von ihm wollten wir wissen,   Waldorfpädagogik gegründet. Da-         mit europäischen Vertretern der
                         wie es zur Gründung kam.              von wussten wir zu diesem Zeit-         Waldorfschulen teilnehmen, an der
                                                               punkt aber noch nichts.                 auch eine Reihe junger Holländer
                         Erziehungskunst | Was war für Sie                                             aus der Dreigliederungsbewegung
                         das zentrale Gründungsmotiv der       EK | Wie fanden die Gründungs-          teilnahm – der Funke sprang über!
                         Freunde der Erziehungskunst?          mitglieder zusammen?                    Von 1975 an organisierten wir eine
                         Andreas Büttner | Die Waldorfschu-    AB | Aus meiner Sicht gab es eine       Reihe von Schüler- und Jugend-
                         le in Kassel bot uns Oberstufen-      Reihe von Gründungsmomenten,            tagungen.
                         schülern vielfältige Möglichkeiten    die wir so zu einem Netzwerk zu-        Die Not der Waldorfschulen in
                         der Mitgestaltung eines lebendigen    sammenführen konnten, dass im           vielen Ländern der Welt führte in
                         Schullebens mit neuen pädagogi-       Zusammenwirken aller Generatio-         unserem Kreis zu dem Impuls, ei-
                         schen Impulsen wie der Integra-       nen etwas wirklich Neues entstand.      nen »Internationalen Hilfsfonds«
                         tion beruflicher Bildung. Wo nötig,   Zunächst trafen sich bei uns in         zu gründen und den internatio-
                         forderten wir den Raum zur Mit-       Kassel im Jahr 1973 etwa 60 Schü-       nalen Schüleraustausch stärker
                         gestaltung ein, gründeten einen       lerinnen und Schüler aus verschie-      als bislang zu fördern. Zu Beginn
                         Oberstufenrat und eine Schülerzei-    denen Schulen in Deutschland, die       des Schuljahres 1977/78 unter-
                         tung, die monatlich erschien und      die Gründung von forum interna-         brach ich meine Ausbildung, um
                         eher Schul- als Schülerzeitung war.   tional als überregionaler Schüler-      die Geschäftsführung der Freun-
                         Über andere Schülerzeitungen          zeitung beschlossen.                    de der Erziehungskunst zu über-
                         kam auch die Vernetzung mit an-       Die erste Nummer erschien paral-        nehmen, in deren Vorstand Nana
                         deren Waldorfschülern zustande,       lel in deutscher, englischer und nie-   Göbel und ich seit 1976 mitarbei-
                         die wir von Anfang an internatio-     derländischer Sprache. Das große        teten. So konnte ich mich voll
                         nal dachten.                          Thema der ersten Ausgabe war ein        dem Aufbau des Internationalen
                         Unser Impuls reichte über unsere      Interview mit Joseph Beuys zum          Hilfsfonds widmen, durch die
                         eigene Schulzeit hinaus. Ein frei-    Thema »Freiheit im Geistesleben«,       damals etwa 30 deutschen Wal-
                         es Schulwesen, wie wir es selber      in dem wir aber auch die Themen         dorfschulen reisen, von der inter-
                         positiv erlebt hatten, sollte welt-   Gleichheit im Rechtsleben und           nationalen Schulbewegung und
                         weit nicht nur einer privilegier-     Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben      ihren Nöten berichten und unsere
                         ten Schicht offenstehen. Gleich-      behandelten. Gleichzeitig trafen        Netzwerke, zu denen auch die an-
                         zeitig hatte eine Gruppe älterer      wir uns bei den Jahrestagungen          throposophische Jugendarbeit ge­

                         erziehungsKUNST spezial Juli/August | 2021

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