FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
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G NR. 9 NOVEMBER 2020 Für Health Professionals mit Weitblick FAMILIENSACHE Erste Hebammen mit Masterdiplom Firmen sollten Bewegung fördern
10 I N H A LT EDITORIAL DOSSIER: 12 DIE FAMILIE IM WANDEL Alleinerziehende, Patchwork- und Regenbogenfamilien: FAMILIENSACHE FAMILIEN SIND Der Diversität von Familienmodellen wird im Gesund- heitswesen nicht überall genügend Rechnung getragen. 18 FÜR DIE VERSORGUNG «DAS ZIEL IST ES, DIE FAMILIEN ZU STÄRKEN» Eine längere Begleitung durch die Hebamme hätte für Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel, Fachbereichs- leiterin im Bachelorstudiengang Hebamme. 25 WIE ALESSIO LERNT, SEINE RECHTE HAND ZU GEBRAUCHEN Alessio D. hat eine seltene Erbkrankheit. Bei Haus- UNVERZICHTBAR besuchen übt Ergotherapeutin Johanna Jeltsch mit dem aufgeweckten Jungen, wie er beide Hände benutzen kann. Das entlastet auch seine Familie. dene kanadische Professorinnen, Janice Bell und Lorraine Wright, nahezu ihr gan- Ob in der frühkindlichen Prävention oder bei der Pflege und Betreuung zes Leben an der Frage: Wie können An- von Angehörigen: Familien spielen in der Gesundheitsversorgung eine 28 DAS FAMILIENSYSTEM IN BALANCE HALTEN Wenn jemand erkrankt, sind Angehörige und enge und Zugehörige in den Prozess von Krank- wichtige Rolle. Wie Gesundheitsfachpersonen Familien unterstützen und Vertraute mitbetroffen. Der Ansatz der familienzentrierten heit und Heilung integriert werden? Ihr in ihre Arbeit miteinbeziehen, zeigen die Beiträge in diesem Dossier. Pflege und Beratung trägt diesem Umstand Rechnung. Konzept der familienzentrierten Pflege wird seit ein paar Jahren auch bei uns ge- lehrt und findet mehr und mehr Anklang bei anderen Gesundheitsberufen. SPEKTRUM FORSCHUNG WEITERBILDUNG Ich meine, wir haben schon eine Men- ge erreicht, wenn man bedenkt, dass 4 News aus dem Departement 32 Bewegung im Büro zahlt 36 «Schmerz hat viele Gesundheit sich aus Gesichter» noch in den 1970er-Jahren Eltern ihre kranken Kinder nur wenige Stunden in der Woche im Spital besuchen MEINUNG Auf das Familiensystem wurde durften. Heute beziehen wir Müt- 5 Bersets Erstberater könnte im Gesundheitswesen bislang ter und Väter in die Pflege und die Behandlung weitgehend ein. eine Physiotherapeutin sein zu wenig eingegangen. In der Versorgung von Erwachse- E Hannu Luomajoki, Leiter Mas- nen, ob diese nun an Krebs oder terprogramm für muskuloskelet- tale Physiotherapie, erklärt, an Diabetes leiden, braucht es weshalb der Direktzugang zur Fördern Unternehmen die In der Arbeit von Gesundheits- s gibt glückliche Familien. Und noch einiges an Entwicklung: in der Hal- Physiotherapie hilft, die Kosten Bewegung ihrer Mitarbeitenden, fachpersonen spielen Schmer- es gibt unglückliche Familien, wie tung aller daran Beteiligten, aber auch bei im Gesundheitswesen zu profitieren beide Seiten davon. zen eine zentrale Rolle. Doch wo wir nicht nur vom Anfang von den Ressourcen, die wir dafür aufwen- senken. Wie sich die Bewegungsför- liegen ihre Ursachen? Und Tolstois «Anna Karenina» wis- den, um An- und Zugehörige einzubezie- derung im Arbeitsumfeld um- wie lassen sie sich am besten sen. So oder so: Die Familie begleitet jede hen und zu unterstützen. In entsprechen- setzen lässt, hat das Institut behandeln? Das CAS «Schmerz und jeden von uns das ganze Leben lang. de Angebote und Modelle zu investieren, I M P O R T R ÄT für Gesundheitswissenschaften Basic» vermittelt Expertise zum Angesichts der gesellschaftlichen Ver- fällt oft schwer, weil die Pflege- und Be- im Auftrag des Bundes unter- komplexen Thema. 6 Powerfrau ohne Zeit für sucht. änderungen können wir heute mit dem treuungsarbeit von Familien zu den wenig Langeweile Begriff der Familie im erweiterten Sinn direkt messbaren Einflüssen auf Krank- Marion Huber forscht und unter- das Netzwerk von An- und Zugehörigen heit und Heilung gehört. G E W U S S T W I E! richtet, malt, kocht und betreibt STUDIUM bezeichnen. Dazu gehören neben Famili- Ich erhoffe mir, dass Sie, wo auch im- ein Guesthouse. Die stellver- 38 Sturzfrei durch die Winterzeit enmitgliedern auch Freunde; Menschen mer möglich, die Grenzen für den Einbe- tretende Leiterin der Fachstelle 34 Den Masterabschluss in Stürze sind die häufigste also, die wir als Nächste erleben und die zug von An- und Zugehörigen in Ihrem Interprofessionelle Lehre und der Hebammentasche Unfallursache in der Schweiz. uns in Krisen unterstützen. Auf dieses Umfeld verschieben und damit anderen Praxis ist ein Tausendsassa. Diesen Sommer haben die Wie das Risiko eines Sturzes mit ersten Hebammen an der ZHAW ein paar einfachen Verhaltens- «Familiensystem» ist die Gesundheitsver- die Möglichkeit geben, sich von einem ihren Masterstudiengang abge- weisen verringert werden kann, sorgung bisher viel zu wenig eingegangen. «Familiensystem» getragen zu fühlen. In schlossen. Drei Absolventinnen weiss Ergotherapeutin Dietlinde Daher arbeiten zwei mit dem Departe- diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine in- TITELSEITE: erzählen, wie ihre neuen Kompe- Arbenz. ment Gesundheit freundschaftlich verbun- teressante Lektüre. Die klassische Kleinfamilie: Ein Ehepaar mit seinen tenzen in den Arbeitsalltag leiblichen Kindern – über Jahrzehnte war dies im westlichen einfliessen. Kulturraum das einzige Familienmodell, das gesellschaftlich 39 AG E N DA Sie haben die Möglichkeit, akzeptiert war. Verschiedene Entwicklungen, etwa die ausgewählte Beiträge online hohe Scheidungsrate oder die Anerkennung gleichgeschlechtlicher zu lesen und zu diskutieren: Partnerschaften, haben seither zu neuen Formen des familiären Andreas Gerber-Grote Zusammenlebens geführt. 40 C A M P U S blog.zhaw.ch/vitamin-g Direktor Departement Gesundheit 2 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 3
SPEKTRUM MEINUNG MAS PHYSICIAN ASSOCIATE SKILLS NATIONALER GESUNDHEITSBERICHT ÜBERARBEITETE AUSGABE BIODESIGN-KURS MIT NEUEM MAS DATENLÜCKEN BEI STANDARDWERK PRODUKTE ÄRZTLICHE AUFGABEN KINDER- UND JUGEND- FÜR HEBAMMEN ENTWICKELN IM ÜBERNEHMEN GESUNDHEIT Sie dient Hebammen als umfassendes GESUNDHEITSWESEN Lehrbuch und Nachschlagewerk in In den angelsächsischen Ländern gibt der Ausbildung, beim Berufseinstieg Wie lassen sich Bedürfnisse im Gesund- es die Funktion der Physician Associates und in der täglichen Praxis: Die heitswesen erkennen? Und wie können schon seit den 1960er-Jahren: Gesund- «Hebammenkunde» befasst sich auf diese mit innovativen Produkten und heitsfachpersonen, die im klinischen über 1100 Seiten mit sämtlichen Hand- Dienstleistungen bedient werden? Im Bereich an der Schnittstelle von Ärzte- lungsfeldern der Hebammenarbeit: neuen CAS «Swiss Biodesign for Med- schaft und interprofessionellen Behand- von der Begleitung der Frauen, Neuge- tech Innovators» der ZHAW School lungsteams tätig sind und dabei ärztli- borenen und Familien bis hin zur For- of Management and Law lernen Teil- che Tätigkeiten delegiert übernehmen. schung und Lehre. Mit einprägsamen nehmende, unbefriedigte Bedürfnisse Mit dem Master of Advanced Studies Texten, Praxistipps sowie rund 800 im klinischen Setting zu analysieren (MAS) «Physician Associate Skills» Abbildungen werden selbst komplexe und für diese neue Produkte im Bereich bietet das Institut für Gesundheitswis- Themen verständlich erklärt. Die über- der Medizinal- und Gesundheitstechno- PROF. DR. HANNU LUOMAJOKI senschaften am Departement Gesund- Kinder, Jugendliche und junge Erwach- arbeitete und erweiterte 6. Auflage logie zu entwickeln. In dem berufs- Leiter Masterprogramm «Muskuloskelettale Physiotherapie» heit eine neue Weiterbildung an, die sene bis 25 Jahre sind in der Schweiz enthält aktuelle Evidenzen, Forschungs- begleitenden Kurs kommt das Biode- Gesundheitsfachpersonen befähigt, an insgesamt bei guter Gesundheit. Dies ergebnisse und Leitlinien. Die neuen sign-Trainingskonzept der Stanford dieser Schnittstelle zu arbeiten. Absol- ventinnen und Absolventen überneh- geht aus dem ersten zu dieser Bevölke- rungsgruppe erstellten nationalen Herausgeberinnen, zu denen mit Karin Brendel auch eine Dozentin am Depar- University zur Anwendung, bei der die Marktanalyse direkt in den Spitälern BERSETS ERSTBERATER KÖNNTE men im Stations- oder Praxisalltag dele- giert ärztliche Aufgaben und engagieren Gesundheitsbericht hervor, den das Schweizerische Gesundheitsobserva- tement Gesundheit gehört, legten grossen Wert auf die Verknüpfung von eine wichtige Rolle spielt. Ab Frühlings- semester 2021 wird ein interdisziplinärer EINE PHYSIO THERAPEUTIN SEIN sich für eine effektive Kommunikation torium Obsan im Sommer publiziert praxis- und evidenzbasiertem Wissen. Biodesign-Kurs auch für die Master- U mit den Patientinnen und Patienten, hat. Mit dem Bericht sollen primär po- Zum Buch beigetragen haben mit studiengänge an den ZHAW-Departe- Angehörigen sowie anderen Fachleuten litisch Verantwortliche «eine Grundlage Mona Schwager, Regula Hauser, Kristin menten Gesundheit, School of Enginee- m das Kostenwachstum im Ge- Kurzum, ein Grossteil der Betroffenen und Berufsgruppen. Sie arbeiten inter- für die Planung effizienter und wirk- Hammer, Christine Loytved und ring sowie Management and Law sundheitswesen zu dämpfen, hat könnte sich den Gang zur Hausärztin professionell und interdisziplinär, um samer Gesundheitsförderung, Präven- Katharina Albert weitere Hebammen- angeboten. Bundesrat Alain Berset diesen sparen. Sinnvoller wäre es – und ganz im eine optimale Patientenbehandlung und tion und Gesundheitsversorgung erhal- Expertinnen des Departements. Sommer ein umfassendes Massnahmen- Sinne von Bundesrat Berset –, wenn die -schulung zu gewährleisten. Der MAS ten», wie das Obsan schreibt. Neben zhaw.ch/imm/casswissbiodesign paket vorgestellt. Es sieht unter ande- Leute mit Beschwerden am Bewegungs- ergänzt und vertieft die Fähigkeiten, die der erfreulichen Bilanz bemängelt der Hebammenkunde rem vor, dass sich Krankenversicherte apparat zuerst in die Physiotherapie ge- das Departement Gesundheit seit 2016 Bericht jedoch die lückenhafte Daten- Lehrbuch für Schwanger- nicht mehr direkt bei einem Spezialis- hen würden. Das hat verschiedene Vor- in Zusammenarbeit mit dem Kantons- lage zur Gesundheit von Kindern, schaft, Geburt, Wochen- INSTITUT FÜR PHYSIOTHERAPIE ten anmelden dürfen, sondern immer teile: Studien aus dem Ausland haben bett und Beruf spital Winterthur im CAS «Klinische Jugendlichen und jungen Erwachsenen. zuerst eine Erstberatungsstelle aufsu- gezeigt, dass der Direktzugang zur Phy- Fachspezialistin / Klinischer Fachspe- Am Bericht waren auch Forschende Andrea Stiefel, Karin Brendel, Nicola Bauer WEITERBILDUNG UNTER chen müssen. Gesundheitsminister Ber- siotherapie deutlich tiefere Kosten ver- zialist» vermittelt. des ZHAW-Departements Gesundheit (Hrsg.) NEUER LEITUNG set sprach von Hausärzten, telemedi- ursacht, da weniger Operationen, bild- beteiligt: Sie verfassten die Kapitel 6. aktualisierte und zinischen Zentren oder HMO-Praxen gebende Verfahren und medikamentöse zhaw.ch/gesundheit/pa-skills «Körperliche Gesundheit und Entwick- erweiterte Auflage Seit Anfang Okto- als mögliche «Erstberater». Die Rolle Behandlungen durchgeführt werden. lung» sowie «Chronische Krankheiten (2020) ber verantwortet könnten jedoch auch Physiotherapeu- Nachgewiesen wurde auch, dass der Di- und Behinderungen». Thieme Verlag, Stuttgart Thomas Benz die tinnen und -therapeuten übernehmen. rektzugang nicht zu Lasten der Betroffe- fachliche Leitung Denn 30 bis 40 Prozent der Perso- nen geht: Fälle, bei denen eine medizini- STUDIE ZUM CORONAVIRUS der Bereiche Wei- nen, die einen Hausarzt aufsuchen, sche Behandlung nötig war, wurden WER HAT ANTIKÖRPER ENTWICKELT? terbildung und haben Beschwerden am Bewegungsap- von den Physiotherapeuten erkannt und Dienstleistung am parat, zum Beispiel Rückenschmerzen, an die entsprechenden Spezialistinnen Thomas Benz Institut für Physio- Probleme in den Knien oder andere überwiesen. Und nicht zuletzt zeigt sich Forschende am Departement Gesund- «Swiss School of Public Health plus» soll therapie. Benz Abnützungserscheinungen in Gelenken bei den Patienten und den Ärztinnen heit untersuchen im Zusammenhang mit politischen Entscheidungsträgern wichtige leitete elf Jahre das interdisziplinäre und Muskeln. Solche Beschwerden be- eine hohe Zufriedenheit mit dem Mo- dem Coronavirus derzeit bei rund 600 epidemiologische Daten zur Pandemie Therapieteam des Schmerzzentrums an deuten allerdings nicht, dass man krank dell: Bei den Ersteren, weil sie schneller Gymnasial- und Berufsschülerinnen und und zur Immunität der Schweizer Bevöl- der RehaClinic Bad Zurzach. Als Physio- ist: Rund 95 Prozent davon sind eben zu einer Therapie kommen, bei den Schülern aus Winterthurer sowie bei kerung gegen das Coronavirus liefern. therapeut sowie Bewegungs- und Sport- keine Krankheit, sondern einfach «nur» Letzteren, weil sie entlastet werden. ZHAW-Studierenden die sogenannte Dazu werden verschiedenste Alters-, wissenschaftler war er in seiner berufli- Beschwerden. In diesen Fällen sind kei- Der Direktzugang zur Physiothera- Seroprävalenz. Diese gibt Auskunft darü- Berufs- oder Risikogruppen auf eine An- chen Laufbahn in unterschiedlichsten ne medizinischen Massnahmen nötig. pie ist in 74 Ländern weltweit längst Tat- ber, ob eine Person Antikörper gegen das steckung durch das Virus und die Entwick- Anstellungen im Akutbereich, in ambu- Es braucht keine Labordiagnostik und sache – mit durchgehend guten Erfah- Virus entwickelt hat. Die Studie «Corona lung einer Immunität hin untersucht. lanten Settings sowie bei einer Versiche- selten bildgebende Verfahren wie Rönt- rungen. Machen wir ihn auch in der Immunitas – Winterthur» der Forschungs- Dabei soll auch erhoben werden, welche rung tätig. Seit 2012 doziert er zudem an gen oder MRI. Auch auf Medikamente Schweiz zur Realität, Herr Berset! // stelle für Gesundheitswissenschaften ist Effekte Schutzmassnahmen bei beson- verschiedenen Bildungseinrichtungen kann häufig getrost verzichtet werden: Teil der landesweiten Initiative «Corona ders exponierten Berufen oder bei Risiko- mit Fokus auf die Rehabilitation von Sie sind gemäss neusten Studien nicht blog.zhaw.ch/vitamin-g Immunitas». Die Initiative der Stiftung gruppen haben. Schmerzpatientinnen und -patienten. so effektiv wie bislang angenommen. 4 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 5
I M P O RT R ÄT I M P O RT R ÄT Eine Frau mit verschiedensten Interessen und meist mehreren Jobs gleichzeitig: Marion Huber, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis am Departement Gesundheit. POWERFRAU sich für eine Ausbildung zur Physiothera- peutin. Das Malen aber blieb – mit Aus- als Physiotherapeutin, dann auch als Heil- praktikerin und später als wissenschaftli- setzt wird. Für ihre Doktorarbeit validierte sie das Instrument. OHNE ZEIT FÜR nahme einiger Jahre – ihr liebstes Hobby. che Mitarbeiterin tätig. Im Team wurde Heute ist sie nur noch unregelmässig Mittlerweile hat sie ein eigenes Atelier, wo aber nicht «nur» interprofessionell, son- in der Basler Rehabilitationsklinik. Team sie praktisch jeden Abend vor der Lein- dern bereits transprofessionell gearbeitet. und Stimmung seien nicht mehr wie frü- wand sitzt. Oft malt sie schon am Morgen, «Wir hatten alle dieselben Weiterbildun- LANGEWEILE her, musste sie feststellen. Ein guter Zeit- beim Kafi, bevor sie an die Hochschule gen, obwohl wir aus unterschiedlichen punkt für die international anerkannte geht – sofern ihr Hund nicht die ganze Auf- Berufsgattungen kamen. So erledigten Wissenschaftlerin, einen Gang runterzu- merksamkeit fordert. alle die gleichen Aufgaben am Patien- schalten. Nach 15 Jahren, in denen sie sich ten.» Sie nahm ihre Wachkoma-Patienten selten mehr als eine Woche Ferien im Jahr Sie forscht und unterrichtet, malt, kocht und Es braucht einen Perspektivenwechsel Als stellvertretende Leiterin der Fachstelle oft mit nach draussen. «Wir legten uns ins Gras oder spielten Fussball», erzählt sie. und kaum mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht gönnte, will sie es beruflich ein betreut Gäste in ihrem Guesthouse: Marion Interprofessionelle Lehre und Praxis ist «Ich fand das sinnvoller, als sie durchzu- wenig ruhiger angehen und ihren Fokus Huber ist ein Tausendsassa und hat schon viel es ihr wichtig, unter den verschiedenen bewegen.» Für die Physiotherapeutin war verstärkt auf die Studierenden und die in ihrem Leben erlebt. Etwas vom Eindrück- Gesundheitsberufen ein gemeinsames Sprachverständnis zu schaffen. So finden es körperlich anstrengend, da sie alle Be- wegungen mit dem Patienten synchron Forschung, aber auch auf die Malerei und das Guesthouse legen. Von Routine ist lichsten war für die stellvertretende Leiterin am Departement Gesundheit regelmäs- machte. Trotzdem: Die Mühen lohnten Marion Huber dennoch weit entfernt. // der Fachstelle Interprofessionelle Lehre sig Lehrveranstaltungen statt, an denen sich. «Es gab kaum einen Patienten, der und Praxis am Departement Gesundheit angehende Pflegefachleute, nicht reagierte, und wenn es die Arbeit mit Wachkoma-Patienten. Hebammen, Physio- und Er- gotherapeutinnen und -the- «Ich bin selten nur die Körperspannung war, die rauf oder runter ging.» VON MARION LOHER rapeuten sowie Gesundheits- nur an einem Marion Huber bezeichnet förderinnen und -förderer teilnehmen und zusammen Projekt dran, sich selbst als «energetisch nervösen Menschen, der im Themen bearbeiten. «Wir fahre meistens Leben schnell unterwegs sensibilisieren Studierende ist». Nie hätte sie deshalb mehrgleisig.» E dafür, einander besser zuzu- gedacht, dass sie einmal mit hören und nachzufragen, Wachkoma-Patienten arbei- s gibt etwas, das Marion Huber in wenn sie etwas nicht verstehen.» Es gebe ten würde. Sie hatte grossen Respekt da- ihrem Leben gar nicht mag – und Begriffe, die von allen Berufsgruppen ver- vor, sich auf deren Tempo einzulassen. das ist Routine. «Ich brauche Ab- wendet werden, jede aber etwas anderes Doch wie so vieles in ihrem Leben hat sie wechslung, viel Abwechslung so- darunter verstehe. «Wir müssen lernen, es einfach getan, weil sie spürte, dass es gar», sagt die 54-Jährige und lacht. Vor kur- die Perspektive zu wechseln und nicht per richtig war. «Als ich den ersten Patienten zem hat die Dozentin am ZHAW-Departe- se vom eigenen Verständnis auszugehen», behandelte, konnte ich automatisch run- ment Gesundheit das von ihren Eltern so die Expertin. Für eine gute und profes- terfahren.» MARION HUBER geerbte Haus im Schwarzwald zu einem sionelle Zusammenarbeit im Gesund- Guesthouse umgebaut. Schon bald möchte heitsbereich sei dies enorm wichtig, nur so Auch Rückschläge halten sie nicht auf ist seit 2009 stellvertretende Leiterin der sie dort an den Wochenenden für ihre Gäs- könnten Missverständnisse, Doppelspu- Irgendwann aber stiess sie mit ihrem Wis- Fachstelle Interprofessionelle Lehre und te kochen sowie Ski- und Wandertouren rigkeiten und Behandlungsfehler am Pati- sen an Grenzen und sie wollte mehr. Doch Praxis am Departement Gesundheit. Seit anbieten. Die Arbeit an der ZHAW soll des- zentin für das Wissenschaftliche Arbeiten. Aufgewachsen ist die Tochter einer Pia- enten vermieden werden. Seit 2017 ist dies eine durch einen Zeckenbiss ausgelöste 2008 verantwortet sie die studiengang wegen aber nicht zu kurz kommen. «Ich Entspannt und lässig gekleidet in Jeans nistin und Stieftochter eines Arztes in Ver- nicht mehr bloss trockene Theorie für die Borreliose, die zu einer vorübergehenden übergreifenden Module und seit 2013 das hatte in meinem Leben meist mehrere Jobs und Bluse sitzt die umtriebige Wissen- bier im Kanton Wallis. Im Alter von acht Studierenden. Im Rahmen des Modells Halbseitenlähmung führte, und ein Snow- Fach Wissenschaftliches Arbeiten, bei gleichzeitig», sagt die ausgebildete Physio- schaftlerin an diesem Nachmittag in der Jahren zog es die Familie zurück nach ZIPAS, der Zürcher interprofessionellen board-Unfall, bei dem sie sich den Unter- dem sie auch als Dozentin tätig ist. Nach therapeutin mit einem Augenzwinkern. Kantine des neuen Hochschulgebäudes. Deutschland, mit 25 Jahren kam Marion klinischen Ausbildungsstation, können sie schenkel zertrümmerte, stoppten die Po- dem Abschluss zur diplomierten Physio Ihr Sprachtempo ist hoch, sie hat viel zu Huber wieder in die Schweiz. Zuvor hatte dieses berufsübergreifende Arbeiten in werfrau abrupt. Mehr als zweieinhalb Jah- Kreativer Ausgleich erzählen. «Ich bin selten nur an einem sie ihr Abitur in einem Internat in Nieder- Spitälern unter Supervision an echten Pa- re war sie ausser Gefecht gesetzt. Doch sie therapeutin und Heilpraktikerin studierte Marion Huber arbeitet seit 2008 an der Projekt dran, fahre meistens mehrglei- sachsen abgeschlossen. Ihr Schwerpunkt- tientinnen und Patienten praktizieren. kämpfte sich zurück und begann, nebst sie Psychologie an der Universität Basel Hochschule. Sie hat die interprofessionel- sig», sagt sie und wirft ihre langen, grau- fach damals war Kunst, wobei es ihr be- Dass es diese Möglichkeit gibt, ist der Arbeit auf der Wachkoma-Station an und schloss mit der Masterarbeit im Fach le Ausbildung in den vier Gesundheitsbe- melierten Haare in den Nacken. In den sonders die Malerei angetan hatte. Wenn auch Marion Huber zu verdanken. Sie hat der Universität Basel Psychologie zu stu- gebiet Neurowissenschaften ab. Seit rufen Pflege, Hebamme, Physio- und Er- letzten Monaten hat die gebürtige Deut- immer möglich nahm sie Pinsel und Farb- viel Erfahrung in dieser Art der Zusam- dieren. Im Rahmen ihrer Masterarbeit im 2015 ist sie zudem Professorin für Inter gotherapie mit aufgebaut. Mittlerweile ist sche vor allem die Umstrukturierung des kasten in die Hand und malte. Einige ihrer menarbeit und das Konzept mitgestaltet. Fachgebiet Neurowissenschaften entwi- professionelle Zusammenarbeit und sie stellvertretende Leiterin der Fachstelle Gesamtunterrichts der interprofessionel- Bilder wurden auch ausgestellt. Ganz auf Bevor sie an die ZHAW kam, hatte sie in ckelte sie ein interprofessionelles Beob- Kommunikation. Die 54Jährige wohnt in Interprofessionelle Lehre und Praxis, Ver- len Module beschäftigt. «Das war viel Ar- die Malerei zu setzen, habe sie sich aber der Rehabilitationsklinik REHAB-AG Ba- achtungsraster für Menschen im Wachko- Schaffhausen und steht kurz davor, ihren antwortliche für studienübergreifende Mo- beit, auch weil Corona innert kurzer Zeit nicht getraut. «Ich hätte mich zu oft zu sel die Wachkomastation mitaufgebaut ma, das inzwischen in diversen Zentren in Wohnsitz nach Winterthur und in den dule sowie Fachverantwortliche und Do- mehr E-Didaktik forderte.» stark verbiegen müssen.» Sie entschied und war dort während 15 Jahren zunächst der Schweiz und in Deutschland einge- Schwarzwald zu verlegen. 6 VITAMIN G NR . 9 NOV EM B ER 2 02 0 VITAMI N G N R. 9 N OVEMB ER 2020 7
NEUER GESUNDHEITSCA MPUS NEUER GESUNDHEITSCA MPUS W I L L KO M M E N I M H AU S A D E L I N E FAV R E Im Sommer ist das Departement Gesundheit in sein neues Zuhause auf dem Winterthurer Sulzerareal eingezogen. Benannt nach einer bekannten Walliser Hebamme, bietet der Neubau nicht nur eine moderne und grosszügige Infrastruktur für Studierende und Mitarbeitende, sondern mit seiner unkonventionellen Architektur auch viel fürs Auge. Ein kleiner Einblick. Aussen Industriecharme, innen Hochschulatmosphäre: Der Charakter der Giesserei, die früher hier stand, blieb in der Fassade des Haus Adeline Favre erhalten. Im Neubau werden jedoch keine Stahlteile mehr gegossen, sondern Health Professionals praxisnah aus- und weitergebildet (linke Seite). Viel Platz fürs gemeinsame Lernen, den spontanen Austausch und die Znünipause: Das verschachtelte Atrium erinnert mit den zahlreichen Terrassen, dem Outdoor- Mobiliar und der in den Beton gemeisselten Kunst am Bau an ein urbanes Quartier (rechte Seite). 8 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 9
D O S S I E R | FA M I L I E N S A C H E FA M I L I E N S A C H E Der Vater, der die Schürfung am Knie seiner Tochter versorgt. Die Enkelin, die mit ihrem gebrechlichen Grossvater einen Spaziergang macht. Der Sohn, der die Mutter betreut, während sie mit Grippe im Bett liegt. Diese Art der einfachen familiären Gesundheitsversorgung kennen die meisten von uns. Doch Familien leisten noch viel mehr. Sie spielen deshalb in der Gesundheitsförderung und Prävention, bei der Pflege und Betreuung, bei Therapien und Behandlungen eine wichtige Rolle. Wie sie unterstützt und in die Arbeit von Gesundheits fachpersonen einbezogen werden können, zeigt dieses Dossier. Die Bilder zum Dossierthema zeigen beispiel haft die heutige Diversität familiären Zusammenlebens. Die Aufnahmen mit den Playmobilfiguren sind an beliebten Winterthurer Familienausflugzielen entstan- den: Im Technorama (linke Seite), im Totentäli (Cover), auf dem Spielplatz Nägelsee (S. 17), im Skills Park Alleinerziehende Mütter und Väter: In der Schweiz ist die Scheidungsrate die letzten Jahre zwar leicht gesunken, doch nach wie (S. 24) und an der Töss (S. 31). vor gehen 40 Prozent aller Ehen in die Brüche. Hinzu kommen unverheiratete Paare, die ihre Beziehung beenden. Die Folge: Alleinerziehende Personen und ihre Kinder bilden die zweithäufigste Familienkonstellation. Den Löwinnenanteil machen alleinerziehende Mütter aus. V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 11
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E D I E FA M I L I E I M WA N D E L zeigt sich auch in der Definition der Familie durch die Eidge- nössische Kommission für Familienfragen (EKFF), eine aus- serparlamentarische Kommission und beratendes Organ des Hammer. So haben gleichgeschlechtliche Paare das Be- suchsrecht auf der Intensivstation eines Spitals in vielen Kantonen nur, wenn sie in einer eingetragenen Partnerschaft Bundesrates. Die EKFF definiert die Familie als «jene Le- leben – die in der Schweiz erst 2007 eingeführt wurde. «Das bensformen, die in den Beziehungen von Eltern und Kindern Gesundheitswesen handelt in dieser Hinsicht nicht aktiv, Die bürgerliche Kernfamilie war in der westlichen Gesellschaft über Jahrzehnte das dominie- im Mehrgenerationenverbund begründet und gesellschaft- sondern reagiert – teilweise auch etwas träge – auf die gesetz- rende Familienmodell – und ist es auch heute noch. Historisch gesehen noch sehr jung, lich anerkannt sind». Die Definition ist laut der EKFF «be- lichen Anpassungen.» Das hat laut Hammer auch damit zu wusst offen gehalten». Sie verzichte auf wertende Aussagen tun, dass Entscheidungsträger, wenn es um sensible Berei- wurde sie in den vergangenen Jahrzehnten jedoch um neue Formen des Zusammenlebens und trage der Vielfalt der Familienformen und dem wandeln- che wie das Arztgeheimnis geht, juristisch auf der sicheren ergänzt. Im Gesundheitswesen wird dem nicht überall genügend Rechnung getragen. den Verständnis von Familie Rechnung. Seite sein wollen. Allerdings werde das Gesetz der Realität nicht immer ge- VON TOBIAS HÄNNI recht, sagt Hammer. «Das zeigt sich exemplarisch bei den GESUNDHEITSWESEN: DIVERSER UMGANG pränatalen Screeningtests. Die schwangere Frau hat per Ge- E Für die Kommission ist Familie nicht bloss Privatsache, son- setz das Recht zu entscheiden, ob sie solche Tests durchfüh- dern «von grundlegender Bedeutung für das menschliche ren will oder nicht.» Den Entscheid dafür oder dagegen fälle ine Frau, ein Mann und ihre leiblichen Kinder: Lange durch die Blutsverwandtschaft bestimmte, sondern durch sei- Zusammenleben». Sie bedürfe deshalb der «gesellschaftli- sie in den allermeisten Fällen jedoch nicht allein, sondern galt diese Zusammensetzung als Archetyp einer Fa- ne Stellung im Produktionsprozess», erläutert Gemperle. chen Anerkennung und Unterstützung». Doch wie aner- mit dem Partner. Auch weitere Angehörige würden häufig in milie. Und auch wenn das familiäre Umfeld vieler kannt ist die Familie im Gesundheitswesen? Und welche den Entscheid miteinbezogen. «Das Thema Familie bloss Menschen in Westeuropa längst nicht mehr diesem Unterstützung erhalten Angehörige verschiedenster Famili- aus der juristischen Sichtweise zu beurteilen, greift deshalb Bild entspricht, weil sie in Patchwork- oder Regenbogenfami- … Z U R B Ü R G E R L I C H E N FA M I L I E enmodelle in diesem gesellschaftlich relevanten Sektor? zu kurz», so Hammer. Bei der Ärzteschaft als wichtigem Ent- lien leben oder alleinerziehend sind, heisst es auf der deutsch- Gegen Ende des Mittelalters fand laut dem Soziologen dann «Eine allgemeine Aussage zum Einbezug der Angehöri- scheidungs- und Verantwortungsträger in vielen Institutio- sprachigen Ausgabe von Wikipedia: «Die menschliche Kern- ein tiefgreifender Wandel statt: Arbeiten und Wohnen trenn- gen im Gesundheitswesen lässt sich nicht machen – dafür ist nen des Gesundheitswesens mangle es aber an einem Um- familie besteht aus einer Mutter und einem Vater sowie ihren ten sich zunehmend, angetrieben unter anderem durch die der Umgang mit dem Thema innerhalb des Sektors zu unter- gang mit dem Thema, der über den rein juristischen Aspekt gemeinsamen leiblichen Kindern, die in einem Haushalt zu- wachsende Bedeutung der Lohnarbeit. «Vor allem in den schiedlich», sagt Raphaël Hammer, Medizinsoziologe und hinausgehe. «Hier bräuchte es in der Ausbildung eine stärke- sammenleben.» Angesichts des gesellschaftlichen Wandels wohlhabenden städtischen Haushalten fand dabei eine zu- Professor an der Hochschule für Gesundheit Waadt (HESAV, re Sensibilisierung für das Thema Familie.» // werde das Modell in neuer Zeit hinterfragt, so Wikipedia wei- nehmende Intimisierung der Kernfamilie und der Beziehung HES-SO) in Lausanne. Familien und deren zunehmender Di- ter und verweist dabei auf einen Artikel der deutschen «Zeit» zwischen Eltern und Kindern statt», sagt Gemperle. Mit dem versität Rechnung getragen werde wohl am stärksten im am- Haushalte mit Kindern unter 25 Jahren: von März 2020: «Das Ende der Kernfamilie». Ob diese in Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert erhielt das Mo- bulanten Bereich. «Die Spitex beispielsweise erhält häufig di- nächster Zeit tatsächlich dem Niedergang geweiht ist, scheint dell für immer weitere Bevölkerungskreise Bedeutung. rekten Einblick in das soziale Umfeld der Klienten und kann Das bürgerliche Familienmodell jedoch fraglich. So kam der Bundesrat in seinem Familienbe- «Gleichzeitig fanden auch Grossfamilien und Mehrgenera- dieses in ihre Arbeit mit einbeziehen.» In der stationären, kli- bleibt in der Schweiz dominant richt 2017 zum Schluss, dass «die Zweielternfamilie statis- tionenhaushalte infolge der gestiegenen Lebenserwartung, nischen Medizin hingegen finde die Familie häufig keine gros- tisch vorherrschend bleibt» (siehe auch Grafik). Zumindest der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums eine se Beachtung – geschweige denn neue Formen des familiären 2,3 % 12,1 % für die Schweiz könne höchstens von einem moderaten nie dagewesene Verbreitung, nicht zuletzt zur Bewältigung Zusammenlebens. Auch wenn sich einzelne Medizinerinnen Trend zur Pluralisierung von Familienformen ausgegangen wirtschaftlicher Not.» Zum dominanten und gesellschaftlich und Mediziner durchaus für die Thematik interessieren wür- werden. «Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien oder prägenden Modell wurde die bürgerliche Kernfamilie laut den, fehle ihnen wohl schlicht die Zeit, sich auch noch um die Dreigenerationenfamilien gibt es, aber ihre Verbreitung ist Gemperle deshalb erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts, ins- Familie der Patienten zu kümmern, sagt Hammer. «Vor allem 5,5 % deutlich geringer, als viele mediale und politische Diskurse besondere während des rasanten wirtschaftlichen Auf- bei operativen Eingriffen wird der Patient als Einzelperson be- zur Vielfalt modernen Familienlebens andeuten», kommt schwungs der 1950er- und 1960er-Jahre. «Der Anstieg der trachtet und behandelt.» Im Gegensatz dazu werde etwa bei 4,8 % der Bundesrat zum Schluss. Reallöhne ermöglichte es plötzlich auch den Arbeiterfami- psychischen Problemen das familiäre Umfeld in der Behand- Ob die bürgerliche Kernfamilie langsam zum Auslaufmo- lien, das bürgerliche Leitideal zu leben: Die Frau blieb zu- lung schon länger berücksichtigt. dell wird oder nicht, klar ist auf jeden Fall: Historisch gese- hause und kümmerte sich um Haushalt und Familie.» Das gilt ebenso für die nichtärztlichen Gesundheitsberu- hen ist sie noch sehr jung: «Das heute vorherrschende Fami- fe. Laut Michael Gemperle wurden diese Berufe in den letzten lienmodell hat sich erst im 19. Jahrhundert als relevantes So- Jahrzehnten mit dem stärkeren Einbezug der Sozialwissen- zialgebilde durchgesetzt», sagt der Soziologe Michael K I N D E R A L S KO N S TA N T E schaften zunehmend für das Familiensystem ihrer Klientin- 75,3 % Gemperle, der am Departement Gesundheit in der Hebam- Während die mittelalterliche Kernfamilie um den Vater als nen oder Patienten sensibilisiert. «Psychologie und Soziolo- menforschung tätig ist. Oberhaupt der Haushaltsgemeinschaft konstruiert war, ist gie sind längst fester Bestandteil in der Ausbildung der Ge- das zentrale Element des bürgerlichen Familienmodells das sundheitsberufe. Damit sind auch das Wissen über neue Kind. «Es bedurfte dafür einer eigentlichen Entdeckung der Familienmodelle und das Verständnis für diese grösser als V O N D E R H A U S H A LT S G E M E I N S C H A F T … Kindheit und der Eigenarten des Kindseins ab dem 17. Jahr- noch vor ein paar Jahren.» Zwar sei die Kernfamilie in Mittel- und Westeuropa bereits im hundert. Diese führte dazu, dass die Kinder zunehmend aus Ehepaare mit gemeinsamen Kindern Mittelalter zahlenmässig der häufigste Familientyp gewesen – der Welt der Erwachsenen ausgeschlossen wurden», erklärt Unverheiratete Paare mit gemeinsamen Kindern und nicht, wie oftmals angenommen – die mehrgenerationelle Michael Gemperle die Entwicklung. Eine zentrale Rolle DA S G E S E T Z S A GT, WA S FA M I L I E I S T (inkl. Regenbogenfamilien) Grossfamilie, so Gemperle. «Gesellschaftliche Bedeutung spielte dabei der Schulbesuch. Immer wichtiger wurde auch Das Verständnis allein reicht jedoch nicht aus, um den diver- Patchworkfamilien (inkl. Regenbogenfamilien) hatte das Konzept der Kleinfamilie damals aber kaum. Das ge- die Erziehung, durch welche die Kinder den gesellschaftli- sen Familienkonstellationen der Klientinnen und Patienten sellschaftlich relevante Sozialgebilde war die Haushaltsge- chen Status der Familie zumindest erhalten, im besten Fall gerecht zu werden. Der Umgang damit hängt auch von ande- Alleinlebende Mütter mit Kindern meinschaft», hebt Gemperle hervor. Zu dieser zählten neben aber verbessern sollten. «Das Kind ist seither das definieren- ren Faktoren ab – darunter vor allem von den gesetzlichen Alleinlebende Väter mit Kindern dem Ehepaar und den Kindern auch Arbeitskräfte, etwa de Element sämtlicher Familienmodelle», sagt Gemperle. Rahmenbedingungen. «In den Spitälern ist es entscheidend, Knechte und Mägde. «Es handelte sich in erster Linie um eine Ob bei Patchworkfamilien, Alleinerziehenden oder Regen- wer nach dem Gesetz als enger Angehöriger gilt und damit Quelle: «Familien in der Schweiz» – Statistischer Anhang des Familienberichts Arbeitsgemeinschaft, in der sich der Platz des Einzelnen nicht bogenfamilien: Kinder seien die Konstante. Diese Konstante zum Beispiel ein Informations- oder Besuchsrecht hat», sagt 2017. Basiert auf kumulierten Daten von 2012 bis 2014. 12 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 13
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E O H N E D I E FA M I L I E jahren das entscheidende soziale Bezugssystem bildet, ist frühkindliche Gesundheitsförderung und Prävention vor al- lem darauf ausgerichtet, Familien im Rahmen des Gesund- mut zu verringern und Schutzfaktoren – etwa ein positives Familienklima oder zusätzliche, verlässliche Bezugsperso- nen – zu stärken», sagt Zysset. Gelinge es zudem, bei einem GEHT’S NICHT heits-, des Bildungs- und des Sozialwesens interdisziplinär Kind die internen Schutzfaktoren zu fördern, unter anderem zu unterstützen.» ein positives Selbstbild, Problemlösefähigkeit oder Optimis- Dieser primär settingorientierte Ansatz richtet den Fokus mus, dann könne sich dieses auch in einem widrigen Umfeld mehrheitlich nicht auf das Kind selbst, sondern auf seine re- gut entwickeln. Doch wie stärkt man diese Schutzfaktoren, levante soziale und räumliche Umwelt aus, heisst es im Be- wenn Eltern zum Beispiel aufgrund einer Suchterkrankung Schulerfolg, berufliche Karriere, physische und psychische Gesundheit: In welchen familiären richt. «Das ist in erster Linie die Familie des Kindes mit ihren oder eines Lebens in Armut keine Kraft oder Zeit haben, sich primären Bezugspersonen sowie die Wohnumgebung.» Ge- um die Gesundheit ihrer Kinder zu kümmern? «In solchen Verhältnissen ein Mensch seine frühe Kindheit verbringt, wirkt sich auf sein ganzes Leben linge es, diese sozialen Systeme so zu beeinflussen, dass die Fällen können neben speziellen Programmen für belastete aus. Frühkindliche Gesundheitsförderung und Prävention ist damit eine gesellschaftlich direkte Umwelt des Kindes gesundheitsförderlicher werde, Familien auch Kindertagesstätten ein Weg sein, um die Kin- wichtige Aufgabe. Und eine, die über das Familiensystem stattfinden muss. Die Herausforde- «dann können die Massnahmen ihre präventive Wirkung der in ihrer Entwicklung zu fördern», so Zysset. Insbesonde- entfalten», schreibt das BAG. Und hebt dabei hervor, re Kinder aus vulnerablen Familien profitierten am meisten rung dabei: die richtigen Kanäle finden, um die Familien überhaupt zu erreichen. wie wichtig die frühkindliche Prävention für von Ausflügen, einer gesunden Ernährung VON TOBIAS HÄNNI die weitere Entwicklung eines Menschen bis ins Erwachsenenalter ist. «Am umfassendsten «Das System oder der sozialen Interaktion in Kitas. belegt ist wohl der Zusammenhang von früh- Familie ist D Ü R F T I G E DAT E N L A G E kindlicher Prävention, Schulerfolg und Erfolg auf dem Arbeitsmarkt.» Dieser Zusammen- sehr privat, da Auf solche vulnerablen Familien legten die hang sei auch aus gesundheitlicher Sicht ent- lässt man nicht Forschenden des Departements Gesundheit in scheidend, so das BAG. Denn zwischen Schul- ihrer Übersichtsarbeit für den Bund ein be- erfolg, sozioökonomischem Status und dem jeden rein.» sonderes Augenmerk. Dazu zählen Familien Auftreten nichtübertragbarer Krankheiten – mit Migrationshintergrund, einem erhöhten wie Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Armutsrisiko, Gewalterfahrungen, einer Suchtproblematik bestehe eine starke Korrelation. Kurzum: Die familiären Be- oder einer psychischen Erkrankung mindestens eines Eltern- dingungen, in die ein Mensch geboren wird und in denen er teils. Bei betroffenen Familien besteht häufig eine Kombina- die ersten Jahre aufwächst, sind ausschlaggebend dafür, ob tion dieser Faktoren. «Studien zeigen, dass Kinder aus er später ein gesundes sowie sozial und beruflich erfolgrei- solchen Familien oft bei schlechterer Gesundheit sind. ches Leben führt. Gleichzeitig nehmen die Familien gesundheitsfördernde und präventive Angebote weniger stark in Anspruch oder werden von diesen nicht erreicht», sagt Zysset. Die Forscherin hat im R I S I KO FA K TO R E N V E R R I N G E R N , Rahmen der BAG-Studie diese Problematik genauer unter S C H U T Z FA K TO R E N S TÄ R K E N die Lupe genommen. Die Schwierigkeit dabei: Die Datenla- Um sicherzustellen, dass sich Kinder in den ersten Lebens- ge zur Gesundheit von Kindern zwischen null und vier Jahren jahren gesund entwickeln, muss Gesundheitsförderung und ist in der Schweiz eher dürftig. Und Daten zu Vulnerabilitäts- Prävention so früh wie möglich ansetzen. Das heisst, eigent- und Risikofaktoren werden bei Erwachsenen zwar erhoben, lich schon vor der Geburt, wie Annina Zysset, wissenschaft- lassen sich jedoch ohne Angaben zur Elternschaft nicht ein- liche Mitarbeiterin an der ZHAW-Forschungsstelle Gesund- fach so auf Kinder übertragen. «Diese lückenhafte Daten- heitswissenschaften, hervorhebt: «Neben negativen Folgen lage macht es schwierig, herauszufinden, bei welchen für das ungeborene Kind kann ein ungesundes Verhalten Gruppen vulnerabler Familien der grösste Handlungsbedarf während der Schwangerschaft über epigenetische Mecha- besteht», sagt Annina Zysset. nismen das Genmaterial nachhaltig verändern – und sich so auch bei nachfolgenden Generationen noch bemerkbar machen.» So schlägt sich beispielsweise eine ungesunde Er- F L I C K E N T E P P I C H A N A N G E B OT E N nährung oder Alkoholkonsum dauerhaft und an verschiede- Bei ihrer Recherche hat sich die Wissenschaftlerin auf be- In den ersten Lebensjahren eines Menschen ist die Familie das prägende soziale Bezugssystem. Sie beeinflusst nen Stellen im Erbgut nieder. stehende Angebote zu Gesundheitsförderung und Präventi- die Gesundheit und den sozioökonomischen Status bis ins Erwachsenenleben. Zusammen mit anderen Forschenden des Departements on bei vulnerablen Familien konzentriert. Insgesamt 65 Pro- Gesundheit hat Zysset im Auftrag des BAG eine Übersichts- jekte aus der ganzen Schweiz hat sie zusammengetragen, I studie zu Gesundheitsförderung und Prävention in der frü- darunter Angebote und Anlaufstellen zur psychischen Ge- hen Kindheit – definiert als Lebensphase zwischen null und sundheit, zur Elternedukation, zur Ernährung oder zur Früh- n der Fachliteratur wird sie manchmal als «hidden health Bekanntenkreis bewältigt werden. Das Familiensystem ist vier Jahren – verfasst. «In dieser Zeit lernen Kinder Verhal- förderung. «Insgesamt gibt es ein breites Angebot für vulne- care system», als verstecktes Gesundheitssystem, be- jedoch vor allem auch entscheidend im Hinblick auf einen tensweisen grossmehrheitlich von ihren Eltern – diese sind rable Familien – von Kanton zu Kanton bestehen aber auch zeichnet. Und sie gilt, was die Entwicklung eines Kindes gesunden Lebensstil und auf Verhaltensweisen, die solchen damit vielfach der einzige Kanal, um die Kinder zu errei- sehr grosse Unterschiede», sagt Zysset. So gebe es in grösse- in den ersten Lebensjahren angeht, als wichtigstes sozia- Problemen vorbeugen. Eine an sich banale, doch umso wich- chen», sagt die Forscherin. Präventive und gesundheitsför- ren und städtischen Kantonen meist ein weitaus grösseres les System: die Familie. Das familiäre Umfeld spielt in der tigere Erkenntnis, wenn es um Gesundheitsförderung und dernde Massnahmen müssten deshalb primär bei den Eltern Angebot an Projekten. Lücken zu identifizieren sei schwie- Bewältigung gesundheitlicher Herausforderungen häufig Prävention in der frühen Kindheit geht. So schrieb das Bun- ansetzen und diese zu einem gesundheitsförderlichen Ver- rig, da die Projekte weder national noch auf kantonaler Ebe- eine zentrale Rolle; geschätzt wird, dass bis zu drei Viertel desamt für Gesundheit (BAG) 2018 in einem Bericht zu dem halten anregen. «Darüber hinaus sollten Familien darin un- ne von einer zentralen Stelle erfasst würden. «Es ist ein Fli- aller Gesundheitsprobleme im Familien-, Freundes- oder Thema: «Da die Familie für ein Kind in den ersten Lebens- terstützt werden, Risikofaktoren wie Gewalt, Sucht oder Ar- ckenteppich an Angeboten von unterschiedlichsten Organi- 14 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 15
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E sationen und staatlichen Stellen.» Eine der Empfehlungen derselben Sprachregion wie die Teilnehmenden. «So kön- der Forscherin ist deshalb der Aufbau einer nationalen Pro- nen Inhalte kulturspezifisch aufbereitet werden. Und die jektdatenbank oder von kantonalen Plattformen. «Das wür- Sprachbarriere, die ein häufiges Hindernis beim Zugang zu de die Koordination unter den Anbietern verbessern und da- Angeboten darstellt, kann überwunden werden.» bei helfen, Familien die passenden Angebote vermitteln zu können», so Annina Zysset. Ihre Untersuchung der Angebote zeigte auch die Erfolgs- U N KO N V E N T I O N E L L E K A N Ä L E F I N D E N faktoren bezüglich Erreichbarkeit und nachhaltiger Unter- Wie sich Angebote für Familien – insbesondere für vulnerab- stützung vulnerabler Familien auf: Dazu gehören unter an- le – so entwickeln lassen, dass sie tatsächlich genutzt werden, derem ein professioneller und möglichst niederschwelliger ist auch im Bachelorstudiengang Gesundheitsförderung und Aufbau des Angebots sowie Personen, die als Multiplikato- Prävention ein wichtiges Thema. «Die Familie als kleinste ren agieren. «Damit sind beispielsweise bei Familien mit Mi- soziale Einheit ist in der Arbeit von Gesundheitsförderinnen grationshintergrund Personen gemeint, die denselben Hin- und Gesundheitsförderern eine der zentralen Zielgruppen», tergrund haben und im Projekt mitarbeiten», erläutert Zys- sagt Kerstin Jüngling, Dozentin und Fachbereichsleiterin set. Ein erfolgreiches Beispiel diesbezüglich seien die Kommunikation und Transformation im Studiengang. The- Femmes- und Hommes-Tische, bei denen in moderierten men der Gesundheitsförderung und Prävention, die einen Runden unter anderem Fragen zum Schweizer Gesundheits- direkten Bezug zum Familiensystem haben, gebe es zahlrei- system diskutiert werden. Die Moderatorin oder der Mode- che, zum Beispiel die Ernährung von Kleinkindern, die Me- rator stammt dabei häufig aus demselben Kulturkreis oder diennutzung und Digitalisierung oder die psychische Ge- sundheit der Eltern. «Die Studierenden lernen, die Relevanz eines Handlungsfelds einzuschätzen – und herauszufinden, was die Bedürfnisse der Familien in diesem sein könnten», erläutert Kerstin Jüngling. Danach ginge es um die entschei- dende Frage: «Wie bekommen wir Zugang zu den Familien?» MIT DIGITALEN ANGEBOTEN Diesen Zugang zu finden, sei nicht immer einfach, sagt die Sozialpädagogin. «Das System Familie ist sehr privat, da lässt SPRACHLICHE HÜRDEN man nicht jeden rein.» ABBAUEN Den künftigen Gesundheitsförderinnen und -förderern werde im Studiengang deshalb vermittelt, bei der Planung Rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung hat von Projekten an Stakeholder zu denken, die den Kontakt zu einen Migrationshintergrund. Während Migrantinnen den Familien ermöglichen könnten. «Bei einem Projekt in und Migranten in ihren Herkunftsländern meist zu der türkischen Community Berlins wollte ich die Väter mit- den gesündesten Individuen gehören und bei ihrer einbeziehen. Direkten Zugang zu diesen zu erhalten, war Ankunft in der Schweiz einen ähnlich guten oder aber schwierig», veranschaulicht Kerstin Jüngling, die in besseren Gesundheitszustand aufweisen als die Deutschlands Hauptstadt eine Fachstelle für Suchtpräventi- einheimische Bevölkerung, verliert sich dieser Vorteil on leitet. «Deshalb habe ich eine Moschee angefragt, ob ich häufig im Laufe der Zeit. Zur Verschlechterung der während des Freitaggebets das Projekt vorstellen darf.» Die Gesundheit trägt neben anderen Faktoren oft auch Moschee gab ihr die Erlaubnis – und Jüngling erreichte mit die sprachliche Barriere bei. Sie ist eine hohe Hürde ihrem Projekt die türkischen Väter. im Bereich der Gesundheitsversorgung, da sie einer Will Gesundheitsförderung und Prävention, dass die seits den Zugang zu dieser Versorgung und Botschaften bei den Familien tatsächlich ankommen und zu Gesundheitsinformationen, andererseits auch eine eine Wirkung erzielen, ist die Wahl der passenden Kommu- informierte Einwilligung zu Therapien und Behand nikationskanäle deshalb zentral – und laut Kersting Jüngling lungen erschwert. Im interprofessionellen Projekt keine einfache Aufgabe. «Welche Kanäle gewählt werden «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung» sollten, hängt von vielen Aspekten ab.» So gebe es Kulturen, ent wickeln Forschende der fünf Institute am Departe in denen das Reden im Mittelpunkt stehe, das Lesen jedoch ment Gesundheit deshalb verschiedene digital ge einen geringen Stellenwert habe. «Familien mit einem sol- stützte Gesundheitsversorgungsangebote für werden chen kulturellen Hintergrund erreicht man nicht mit einer de Eltern und Eltern mit Kleinkindern, die aufgrund 20-seitigen Informationsbroschüre.» Gelingt es Gesund- kultureller und sprachlicher Barrieren beim Zugang heitsförderinnen und -förderern jedoch, durch den richtigen zur Geburtshilfe, Pflege, Ergotherapie, Physiotherapie Kanal Zugang zu den Familien zu finden und ihr Vertrauen und Pädiatrie benachteiligt sind. Die Angebote sollen zu gewinnen, «dann können sie über diesen Zugang Bot- diesen Zugang vereinfachen und die Kompetenzen schaften zu weiteren Handlungsfeldern vermitteln – und er- der Zielgruppe im Umgang mit dem Gesundheitswe reichen über die Familie zahlreiche weitere Settings.» // sen erhöhen. Für das Projekt, das vom ZHAW Forschungsschwerpunkt «Gesellschaftliche Integration» finanziert wird, arbeiten die Forschenden eng mit den Departementen Angewandte Linguistik, Angewandte blog.zhaw.ch/vitamin-g Psychologie und Soziale Arbeit zusammen. Die Patchworkfamilie: Diese Familien sind bunt zusammengewürfelt. Mindestens eine Partnerin oder ein Partner bringt Kinder aus früheren Beziehungen mit, manchmal kommen gemeinsame Kinder hinzu oder die Kinder sind zu Besuch, die im Alltag bei der ExPartne rin, dem ExPartner leben. Eine veraltete – und eher negative – Bezeichnung für dieses Model ist Stieffamilie. 16 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E « DA S Z I E L I ST E S , D I E nen bei der Geburt wie etwa einer Periduralanästhesie chenbett eine grössere Rolle zu spielen begann. Später habe kommt, wenn die Frauen während der Schwangerschaft ich in Deutschland als freipraktizierende Hebamme gearbei- kontinuierlich begleitet wurden. So werden auch Wochen- tet und konnte die Familien umfassend über einen längeren bettdepressionen frühzeitig erkannt. Zeitraum betreuen. Zudem war ich von 2004 bis 2009 in den FA M I L I E N Z U STÄ R K E N » USA in einem Zentrum für schwangere Frauen im Teen- Wie können Hebammen mit einer Wochenbettdepres- ager-Alter tätig und habe das Konzept namens Centering sion umgehen? Pregnancy kennen gelernt. Da haben wir das Family-Sys- Zuerst einmal ist es wichtig, die Frauen und ihr Umfeld auf tems-Care-Modell ebenfalls angewendet. die mögliche psychische Erkrankung vorzubereiten. Sie soll- Hebammen sind vor allem rund um die Geburt gefragt. Doch ihre Kompetenzen ten den Unterschied zwischen dem Baby-Blues – einem kur- Was bedeutet Centering Pregnancy? reichen von der Familienplanung bis zur frühen Elternschaft. Eine längere Begleitung durch zen Stimmungstief aufgrund der Hormonumstellung – und Die Idee ist aus der Not heraus entstanden: Eine amerikani- einer ausgeprägten Depression kennen. So sind sie für erste sche Hebamme stellte fest, dass sie mit den meisten Frauen die Hebamme hätte vor allem für vulnerable Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel, Anzeichen sensibilisiert. Wenn die Hebamme bereits vorher immer wieder die gleichen Themen besprach. Deshalb be- Fachbereichsleiterin im Bachelorstudiengang Hebamme. eine Beziehung zur Frau aufbauen kann, wird auch sie eine gann sie, die Schwangerenvorsorge in der Gruppe anzubie- sich anbahnende Wochenbettdepression besser erkennen – ten. Neben den Vorsorgekontrollen und der Wissensvermitt- VON ANDREA SÖLDI zum Beispiel wenn die werdende Mutter oft Befürchtungen lung wird damit der Austausch untereinander gefördert. Im äussert, der neuen Rolle nicht gewachsen zu sein. Zudem ist neuen Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz die Hemmschwelle, um die Probleme anzusprechen, tiefer wollen wir am Departement Gesundheit ebenfalls eine ent- und man kann schneller reagieren. sprechende Gruppe anbieten (siehe Zweittext). Was für Möglichkeiten haben Sie, wenn die Frau über- Wieso hapert es in der Schweiz derzeit mit dem Family- fordert ist mit dem Baby? System-Care-Ansatz? Wir unterstützen die Frauen dabei, sich Hilfe zu organisieren Ich muss vorausschicken, dass die Gesundheitsversorgung – zum Beispiel von einer Psychologin, einem Psychiater, von in der Schweiz sehr gut ist im Vergleich mit anderen Län- Sozialpädagogen oder auch aus dem privaten Umfeld. Ein dern. Auch werdende Mütter erhalten rund um die Geburt probates Mittel ist das sogenannte Genogramm. Dabei han- eine gute Betreuung, wobei oft verschiedene Berufsgruppen delt es sich um eine grafische Darstellung der Familiensitua- involviert sind, die teilweise unterschiedliche Empfehlungen tion sowie des Umfelds. Es kann Betroffenen helfen, die Res- abgeben. In der Spitex-Pflege zum Beispiel wird der Ansatz sourcen im eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis besser aber bereits verschiedentlich angewendet. Und auch Heb- zu erkennen und unterstützende Personen in den Familien- ammen, die ihn in der Aus- oder Weiterbildung kennenge- alltag miteinzubeziehen. Ein anderes wichtiges Instrument lernt haben, arbeiten entsprechend. ist das Hebammen-Assessment. In der Schweiz gibt es auch allerorts kostenlose Mütter- Was ist ein Hebammen-Assessment? und Väterberatungen, die nach der Zeit des Wochen- Mit dem Fragebogen können wir gemeinsam mit der Familie betts die Betreuung sehr kompetent übernehmen. Herausforderungen, Ressourcen und Ziele festhalten sowie Kommt es da nicht zu Doppelspurigkeiten, wenn die ihnen Informationen zukommen lassen. Dies ermöglicht Hebammen in dieser Phase auch noch präsent sind? Es habe viele Vorteile, wenn Hebammen auch vor und nach der Geburt stärker involviert werden, sagt Karin Brendel, den werdenden Eltern, informierte Entscheidungen zu tref- Im Bereich nach der Geburt gibt es tatsächlich eine kleine die im Bachelorstudiengang Hebamme doziert. fen. Das Ziel ist es, die Familien zu stärken. Am besten ist es, Überschneidung. Es kann sein, dass deshalb auf der einen wenn das Assessment bereits vor der Geburt erstellt wird, oder anderen Seite vereinzelt Verlustängste vorhanden sind. aber es ist auch im Wochenbett noch möglich. Besonders Doch es geht nicht darum, sich gegenseitig etwas wegzuneh- wertvoll ist der Ansatz bei vulnerablen Familien. men. Im Gegenteil: Wir streben eine gute interprofessionelle Frau Brendel, normalerweise kommt die Hebamme nen, also noch bevor sich akute Probleme bemerkbar ma- rund um die Geburt ins Spiel. Das Konzept Family Sys- chen. Beim Ansatz der Family Systems Care soll mit der kon- Gibt es denn bereits Hebammen, die nach dem Family- tems Care sieht vor, dass sie die Familien über eine län- tinuierlichen Begleitung durch die Hebamme die Selbststän- Systems-Care-Ansatz arbeiten, oder ist das reines gere Zeitspanne betreut. Suchen Hebammen neue digkeit der Frauen und ihrer Partner gefördert werden. Wunschdenken? Aufgaben, weil ihnen die Arbeit ausgeht? Ursprünglich kommt das Modell aus Kanada. In der Schweiz Karin Brendel: Nein, natürlich nicht. Doch wir sind ausgebil- Wie konkret können Frauen während der Schwanger- gibt es Hebammen-Netzwerke wie etwa Familystart in Zü- det für die Begleitung von Paaren beginnend bei der Famili- schaft vom Fachwissen einer Hebamme profitieren? rich und Basel, die sehr familienzentriert und ressourcen- enplanung über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett Eine relativ häufige Komplikation ist der Gestationsdiabetes. orientiert arbeiten. Das Angebot ist aber meist auf die Be- bis zur Stillzeit und frühen Elternschaft. Derzeit liegt unser Durch eine gezielte Beratung in den Bereichen Ernährung treuung im Wochenbett beschränkt und richtet sich vor al- Hauptarbeitsfeld im Bereich Geburt und Wochenbett. In der Schwangerenvorsorge arbeiten wir eher wenig. Doch es hat und Bewegung können wir die Therapie unterstützen und gleichzeitig die Gesundheitskompetenzen der Frauen lang- lem an vulnerable Familien. «Die Zufrie- viele Vorteile, wenn wir auch vorher und nachher noch etwas fristig verbessern. Werden Schwangere ausschliesslich von Haben Sie selber entsprechende Erfahrungen gesam- denheit der stärker involviert werden. einer Gynäkologin betreut, wie hierzulande üblich, ist die Zeit für eine eingehende Beratung häufig zu knapp. melt? In meiner Ausbildung Anfang der 1990er-Jahre in Deutsch- Frauen steigt.» Welche Vorteile sind das zum Beispiel? land lag der Fokus noch stark auf der Geburt – einer sehr me- Aktuelle Forschungen zeigen, dass die Zufriedenheit der Welches sind die Vorteile für Geburt und Wochenbett, dikalisierten Geburt zudem. Doch kurz danach setzte – wie Frauen steigt. Zudem kommt es zu weniger medizinischen wenn Hebammen die Frauen bereits kennen? in der Schweiz auch – allmählich ein Umdenken ein. Die Spi- Interventionen, wenn wir bereits präventiv tätig werden kön- Auch hier zeigen Studien, dass es weniger oft zu Interventio- talaufenthalte wurden kürzer, womit die Hebamme im Wo- 18 V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020 19
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