FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW

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                                                                  NR. 9 NOVEMBER 2020
 Für Health Professionals
 mit Weitblick

FAMILIENSACHE               Erste Hebammen
                            mit Masterdiplom
                                               Firmen sollten
                                               Bewegung fördern
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
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                                                                      I N H A LT                                                                                        EDITORIAL

                            DOSSIER:                                           12    DIE FAMILIE IM WANDEL
                                                                                     Alleinerziehende, Patchwork- und Regenbogenfamilien:
                             FAMILIENSACHE
                                                                                                                                                  FAMILIEN SIND
                                                                                     Der Diversität von Familienmodellen wird im Gesund-
                                                                                     heitswesen nicht überall genügend Rechnung getragen.

                                                                               18
                                                                                                                                                  FÜR DIE VERSORGUNG
                                                                                     «DAS ZIEL IST ES, DIE FAMILIEN ZU STÄRKEN»
                                                                                     Eine längere Begleitung durch die Hebamme hätte für
                                                                                     Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel, Fachbereichs-
                                                                                     leiterin im Bachelorstudiengang Hebamme.

                                                                               25    WIE ALESSIO LERNT, SEINE RECHTE HAND
                                                                                     ZU GEBRAUCHEN
                                                                                     Alessio D. hat eine seltene Erbkrankheit. Bei Haus-
                                                                                                                                                  UNVERZICHTBAR
                                                                                     besuchen übt Ergotherapeutin Johanna Jeltsch mit dem
                                                                                     aufgeweckten Jungen, wie er beide Hände benutzen
                                                                                     kann. Das entlastet auch seine Familie.                                                                        dene kanadische Professorinnen, Janice
                                                                                                                                                                                                    Bell und Lorraine Wright, nahezu ihr gan-
Ob in der frühkindlichen Prävention oder bei der Pflege und Betreuung                                                                                                                               zes Leben an der Frage: Wie können An-
von Angehörigen: Familien spielen in der Gesundheitsversorgung eine
                                                                               28    DAS FAMILIENSYSTEM IN BALANCE HALTEN
                                                                                     Wenn jemand erkrankt, sind Angehörige und enge                                                                 und Zugehörige in den Prozess von Krank-
wichtige Rolle. Wie Gesundheitsfachpersonen Familien unterstützen und                Vertraute mitbetroffen. Der Ansatz der familienzentrierten                                                     heit und Heilung integriert werden? Ihr
in ihre Arbeit miteinbeziehen, zeigen die Beiträge in diesem Dossier.                Pflege und Beratung trägt diesem Umstand Rechnung.                                                             Konzept der familienzentrierten Pflege
                                                                                                                                                                                                    wird seit ein paar Jahren auch bei uns ge-
                                                                                                                                                                                                    lehrt und findet mehr und mehr Anklang
                                                                                                                                                                                                    bei anderen Gesundheitsberufen.
                               SPEKTRUM                                FORSCHUNG                               WEITERBILDUNG                                                                            Ich meine, wir haben schon eine Men-
                                                                                                                                                                                                    ge erreicht, wenn man bedenkt, dass
                        4      News aus dem Departement            32 Bewegung im Büro zahlt              36 «Schmerz hat viele
                               Gesundheit                              sich aus                                Gesichter»
                                                                                                                                                                                                    noch in den 1970er-Jahren Eltern ihre
                                                                                                                                                                                                    kranken Kinder nur wenige Stunden in
                                                                                                                                                                                                             der Woche im Spital besuchen
                               MEINUNG                                                                                                               Auf das Familiensystem wurde                            durften. Heute beziehen wir Müt-

                        5      Bersets Erstberater könnte                                                                                            im Gesundheitswesen bislang                             ter und Väter in die Pflege und
                                                                                                                                                                                                             die Behandlung weitgehend ein.
                               eine Physiotherapeutin sein                                                                                           zu wenig eingegangen.                                   In der Versorgung von Erwachse-

                                                                                                                                                    E
                               Hannu Luomajoki, Leiter Mas-
                                                                                                                                                                                                             nen, ob diese nun an Krebs oder
                               terprogramm für muskuloskelet-
                               tale Physiotherapie, erklärt,                                                                                                                                                 an Diabetes leiden, braucht es
                               weshalb der Direktzugang zur            Fördern Unternehmen die                 In der Arbeit von Gesundheits-                  s gibt glückliche Familien. Und      noch einiges an Entwicklung: in der Hal-
                               Physiotherapie hilft, die Kosten        Bewegung ihrer Mitarbeitenden,          fachpersonen spielen Schmer-                    es gibt unglückliche Familien, wie   tung aller daran Beteiligten, aber auch bei
                               im Gesundheitswesen zu                  profitieren beide Seiten davon.         zen eine zentrale Rolle. Doch wo                wir nicht nur vom Anfang von         den Ressourcen, die wir dafür aufwen-
                               senken.                                 Wie sich die Bewegungsför-              liegen ihre Ursachen? Und                       Tolstois «Anna Karenina» wis-        den, um An- und Zugehörige einzubezie-
                                                                       derung im Arbeitsumfeld um-             wie lassen sie sich am besten         sen. So oder so: Die Familie begleitet jede    hen und zu unterstützen. In entsprechen-
                                                                       setzen lässt, hat das Institut          behandeln? Das CAS «Schmerz           und jeden von uns das ganze Leben lang.        de Angebote und Modelle zu investieren,
                               I M P O R T R ÄT                        für Gesundheitswissenschaften           Basic» vermittelt Expertise zum
                                                                                                                                                         Angesichts der gesellschaftlichen Ver-     fällt oft schwer, weil die Pflege- und Be-
                                                                       im Auftrag des Bundes unter-            komplexen Thema.
                        6      Powerfrau ohne Zeit für                 sucht.                                                                        änderungen können wir heute mit dem            treuungsarbeit von Familien zu den wenig
                               Langeweile                                                                                                            Begriff der Familie im erweiterten Sinn        direkt messbaren Einflüssen auf Krank-
                               Marion Huber forscht und unter-                                                                                       das Netzwerk von An- und Zugehörigen           heit und Heilung gehört.
                                                                                                               G E W U S S T W I E!
                               richtet, malt, kocht und betreibt
                                                                       STUDIUM                                                                       bezeichnen. Dazu gehören neben Famili-             Ich erhoffe mir, dass Sie, wo auch im-
                               ein Guesthouse. Die stellver-                                              38 Sturzfrei durch die Winterzeit          enmitgliedern auch Freunde; Menschen           mer möglich, die Grenzen für den Einbe-
                               tretende Leiterin der Fachstelle    34 Den Masterabschluss in                   Stürze sind die häufigste             also, die wir als Nächste erleben und die      zug von An- und Zugehörigen in Ihrem
                               Interprofessionelle Lehre und           der Hebammentasche                      Unfallursache in der Schweiz.
                                                                                                                                                     uns in Krisen unterstützen. Auf dieses         Umfeld verschieben und damit anderen
                               Praxis ist ein Tausendsassa.            Diesen Sommer haben die                 Wie das Risiko eines Sturzes mit
                                                                       ersten Hebammen an der ZHAW             ein paar einfachen Verhaltens-        «Familiensystem» ist die Gesundheitsver-       die Möglichkeit geben, sich von einem
                                                                       ihren Masterstudiengang abge-           weisen verringert werden kann,        sorgung bisher viel zu wenig eingegangen.      «Familiensystem» getragen zu fühlen. In
                                                                       schlossen. Drei Absolventinnen          weiss Ergotherapeutin Dietlinde       Daher arbeiten zwei mit dem Departe-           diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine in-
TITELSEITE:                                                            erzählen, wie ihre neuen Kompe-         Arbenz.                               ment Gesundheit freundschaftlich verbun-       teressante Lektüre.
Die klassische Kleinfamilie: Ein Ehepaar mit seinen                    tenzen in den Arbeitsalltag
leiblichen Kindern – über Jahrzehnte war dies im westlichen            einfliessen.
Kulturraum das einzige Familienmodell, das gesellschaftlich                                               39 AG E N DA                               Sie haben die Möglichkeit,
akzeptiert war. Verschiedene Entwicklungen, etwa die                                                                                                 ausgewählte Beiträge online
hohe Scheidungsrate oder die Anerkennung gleichgeschlechtlicher                                                                                      zu lesen und zu diskutieren:
Partnerschaften, haben seither zu neuen Formen des familiären                                                                                                                                       Andreas Gerber-Grote
Zusammenlebens geführt.                                                                                   40 C A M P U S                                  blog.zhaw.ch/vitamin-g
                                                                                                                                                                                                    Direktor Departement Gesundheit

2     V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020                                                                                                                                                           V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020   3
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
SPEKTRUM                                                                                                                                                    MEINUNG

    MAS PHYSICIAN ASSOCIATE SKILLS              NATIONALER GESUNDHEITSBERICHT              ÜBERARBEITETE AUSGABE                         BIODESIGN-KURS

    MIT NEUEM MAS                               DATENLÜCKEN BEI                            STANDARDWERK                                  PRODUKTE
    ÄRZTLICHE AUFGABEN                          KINDER- UND JUGEND-                        FÜR HEBAMMEN                                  ENTWICKELN IM
    ÜBERNEHMEN                                  GESUNDHEIT                                 Sie dient Hebammen als umfassendes            GESUNDHEITSWESEN
                                                                                           Lehrbuch und Nachschlagewerk in
    In den angelsächsischen Ländern gibt                                                   der Ausbildung, beim Berufseinstieg           Wie lassen sich Bedürfnisse im Gesund-
    es die Funktion der Physician Associates                                               und in der täglichen Praxis: Die              heitswesen erkennen? Und wie können
    schon seit den 1960er-Jahren: Gesund-                                                  «Hebammenkunde» befasst sich auf              diese mit innovativen Produkten und
    heitsfachpersonen, die im klinischen                                                   über 1100 Seiten mit sämtlichen Hand-         Dienstleistungen bedient werden? Im
    Bereich an der Schnittstelle von Ärzte-                                                lungsfeldern der Hebammenarbeit:              neuen CAS «Swiss Biodesign for Med-
    schaft und interprofessionellen Behand-                                                von der Begleitung der Frauen, Neuge-         tech Innovators» der ZHAW School
    lungsteams tätig sind und dabei ärztli-                                                borenen und Familien bis hin zur For-         of Management and Law lernen Teil-
    che Tätigkeiten delegiert übernehmen.                                                  schung und Lehre. Mit einprägsamen            nehmende, unbefriedigte Bedürfnisse
    Mit dem Master of Advanced Studies                                                     Texten, Praxistipps sowie rund 800            im klinischen Setting zu analysieren
    (MAS) «Physician Associate Skills»                                                     Abbildungen werden selbst komplexe            und für diese neue Produkte im Bereich
    bietet das Institut für Gesundheitswis-                                                Themen verständlich erklärt. Die über-        der Medizinal- und Gesundheitstechno-                               PROF. DR. HANNU LUOMAJOKI
    senschaften am Departement Gesund-          Kinder, Jugendliche und junge Erwach-      arbeitete und erweiterte 6. Auflage           logie zu entwickeln. In dem berufs-                        Leiter Masterprogramm «Muskuloskelettale Physiotherapie»

    heit eine neue Weiterbildung an, die        sene bis 25 Jahre sind in der Schweiz      enthält aktuelle Evidenzen, Forschungs-       begleitenden Kurs kommt das Biode-
    Gesundheitsfachpersonen befähigt, an        insgesamt bei guter Gesundheit. Dies       ergebnisse und Leitlinien. Die neuen          sign-Trainingskonzept der Stanford
    dieser Schnittstelle zu arbeiten. Absol-
    ventinnen und Absolventen überneh-
                                                geht aus dem ersten zu dieser Bevölke-
                                                rungsgruppe erstellten nationalen
                                                                                           Herausgeberinnen, zu denen mit Karin
                                                                                           Brendel auch eine Dozentin am Depar-
                                                                                                                                         University zur Anwendung, bei der die
                                                                                                                                         Marktanalyse direkt in den Spitälern          BERSETS ERSTBERATER KÖNNTE
    men im Stations- oder Praxisalltag dele-
    giert ärztliche Aufgaben und engagieren
                                                Gesundheitsbericht hervor, den das
                                                Schweizerische Gesundheitsobserva-
                                                                                           tement Gesundheit gehört, legten
                                                                                           grossen Wert auf die Verknüpfung von
                                                                                                                                         eine wichtige Rolle spielt. Ab Frühlings-
                                                                                                                                         semester 2021 wird ein interdisziplinärer     EINE PHYSIO THERAPEUTIN SEIN
    sich für eine effektive Kommunikation       torium Obsan im Sommer publiziert          praxis- und evidenzbasiertem Wissen.          Biodesign-Kurs auch für die Master-

                                                                                                                                                                                       U
    mit den Patientinnen und Patienten,         hat. Mit dem Bericht sollen primär po-     Zum Buch beigetragen haben mit                studiengänge an den ZHAW-Departe-
    Angehörigen sowie anderen Fachleuten        litisch Verantwortliche «eine Grundlage    Mona Schwager, Regula Hauser, Kristin         menten Gesundheit, School of Enginee-                 m das Kostenwachstum im Ge-       Kurzum, ein Grossteil der Betroffenen
    und Berufsgruppen. Sie arbeiten inter-      für die Planung effizienter und wirk-      Hammer, Christine Loytved und                 ring sowie Management and Law                         sundheitswesen zu dämpfen, hat    könnte sich den Gang zur Hausärztin
    professionell und interdisziplinär, um      samer Gesundheitsförderung, Präven-        Katharina Albert weitere Hebammen-            angeboten.                                            Bundesrat Alain Berset diesen     sparen. Sinnvoller wäre es – und ganz im
    eine optimale Patientenbehandlung und       tion und Gesundheitsversorgung erhal-      Expertinnen des Departements.                                                               Sommer ein umfassendes Massnahmen-        Sinne von Bundesrat Berset –, wenn die
    -schulung zu gewährleisten. Der MAS         ten», wie das Obsan schreibt. Neben                                                           zhaw.ch/imm/casswissbiodesign            paket vorgestellt. Es sieht unter ande-   Leute mit Beschwerden am Bewegungs-
    ergänzt und vertieft die Fähigkeiten, die   der erfreulichen Bilanz bemängelt der                         Hebammenkunde                                                            rem vor, dass sich Krankenversicherte     apparat zuerst in die Physiotherapie ge-
    das Departement Gesundheit seit 2016        Bericht jedoch die lückenhafte Daten-                         Lehrbuch für Schwanger-                                                  nicht mehr direkt bei einem Spezialis-    hen würden. Das hat verschiedene Vor-
    in Zusammenarbeit mit dem Kantons-          lage zur Gesundheit von Kindern,                              schaft, Geburt, Wochen-    INSTITUT FÜR PHYSIOTHERAPIE                   ten anmelden dürfen, sondern immer        teile: Studien aus dem Ausland haben
                                                                                                              bett und Beruf
    spital Winterthur im CAS «Klinische         Jugendlichen und jungen Erwachsenen.                                                                                                   zuerst eine Erstberatungsstelle aufsu-    gezeigt, dass der Direktzugang zur Phy-
    Fachspezialistin / Klinischer Fachspe-      Am Bericht waren auch Forschende
                                                                                                              Andrea Stiefel, Karin
                                                                                                              Brendel, Nicola Bauer      WEITERBILDUNG UNTER                           chen müssen. Gesundheitsminister Ber-     siotherapie deutlich tiefere Kosten ver-
    zialist» vermittelt.                        des ZHAW-Departements Gesundheit                              (Hrsg.)
                                                                                                                                         NEUER LEITUNG                                 set sprach von Hausärzten, telemedi-      ursacht, da weniger Operationen, bild-
                                                beteiligt: Sie verfassten die Kapitel                         6. aktualisierte und                                                     zinischen Zentren oder HMO-Praxen         gebende Verfahren und medikamentöse
           zhaw.ch/gesundheit/pa-skills         «Körperliche Gesundheit und Entwick-                          erweiterte Auflage                                Seit Anfang Okto-      als mögliche «Erstberater». Die Rolle     Behandlungen durchgeführt werden.
                                                lung» sowie «Chronische Krankheiten                           (2020)                                            ber verantwortet       könnten jedoch auch Physiotherapeu-       Nachgewiesen wurde auch, dass der Di-
                                                und Behinderungen».                                           Thieme Verlag, Stuttgart                          Thomas Benz die        tinnen und -therapeuten übernehmen.       rektzugang nicht zu Lasten der Betroffe-
                                                                                                                                                                fachliche Leitung           Denn 30 bis 40 Prozent der Perso-    nen geht: Fälle, bei denen eine medizini-
    STUDIE ZUM CORONAVIRUS                                                                                                                                      der Bereiche Wei-      nen, die einen Hausarzt aufsuchen,        sche Behandlung nötig war, wurden

    WER HAT ANTIKÖRPER ENTWICKELT?
                                                                                                                                                                terbildung und         haben Beschwerden am Bewegungsap-         von den Physiotherapeuten erkannt und
                                                                                                                                                                Dienstleistung am      parat, zum Beispiel Rückenschmerzen,      an die entsprechenden Spezialistinnen
                                                                                                                                         Thomas Benz            Institut für Physio-   Probleme in den Knien oder andere         überwiesen. Und nicht zuletzt zeigt sich
                                                Forschende am Departement Gesund-          «Swiss School of Public Health plus» soll                            therapie. Benz         Abnützungserscheinungen in Gelenken       bei den Patienten und den Ärztinnen
                                                heit untersuchen im Zusammenhang mit       politischen Entscheidungsträgern wichtige     leitete elf Jahre das interdisziplinäre       und Muskeln. Solche Beschwerden be-       eine hohe Zufriedenheit mit dem Mo-
                                                dem Coronavirus derzeit bei rund 600       epidemiologische Daten zur Pandemie           Therapieteam des Schmerzzentrums an           deuten allerdings nicht, dass man krank   dell: Bei den Ersteren, weil sie schneller
                                                Gymnasial- und Berufsschülerinnen und      und zur Immunität der Schweizer Bevöl-        der RehaClinic Bad Zurzach. Als Physio-       ist: Rund 95 Prozent davon sind eben      zu einer Therapie kommen, bei den
                                                Schülern aus Winterthurer sowie bei        kerung gegen das Coronavirus liefern.         therapeut sowie Bewegungs- und Sport-         keine Krankheit, sondern einfach «nur»    Letzteren, weil sie entlastet werden.
                                                ZHAW-Studierenden die sogenannte           Dazu werden verschiedenste Alters-,           wissenschaftler war er in seiner berufli-     Beschwerden. In diesen Fällen sind kei-       Der Direktzugang zur Physiothera-
                                                Seroprävalenz. Diese gibt Auskunft darü-   Berufs- oder Risikogruppen auf eine An-       chen Laufbahn in unterschiedlichsten          ne medizinischen Massnahmen nötig.        pie ist in 74 Ländern weltweit längst Tat-
                                                ber, ob eine Person Antikörper gegen das   steckung durch das Virus und die Entwick-     Anstellungen im Akutbereich, in ambu-         Es braucht keine Labordiagnostik und      sache – mit durchgehend guten Erfah-
                                                Virus entwickelt hat. Die Studie «Corona   lung einer Immunität hin untersucht.          lanten Settings sowie bei einer Versiche-     selten bildgebende Verfahren wie Rönt-    rungen. Machen wir ihn auch in der
                                                Immunitas – Winterthur» der Forschungs-    Dabei soll auch erhoben werden, welche        rung tätig. Seit 2012 doziert er zudem an     gen oder MRI. Auch auf Medikamente        Schweiz zur Realität, Herr Berset! //
                                                stelle für Gesundheitswissenschaften ist   Effekte Schutzmassnahmen bei beson-           verschiedenen Bildungseinrichtungen           kann häufig getrost verzichtet werden:
                                                Teil der landesweiten Initiative «Corona   ders exponierten Berufen oder bei Risiko-     mit Fokus auf die Rehabilitation von          Sie sind gemäss neusten Studien nicht
                                                                                                                                                                                                                                      blog.zhaw.ch/vitamin-g
                                                Immunitas». Die Initiative der Stiftung    gruppen haben.                                Schmerzpatientinnen und -patienten.           so effektiv wie bislang angenommen.

4   V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020                                                                                                                                                                                      V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020   5
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
I M P O RT R ÄT                                                                                                                                               I M P O RT R ÄT

                                                                                                                                                 Eine Frau mit verschiedensten Interessen und meist mehreren
                                                                                                                                                 Jobs gleichzeitig: Marion Huber, stellvertretende Leiterin der Fachstelle
                                                                                                                                                 Interprofessionelle Lehre und Praxis am Departement Gesundheit.

POWERFRAU                                                                                                                                             sich für eine Ausbildung zur Physiothera-
                                                                                                                                                      peutin. Das Malen aber blieb – mit Aus-
                                                                                                                                                                                                         als Physiotherapeutin, dann auch als Heil-
                                                                                                                                                                                                         praktikerin und später als wissenschaftli-
                                                                                                                                                                                                                                                       setzt wird. Für ihre Doktorarbeit validierte
                                                                                                                                                                                                                                                       sie das Instrument.

OHNE ZEIT FÜR
                                                                                                                                                      nahme einiger Jahre – ihr liebstes Hobby.          che Mitarbeiterin tätig. Im Team wurde            Heute ist sie nur noch unregelmässig
                                                                                                                                                      Mittlerweile hat sie ein eigenes Atelier, wo       aber nicht «nur» interprofessionell, son-     in der Basler Rehabilitationsklinik. Team
                                                                                                                                                      sie praktisch jeden Abend vor der Lein-            dern bereits transprofessionell gearbeitet.   und Stimmung seien nicht mehr wie frü-
                                                                                                                                                      wand sitzt. Oft malt sie schon am Morgen,          «Wir hatten alle dieselben Weiterbildun-

LANGEWEILE
                                                                                                                                                                                                                                                       her, musste sie feststellen. Ein guter Zeit-
                                                                                                                                                      beim Kafi, bevor sie an die Hochschule             gen, obwohl wir aus unterschiedlichen         punkt für die international anerkannte
                                                                                                                                                      geht – sofern ihr Hund nicht die ganze Auf-        Berufsgattungen kamen. So erledigten          Wissenschaftlerin, einen Gang runterzu-
                                                                                                                                                      merksamkeit fordert.                               alle die gleichen Aufgaben am Patien-         schalten. Nach 15 Jahren, in denen sie sich
                                                                                                                                                                                                         ten.» Sie nahm ihre Wachkoma-Patienten        selten mehr als eine Woche Ferien im Jahr
Sie forscht und unterrichtet, malt, kocht und                                                                                                         Es braucht einen Perspektivenwechsel
                                                                                                                                                      Als stellvertretende Leiterin der Fachstelle
                                                                                                                                                                                                         oft mit nach draussen. «Wir legten uns ins
                                                                                                                                                                                                         Gras oder spielten Fussball», erzählt sie.
                                                                                                                                                                                                                                                       und kaum mehr als vier Stunden Schlaf
                                                                                                                                                                                                                                                       pro Nacht gönnte, will sie es beruflich ein
betreut Gäste in ihrem Guesthouse: Marion                                                                                                             Interprofessionelle Lehre und Praxis ist           «Ich fand das sinnvoller, als sie durchzu-    wenig ruhiger angehen und ihren Fokus
Huber ist ein Tausendsassa und hat schon viel                                                                                                         es ihr wichtig, unter den verschiedenen            bewegen.» Für die Physiotherapeutin war       verstärkt auf die Studierenden und die
in ihrem Leben erlebt. Etwas vom Eindrück-                                                                                                            Gesundheitsberufen ein gemeinsames
                                                                                                                                                      Sprachverständnis zu schaffen. So finden
                                                                                                                                                                                                         es körperlich anstrengend, da sie alle Be-
                                                                                                                                                                                                         wegungen mit dem Patienten synchron
                                                                                                                                                                                                                                                       Forschung, aber auch auf die Malerei und
                                                                                                                                                                                                                                                       das Guesthouse legen. Von Routine ist
lichsten war für die stellvertretende Leiterin                                                                                                        am Departement Gesundheit regelmäs-                machte. Trotzdem: Die Mühen lohnten           Marion Huber dennoch weit entfernt. //
der Fachstelle Interprofessionelle Lehre                                                                                                              sig Lehrveranstaltungen statt, an denen            sich. «Es gab kaum einen Patienten, der
und Praxis am Departement Gesundheit                                                                                                                  angehende Pflegefachleute,                                        nicht reagierte, und wenn es

die Arbeit mit Wachkoma-Patienten.                                                                                                                    Hebammen, Physio- und Er-
                                                                                                                                                      gotherapeutinnen und -the-
                                                                                                                                                                                         «Ich bin selten                nur die Körperspannung war,
                                                                                                                                                                                                                        die rauf oder runter ging.»
VON MARION LOHER
                                                                                                                                                      rapeuten sowie Gesundheits-        nur an einem                   Marion Huber bezeichnet
                                                                                                                                                      förderinnen und -förderer
                                                                                                                                                      teilnehmen und zusammen
                                                                                                                                                                                         Projekt dran,                  sich selbst als «energetisch
                                                                                                                                                                                                                        nervösen Menschen, der im
                                                                                                                                                      Themen bearbeiten. «Wir            fahre meistens                 Leben schnell unterwegs
                                                                                                                                                      sensibilisieren Studierende                                       ist». Nie hätte sie deshalb
                                                                                                                                                                                         mehrgleisig.»

    E
                                                                                                                                                      dafür, einander besser zuzu-                                      gedacht, dass sie einmal mit
                                                                                                                                                      hören und nachzufragen,                                           Wachkoma-Patienten arbei-
              s gibt etwas, das Marion Huber in                                                                                                       wenn sie etwas nicht verstehen.» Es gebe           ten würde. Sie hatte grossen Respekt da-
              ihrem Leben gar nicht mag – und                                                                                                         Begriffe, die von allen Berufsgruppen ver-         vor, sich auf deren Tempo einzulassen.
              das ist Routine. «Ich brauche Ab-                                                                                                       wendet werden, jede aber etwas anderes             Doch wie so vieles in ihrem Leben hat sie
              wechslung, viel Abwechslung so-                                                                                                         darunter verstehe. «Wir müssen lernen,             es einfach getan, weil sie spürte, dass es
    gar», sagt die 54-Jährige und lacht. Vor kur-                                                                                                     die Perspektive zu wechseln und nicht per          richtig war. «Als ich den ersten Patienten
    zem hat die Dozentin am ZHAW-Departe-                                                                                                             se vom eigenen Verständnis auszugehen»,            behandelte, konnte ich automatisch run-
    ment Gesundheit das von ihren Eltern                                                                                                              so die Expertin. Für eine gute und profes-         terfahren.»                                        MARION HUBER
    geerbte Haus im Schwarzwald zu einem                                                                                                              sionelle Zusammenarbeit im Gesund-
    Guesthouse umgebaut. Schon bald möchte                                                                                                            heitsbereich sei dies enorm wichtig, nur so        Auch Rückschläge halten sie nicht auf              ist seit 2009 stellvertretende Leiterin der
    sie dort an den Wochenenden für ihre Gäs-                                                                                                         könnten Missverständnisse, Doppelspu-              Irgendwann aber stiess sie mit ihrem Wis-          Fachstelle Interprofessionelle Lehre und
    te kochen sowie Ski- und Wandertouren                                                                                                             rigkeiten und Behandlungsfehler am Pati-           sen an Grenzen und sie wollte mehr. Doch           Praxis am Departement Gesundheit. Seit
    anbieten. Die Arbeit an der ZHAW soll des-      zentin für das Wissenschaftliche Arbeiten.    Aufgewachsen ist die Tochter einer Pia-             enten vermieden werden. Seit 2017 ist dies         eine durch einen Zeckenbiss ausgelöste             2008 verantwortet sie die studiengang­
    wegen aber nicht zu kurz kommen. «Ich           Entspannt und lässig gekleidet in Jeans       nistin und Stieftochter eines Arztes in Ver-        nicht mehr bloss trockene Theorie für die          Borreliose, die zu einer vorübergehenden
                                                                                                                                                                                                                                                            übergreifenden Module und seit 2013 das
    hatte in meinem Leben meist mehrere Jobs        und Bluse sitzt die umtriebige Wissen-        bier im Kanton Wallis. Im Alter von acht            Studierenden. Im Rahmen des Modells                Halbseitenlähmung führte, und ein Snow-
                                                                                                                                                                                                                                                            Fach Wissenschaftliches Arbeiten, bei
    gleichzeitig», sagt die ausgebildete Physio-    schaftlerin an diesem Nachmittag in der       Jahren zog es die Familie zurück nach               ZIPAS, der Zürcher interprofessionellen            board-Unfall, bei dem sie sich den Unter-
                                                                                                                                                                                                                                                            dem sie auch als Dozentin tätig ist. Nach
    therapeutin mit einem Augenzwinkern.            Kantine des neuen Hochschulgebäudes.          Deutschland, mit 25 Jahren kam Marion               klinischen Ausbildungsstation, können sie          schenkel zertrümmerte, stoppten die Po-
                                                                                                                                                                                                                                                            dem Abschluss zur diplomierten Physio­
                                                    Ihr Sprachtempo ist hoch, sie hat viel zu     Huber wieder in die Schweiz. Zuvor hatte            dieses berufsübergreifende Arbeiten in             werfrau abrupt. Mehr als zweieinhalb Jah-
    Kreativer Ausgleich                             erzählen. «Ich bin selten nur an einem        sie ihr Abitur in einem Internat in Nieder-         Spitälern unter Supervision an echten Pa-          re war sie ausser Gefecht gesetzt. Doch sie
                                                                                                                                                                                                                                                            therapeutin und Heilpraktikerin studierte
    Marion Huber arbeitet seit 2008 an der          Projekt dran, fahre meistens mehrglei-        sachsen abgeschlossen. Ihr Schwerpunkt-             tientinnen und Patienten praktizieren.             kämpfte sich zurück und begann, nebst              sie Psychologie an der Universität Basel
    Hochschule. Sie hat die interprofessionel-      sig», sagt sie und wirft ihre langen, grau-   fach damals war Kunst, wobei es ihr be-                 Dass es diese Möglichkeit gibt, ist            der Arbeit auf der Wachkoma-Station an             und schloss mit der Masterarbeit im Fach­
    le Ausbildung in den vier Gesundheitsbe-        melierten Haare in den Nacken. In den         sonders die Malerei angetan hatte. Wenn             auch Marion Huber zu verdanken. Sie hat            der Universität Basel Psychologie zu stu-          gebiet Neurowissenschaften ab. Seit
    rufen Pflege, Hebamme, Physio- und Er-          letzten Monaten hat die gebürtige Deut-       immer möglich nahm sie Pinsel und Farb-             viel Erfahrung in dieser Art der Zusam-            dieren. Im Rahmen ihrer Masterarbeit im            2015 ist sie zudem Professorin für Inter­
    gotherapie mit aufgebaut. Mittlerweile ist      sche vor allem die Umstrukturierung des       kasten in die Hand und malte. Einige ihrer          menarbeit und das Konzept mitgestaltet.            Fachgebiet Neurowissenschaften entwi-              professionelle Zusammenarbeit und
    sie stellvertretende Leiterin der Fachstelle    Gesamtunterrichts der interprofessionel-      Bilder wurden auch ausgestellt. Ganz auf            Bevor sie an die ZHAW kam, hatte sie in            ckelte sie ein interprofessionelles Beob-          Kommunikation. Die 54­Jährige wohnt in
    Interprofessionelle Lehre und Praxis, Ver-      len Module beschäftigt. «Das war viel Ar-     die Malerei zu setzen, habe sie sich aber           der Rehabilitationsklinik REHAB-AG Ba-             achtungsraster für Menschen im Wachko-             Schaffhausen und steht kurz davor, ihren
    antwortliche für studienübergreifende Mo-       beit, auch weil Corona innert kurzer Zeit     nicht getraut. «Ich hätte mich zu oft zu            sel die Wachkomastation mitaufgebaut               ma, das inzwischen in diversen Zentren in          Wohnsitz nach Winterthur und in den
    dule sowie Fachverantwortliche und Do-          mehr E-Didaktik forderte.»                    stark verbiegen müssen.» Sie entschied              und war dort während 15 Jahren zunächst            der Schweiz und in Deutschland einge-              Schwarzwald zu verlegen.

6   VITAMIN G NR . 9 NOV EM B ER 2 02 0                                                                                                                                                                                                                      VITAMI N G N R. 9 N OVEMB ER 2020        7
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
NEUER GESUNDHEITSCA MPUS                                                                              NEUER GESUNDHEITSCA MPUS

                       W I L L KO M M E N I M
                    H AU S A D E L I N E FAV R E
     Im Sommer ist das Departement Gesundheit in sein neues Zuhause auf dem Winterthurer
    Sulzerareal eingezogen. Benannt nach einer bekannten Walliser Hebamme, bietet der Neubau
      nicht nur eine moderne und grosszügige Infrastruktur für Studierende und Mitarbeitende,
     sondern mit seiner unkonventionellen Architektur auch viel fürs Auge. Ein kleiner Einblick.

                                                                                                   Aussen Industriecharme, innen Hochschulatmosphäre:
                                                                                                   Der Charakter der Giesserei, die früher hier stand, blieb
                                                                                                   in der Fassade des Haus Adeline Favre erhalten. Im
                                                                                                   Neubau werden jedoch keine Stahlteile mehr gegossen,
                                                                                                   sondern Health Professionals praxisnah aus- und
                                                                                                   weitergebildet (linke Seite).

                                                                                                   Viel Platz fürs gemeinsame Lernen, den spontanen
                                                                                                   Austausch und die Znünipause: Das verschachtelte Atrium
                                                                                                   erinnert mit den zahlreichen Terrassen, dem Outdoor-
                                                                                                   Mobiliar und der in den Beton gemeisselten Kunst am Bau
                                                                                                   an ein urbanes Quartier (rechte Seite).

8   V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020                                                                                                                                    V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020   9
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
D O S S I E R | FA M I L I E N S A C H E

                                                                                                                                                                      FA M I L I E N S A C H E
                                                                                                                                                                   Der Vater, der die Schürfung am Knie
                                                                                                                                                           seiner Tochter versorgt. Die Enkelin, die mit ihrem
                                                                                                                                                              gebrechlichen Grossvater einen Spaziergang
                                                                                                                                                           macht. Der Sohn, der die Mutter betreut, während
                                                                                                                                                                 sie mit Grippe im Bett liegt. Diese Art der
                                                                                                                                                              einfachen familiären Gesundheitsversorgung
                                                                                                                                                               kennen die meisten von uns. Doch Familien
                                                                                                                                                            leisten noch viel mehr. Sie spielen deshalb in der
                                                                                                                                                                  Gesundheitsförderung und Prävention,
                                                                                                                                                            bei der Pflege und Betreuung, bei Therapien und
                                                                                                                                                                Behandlungen eine wichtige Rolle. Wie sie
                                                                                                                                                             unterstützt und in die Arbeit von Gesundheits­
                                                                                                                                                                fachpersonen einbezogen werden können,
                                                                                                                                                                            zeigt dieses Dossier.

                                                                                                                                            Die Bilder zum Dossierthema zeigen beispiel haft
                                                                                                                                            die heutige Diversität familiären Zusammenlebens.
                                                                                                                                            Die Aufnahmen mit den Playmobilfiguren sind an
                                                                                                                                            beliebten Winterthurer Familienausflugzielen entstan-
                                                                                                                                            den: Im Technorama (linke Seite), im Totentäli (Cover),
                                                                                                                                            auf dem Spielplatz Nägelsee (S. 17), im Skills Park
Alleinerziehende Mütter und Väter: In der Schweiz ist die Scheidungsrate die letzten Jahre zwar leicht gesunken, doch nach wie              (S. 24) und an der Töss (S. 31).
vor gehen 40 Prozent aller Ehen in die Brüche. Hinzu kommen unverheiratete Paare, die ihre Beziehung beenden. Die Folge: Alleinerziehende
Personen und ihre Kinder bilden die zweithäufigste Familienkonstellation. Den Löwinnenanteil machen alleinerziehende Mütter aus.
                                                                                                                                                                                                                                                 V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020   11
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E                                                                                                   D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E

             D I E FA M I L I E I M WA N D E L                                                                                                   zeigt sich auch in der Definition der Familie durch die Eidge-
                                                                                                                                                 nössische Kommission für Familienfragen (EKFF), eine aus-
                                                                                                                                                 serparlamentarische Kommission und beratendes Organ des
                                                                                                                                                                                                                         Hammer. So haben gleichgeschlechtliche Paare das Be-
                                                                                                                                                                                                                         suchsrecht auf der Intensivstation eines Spitals in vielen
                                                                                                                                                                                                                         Kantonen nur, wenn sie in einer eingetragenen Partnerschaft
                                                                                                                                                 Bundesrates. Die EKFF definiert die Familie als «jene Le-               leben – die in der Schweiz erst 2007 eingeführt wurde. «Das
                                                                                                                                                 bensformen, die in den Beziehungen von Eltern und Kindern               Gesundheitswesen handelt in dieser Hinsicht nicht aktiv,
      Die bürgerliche Kernfamilie war in der westlichen Gesellschaft über Jahrzehnte das dominie-                                                im Mehrgenerationenverbund begründet und gesellschaft-                  sondern reagiert – teilweise auch etwas träge – auf die gesetz-
        rende Familienmodell – und ist es auch heute noch. Historisch gesehen noch sehr jung,                                                    lich anerkannt sind». Die Definition ist laut der EKFF «be-             lichen Anpassungen.» Das hat laut Hammer auch damit zu
                                                                                                                                                 wusst offen gehalten». Sie verzichte auf wertende Aussagen              tun, dass Entscheidungsträger, wenn es um sensible Berei-
       wurde sie in den vergangenen Jahrzehnten jedoch um neue Formen des Zusammenlebens                                                         und trage der Vielfalt der Familienformen und dem wandeln-              che wie das Arztgeheimnis geht, juristisch auf der sicheren
         ergänzt. Im Gesundheitswesen wird dem nicht überall genügend Rechnung getragen.                                                         den Verständnis von Familie Rechnung.                                   Seite sein wollen.
                                                                                                                                                                                                                             Allerdings werde das Gesetz der Realität nicht immer ge-
                                                              VON TOBIAS HÄNNI                                                                                                                                           recht, sagt Hammer. «Das zeigt sich exemplarisch bei den
                                                                                                                                                      GESUNDHEITSWESEN: DIVERSER UMGANG                                  pränatalen Screeningtests. Die schwangere Frau hat per Ge-

     E
                                                                                                                                                 Für die Kommission ist Familie nicht bloss Privatsache, son-            setz das Recht zu entscheiden, ob sie solche Tests durchfüh-
                                                                                                                                                 dern «von grundlegender Bedeutung für das menschliche                   ren will oder nicht.» Den Entscheid dafür oder dagegen fälle
               ine Frau, ein Mann und ihre leiblichen Kinder: Lange             durch die Blutsverwandtschaft bestimmte, sondern durch sei-      Zusammenleben». Sie bedürfe deshalb der «gesellschaftli-                sie in den allermeisten Fällen jedoch nicht allein, sondern
               galt diese Zusammensetzung als Archetyp einer Fa-                ne Stellung im Produktionsprozess», erläutert Gemperle.          chen Anerkennung und Unterstützung». Doch wie aner-                     mit dem Partner. Auch weitere Angehörige würden häufig in
               milie. Und auch wenn das familiäre Umfeld vieler                                                                                  kannt ist die Familie im Gesundheitswesen? Und welche                   den Entscheid miteinbezogen. «Das Thema Familie bloss
               Menschen in Westeuropa längst nicht mehr diesem                                                                                   Unterstützung erhalten Angehörige verschiedenster Famili-               aus der juristischen Sichtweise zu beurteilen, greift deshalb
     Bild entspricht, weil sie in Patchwork- oder Regenbogenfami-                              … Z U R B Ü R G E R L I C H E N FA M I L I E      enmodelle in diesem gesellschaftlich relevanten Sektor?                 zu kurz», so Hammer. Bei der Ärzteschaft als wichtigem Ent-
     lien leben oder alleinerziehend sind, heisst es auf der deutsch-           Gegen Ende des Mittelalters fand laut dem Soziologen dann             «Eine allgemeine Aussage zum Einbezug der Angehöri-                scheidungs- und Verantwortungsträger in vielen Institutio-
     sprachigen Ausgabe von Wikipedia: «Die menschliche Kern-                   ein tiefgreifender Wandel statt: Arbeiten und Wohnen trenn-      gen im Gesundheitswesen lässt sich nicht machen – dafür ist             nen des Gesundheitswesens mangle es aber an einem Um-
     familie besteht aus einer Mutter und einem Vater sowie ihren               ten sich zunehmend, angetrieben unter anderem durch die          der Umgang mit dem Thema innerhalb des Sektors zu unter-                gang mit dem Thema, der über den rein juristischen Aspekt
     gemeinsamen leiblichen Kindern, die in einem Haushalt zu-                  wachsende Bedeutung der Lohnarbeit. «Vor allem in den            schiedlich», sagt Raphaël Hammer, Medizinsoziologe und                  hinausgehe. «Hier bräuchte es in der Ausbildung eine stärke-
     sammenleben.» Angesichts des gesellschaftlichen Wandels                    wohlhabenden städtischen Haushalten fand dabei eine zu-          Professor an der Hochschule für Gesundheit Waadt (HESAV,                re Sensibilisierung für das Thema Familie.» //
     werde das Modell in neuer Zeit hinterfragt, so Wikipedia wei-              nehmende Intimisierung der Kernfamilie und der Beziehung         HES-SO) in Lausanne. Familien und deren zunehmender Di-
     ter und verweist dabei auf einen Artikel der deutschen «Zeit»              zwischen Eltern und Kindern statt», sagt Gemperle. Mit dem       versität Rechnung getragen werde wohl am stärksten im am-                   Haushalte mit Kindern unter 25 Jahren:
     von März 2020: «Das Ende der Kernfamilie». Ob diese in                     Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert erhielt das Mo-       bulanten Bereich. «Die Spitex beispielsweise erhält häufig di-
     nächster Zeit tatsächlich dem Niedergang geweiht ist, scheint              dell für immer weitere Bevölkerungskreise Bedeutung.             rekten Einblick in das soziale Umfeld der Klienten und kann                 Das bürgerliche Familienmodell
     jedoch fraglich. So kam der Bundesrat in seinem Familienbe-                «Gleichzeitig fanden auch Grossfamilien und Mehrgenera-          dieses in ihre Arbeit mit einbeziehen.» In der stationären, kli-            bleibt in der Schweiz dominant
     richt 2017 zum Schluss, dass «die Zweielternfamilie statis-                tionenhaushalte infolge der gestiegenen Lebenserwartung,         nischen Medizin hingegen finde die Familie häufig keine gros-
     tisch vorherrschend bleibt» (siehe auch Grafik). Zumindest                 der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums eine        se Beachtung – geschweige denn neue Formen des familiären                                                                    2,3 %
                                                                                                                                                                                                                                         12,1 %
     für die Schweiz könne höchstens von einem moderaten                        nie dagewesene Verbreitung, nicht zuletzt zur Bewältigung        Zusammenlebens. Auch wenn sich einzelne Medizinerinnen
     Trend zur Pluralisierung von Familienformen ausgegangen                    wirtschaftlicher Not.» Zum dominanten und gesellschaftlich       und Mediziner durchaus für die Thematik interessieren wür-
     werden. «Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien oder                        prägenden Modell wurde die bürgerliche Kernfamilie laut          den, fehle ihnen wohl schlicht die Zeit, sich auch noch um die
     Dreigenerationenfamilien gibt es, aber ihre Verbreitung ist                Gemperle deshalb erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts, ins-      Familie der Patienten zu kümmern, sagt Hammer. «Vor allem               5,5 %
     deutlich geringer, als viele mediale und politische Diskurse               besondere während des rasanten wirtschaftlichen Auf-             bei operativen Eingriffen wird der Patient als Einzelperson be-
     zur Vielfalt modernen Familienlebens andeuten», kommt                      schwungs der 1950er- und 1960er-Jahre. «Der Anstieg der          trachtet und behandelt.» Im Gegensatz dazu werde etwa bei                   4,8 %
     der Bundesrat zum Schluss.                                                 Reallöhne ermöglichte es plötzlich auch den Arbeiterfami-        psychischen Problemen das familiäre Umfeld in der Behand-
         Ob die bürgerliche Kernfamilie langsam zum Auslaufmo-                  lien, das bürgerliche Leitideal zu leben: Die Frau blieb zu-     lung schon länger berücksichtigt.
     dell wird oder nicht, klar ist auf jeden Fall: Historisch gese-            hause und kümmerte sich um Haushalt und Familie.»                     Das gilt ebenso für die nichtärztlichen Gesundheitsberu-
     hen ist sie noch sehr jung: «Das heute vorherrschende Fami-                                                                                 fe. Laut Michael Gemperle wurden diese Berufe in den letzten
     lienmodell hat sich erst im 19. Jahrhundert als relevantes So-                                                                              Jahrzehnten mit dem stärkeren Einbezug der Sozialwissen-
     zialgebilde durchgesetzt», sagt der Soziologe Michael                                          K I N D E R A L S KO N S TA N T E            schaften zunehmend für das Familiensystem ihrer Klientin-                                                                                        75,3 %
     Gemperle, der am Departement Gesundheit in der Hebam-                      Während die mittelalterliche Kernfamilie um den Vater als        nen oder Patienten sensibilisiert. «Psychologie und Soziolo-
     menforschung tätig ist.                                                    Oberhaupt der Haushaltsgemeinschaft konstruiert war, ist         gie sind längst fester Bestandteil in der Ausbildung der Ge-
                                                                                das zentrale Element des bürgerlichen Familienmodells das        sundheitsberufe. Damit sind auch das Wissen über neue
                                                                                Kind. «Es bedurfte dafür einer eigentlichen Entdeckung der       Familienmodelle und das Verständnis für diese grösser als
             V O N D E R H A U S H A LT S G E M E I N S C H A F T …             Kindheit und der Eigenarten des Kindseins ab dem 17. Jahr-       noch vor ein paar Jahren.»
     Zwar sei die Kernfamilie in Mittel- und Westeuropa bereits im              hundert. Diese führte dazu, dass die Kinder zunehmend aus                                                                                         Ehepaare mit gemeinsamen Kindern
     Mittelalter zahlenmässig der häufigste Familientyp gewesen –               der Welt der Erwachsenen ausgeschlossen wurden», erklärt                                                                                          Unverheiratete Paare mit gemeinsamen Kindern
     und nicht, wie oftmals angenommen – die mehrgenerationelle                 Michael Gemperle die Entwicklung. Eine zentrale Rolle                     DA S G E S E T Z S A GT, WA S FA M I L I E I S T
                                                                                                                                                                                                                                  (inkl. Regenbogenfamilien)
     Grossfamilie, so Gemperle. «Gesellschaftliche Bedeutung                    spielte dabei der Schulbesuch. Immer wichtiger wurde auch        Das Verständnis allein reicht jedoch nicht aus, um den diver-
                                                                                                                                                                                                                                  Patchworkfamilien (inkl. Regenbogenfamilien)
     hatte das Konzept der Kleinfamilie damals aber kaum. Das ge-               die Erziehung, durch welche die Kinder den gesellschaftli-       sen Familienkonstellationen der Klientinnen und Patienten
     sellschaftlich relevante Sozialgebilde war die Haushaltsge-                chen Status der Familie zumindest erhalten, im besten Fall       gerecht zu werden. Der Umgang damit hängt auch von ande-                         Alleinlebende Mütter mit Kindern
     meinschaft», hebt Gemperle hervor. Zu dieser zählten neben                 aber verbessern sollten. «Das Kind ist seither das definieren-   ren Faktoren ab – darunter vor allem von den gesetzlichen
                                                                                                                                                                                                                                  Alleinlebende Väter mit Kindern
     dem Ehepaar und den Kindern auch Arbeitskräfte, etwa                       de Element sämtlicher Familienmodelle», sagt Gemperle.           Rahmenbedingungen. «In den Spitälern ist es entscheidend,
     Knechte und Mägde. «Es handelte sich in erster Linie um eine               Ob bei Patchworkfamilien, Alleinerziehenden oder Regen-          wer nach dem Gesetz als enger Angehöriger gilt und damit                    Quelle: «Familien in der Schweiz» – Statistischer Anhang des Familienberichts
     Arbeitsgemeinschaft, in der sich der Platz des Einzelnen nicht             bogenfamilien: Kinder seien die Konstante. Diese Konstante       zum Beispiel ein Informations- oder Besuchsrecht hat», sagt                 2017. Basiert auf kumulierten Daten von 2012 bis 2014.

12   V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020                                                                                                                                                                                                              V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020     13
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E                                                                                                    D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E

                              O H N E D I E FA M I L I E                                                                                   jahren das entscheidende soziale Bezugssystem bildet, ist
                                                                                                                                           frühkindliche Gesundheitsförderung und Prävention vor al-
                                                                                                                                           lem darauf ausgerichtet, Familien im Rahmen des Gesund-
                                                                                                                                                                                                                       mut zu verringern und Schutzfaktoren – etwa ein positives
                                                                                                                                                                                                                       Familienklima oder zusätzliche, verlässliche Bezugsperso-
                                                                                                                                                                                                                       nen – zu stärken», sagt Zysset. Gelinge es zudem, bei einem

                                GEHT’S NICHT
                                                                                                                                           heits-, des Bildungs- und des Sozialwesens interdisziplinär                 Kind die internen Schutzfaktoren zu fördern, unter anderem
                                                                                                                                           zu unterstützen.»                                                           ein positives Selbstbild, Problemlösefähigkeit oder Optimis-
                                                                                                                                               Dieser primär settingorientierte Ansatz richtet den Fokus               mus, dann könne sich dieses auch in einem widrigen Umfeld
                                                                                                                                           mehrheitlich nicht auf das Kind selbst, sondern auf seine re-               gut entwickeln. Doch wie stärkt man diese Schutzfaktoren,
                                                                                                                                           levante soziale und räumliche Umwelt aus, heisst es im Be-                  wenn Eltern zum Beispiel aufgrund einer Suchterkrankung
     Schulerfolg, berufliche Karriere, physische und psychische Gesundheit: In welchen familiären                                          richt. «Das ist in erster Linie die Familie des Kindes mit ihren            oder eines Lebens in Armut keine Kraft oder Zeit haben, sich
                                                                                                                                           primären Bezugspersonen sowie die Wohnumgebung.» Ge-                        um die Gesundheit ihrer Kinder zu kümmern? «In solchen
      Verhältnissen ein Mensch seine frühe Kindheit verbringt, wirkt sich auf sein ganzes Leben                                            linge es, diese sozialen Systeme so zu beeinflussen, dass die               Fällen können neben speziellen Programmen für belastete
       aus. Frühkindliche Gesundheitsförderung und Prävention ist damit eine gesellschaftlich                                              direkte Umwelt des Kindes gesundheitsförderlicher werde,                    Familien auch Kindertagesstätten ein Weg sein, um die Kin-
     wichtige Aufgabe. Und eine, die über das Familiensystem stattfinden muss. Die Herausforde-                                            «dann können die Massnahmen ihre präventive Wirkung                         der in ihrer Entwicklung zu fördern», so Zysset. Insbesonde-
                                                                                                                                           entfalten», schreibt das BAG. Und hebt dabei hervor,                        re Kinder aus vulnerablen Familien profitierten am meisten
           rung dabei: die richtigen Kanäle finden, um die Familien überhaupt zu erreichen.                                                wie wichtig die frühkindliche Prävention für                                               von Ausflügen, einer gesunden Ernährung
                                                           VON TOBIAS HÄNNI                                                                die weitere Entwicklung eines Menschen bis
                                                                                                                                           ins Erwachsenenalter ist. «Am umfassendsten
                                                                                                                                                                                                        «Das System                   oder der sozialen Interaktion in Kitas.

                                                                                                                                           belegt ist wohl der Zusammenhang von früh-                   Familie ist
                                                                                                                                                                                                                                                    D Ü R F T I G E DAT E N L A G E
                                                                                                                                           kindlicher Prävention, Schulerfolg und Erfolg
                                                                                                                                           auf dem Arbeitsmarkt.» Dieser Zusammen-
                                                                                                                                                                                                        sehr privat, da                Auf solche vulnerablen Familien legten die
                                                                                                                                           hang sei auch aus gesundheitlicher Sicht ent-                lässt man nicht                Forschenden des Departements Gesundheit in
                                                                                                                                           scheidend, so das BAG. Denn zwischen Schul-                                                 ihrer Übersichtsarbeit für den Bund ein be-
                                                                                                                                           erfolg, sozioökonomischem Status und dem                     jeden rein.»                   sonderes Augenmerk. Dazu zählen Familien
                                                                                                                                           Auftreten nichtübertragbarer Krankheiten –                                                  mit Migrationshintergrund, einem erhöhten
                                                                                                                                           wie Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen –                      Armutsrisiko, Gewalterfahrungen, einer Suchtproblematik
                                                                                                                                           bestehe eine starke Korrelation. Kurzum: Die familiären Be-                 oder einer psychischen Erkrankung mindestens eines Eltern-
                                                                                                                                           dingungen, in die ein Mensch geboren wird und in denen er                   teils. Bei betroffenen Familien besteht häufig eine Kombina-
                                                                                                                                           die ersten Jahre aufwächst, sind ausschlaggebend dafür, ob                  tion dieser Faktoren. «Studien zeigen, dass Kinder aus
                                                                                                                                           er später ein gesundes sowie sozial und beruflich erfolgrei-                solchen Familien oft bei schlechterer Gesundheit sind.
                                                                                                                                           ches Leben führt.                                                           Gleichzeitig nehmen die Familien gesundheitsfördernde und
                                                                                                                                                                                                                       präventive Angebote weniger stark in Anspruch oder werden
                                                                                                                                                                                                                       von diesen nicht erreicht», sagt Zysset. Die Forscherin hat im
                                                                                                                                                       R I S I KO FA K TO R E N V E R R I N G E R N ,                  Rahmen der BAG-Studie diese Problematik genauer unter
                                                                                                                                                           S C H U T Z FA K TO R E N S TÄ R K E N                      die Lupe genommen. Die Schwierigkeit dabei: Die Datenla-
                                                                                                                                           Um sicherzustellen, dass sich Kinder in den ersten Lebens-                  ge zur Gesundheit von Kindern zwischen null und vier Jahren
                                                                                                                                           jahren gesund entwickeln, muss Gesundheitsförderung und                     ist in der Schweiz eher dürftig. Und Daten zu Vulnerabilitäts-
                                                                                                                                           Prävention so früh wie möglich ansetzen. Das heisst, eigent-                und Risikofaktoren werden bei Erwachsenen zwar erhoben,
                                                                                                                                           lich schon vor der Geburt, wie Annina Zysset, wissenschaft-                 lassen sich jedoch ohne Angaben zur Elternschaft nicht ein-
                                                                                                                                           liche Mitarbeiterin an der ZHAW-Forschungsstelle Gesund-                    fach so auf Kinder übertragen. «Diese lückenhafte Daten-
                                                                                                                                           heitswissenschaften, hervorhebt: «Neben negativen Folgen                    lage macht es schwierig, herauszufinden, bei welchen
                                                                                                                                           für das ungeborene Kind kann ein ungesundes Verhalten                       Gruppen vulnerabler Familien der grösste Handlungsbedarf
                                                                                                                                           während der Schwangerschaft über epigenetische Mecha-                       besteht», sagt Annina Zysset.
                                                                                                                                           nismen das Genmaterial nachhaltig verändern – und sich
                                                                                                                                           so auch bei nachfolgenden Generationen noch bemerkbar
                                                                                                                                           machen.» So schlägt sich beispielsweise eine ungesunde Er-                               F L I C K E N T E P P I C H A N A N G E B OT E N
                                                                                                                                           nährung oder Alkoholkonsum dauerhaft und an verschiede-                     Bei ihrer Recherche hat sich die Wissenschaftlerin auf be-
                   In den ersten Lebensjahren eines Menschen ist die Familie das prägende soziale Bezugssystem. Sie beeinflusst            nen Stellen im Erbgut nieder.                                               stehende Angebote zu Gesundheitsförderung und Präventi-
                                   die Gesundheit und den sozioökonomischen Status bis ins Erwachsenenleben.                                   Zusammen mit anderen Forschenden des Departements                       on bei vulnerablen Familien konzentriert. Insgesamt 65 Pro-
                                                                                                                                           Gesundheit hat Zysset im Auftrag des BAG eine Übersichts-                   jekte aus der ganzen Schweiz hat sie zusammengetragen,

     I
                                                                                                                                           studie zu Gesundheitsförderung und Prävention in der frü-                   darunter Angebote und Anlaufstellen zur psychischen Ge-
                                                                                                                                           hen Kindheit – definiert als Lebensphase zwischen null und                  sundheit, zur Elternedukation, zur Ernährung oder zur Früh-
         n der Fachliteratur wird sie manchmal als «hidden health            Bekanntenkreis bewältigt werden. Das Familiensystem ist       vier Jahren – verfasst. «In dieser Zeit lernen Kinder Verhal-               förderung. «Insgesamt gibt es ein breites Angebot für vulne-
         care system», als verstecktes Gesundheitssystem, be-                jedoch vor allem auch entscheidend im Hinblick auf einen      tensweisen grossmehrheitlich von ihren Eltern – diese sind                  rable Familien – von Kanton zu Kanton bestehen aber auch
         zeichnet. Und sie gilt, was die Entwicklung eines Kindes            gesunden Lebensstil und auf Verhaltensweisen, die solchen     damit vielfach der einzige Kanal, um die Kinder zu errei-                   sehr grosse Unterschiede», sagt Zysset. So gebe es in grösse-
         in den ersten Lebensjahren angeht, als wichtigstes sozia-           Problemen vorbeugen. Eine an sich banale, doch umso wich-     chen», sagt die Forscherin. Präventive und gesundheitsför-                  ren und städtischen Kantonen meist ein weitaus grösseres
     les System: die Familie. Das familiäre Umfeld spielt in der             tigere Erkenntnis, wenn es um Gesundheitsförderung und        dernde Massnahmen müssten deshalb primär bei den Eltern                     Angebot an Projekten. Lücken zu identifizieren sei schwie-
     Bewältigung gesundheitlicher Herausforderungen häufig                   Prävention in der frühen Kindheit geht. So schrieb das Bun-   ansetzen und diese zu einem gesundheitsförderlichen Ver-                    rig, da die Projekte weder national noch auf kantonaler Ebe-
     eine zentrale Rolle; geschätzt wird, dass bis zu drei Viertel           desamt für Gesundheit (BAG) 2018 in einem Bericht zu dem      halten anregen. «Darüber hinaus sollten Familien darin un-                  ne von einer zentralen Stelle erfasst würden. «Es ist ein Fli-
     aller Gesundheitsprobleme im Familien-, Freundes- oder                  Thema: «Da die Familie für ein Kind in den ersten Lebens-     terstützt werden, Risikofaktoren wie Gewalt, Sucht oder Ar-                 ckenteppich an Angeboten von unterschiedlichsten Organi-

14   V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020                                                                                                                                                                                                            V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020   15
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E

     sationen und staatlichen Stellen.» Eine der Empfehlungen            derselben Sprachregion wie die Teilnehmenden. «So kön-
     der Forscherin ist deshalb der Aufbau einer nationalen Pro-         nen Inhalte kulturspezifisch aufbereitet werden. Und die
     jektdatenbank oder von kantonalen Plattformen. «Das wür-            Sprachbarriere, die ein häufiges Hindernis beim Zugang zu
     de die Koordination unter den Anbietern verbessern und da-          Angeboten darstellt, kann überwunden werden.»
     bei helfen, Familien die passenden Angebote vermitteln zu
     können», so Annina Zysset.
         Ihre Untersuchung der Angebote zeigte auch die Erfolgs-                  U N KO N V E N T I O N E L L E K A N Ä L E F I N D E N
     faktoren bezüglich Erreichbarkeit und nachhaltiger Unter-           Wie sich Angebote für Familien – insbesondere für vulnerab-
     stützung vulnerabler Familien auf: Dazu gehören unter an-           le – so entwickeln lassen, dass sie tatsächlich genutzt werden,
     derem ein professioneller und möglichst niederschwelliger           ist auch im Bachelorstudiengang Gesundheitsförderung und
     Aufbau des Angebots sowie Personen, die als Multiplikato-           Prävention ein wichtiges Thema. «Die Familie als kleinste
     ren agieren. «Damit sind beispielsweise bei Familien mit Mi-        soziale Einheit ist in der Arbeit von Gesundheitsförderinnen
     grationshintergrund Personen gemeint, die denselben Hin-            und Gesundheitsförderern eine der zentralen Zielgruppen»,
     tergrund haben und im Projekt mitarbeiten», erläutert Zys-          sagt Kerstin Jüngling, Dozentin und Fachbereichsleiterin
     set. Ein erfolgreiches Beispiel diesbezüglich seien die             Kommunikation und Transformation im Studiengang. The-
     Femmes- und Hommes-Tische, bei denen in moderierten                 men der Gesundheitsförderung und Prävention, die einen
     Runden unter anderem Fragen zum Schweizer Gesundheits-              direkten Bezug zum Familiensystem haben, gebe es zahlrei-
     system diskutiert werden. Die Moderatorin oder der Mode-            che, zum Beispiel die Ernährung von Kleinkindern, die Me-
     rator stammt dabei häufig aus demselben Kulturkreis oder            diennutzung und Digitalisierung oder die psychische Ge-
                                                                         sundheit der Eltern. «Die Studierenden lernen, die Relevanz
                                                                         eines Handlungsfelds einzuschätzen – und herauszufinden,
                                                                         was die Bedürfnisse der Familien in diesem sein könnten»,
                                                                         erläutert Kerstin Jüngling. Danach ginge es um die entschei-
                                                                         dende Frage: «Wie bekommen wir Zugang zu den Familien?»
     MIT DIGITALEN ANGEBOTEN                                             Diesen Zugang zu finden, sei nicht immer einfach, sagt die
                                                                         Sozialpädagogin. «Das System Familie ist sehr privat, da lässt
     SPRACHLICHE HÜRDEN                                                  man nicht jeden rein.»
     ABBAUEN                                                                  Den künftigen Gesundheitsförderinnen und -förderern
                                                                         werde im Studiengang deshalb vermittelt, bei der Planung
     Rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung hat                      von Projekten an Stakeholder zu denken, die den Kontakt zu
     einen Migrationshintergrund. Während Migrantinnen                   den Familien ermöglichen könnten. «Bei einem Projekt in
     und Migranten in ihren Herkunftsländern meist zu                    der türkischen Community Berlins wollte ich die Väter mit-
     den gesündesten Individuen gehören und bei ihrer                    einbeziehen. Direkten Zugang zu diesen zu erhalten, war
     Ankunft in der Schweiz einen ähnlich guten oder                     aber schwierig», veranschaulicht Kerstin Jüngling, die in
     besseren Gesundheitszustand aufweisen als die                       Deutschlands Hauptstadt eine Fachstelle für Suchtpräventi-
     einheimische Bevölkerung, verliert sich dieser Vorteil              on leitet. «Deshalb habe ich eine Moschee angefragt, ob ich
     häufig im Laufe der Zeit. Zur Verschlechterung der                  während des Freitaggebets das Projekt vorstellen darf.» Die
     Gesundheit trägt neben anderen Faktoren oft auch                    Moschee gab ihr die Erlaubnis – und Jüngling erreichte mit
     die sprachliche Barriere bei. Sie ist eine hohe Hürde               ihrem Projekt die türkischen Väter.
     im Bereich der Gesundheitsversorgung, da sie einer­                      Will Gesundheitsförderung und Prävention, dass die
     seits den Zugang zu dieser Versorgung und                           Botschaften bei den Familien tatsächlich ankommen und
     zu Gesundheitsinformationen, andererseits auch eine                 eine Wirkung erzielen, ist die Wahl der passenden Kommu-
     informierte Einwilligung zu Therapien und Behand­                   nikationskanäle deshalb zentral – und laut Kersting Jüngling
     lungen erschwert. Im interprofessionellen Projekt                   keine einfache Aufgabe. «Welche Kanäle gewählt werden
     «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung»                 sollten, hängt von vielen Aspekten ab.» So gebe es Kulturen,
     ent wickeln Forschende der fünf Institute am Departe­               in denen das Reden im Mittelpunkt stehe, das Lesen jedoch
     ment Gesundheit deshalb verschiedene digital ge­                    einen geringen Stellenwert habe. «Familien mit einem sol-
     stützte Gesundheitsversorgungsangebote für werden­                  chen kulturellen Hintergrund erreicht man nicht mit einer
     de Eltern und Eltern mit Kleinkindern, die aufgrund                 20-seitigen Informationsbroschüre.» Gelingt es Gesund-
     kultureller und sprachlicher Barrieren beim Zugang                  heitsförderinnen und -förderern jedoch, durch den richtigen
     zur Geburtshilfe, Pflege, Ergotherapie, Physiotherapie              Kanal Zugang zu den Familien zu finden und ihr Vertrauen
     und Pädiatrie benachteiligt sind. Die Angebote sollen               zu gewinnen, «dann können sie über diesen Zugang Bot-
     diesen Zugang vereinfachen und die Kompetenzen                      schaften zu weiteren Handlungsfeldern vermitteln – und er-
     der Zielgruppe im Umgang mit dem Gesundheitswe­                     reichen über die Familie zahlreiche weitere Settings.» //
     sen erhöhen. Für das Projekt, das vom ZHAW­
     Forschungsschwerpunkt «Gesellschaftliche Integration»
     finanziert wird, arbeiten die Forschenden eng mit den
     Departementen Angewandte Linguistik, Angewandte
                                                                                 blog.zhaw.ch/vitamin-g
     Psychologie und Soziale Arbeit zusammen.                                                                                              Die Patchworkfamilie: Diese Familien sind bunt zusammengewürfelt. Mindestens eine Partnerin oder ein Partner bringt Kinder aus
                                                                                                                                           früheren Beziehungen mit, manchmal kommen gemeinsame Kinder hinzu oder die Kinder sind zu Besuch, die im Alltag bei der Ex­Partne­
                                                                                                                                           rin, dem Ex­Partner leben. Eine veraltete – und eher negative – Bezeichnung für dieses Model ist Stieffamilie.
16   V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020
FAMILIENSACHE Erste Hebammen - Firmen sollten Bewegung fördern - ZHAW
D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E                                                                                                D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E

                « DA S Z I E L I ST E S , D I E
                                                                                                                                            nen bei der Geburt wie etwa einer Periduralanästhesie                 chenbett eine grössere Rolle zu spielen begann. Später habe
                                                                                                                                            kommt, wenn die Frauen während der Schwangerschaft                    ich in Deutschland als freipraktizierende Hebamme gearbei-
                                                                                                                                            kontinuierlich begleitet wurden. So werden auch Wochen-               tet und konnte die Familien umfassend über einen längeren
                                                                                                                                            bettdepressionen frühzeitig erkannt.                                  Zeitraum betreuen. Zudem war ich von 2004 bis 2009 in den

               FA M I L I E N Z U STÄ R K E N »
                                                                                                                                                                                                                  USA in einem Zentrum für schwangere Frauen im Teen-
                                                                                                                                            Wie können Hebammen mit einer Wochenbettdepres-                       ager-Alter tätig und habe das Konzept namens Centering
                                                                                                                                            sion umgehen?                                                         Pregnancy kennen gelernt. Da haben wir das Family-Sys-
                                                                                                                                            Zuerst einmal ist es wichtig, die Frauen und ihr Umfeld auf           tems-Care-Modell ebenfalls angewendet.
                                                                                                                                            die mögliche psychische Erkrankung vorzubereiten. Sie soll-
             Hebammen sind vor allem rund um die Geburt gefragt. Doch ihre Kompetenzen                                                      ten den Unterschied zwischen dem Baby-Blues – einem kur-              Was bedeutet Centering Pregnancy?
       reichen von der Familienplanung bis zur frühen Elternschaft. Eine längere Begleitung durch                                           zen Stimmungstief aufgrund der Hormonumstellung – und                 Die Idee ist aus der Not heraus entstanden: Eine amerikani-
                                                                                                                                            einer ausgeprägten Depression kennen. So sind sie für erste           sche Hebamme stellte fest, dass sie mit den meisten Frauen
          die Hebamme hätte vor allem für vulnerable Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel,                                           Anzeichen sensibilisiert. Wenn die Hebamme bereits vorher             immer wieder die gleichen Themen besprach. Deshalb be-
                        Fachbereichsleiterin im Bachelorstudiengang Hebamme.                                                                eine Beziehung zur Frau aufbauen kann, wird auch sie eine             gann sie, die Schwangerenvorsorge in der Gruppe anzubie-
                                                                                                                                            sich anbahnende Wochenbettdepression besser erkennen –                ten. Neben den Vorsorgekontrollen und der Wissensvermitt-
                                                          VON ANDREA SÖLDI
                                                                                                                                            zum Beispiel wenn die werdende Mutter oft Befürchtungen               lung wird damit der Austausch untereinander gefördert. Im
                                                                                                                                            äussert, der neuen Rolle nicht gewachsen zu sein. Zudem ist           neuen Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz
                                                                                                                                            die Hemmschwelle, um die Probleme anzusprechen, tiefer                wollen wir am Departement Gesundheit ebenfalls eine ent-
                                                                                                                                            und man kann schneller reagieren.                                     sprechende Gruppe anbieten (siehe Zweittext).

                                                                                                                                            Was für Möglichkeiten haben Sie, wenn die Frau über-                  Wieso hapert es in der Schweiz derzeit mit dem Family-
                                                                                                                                            fordert ist mit dem Baby?                                             System-Care-Ansatz?
                                                                                                                                            Wir unterstützen die Frauen dabei, sich Hilfe zu organisieren         Ich muss vorausschicken, dass die Gesundheitsversorgung
                                                                                                                                            – zum Beispiel von einer Psychologin, einem Psychiater, von           in der Schweiz sehr gut ist im Vergleich mit anderen Län-
                                                                                                                                            Sozialpädagogen oder auch aus dem privaten Umfeld. Ein                dern. Auch werdende Mütter erhalten rund um die Geburt
                                                                                                                                            probates Mittel ist das sogenannte Genogramm. Dabei han-              eine gute Betreuung, wobei oft verschiedene Berufsgruppen
                                                                                                                                            delt es sich um eine grafische Darstellung der Familiensitua-         involviert sind, die teilweise unterschiedliche Empfehlungen
                                                                                                                                            tion sowie des Umfelds. Es kann Betroffenen helfen, die Res-          abgeben. In der Spitex-Pflege zum Beispiel wird der Ansatz
                                                                                                                                            sourcen im eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis besser              aber bereits verschiedentlich angewendet. Und auch Heb-
                                                                                                                                            zu erkennen und unterstützende Personen in den Familien-              ammen, die ihn in der Aus- oder Weiterbildung kennenge-
                                                                                                                                            alltag miteinzubeziehen. Ein anderes wichtiges Instrument             lernt haben, arbeiten entsprechend.
                                                                                                                                            ist das Hebammen-Assessment.
                                                                                                                                                                                                                  In der Schweiz gibt es auch allerorts kostenlose Mütter-
                                                                                                                                            Was ist ein Hebammen-Assessment?                                      und Väterberatungen, die nach der Zeit des Wochen-
                                                                                                                                            Mit dem Fragebogen können wir gemeinsam mit der Familie               betts die Betreuung sehr kompetent übernehmen.
                                                                                                                                            Herausforderungen, Ressourcen und Ziele festhalten sowie              Kommt es da nicht zu Doppelspurigkeiten, wenn die
                                                                                                                                            ihnen Informationen zukommen lassen. Dies ermöglicht                  Hebammen in dieser Phase auch noch präsent sind?
               Es habe viele Vorteile, wenn Hebammen auch vor und nach der Geburt stärker involviert werden, sagt Karin Brendel,            den werdenden Eltern, informierte Entscheidungen zu tref-             Im Bereich nach der Geburt gibt es tatsächlich eine kleine
                                                 die im Bachelorstudiengang Hebamme doziert.                                                fen. Das Ziel ist es, die Familien zu stärken. Am besten ist es,      Überschneidung. Es kann sein, dass deshalb auf der einen
                                                                                                                                            wenn das Assessment bereits vor der Geburt erstellt wird,             oder anderen Seite vereinzelt Verlustängste vorhanden sind.
                                                                                                                                            aber es ist auch im Wochenbett noch möglich. Besonders                Doch es geht nicht darum, sich gegenseitig etwas wegzuneh-
                                                                                                                                            wertvoll ist der Ansatz bei vulnerablen Familien.                     men. Im Gegenteil: Wir streben eine gute interprofessionelle
     Frau Brendel, normalerweise kommt die Hebamme                          nen, also noch bevor sich akute Probleme bemerkbar ma-
     rund um die Geburt ins Spiel. Das Konzept Family Sys-                  chen. Beim Ansatz der Family Systems Care soll mit der kon-     Gibt es denn bereits Hebammen, die nach dem Family-
     tems Care sieht vor, dass sie die Familien über eine län-              tinuierlichen Begleitung durch die Hebamme die Selbststän-      Systems-Care-Ansatz arbeiten, oder ist das reines
     gere Zeitspanne betreut. Suchen Hebammen neue                          digkeit der Frauen und ihrer Partner gefördert werden.          Wunschdenken?
     Aufgaben, weil ihnen die Arbeit ausgeht?                                                                                               Ursprünglich kommt das Modell aus Kanada. In der Schweiz
     Karin Brendel: Nein, natürlich nicht. Doch wir sind ausgebil-          Wie konkret können Frauen während der Schwanger-                gibt es Hebammen-Netzwerke wie etwa Familystart in Zü-
     det für die Begleitung von Paaren beginnend bei der Famili-            schaft vom Fachwissen einer Hebamme profitieren?                rich und Basel, die sehr familienzentriert und ressourcen-
     enplanung über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett                  Eine relativ häufige Komplikation ist der Gestationsdiabetes.   orientiert arbeiten. Das Angebot ist aber meist auf die Be-
     bis zur Stillzeit und frühen Elternschaft. Derzeit liegt unser         Durch eine gezielte Beratung in den Bereichen Ernährung         treuung im Wochenbett beschränkt und richtet sich vor al-
     Hauptarbeitsfeld im Bereich Geburt und Wochenbett. In der
     Schwangerenvorsorge arbeiten wir eher wenig. Doch es hat
                                                                            und Bewegung können wir die Therapie unterstützen und
                                                                            gleichzeitig die Gesundheitskompetenzen der Frauen lang-
                                                                                                                                            lem an vulnerable Familien.
                                                                                                                                                                                                                          «Die Zufrie-
     viele Vorteile, wenn wir auch vorher und nachher noch etwas            fristig verbessern. Werden Schwangere ausschliesslich von       Haben Sie selber entsprechende Erfahrungen gesam-                              denheit der
     stärker involviert werden.                                             einer Gynäkologin betreut, wie hierzulande üblich, ist die
                                                                            Zeit für eine eingehende Beratung häufig zu knapp.
                                                                                                                                            melt?
                                                                                                                                            In meiner Ausbildung Anfang der 1990er-Jahre in Deutsch-
                                                                                                                                                                                                                        Frauen steigt.»
     Welche Vorteile sind das zum Beispiel?                                                                                                 land lag der Fokus noch stark auf der Geburt – einer sehr me-
     Aktuelle Forschungen zeigen, dass die Zufriedenheit der                Welches sind die Vorteile für Geburt und Wochenbett,            dikalisierten Geburt zudem. Doch kurz danach setzte – wie
     Frauen steigt. Zudem kommt es zu weniger medizinischen                 wenn Hebammen die Frauen bereits kennen?                        in der Schweiz auch – allmählich ein Umdenken ein. Die Spi-
     Interventionen, wenn wir bereits präventiv tätig werden kön-           Auch hier zeigen Studien, dass es weniger oft zu Interventio-   talaufenthalte wurden kürzer, womit die Hebamme im Wo-

18   V I TA M I N G N R. 9 N OV E M B ER 2020                                                                                                                                                                                                V I TA M I N G N R. 9 N OVE M B ER 2020   19
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