Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg

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Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Foulspiel mit System
       Noch nie wurde ein sportliches Großereignis so kontrovers und emotional diskutiert
wie die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Im Fokus stehen die Rechte und Lebensumstände
der mehr als zwei Millionen Wanderarbeiter*innen. Doch auch die Rechte von Frauen und queeren

                                                                                                       Was wir von der umstrittenen WM
  Menschen werden am Persischen Golf beschnitten und von Pressefreiheit, freien Wahlen und
  einer kritischen Zivilgesellschaft kann in Katar keine Rede sein. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung
  möchte in dieser Broschüre durch das Vergrößerungsglas Fußball hintergründig, kritisch und
lösungsorientiert auf Politik, Gesellschaft und Sport in Katar schauen. Flankiert wird die Broschüre
     von Veranstaltungen, Videos und einer informativen Weltkarte. Mehr Informationen auf:
                                                                                                            in Katar lernen können
                                      www.rosalux.de/fairplay
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Foulspiel mit System
Was wir von der umstrittenen WM
     in Katar lernen können
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
IMPRESSUM
Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
V. i. S. d. P.: Jakob Littmann
Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de
ISSN 978-3-948250-43-0 · Redaktionsschluss: Oktober 2021
Redaktion: Ronny Blaschke, Ulrike Lauerhaß, Jakob Littmann, Nadja Dorschner
Illustrationen: Carolin Wedekind
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation

Erstellt mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ). Für diese Publikation ist allein die Herausgeberin verantwortlich.
Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt des Zuwendungsgebers wieder.
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Inhalt
4                                                    20 
Vorwort                                                «Katar ist reich genug, um die Rechte von Arbeits­
                                                       migrant*innen zu achten!»
5                                                      Viele migrantische Arbeiter*innen wollen die
Offensive der Autokraten                            Repres­sion in Katar nicht akzeptieren: Sie gründen
Katar ist seinen Nachbarn im Nahen Osten militärisch   Organisatio­nen, vernetzen sich mit Aktivist*in­nen
unterlegen. Als Ausgleich verfolgt das kleine Emirat   und verstärken den Reformdruck auf die Regierung.
eine aufwendige Strategie der Soft Power. Der          Ulrike Lauerhaß, Projektmanagerin der Rosa-Luxem­
Journalist Ronny Blaschke über Katars Inves­titionen   burg-Stiftung, hat mit einem Arbeiter aus Nepal über
in Wissenschaft, Kultur und vor allem – in Fußball.    deren Organisierung gesprochen.

8                                                   23 
Spielfelder der Politik                                Die Kraft des Dialogs
Instrument der Kolonialmächte, Akt der Emanzi­         Der FC Bayern reist regelmäßig ins Trainingslager
pation, Widerstand der Ultras: Die Wissenschaftler     nach Doha und lässt sich von Qatar Airways spon­
Jan Busse und René Wildangel werfen Schlaglichter      sern. Fans thematisieren mit Transparenten und
auf die Fußball­geschichte im Nahen Osten und          Veranstaltungen das Thema Menschenrechte.
in Nordafrika.                                         Doch die Klubführung lehnt einen Austausch darüber
                                                       weit­gehend ab. Beobachtungen eines Fans, der
11                                                   anonym bleiben möchte.
Ein Boykott würde nicht helfen
Internationale Arbeitsorganisationen beschleunigen     25
mit Kampagnen und Beratungen die Reformen              Die Illusion der Gleichstellung
in Katar. Doch noch wird die Umsetzung der             Frauen müssen in Katar für verschiedene Belange
neuen Gesetze nicht ausreichend kontrolliert.          die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen.
Der Gewerkschafter Dietmar Schäfers bilanziert         Doch das Herrscherhaus pflegt gegenüber dem
Errungenschaften und Rückschläge.                      Westen das Narrativ der starken und erfolgreichen
                                                       katarischen Frau. Der Journalist Ronny Blaschke über
13                                                     den Einfluss des Fußballs auf Gleichstellungsfragen.
Das Kafala-System besteht fort
Die katarische Regierung hat Reformen angestoßen.      28
Doch die Abwesenheit von Gewerkschaften, einer         Profite als Priorität
Zivilgesellschaft und Möglichkeiten des Rechts­        Katar und Deutschland arbeiten wirtschaftlich eng
beistands führen dazu, dass die Gesetze selten         zusammen, auch deshalb hält sich die Bundesregie­
greifen, analysiert die Aktivistin Vani Saraswathi.    rung offenbar mit Kritik zurück. Der LINKEN-Politiker
                                                       Michel Brandt fordert verbindliche Menschen­
16                                                   rechtskonzepte von WM-Gastgebern und der FIFA.
Das System Lohnraub
In Katar und anderen Golfstaaten müssen                30 
migrantische Arbeiter*in­nen oft auf vereinbarte       Gute Lösungen im schlechten System
Gehälter verzich­ten. Der Journalist Rejimon           Im Fußball kommen Sponsoren und Gastgeber
Kuttappan beschreibt, wie neue Schutzvor­kehrungen     zunehmend aus autoritär regierten Staaten. Wie
ins Leere laufen – und wie die Pandemie die            können Fans und Vereine in Europa konstruktiv
Ungleichheit verschärft hat.                           für Menschenrechte in der Ferne eintreten?
                                                       Der Journalist Ronny Blaschke formuliert einige
18                                                  Ansätze.
Auf der untersten Stufe
Viele Arbeiter*innen aus Nepal sehen sich gezwun­
gen, für mehr Lohn ins Ausland zu gehen, zum
Beispiel nach Katar. Die Gewerkschafterin Smritee
Lama beschreibt ein System der Ausbeutung – und
formuliert Vorschläge für menschenwürdigere
Arbeitsverhältnisse.
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Vorwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,

vor gut zehn Jahren hat die FIFA die    und haben Expert*innen von Men-         macherei der «gemeinnützigen»
Fußballweltmeisterschaft der Her-       schenrechtsorganisationen, aus Ge-      Verbände wie der FIFA sind – aber
ren 2022 an Katar vergeben. Zu-         werkschaften, aus der Politik, von      wenn die WM läuft, schalten doch
nächst gab es keine größeren Pro-       Fan­initiativen und migrantische Ar-    wieder viele von uns den Fernseher
teste, doch im Laufe der Jahre wurde    beiter aus Südasien selbst um ihre      ein. Wie können wir also die Faszi-
immer mehr über die Situa­tion und      Perspektiven gebeten. Wir beleuch-      nation und Kraft des Fußballs posi-
die teilweise menschenunwürdigen,       ten unter anderem die geopoliti-        tiv nutzen? Welche Beispiele gibt
sklavenähnlichen Bedingungen für        schen Hintergründe der Region, das      es, und was müsste passieren, dass
Gastarbeiter*innen in Katar berich-     «Sportswashing» Katars sowie die        wir eine Weltmeisterschaft voll und
tet. Im Fall der WM-Baustellen in Ka-   Geschichte migrantischer Arbeit in      ganz genießen können?
tar muss es eigentlich «Gastarbeiter»   Katar. Da­rüber hinaus diskutieren
heißen, denn die Arbeiter dort sind     wir die aktuellen Arbeitsrechtsrefor-   Ich wünsche Ihnen und euch viel
fast ausschließlich Männer und auf-     men und die Frauenrechte in Katar.      Spaß bei der Lektüre!
grund des Kafala-Systems, auf das       Wir versuchen aufzuzeigen, wie glo-
wir in diesem Heft näher eingehen,      bale Gerechtigkeit in der Sportindus-   Daniela Trochowski
auch nur für ihre jeweilige Vertrags-   trie aussehen könnte und welche         Geschäftsführendes Vorstandsmit-
dauer im Land geduldet sowie der        wertvollen Beiträge Vereine und Ver-    glied der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Willkür des Arbeitgebers ausgesetzt.    bände mit kritischem Engagement         Berlin, 2021
Unvergessen ist im Zusammenhang         und demokratischen Strukturen leis-
mit den ersten größeren Schlagzei-      ten können.
len über Menschenrechtsverletzun-          Ein Jahr vor der WM möchten
gen in Katar Franz Beckenbauers         wir mit diesem Heft verschiedenen
Aussage, dass er persönlich dort kei-   Stimmen einen Raum geben, ohne
ne Sklaven gesehen habe (die ange-      dabei die WM gänzlich abzustem-
kettet waren).                          peln und zum Boykott aufzurufen.
  Wir möchten uns ein Jahr vor          Wir wollen uns mit unserer eigenen
Beginn der Fußball-WM in Katar          Schizophrenie auseinandersetzen,
mit verschiedenen Aspekten rund         dass wir als Fußballfans mehrheit-
um das Turnier auseinandersetzen        lich gegen die Korruption und Geld-

4   Vorwort
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Offensive                                                                            wusst, dass sie bei einem vergleich-
                                                                                     baren Angriff – zum Beispiel durch
                                                                                     den Iran – klar unterlegen wären.

der Autokraten
                                                                                       Traditionell wurden in Katar die
                                                                                     wichtigsten Entscheidungen von ei-
                                                                                     ner Handvoll Menschen getroffen,
                                                                                     schreibt der Politikwissenschaftler
Katar ist seinen Nachbarn im Nahen Osten militärisch                                 Mehran Kamrava in seinem Buch
                                                                                     «Qatar: Small State, Big Politics».
unterlegen. Als Ausgleich verfolgt das kleine Emirat                                 Seit Jahrzehnten an der Macht: die
eine aufwendige Strategie der Soft Power. Der Journalist                             ursprünglich aus Saudi-Arabien
                                                                                     stammende Dynastie Al Thani. 1995
Ronny Blaschke über Katars Investitionen in Wissen­schaft,                           setzte Hamad bin Chalifa Al Thani in
Kultur und vor allem – in Fußball.                                                   einem unblutigen Putsch seinen ei-
                                                                                     genen Vater ab. In Saudi-Arabien
                                                                                     und in den VAE fürchteten die Herr-
Es ist ein deutliches Zeichen der Ab-     durfte den saudischen Luftraum nicht       scher Ähnliches und grenzten sich in
lehnung. Beim Halbfinale der Asien-       mehr nutzen. Durch die Unterbre-           der Folge zunehmend von Katar ab.
meisterschaft 2019 werfen Zuschau-        chung wichtiger Reisewege wurden
er des Gastgebers in Abu Dhabi            Familien getrennt. Das Wirtschafts-
Flaschen und Schuhe auf die Mann-         wachstum Katars erhielt eine Delle.        Für eine Zukunft ohne Öl und Gas
schaft aus Katar. Abu Dhabi ist die          «Viele Katarer haben eine Inva­
Hauptstadt der Vereinigten Arabi-         sion von Saudi-Arabien für möglich         Der neue Emir wollte Katar aus der
schen Emirate (VAE), einer wohlha-        gehalten», sagt Jassim Matar Kun-          Umklammerung Saudi-Arabiens lö-
benden Öl-Monarchie am Persischen         ji. Die Armee Saudi-Arabiens zählt         sen und leitete eine Modernisierung
Golf. Die VAE sind ein wichtiger Part-    rund 200.000 Soldaten, die von Ka-         ein. Er ließ Mitte der 1990er-Jahre
ner Saudi-Arabiens. Beide Staaten         tar 12.000. Um die militärische Un-        den Nachrichtensender Al Jazeera
machen seit Jahren mobil gegen den        terlegenheit auszugleichen, verfolgt       aufbauen und öffnete die Wirtschaft
wachsenden geopolitischen Einfluss        Katar eine aufwendige Strategie der        für ausländische Investoren. In Katars
aus Katar.                                Soft Power: mit milliardenschweren         Hauptstadt Doha entstanden Zweig-
   Drei Tage nach dem Halbfinale ge-      Investitionen in Kultur, Wissenschaft      stellen renommierter Universitäten
winnt Katar auch das Endspiel gegen       und Fußball, mit Großveranstal-            aus den USA, Großbritannien und
Japan und ist erstmals Asien­meister.     tungen, Vereinsbeteiligungen oder          Frankreich, drei der fünf ständigen
Politiker und Sportfunktionäre der        Sponsorenpartnerschaften etwa              Mitglieder des UN-Sicherheitsrats.
gastgebenden VAE boykottieren die         bei Paris Saint-Germain oder beim          Dazu das Museum für Islamische
Siegerehrung.                             FC Bayern München.                         Kunst, das Philharmonische Orches-
   «Der Fußball ist ein Spiegel der          Die Austragung der Fußball-WM           ter, das Doha Tribeca Film Festival,
Spannungen am Golf», sagt Jassim          2022 ist der wohl wichtigste Teil die-     überdies Werbevideos und Anzei-
Matar Kunji, früher Torhüter in der ka-   ser Strategie. Es lohnt sich also, den     genserien in westlichen Medien.
tarischen Profiliga und nun Journa-       Aufstieg Katars in Sport und Politik          Mit diesen Maßnahmen sicher-
list beim Fernsehsender Al Jazeera.       genau zu betrachten – ein Modell,          te sich Katar, etwa halb so groß wie
«Es wurden Sponsorenverträge zwi-         dem andere Staaten folgen könnten.         Hessen, Kontakte nach Europa und
schen den Ländern gekündigt und           Politik durch Fußball.                     Nordamerika, doch eine globale Öf-
Spielertransfers abgesagt. Wenn                                                      fentlichkeit erhielt die Soft Power
Teams aus Katar in den VAE spielten,                                                 noch nicht. Der Sport sollte es rich-
wurden sie von der Polizei begleitet.»    Putsch gegen den Vater                     ten. «Die Staaten am Golf wollen
                                                                                     neue Wirtschaftszweige entwickeln,
                                          Noch vor gut 50 Jahren lagen die           denn ihre traditionellen Einnahme-
Das Wirtschaftswachstum                   arabischen Machtzentren in Kairo,          quellen Öl und Gas sind endlich»,
                                          Bagdad und Damaskus. Die klei-             sagt der Sportwissenschaftler Mah-
erhielt eine Delle                        nen Scheichtümer auf der Arabi-            foud Amara von der Qatar Universi-
2017 hatte sich ein alter Konflikt am     schen Halbinsel wie Kuwait, Bah-           ty in Doha. «Der Sport dient als Stra-
Golf zugespitzt. Zu jener Zeit verhäng-   rain oder die VAE spielten noch            tegie, um auch andere Sektoren wie
te Saudi-Arabien eine wirtschaftliche     keine Rolle. Katar, zuletzt unter briti-   Tourismus, Handel oder Transport-
Blockade über Katar. Die VAE, Bah-        scher Kon­trolle, hatte im Jahr seiner     wesen bekannter zu machen.»
rain und Ägypten schlossen sich an        Unabhängigkeit 1971 gerade mal
und setzten ihre diplomatischen Be-       100.000 Einwohner*innen und stand
ziehungen mit Doha ebenfalls aus.         unter dem militärischen Schutz Sau-        Der erste Trikotsponsor
Ihr Vorwurf: Katar unterstütze Ter-       di-Arabiens. Als der übermächtige
rorgruppen und pflege eine zu gro-        Irak 1990 in Kuwait einmarschierte,
                                                                                     des FC Barcelona
ße Nähe zur Muslimbruderschaft            musste eine Staatenallianz unter der       Das katarische Herrscherhaus ließ ei-
und zum Iran. Saudi-Arabien stellte       Führung der USA zur Befreiung an-          ne der größten Sportakademien der
Lebensmittelexporte nach Katar ein.       rücken. Spätestens jetzt wurde den         Welt bauen, die Aspire Academy, er-
Die staatliche Fluglinie Qatar Airways    kleineren Staaten der Region be-           öffnet 2005. Dutzende internationale

                                                                                                  Offensive der Autokraten   5
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Wettbewerbe finden seitdem jährlich
in Doha statt. Weltweit Schlagzeilen
machte das erst im Dezember 2010
mit der Vergabe der Fußballweltmeis-
terschaft 2022 nach Katar. Kurz da-
nach erwarb Katar die Mehrheit des
französischen Topvereins Paris Saint-
Germain. Das Herrscherhaus besitzt
in Frankreich Immobilien, Firmen-
anteile und Kunst und unterhält gute
Beziehungen zu führenden Politikern,
etwa zum ehemaligen Präsidenten
Nicolas Sarkozy. Zudem wurde die
staatliche Fluglinie Qatar Airways der
erste Trikotsponsor des FC Barcelo-
na, nachdem dessen Mannschaft zu-
vor stets ohne Werbung auf der Brust
aufgelaufen war. Immer mehr Spit-
zenklubs absolvieren inzwischen Trai-
ningslager in Doha, der FC Bayern bis
heute zehnmal.                            die staatliche Fluglinie Etihad Air-   schen Frühlings 2011 und auch da-
   Katar investierte weit über 1,5 Mil-   ways, Konkurrenz von Emirates und      nach: für die Muslimbruderschaft
liarden Euro in den europäischen          Qatar Airways. Die zuständige «City    in Ägypten, für islamische Kräfte in
Fußball. In Deutschland, Großbritan-      Football Group» spannte ein globales   Tunesien, für die Rebellen in Libyen
nien und Frankreich steht die Finanz-     Netzwerk und erwarb Vereinsanteile     gegen Gaddafi und in Syrien gegen
abwicklung in der Kritik, schließlich     in New York, Melbourne und Mum-        Assad. Zudem verweigerte Katar der
seien Besitzer und Sponsor kaum           bai sowie in Chengdu, im Südwes-       von Saudi-Arabien angeführten Mi-
voneinander zu trennen. Auch in der       ten Chinas. Etihad Airways möchte      litärallianz im Krieg in Jemen die be-
arabischen Welt wächst der katari-        Chengdu als ein Drehkreuz für den      dingungslose Unterstützung.
sche Einfluss. Das ärgert den langjäh-    Flugverkehr in Ostasien entwickeln.       Saudi-Arabien und seine Verbün-
rigen Hegemon Saudi-Arabien, sagt         Und in Katar wiederum wird das Sta-    deten riefen daraufhin 2014 zunächst
der Experte für Sportökonomie Si-         dion für das WM-Finale 2022 von        ihre Botschafter aus Katar zurück.
mon Chadwick: «Eine Agentur wollte        chinesischen Firmen gebaut. «Wir       Etliche Geschäfte in der saudischen
nachweisen, wie ungeeignet Katar für      sehen in der Fußballindustrie eine     Hauptstadt Riad überklebten Spon-
die WM sei. Dann stelle sich heraus,      massive Machtverschiebung nach         sorenschriftzüge von Qatar Airways
dass die Kampagne von Saudi-Arabi-        Osten», sagt Simon Chadwick. «Der      auf den Trikots des FC Barcelona und
en finanziert wurde.» Katar lehnte den    Sport als Ausgangspunkt für neue       des FC Bayern. Das Zeigen katari-
Wunsch des Weltfußballverbands            Handelsbeziehungen.»                   scher Symbole wurde unter Strafe
FIFA nach einer nachträglichen Er-                                               gestellt. Riad forderte unter anderem
weiterung der WM 2022 von 32 auf                                                 die Schließung von Al Jazeera und
48 Teams strikt ab. Ein deutliches Zei-   Neue Herrscher, alte Konflikte         der Qatar Foundation, zwei der wich-
chen gegen mögliche Co-Gastgeber                                                 tigsten Institutionen für Doha.
wie die VAE und Saudi-Arabien.            Die Konkurrenz zwischen den Golf-
                                          staaten blieb nicht auf Fußballtri-
                                          kots beschränkt, sondern dehnte        Neymar-Transfer
Machtverschiebung nach Osten              sich auch auf Wirtschaft und Politik
                                                                                 als Ablenkungsmanöver
                                          aus. Sie wurde bestärkt durch ei-
In der Golfregion konkurriert Katar um    nen Generationenwechsel unter den      Katar wehrte sich – mit Sportpolitik.
Investoren, Tourist*innen und Fach-       Herrschern: 2013 übernahm in Ka-       Im August 2017 wurde der Wechsel
kräfte vor allem mit Abu Dhabi und        tar Tamim bin Hamad Al Thani die       des brasilianischen Spielers Neymar
Dubai, den beiden einflussreichsten       Macht von seinem Vater, mit 33 Jah-    vom FC Barcelona zu Paris Saint-
Kleinstaaten der VAE. Das größe-          ren war er zu jener Zeit der jüngste   Germain bekannt gegeben, für die
re Dubai setzt auf Einkaufszentren,       Staatschef in der arabischen Welt.     Rekordsumme von 222 Millionen
Familienunterhaltung und Großer-          In Saudi-Arabien trat Mohammed         Euro. «Eine strategische Meisterleis-
eignisse wie die Expo 2020. Der           bin Salman, genannt MBS, als Kron-     tung», sagt der Politikwissenschaft-
Flughafen in Dubai ist ein führendes      prinz aus dem Schatten des Königs      ler Danyel Reiche, Mitherausgeber
Drehkreuz, auch dank Fußball. Die         hervor. Und in den VAE positionier-    des Buches «Sport, Politics, and So-
staatliche Fluglinie Emirates mit Sitz    te sich Mohammed Ben Zayed, ge-        ciety in the Middle East». «Kurz nach
in Dubai ist seit Beginn des Jahrtau-     nannt MBZ, als neuer starker Mann.     Beginn der Blockade veränderte Ka-
sends als Sponsor in großen europä-       MBS und MBZ verbündeten sich ge-       tar das Narrativ in den Medien. Der
ischen Ligen aktiv.                       gen das aufstrebende Katar.            Transfer war unfassbar teuer. Aber
   Das kleinere Abu Dhabi legte 2008        Die Ursachen für das wachsen-        alle redeten nur noch über Fußball
nach und kaufte sich bei Manches-         de Misstrauen sind komplex. Katar      und nicht mehr über das isolierte Ka-
ter City ein. Als Trikotsponsor wirkt     bezog Stellung während des Arabi-      tar.» Ein Coup, den die katarischen

6   Offensive der Autokraten
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Besitzer des französischen Meisters       Rang 128. Homosexuelle müssen            kaum Möglichkeiten, sich zu weh-
im Sommer 2021 wiederholten, als          mit Verfolgung rechnen. In Katar         ren (siehe Artikel in diesem Heft).
sie den sechsfachen Weltfußballer         sind Parteien verboten. Unabhän-
Lionel Messi verpflichteten.              gige Medien, die die Erbmonarchie
   Dass Fußball umgekehrt auch dazu       hinterfragen, gibt es nicht. Wenzel      Zugeständnisse
diente, Feindseligkeiten zu schüren,      Michalski von Human Rights Watch
das verdeutlichte vor allem der Kon-      sieht es kritisch, dass Vereine aus
                                                                                   an konservative Kreise
flikt um beIN Sports. Der katarische      demokratisch regierten Ländern wie       «Einige Geschäftsleute haben Beden-
Sportsender war 2003 als Ableger          der FC Bayern die katarische Außen-      ken, dass sich Katar durch die WM
von Al Jazeera gegründet worden,          politik mit ihren Partnerschaften auf-   zu sehr öffnen könnte», sagt der Po-
ist seit 2012 eigenständig und gehört     werten: «Wenn europäische Klubs          litikwissenschaftler Mehran Kamra-
nun zu den Fußball-Fernsehanstal-         auf den Profit schon nicht verzichten    va von der Georgetown-Universität
ten mit der größten Reichweite welt-      wollen, dann könnten sie zumindest       in Doha. Sie fürchten, dass Fuß-
weit. Wenige Wochen nach Beginn           den wenigen kritischen Aktivisten        ballfans 2022 Alkohol in der Öffent-
der Blockade Katars 2017 ging ein         vor Ort mehr Interesse entgegen-         lichkeit trinken und Schwule ihre
neuer Sender an den Start: beoutQ         bringen. Der Fußball sollte sich re-     Sexua­lität offen ausleben könnten.
strahlt den gleichen Inhalt aus wie       gelmäßig von Menschenrechts­             2018 ließ der Emir die Alkoholprei-
beIN Sports, dieselben Spiele, Kom-       organisationen beraten lassen.»          se durch Steuern massiv erhöhen,
mentare, Analysen, allerdings mit ei-       In Katar selbst sind Proteste wie      an der Qatar-­Universität ersetzte er
genen Logos, Grafiken und Werbe-          2019 in Algerien oder im Libanon         als Hauptsprache Englisch durch
blöcken. Bald verteilte beoutQ das        unwahrscheinlich. Der Emir hat im        Arabisch. Zugeständnisse an kon-
Mate­rial aus Katar auf zehn eigene       Staatswesen ein dichtes Netz aus         servative Kreise, denn nur mit in-
Kanäle. «Das ist eine neue Dimension      Familienmitgliedern und Freunden         nenpolitischer Stabilität lässt sich au-
der Piraterie», sagt Jonathan White-      geknüpft, viele von ihnen mit meh-       ßenpolitisch Soft Power betreiben.
head, Führungskraft bei beIN Sports.      reren Ämtern, durchaus üblich am         Mehran Kamrava: «Durch die WM
Schnell wurde klar: Organisation und      Golf. Die Herrscherfamilie lässt die     kann die Politik Reformen schneller
Technik von beoutQ stammen aus            Bevölkerung am Wohlstand teilha-         voranbringen, die Teile der Wirtschaft
Saudi-Arabien; beIN Sports machte         ben, zumindest die etwas mehr als        nicht wirklich wollen.» Es sind Refor-
fortan hohe Verluste.                     250.000 Staatsbürger*innen. In Bil-      men, die Saudi-­Arabien und die VAE
                                          dung, Gesundheitsversorgung und          mitunter als Provokation empfinden.
                                          Jobvergabe genießen sie Privile­gien,        Derweil erweitert Katar seine Kon-
Fragiler Frieden                          ihr Prokopfeinkommen ist eines der       takte in den Westen, aber auch zum
                                          höchsten weltweit. Diejenigen, die       politischen Islam in Ägypten, im Li-
Diese Spirale der Feindseligkeiten        einen katarischen Pass besitzen, ma-     banon und im Iran. Überdies er-
hätte sich wohl weitergedreht, doch       chen aber nur zehn Prozent der rund      höhte es auch in demokratischen
dann kam Corona. Der ohnehin nied-        2,8 Millionen Einwohner*innen Ka-        Staaten seinen Einfluss durch die För-
rige Ölpreis brach ein, ausländische      tars aus. In keinem anderen Land ist     derung von Moscheen und islami-
Investitionen gingen zurück, der          der Anteil an Einwander*innen so         schen Kulturzentren. Und das Olym-
noch junge Tourismussektor verlor         hoch. Aber auch von ihnen sind kaum      pische Komitee Katars hat schon
Zehntausende Arbeitsplätze. Anfang        Proteste gegen ihre Lebens- und Ar-      2004 sechs Millionen US-Dollar für
Januar 2021 beendete Saudi-Ara­           beitsbedingungen zu erwarten.            das neue Stadion in Sachnin im Nor-
bien nach dreieinhalb Jahren die Blo-       Anfangs, in den 1970er-Jahren,         den Israels gespendet. Es war offen-
ckade gegen Katar. «Es ist ein fragiler   waren die Gastarbeiter*innen über-       bar die erste Investition eines Golf-
Frieden», sagt der Nahost-Experte         wiegend aus Ägypten, Palästina           staats in einer israelischen Stadt. Von
Kristian Ulrichsen, der ein Buch über     und Jemen gekommen. Sie spra-            den 30.000 Einwohner*innen sind
die Golfkrise geschrieben hat. «Die       chen die gleiche Sprache wie die         mehr als 90 Prozent muslimische
Golfstaaten haben eingesehen, dass        Einheimischen, aber viele von ih-        Araber*innen. 2004 gewann der FC
sie in dieser schwierigen Zeit auf eine   nen hatten antimonarchistische Ein-      Bnei Sachnin den israelischen Pokal.
Zusammenarbeit angewiesen sind.»          stellungen. Nach dem Einmarsch           Bis heute unterhält Katar keine dip-
   Auch Riad und Dubai wollen von         des Irak in Kuwait 1990 bemühte          lomatischen Beziehungen zu Israel.
der WM 2022 profitieren. Wenn             sich die katarische Regierung um         Doch das Stadion in Sachnin trägt den
nicht mit Turnierspielen, dann mit        Arbeitsmigrant*innen aus Süd­asien,      Namen der katarischen Hauptstadt.
Trainingscamps, Sponsorenevents           die sie kulturell leichter abschotten
oder der Beherbergung von Fans.           konnte. Die Arbeiter*innen aus In-
                                          dien, Bangladesch oder Pakistan                        RONNY BLASCHKE
                                          erhielten einen Kafala, einen Bür-                   ist als Journalist und
                                                                                           Buchautor spezialisiert auf
Proteste sind unwahrscheinlich            gen, der ihre Pässe einbehalten, ih-
                                                                                         politische Themen in der Sport-
                                          re Ausreise erschweren, ihren Job-
Keiner der Staaten am Persischen          wechsel verhindern konnte. Diese             industrie. Zuletzt erschien von ihm
Golf wird demokratisch regiert, ei-       Arbeiter*innen haben die rasante                2020 «Machtspieler. Fußball
ne Gewaltenteilung existiert nicht. In    Entwicklung von Doha ermöglicht.                  in Propaganda, Krieg und
der Rangliste der Pressefreiheit von      Viele von ihnen erkrankten bei den                  Revolution». Twitter:
Reporter ohne Grenzen für das Jahr        hohen Sommertemperaturen oder                          @RonnyBlaschke
2021 liegt Katar von 180 Staaten auf      kamen ums Leben, aber sie haben

                                                                                                  Offensive der Autokraten   7
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
Spielfelder der Politik                                                          schritt» und die vermeintlich überle-
                                                                                 gene europäische Kultur dorthin ex-
                                                                                 portieren.

Instrument der Kolonialmächte, Akt der Emanzipation,
Widerstand der Ultras: Die Wissenschaftler Jan Busse und                         Vermittlung von Respekt
René Wildangel werfen Schlaglichter auf die                                      und Disziplin
Fußballgeschichte im Nahen Osten und in Nordafrika.                              Der Export der damit verbundenen
                                                                                 Wert­­vorstellungen beruhte auch,
                                                                                 aber nicht ausschließlich auf Gewalt
Dass nächstes Jahr die Fußball-WM        die Vereinigten Arabischen Emirate      und Zwang, denn die Vertreter des
ausgerechnet im kleinen Golfstaat        erhoffen sich durch die Ausrichtung     Imperiums machten sich die bereits
Katar stattfindet, entbehrt nicht ei-    von Großereignissen mehr globale        erwähnte Soft Power zunutze, um
ner gewissen Ironie: Der Fußball hat     Anerkennung, Einfluss und die Ver-      ihren Herrschaftsanspruch kulturell
eine vielseitige und ereignisreiche      tretung ihrer sicherheitspolitischen    zu unterfüttern. Entsprechend wa-
Tradi­tion in der arabischen Welt, de-   Interessen. Zugleich soll der Fuß-      ren es in erster Linie britische Händ-
ren Zentrum aber keineswegs die          ball als gesellschaftlicher Moderni-    ler, Lehrer, Soldaten und Seeleute,
Arabische Halbinsel mit dem Emi-         sierungsmotor und populäre Ablen-       die insbesondere die größtenteils
rat Katar ist. Dort fristete der Sport   kung für die Bevölkerung dienen,        kollaborierenden lokalen Eliten in
ein Schattendasein, bis er in den        allerdings strikt unter Kontrolle der   den Hauptstädten des Nahen Os-
vergangenen Jahrzehnten als Soft-        jeweiligen Herrscherfamilien. Die-      tens und Nordafrikas mit dem Spiel
Power-Instrument jener Golfstaaten       ser Gegensatz zwischen der mobi-        bekannt machten, das in der zwei-
entdeckt wurde, die noch über gro-       lisierenden Kraft des Fußballs und      ten Hälfte des 19. Jahrhunderts in
ße Öl- und Gasressourcen verfügen,       dessen rigoroser Einschränkung ist      Großbritannien feste Regeln und ei-
sich aber mit Blick auf das Ende des     kennzeichnend für die gesamte Ge-       ne rasch wachsende Öffentlichkeit
fossilen Zeitalters einem Umbruch        schichte des Fußballs im Nahen Os-      erfahren hatte.
stellen müssen.                          ten und in Nordafrika.                     Anders als die französischen Kolo-
  Ein wichtiges Vehikel, das die                                                 nisatoren in Nordafrika, wo zunächst
Golfstaaten in dieses Zeitalter kata-                                            ausschließlich Europäer spielen
pultieren soll, ist der Sport und ins-   Kolonialmächte                          durften, erlaubten die Briten etwa
besondere der Fußball. Gerade die                                                der ägyptischen Oberschicht, am
kleineren Golfstaaten wie Katar und
                                         importieren den Fußball                 Fußball teilzuhaben. Ziel war es un-
                                         Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts        ter anderem, wie schon in den vikto-
                                         verbreiteten die europäischen Kolo-     rianischen Erziehungsanstalten, der
                                         nialmächte im Zuge ihrer imperia-       lokalen Bevölkerung die vermeint-
                                         len Ambitionen den Fußball auf allen    lich «europäischen Werte» Disziplin
                                         Kontinenten. Auch die Verbreitung       und Respekt vor (kolonialer) Autori-
                                         des modernen Fußballs im Nahen          tät zu vermitteln. Der Fußball und die
                                         Osten und in Nordafrika ist untrenn-    mit ihm von der Kolonialmacht ver-
                                         bar mit der Kolonialherrschaft vor      mittelten Wertvorstellungen wurden
                                         allem Großbritanniens, dem selbst       so zu einem wichtigen Instrument
                                         erklärten «Mutterland des Fußballs»     kolonialer Kontrolle.
                                         verbunden sowie mit den Prozessen
                                         der Globalisierung und der wach-
                                         senden ökonomischen Bedeutung           Ausgleichendes Element
                                         der Region für die expandierende
                                         Weltwirtschaft.
                                                                                 zwischen Juden und Arabern
                                            Fußball war zu diesem Zeitpunkt      Auch im «Mandatsgebiet» Palästi-
                                         noch nicht das «people’s game»,         na versuchte Großbritannien nach
                                         das Spiel für jedermann (von Frauen     dem Ersten Weltkrieg gemäß dem
                                         war zunächst noch nicht die Rede,       Motto «teile und herrsche», die Vor-
                                         weder als Zuschauerinnen noch als       macht zu erhalten. Der Fußball wur-
                                         Spielerinnen) bzw. für die Arbeiter-    de zu einer Zeit wachsender Span-
                                         klasse, das es einmal werden sollte.    nungen als ausgleichendes Element
                                         Vielmehr brachten Vertreter urbaner     zwischen Juden und Arabern ge-
                                         Eliten den Fußball in die Hauptstäd-    sehen und die Mandatsmacht ver-
                                         te des globalen Südens und damit        anstaltete Wettbewerbe, an denen
                                         auch in den Nahen Osten, ob nach        Vereine beider Bevölkerungsgrup-
                                         Istanbul, Kairo oder Teheran. Sie       pen teilnahmen. Aber jüdische wie
                                         wollten nicht nur die ökonomische       arabische Vereine hatten zuneh-
                                         und politische Kontrolle über die       mend nationalistische Ambitionen,
                                         kolonisierten Gebiete installieren,     und die Feindseligkeiten gegen die
                                         sondern neben Waren auch «Fort-         Mandatsmacht, die als Besatzungs-

8   Spielfelder der Politik
Foulspiel mit System Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können - Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg
macht wahrgenommen wurde, be-
schränkte sich bald nicht mehr auf
den Fußballplatz.
   In Marokko, Tunesien und Algerien
entwickelte sich zwar derweil unter
französischer Besatzung ebenfalls
ein ausgeprägter, zunehmend or-
ganisierter Fußballbetrieb. Die Ein-
heimischen durften daran allerdings
nicht teilhaben. Allein die Gründung
der ersten Vereine für die lokale Be-
völkerung, wie Espérance Sportive
de Tunis 1919, stellte daher schon
einen Akt der Auflehnung gegen die
Kolonialmacht dar. Republikanische
und nationalistische Motive spielten
bei der Gründung örtlicher Vereine
in Algerien und Tunesien die zentra-
le Rolle. Demgegenüber gelang es
dem marokkanischen König Has-
san I. bei der Gründung von Wydad
Casablanca, eine staatsnahe Form
des Nationalismus zu verankern, die
im Einklang mit der Monarchie ste-
hen sollte.

                                        tern für Ägypter». Die rasch wach-      naler Unabhängigkeit. Die franzö-
Der Fußball wird                        sende Popularität von Al Ahly in        sische Vorherrschaft auf dem Platz
                                        Ägypten führte 1911 zur Gründung        wurde endgültig gebrochen, als
zum Massenphänomen                      von dessen Erzrivalen, dem Zama-        Wydad Casablanca die nordafrikani-
Leere Versprechungen auf Unab-          lek Sporting Club, damals noch          sche Vereinsmeisterschaft zwischen
hängigkeit und der Versuch, mit         Qasr el Nil Club, später umbenannt      1947 und 1949 gewann.
dem Sykes-­P icot-Abkommen von          in Mokhtalat, der «gemischte Klub»,
1916 durch willkürliche Aufteilung      weil er als Mitglieder Europäer und
der Gebiete zwischen Briten und         Ägypter zuließ.                         Orte nationalistischer
Franzosen nach dem Ersten Welt-
krieg die Fremdherrschaft im Nahen
                                                                                Mobilisierung
Osten zu verlängern, stießen zuneh-     Ebenbürtig auf dem Rasen                In Algerien spielten sogenannte
mend auf Widerstand.                                                            muslimische Klubs, also von der ein-
   Den Fußball hatten die Kolonial-     1922 erlangte Ägypten nominell          heimischen Bevölkerung gegrün-
mächte als Symbol für Modernisie-       die Eigenständigkeit, blieb aber un-    dete Vereine, die im Namen ihre is-
rung und Fortschritt etabliert. Nun     ter dem probritischen König Fuad        lamische Identität zum Ausdruck
machten ihn sich die einheimischen      abhängig von Großbritannien. Der        bringen wollten, eine zentrale Rolle
Nationalisten für die Mobilisierung     Streit um die politische Zukunft wur-   im Kampf um die Unabhängigkeit
der Massen zu eigen. Dadurch wan-       de zunehmend auch auf dem Platz         von Frankreich. Diese Vereine tru-
delte sich der Fußball von einem        ausgetragen. Zamalek war im Ge-         gen zur Herausbildung einer eige-
Sport der Eliten zu einem Massen-       gensatz zu Al Ahly der Verein der       nen algerischen nationalen Identi-
phänomen. Zahlreiche Vereine grün-      ägyptischen Oberschicht und der         tät bei. Stadien wurden zu Orten der
deten sich in Opposition zu den bis-    Lieblingsverein des späteren ägypti-    nationalistischen Mobilisierung, wo
herigen, vor allem von den Briten       schen Königs Farouk, der ihn dann       Algerier ihre Ablehnung der franzö-
dominierten Klubs. Im Irak gingen       in Farouk Club umbenennen ließ, bis     sischen Fremdherrschaft ausdrü-
Vereine wie der 1931 gegründete Al-     die Monarchie nach dem Putsch von       cken konnten. Frankreich versuchte,
Quwa Al-Jawiya («Airforce») noch        Gamal Abdel Nasser 1952 endgültig       diese Bestrebungen einzudämmen,
aus dem Umfeld der britischen Mi-       Geschichte war.                         indem es verfügte, dass jeder Verein
litärpräsenz hervor, wurden aber           Der Fußballplatz entwickelte sich    mindestens fünf europäische Spie-
schnell Symbole der neu erlangten       im Zuge der Dekolonisation zum          ler haben müsse.
Unabhängigkeit.                         umkämpften politischen Spielfeld.          Während des Unabhängigkeits-
   Zentraler Schauplatz dieser natio­   Als beispielsweise die ägyptische       kriegs gründete die algerische Be-
nalen Ermächtigung des Fußballs         Fußballmannschaft bei den Olym-         freiungsbewegung FLN 1958 als
war Ägypten. Prominentestes Bei-        pischen Spielen 1928 das Halbfi-        Ausdruck der nationalen Souveräni-
spiel für einen wirkmächtigen anti­     nale erreichte, sahen viele Ägypter     tät ihre eigene Nationalmannschaft.
kolonialen Verein ist der 1907 in       darin einen Beleg, den Briten nun       Der bekannteste algerische Fußbal-
Kairo gegründete Al Ahly Sporting       ebenbürtig zu sein. Das untermau-       ler, Rachid Mekloufi, nahm für sei-
Club, dem ersten Klub «von Ägyp-        erte die Bestrebungen nach natio-       ne Mitgliedschaft in der algerischen

                                                                                              Spielfelder der Politik   9
Nationalmannschaft in Kauf, nicht        Subkultur schufen, deren Ausdrucks-           2010 kam es zwischen Ägypten
mit der französischen Equipe an der      formen sich gegen den Staat und               und Algerien zu Spannungen, die
Weltmeisterschaft in Schweden teil-      das (Fußball-)Establishment richte-           vielfach mit dem sogenannten Fuß-
nehmen zu können. Die Unabhängig-        ten. Bei den Aufständen im Nahen              ballkrieg zwischen Honduras und
keitsbestrebungen waren nicht nur        Osten und in Nordafrika zeigte sich           El Salvador 1969 verglichen wur-
auf dem Platz erfolgreich: Im März       ab Ende 2010 das ermächtigende                den. Die aufgeheizte Stimmung bei
1962 erlangte Algerien die Unabhän-      Poten­zial des Fußballs und der Fan-          den Spielen entlud sich in diploma-
gigkeit und im Folgejahr wurde die       gruppen. Bei den Protesten, die in Tu-        tischen Scharmützeln und gewalt-
algerische Mannschaft von der FIFA       nesien zum Sturz von Diktator Ben Ali         samen Ausschreitungen in Kairo,
anerkannt.                               führten, insbesondere aber bei den            die der ägyptische Präsident Muba-
   Die Mitgliederzahl des von acht       Demonstrationen gegen den ägyp-               rak anheizte. Und auch der Nahost-
westeuropäischen Staaten gegrün-         tischen Herrscher Mubarak auf dem             konflikt findet seinen Widerhall in ei-
deten Weltfußballverbands FIFA           Tahrir-Platz spielten Ultra-Gruppen           nem in der FIFA erbittert geführten
wuchs bis 1939 auf 56 Staaten, da-       aufgrund ihrer Erfahrung im Straßen-          Streit. Im Weltverband versuchen
runter auch Ägypten, Libanon und         kampf eine wichtige Rolle. Sie wur-           die Palästinenser, auf die anhaltende
Syrien. Nach dem Zweiten Weltkrieg       den aber auch Opfer eines der bru-            Besetzung Palästinas und die damit
wurden viele unabhängig geworde-         talsten Massaker in der ägyptischen           verbundenen Menschenrechtsver-
nen Staaten nicht nur Mitglied bei       Geschichte: 2012 wurden 74 Anhän-             letzungen aufmerksam zu machen.
den Vereinten Nationen, sondern          ger von Al Ahly im Stadion von Port           So können Fußballer*innen aus Ga-
auch bei der FIFA. In einigen Fällen,    Said getötet, während die Sicher-             za aufgrund der anhaltenden israeli-
wie etwa Palästina, sind Staaten so-     heitskräfte dem – mutmaßlich staat-           schen Blockade in der Regel nicht zu
gar Mitglieder der FIFA, obwohl sie      lich geplanten – Morden zusahen.              Spielen anreisen.
keine Vollmitglieder der Vereinten                                                        In den letzten Jahrzehnten ist in al-
Nationen sind. So erhielt Palästina                                                    len Staaten des Nahen Ostens und
2012 von den Vereinten Nationen ei-      Spieler im Gefängnis                          Nordafrikas zumindest offiziell der
nen Beobachterstatus als Nichtmit-                                                     lange als «unislamisch» verpönte
gliedstaat, ist aber bereits seit 1998   Wo brutale Diktaturen und blutige             Frauenfußball anerkannt worden,
in der FIFA. Der Fußball wurde zu ei-    Konflikte die nationale Politik domi-         auch wenn es bis zu seiner Förde-
nem mächtigen nationalen Symbol          nierten, blieb auch der Fußball nicht         rung und Verbreitung oftmals noch
und die Anerkennung durch die FIFA       verschont: In Syrien etwa ließ Dikta-         ein langer Weg ist. Im Iran kämpfen
stellt einen wichtigen Schritt der na-   tor Hafiz al-Assad 1982 aufständi-            weibliche Fans mit einer bemerkens-
tionalen Emanzipation dar.               sche Islamisten im Stadion hinrich-           werten Kampagne noch immer um
                                         ten. Und der berüchtigte Sohn des             Zugang zu den Stadien.
                                         irakischen Diktators Saddam Hus-                 Begeisterung und Aufbruchsstim-
Ultras im Straßenkampf                   sein, Uday, unter anderem auch Vor-           mung des Arabischen Frühlings sind
                                         sitzender des Fußballverbands, ließ           verschwunden, die auch in den Fuß-
Fußball war nicht nur ein Vehikel für    Spieler nach Niederlagen ins Ge-              ballstadien erhobenen Forderungen
den antikolonialen Nationalismus.        fängnis werfen und foltern.                   nach «Würde» (Karama) und Partizi-
Bald erkannten auch autokratische           Auch zwischenstaatliche Rivali-            pation längst verhallt. Vielerorts wie
Herrscher, die in vielen Staaten des     täten wurden gelegentlich auf dem             in Ägypten sind wieder Diktatoren
Nahen Ostens an die Macht kamen,         Fußballplatz ausgetragen. Bei der             an der Macht, die jegliche Freiräume
das Potenzial des Fußballs, um von       Qualifikation für die Fußball-WM              unterbinden wollen. Zuletzt nutzten
politischen Missständen abzulenken                                                     manche Herrscher die Corona-Krise
und die eigene Legitimität zu stär-                                                    als willkommenen Anlass, um den
ken. Ein bedeutendes Beispiel sind                                                     Zugang zu den Stadien ganz zu ver-
                                                            RENÉ WILDANGEL
die zahlreichen Erfolge der ägyp-                                                      wehren.
                                                    ist promovierter Historiker mit
tischen Nationalmannschaft beim
                                                   Schwerpunkt auf der Geschichte
Afrika-Cup während der Präsident-
                                                  des Nahen Ostens und verbrachte
schaft Hosni Mubaraks. Zu diesen
Anlässen konnte die ägyptische Na-                   mehrere Jahre unter anderem
tion gefeiert werden, während Kor-             in Damaskus, Jerusalem und Ramallah.
                                                                                                           JAN BUSSE
ruption, wirtschaftliche Krisen und               Seit 2021 lebt er in Thessaloniki als
                                                                                                 arbeitet als promovierter
ausufernde Polizeigewalt Unmut                       freier Autor und Dozent an der
                                                                                               Politik­wissenschaftler an der
produzierten. Mit entsprechendem                         International Hellenic
                                                                                          Universität der Bundeswehr München
Aufwand ließ Mubarak die Sieges-                               University.
                                                                                           zu internationalen Konflikten und zu
feiern inszenieren.                                                                     Fragen gesellschaftlicher und politischer
   Gleichzeitig entstanden in den                                                   Ordnungsbildung mit einem regionalen Schwer­
Stadien mächtige Gegenkräfte. Die                 Beide Autoren sind
                                                                                      punkt auf dem Nahen Osten und Nordafrika.
ägyptischen Ultras verschiedener                  Herausgeber eines
                                                                                                  Zuletzt erschien von ihm
Vereine – führend die «Ahlawys», die        Sammelbands zum Fußball im
                                                                                          2021 «Der Nahostkonflikt: Geschichte,
Ultras von Al Ahly – waren bereits vor       Nahen Osten, der im Vorfeld
                                                                                                 Positionen, Perspektiven»
dem Arabischen Frühling eine wich-            der WM 2022 im Werkstatt-
                                                                                               (4. Aufl., mit Muriel Asseburg).
tige Gruppe, die über gesellschaft-               Verlag erscheinen
liche Schichten hinweg ihre eigene                        wird.

10   Spielfelder der Politik
Ein Boykott                                                                       Rahmen der OECD-Leitsätze für mul-
                                                                                  tinationale Unternehmen. Auch die
                                                                                  International Labour Organization

würde nicht helfen
                                                                                  (ILO), eine der wichtigsten Arbeitsor-
                                                                                  ganisationen, reichte eine Klage ge-
                                                                                  gen Katar ein und verwies dabei auf
                                                                                  das ILO-Übereinkommen Nr. 29, das
Internationale Arbeitsorganisationen beschleunigen                                sich ausführlich auf Zwangsarbeit
                                                                                  bezieht. Auch Sponsoren der FIFA
mit Kampagnen und Beratungen die Reformen in Katar.                               haben Druck auf die Fußballindus­
Doch noch wird die Umsetzung der neuen Gesetze nicht                              trie und Katar ausgeübt, da sie nicht
                                                                                  mit Menschenrechtsverletzungen in
ausreichend kontrolliert. Der Gewerkschafter Dietmar                              Verbindung gebracht werden wol-
Schäfers bilanziert Errungenschaften und Rückschläge.                             len. Multinationale Baukonzerne ha-
                                                                                  ben – getrieben durch Betriebsräte
                                                                                  und nationale Gewerkschaften – ihre
Bis vor wenigen Jahren hat sich            sind die Korruptionsvorwürfe da-       Geschäftspraxis in Katar verändert.
kaum jemand um die Menschen-               zu nicht ausgeräumt). Schon bald       Die Folge: Die Entscheidungsträger
und Arbeitnehmerrechte derjeni-            darauf haben die Bau- und Holz-        in Katar haben sich bewegt und der
gen gekümmert, die die Arenen
der großen internationalen Sport-
ereignisse errichten. Weder Re-
gierungen noch Sportverbände,
weder Unternehmen noch Fans inte-
ressierten sich dafür. Dabei müssen
Bauarbeiter*innen in der Sportbran-
che oft noch immer unter skandalö-
sen Zuständen arbeiten: unsichere,
zum Teil lebensgefährliche Arbeits-
bedingungen; unangemessene Un-
terkünfte; unzureichende Lebens-
mittel- und Wasserversorgung; sehr
niedrige Löhne und nicht zuletzt Ein-
schränkungen bei der Organisierung
in Gewerkschaften und bei Tarifver-
handlungen.
   Das trifft auch auf die Arbeitsbedin-
gungen im Gastgeberland der nächs-
ten Fußballweltmeisterschaft zu.
Katar ist eines der reichsten Länder
der Welt. Ein Land mit rund 2,8 Mil-
lionen Einwohner*innen, von denen
etwa 2,4 Millionen Einwander*innen
und Wanderarbeiter*innen sind. Ka-
tar ist zugleich ein Land, in dem Men-
schenrechte der Arbeiter*innen ver-
letzt werden. Manche erhalten ihren
Lohn nicht oder ihnen wird weniger
gezahlt, als vereinbart worden war.
Katar ist ein Land, in dem lange das
sogenannte Kafala-System herrsch-
te. Den Menschen wurde der Pass
abgenommen und sie konnten nicht
frei entscheiden, wann sie das Land        arbeiter Internationale (BHI) – sie    öffentliche und gewerkschaftliche
verlassen wollten. Zudem gibt es in        vereinigt 351 Mitgliedsgewerk-         Druck hat seit 2013 zu einigen Ver-
Katar kein Recht, sich gewerkschaft-       schaften mit rund zwölf Millionen      besserungen geführt.
lich zu organisieren.                      Mitgliedern in 127 Ländern, zu de-
                                           nen auch die deutsche Industriege-
                                           werkschaft Bauen-Agrar-Umwelt          Gewählte Sprecher
Rote Karte für die FIFA                    (IG BAU) zählt – gemeinsam mit an-
                                                                                  für Bauarbeiter
                                           deren Akteuren eine Kampagne ge-
Gleichwohl hat der Weltfußballver-         startet: «Red Card for FIFA». Zu der   Nach der Kampagne entstand ein
band FIFA die WM im Jahr 2010              Kampagne gehörte unter anderem         Kontakt zwischen der BHI, der FIFA
nach Katar vergeben (noch immer            eine Beschwerde gegen die FIFA im      und dem Supreme Committee for

                                                                                        Ein Boykott würde nicht helfen   11
Delivery and Legacy (SC), das in Ka-      als kleine Schritte. Vor dem Hinter-        rung in Beschäftigung und Beruf;
tar für die WM-Infrastruktur zustän-     grund des politischen Systems sind          Nr. 138: Mindestalter für die Zulas-
dig ist. Die BHI hat die FIFA bei der     es für Kataris allerdings riesengro-        sung zur Beschäftigung; Nr. 182:
Gestaltung ihrer Menschenrechts-          ße Schritte. Ich selbst bin seit 2013       Schlimmste Formen der Kinder-
Policy unterstützt. Zudem hat sie         regelmäßig in Katar und führe Ge-           arbeit. Wir fordern, dass auch die
mit dem SC eine Absichtserklärung         spräche und Verhandlungen mit den           letzten drei Normen zeitnah unter-
verhandelt; dieses «Memorandum            Behörden. Ich habe Reformer ge-             schrieben werden. Im Detail geht es
of Understanding» trat Ende 2017 in       troffen, die eine nachhaltige Verän-        um Nr. 87: Vereinigungsfreiheit und
Kraft trat. Seit 2018 führen wir – die    derung des Landes wollen, bin aber          Schutz der Vereinigungsrechte, Nr.
BHI und die IG BAU, denen ich bei-        auch konservativen Kräften begeg-           98: Vereinigungsrecht und Recht zu
den angehöre – regelmäßig interna-        net, die alles beim Alten belassen          Kollektivverhandlungen und Nr. 100:
tionale Arbeitsinspektionen auf den       wollen.                                     Gleichheit des Entgelts.
WM-Baustellen durch und beraten             In den vergangenen Monaten                  Die WM-Vergabe nach Katar und
die katarischen Behörden in Bezug         wurden wir als IG BAU und BHI ver-          die breite Diskussion haben das
auf Arbeitssicherheit.                    mehrt auf Boykottaufrufe der WM             kleine Land verändert und das The-
   Auf den Baustellen gibt es inzwi-      angesprochen. 2010 haben wir ei-            ma Menschenrechte international
schen gewählte Sprecher für Arbei-        nen Boykott noch befürwortet –              stärker in den Mittelpunkt gerückt.
ter, die von uns unterstützt werden.      mittlerweile lehnen wir ihn ab. Den         Aber das reicht nicht: Ausschlagge-
Etliche Beschäftigte auf den Bau-         Wanderarbeitern, die zum Teil Ver-          bend ist das konsequente Handeln
stellen sagen uns, dass sich die Ar-      besserungen erfahren haben, wür-            der Entscheider bei FIFA, UEFA und
beitsbedingungen gebessert hätten,        de ein Boykott sicherlich nicht hel-        IOC. Mega-Sportveranstaltungen
seit wir uns darum kümmern. Auch          fen. Auch die Reformkräfte würden           sollten nur noch in Länder vergeben
die Essens- und Wasserversorgung          durch einen Boykott an Kraft verlie-        werden, die alle acht Kernarbeitsnor-
soll sich für die Beschäftigten positiv   ren, viele unserer Errungenschaften         men ratifiziert oder einen Fahrplan
entwickelt haben. Der Arbeits- und        würden zurückgedreht werden.                zur Ratifizierung vereinbart haben.
Gesundheitsschutz auf den Bau-                                                          China hat dies nicht getan. Die
stellen entspricht mittlerweile dem                                                   Menschenrechtslage dort ist eine
Standard der Bundesrepublik oder          Konsequentes Handeln                        Schande. Dennoch ist Peking 2022
der USA.                                                                              Gastgeber der Olympischen Winter-
   Bei Unregelmäßigkeiten werden
                                          der Verbände gefordert                      spiele. Expert*innen sprechen in der
wir als Vermittler zwischen Arbeitern     In den verbleibenden Monaten bis            chinesischen Provinz Xinjiang von
und katarischen Behörden einbezo-         zur WM fordern wir weitere Refor-           einem Genozid an der Volksgrup-
gen. Wir selbst haben dauerhaft ei-       men, die nachhaltig wirken, auch            pe der Uiguren. Das IOC schweigt
nen Gewerkschaftssekretär vor Ort,        nach dem Turnier. Wir setzen auf            dazu. In China sind unsere Bemü-
der den Kontakt zu den Wanderar-          effiziente Kontrollen und die kon-          hungen für eine Verbesserung der
beitern pflegt.                           sequente Ahndung von Verstößen.             Menschenrechte und Arbeitsbedin-
                                          Katar hat inzwischen fünf der acht          gungen ins Leere gelaufen. In Katar
                                          Kern­arbeitsnormen ratifiziert. Das         gab es nach öffentlichem Druck eine
Errungenschaften                          sind: Nr. 29: Zwangs- und Pflicht-          Bereitschaft für mehr Transparenz
                                          arbeit; Nr. 105: Abschaffung der            und Veränderung. In China gibt es
nachhaltig sichern                        Zwangsarbeit; Nr. 111: Diskriminie-         diese Bereitschaft nicht.
Inzwischen wurden einige Arbeits-
gesetze in Katar geändert. So dürfen
zum Beispiel keine Vermittlungspro-
visionen mehr von den Arbeiter*in­
nen erhoben werden. Die Wirklich-
keit sieht oft anders aus. Wir haben                             DIETMAR SCHÄFERS
in den vergangenen drei Jahren                                war bis 2019 stellvertre-
erreichen können, dass für rund                           tender Bundesvorsitzender der
16.500 Arbeiter*innen mehr als zehn                           Industriegewerkschaft
Millionen Euro zurückerstattet wur-                        Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU).
den. Die neuen Streitschlichtungs-                         Heute ist er als Vizepräsident
ausschüsse haben einen Teil dazu                          der Bau- und Holzarbeiter Inter­
beigetragen, dass in den vergange-                        nationale (BHI) verantwortlich
nen drei Jahren mehr als 11,3 Millio-
                                                             für Sportkampagnen und
nen Euro an die Arbeiter*innen aus-
                                                                Arbeitsbedingungen.
gezahlt wurden.
  Formal hat Katar das Kafala-Sys­
tem abgeschafft, aber tatsächlich
wird die Umsetzung der Reform
kaum kontrolliert. Es fehlen kon-
sequente Prüfungen und weitere
Schritte. Wir Eu­r opäer*innen be-
trachten die genannten Reformen

12   Ein Boykott würde nicht helfen
Das Kafala-System                                                               Rechtsbeistands führen außerdem
                                                                                dazu, dass auch sinnvolle Reformen
                                                                                nicht greifen.

besteht fort                                                                    Arbeitgeber werden kaum
Die katarische Regierung hat Reformen angestoßen.                               zur Rechenschaft gezogen
                                                                                Um zu verstehen, warum das Kafala-
Doch die Abwesenheit von Gewerkschaften, einer                                  System fortbesteht, ist es wichtig zu
Zivilgesellschaft und Möglichkeiten des Rechtsbeistands                         wissen, was dieses System genau
                                                                                bedeutet. «Kafala» ist ein Begriff, der
führen dazu, dass die Gesetze selten greifen, analysiert                        zu allgemein und zu starr ist, um et-
die Aktivistin Vani Saraswathi.                                                 was Sinnvolles über das Wohlerge-
                                                                                hen von Wanderarbeiter*innen aus-
                                                                                zusagen. Das Kafala-System ist in
Seit 2014 behauptet die katarische        Die Reformen der vergangenen          jedem Staat, in dem es zum Einsatz
Regierung, sie habe das Kafala-Sys-     sechs Jahre sind bemerkenswert.         kommt, anders beschaffen. Der ein-
tem abgeschafft. Zunächst handelte      Sie betreffen in erster Linie das Ar-   zige gemeinsame Nenner besteht
es sich um eine bloße Namensände-       beitsrecht, das dem Ministerium für     darin, dass die Aufenthalts- und Ar-
rung – das Kafala-System wurde als      Verwaltungsentwicklung, Arbeit und      beitserlaubnis eines/einer jeden aus-
Vertragssystem bezeichnet. Dann         soziale Angelegenheiten (MADLSA)        ländischen Arbeitnehmer*in an ein
wurden die Bedingungen für einen        untersteht. Doch ein Gesetz ist nur     einziges Individuum oder eine einzi-
Arbeitsplatzwechsel teilweise gelo-     so wirksam wie seine Umsetzung          ge Körperschaft gekoppelt ist.
ckert. Daraufhin wurde das bishe-       und nur so gut wie die schlechtes-        Die Einreise und das Recht, im
rige Verfahren zur Erlangung einer      ten Gesetze, die das Gesetzbuch an-     Land zu leben und zu arbeiten, wer-
Ausreiseerlaubnis schrittweise auf-     sonsten beinhaltet – in diesem Fall     den vom Arbeitgeber kontrolliert.
gehoben. Schließlich hat man das        die Einwanderungsgesetze, für die       Wanderarbeiter*innen können ih-
sogenannte No Objection Certificate     das Innenministerium zuständig ist.     re Aufenthaltsgenehmigung nicht
(NOC), das Zeugnis des Bürgen/Ar-       Zudem hat das Innenministerium in       selbst verlängern; das kann nur
beitgebers, ohne das Arbeiter*innen     der Hierarchie der Regierungsbe-        der Arbeitgeber. Tut er das jedoch
den Arbeitsplatz nicht wechseln         hörden die Oberhand.                    nicht, werden die betreffenden
durften, ganz abgeschafft.                Dass die Rechte von Migrant*in­       Wanderarbeiter*innen zu irregulären
   Im vorliegenden Beitrag geht es      nen nur aus arbeitsrechtlicher Per-     oder «illegalen» Ein­wohner*innen
um das Kafala-System in Katar, nicht    spektive betrachtet werden, ist ein     und damit bestraft und kriminali-
weil die Missstände hier schlimmer      Grund dafür, dass die Probleme fort-    siert. Was Katar – wie auch andere
als anderswo wären, sondern weil so-    bestehen. Die Abwesenheit von Ge-       Golfstaaten – im Laufe der Jahre un-
wohl Menschenrechtsaktivist*innen       werkschaften, einer formellen Zivil-    ternommen hat, ist, relativ strenge
als auch die Regierung selbst – vor     gesellschaft und Möglichkeiten des      Arbeitsgesetze zu verabschieden,
allem aufgrund der Aufmerksamkeit,
die die für 2022 geplante Weltmeis-
terschaft mit sich bringt – hier die
sichtbarste Arbeit geleistet haben.

Das Innenministerium
behält die Oberhand
Zwar war es eine konzertierte globa-
le Kampagne, die Katar gezwungen
hat, sich zur Achtung der Menschen-
rechte von Migrant*innen zu beken-
nen. Doch sollte auch anerkannt wer-
den, dass Katar eine in der Region
beispiellose Bereitschaft an den Tag
gelegt hat, mit internationalen NGOs,
Gewerkschaften und UN-Agenturen
zusammenzuarbeiten. Die techni-
sche Zusammenarbeit mit der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation und
die Einrichtung eines Projektbüros
hatten auch zur Folge, dass die Ge-
setze und Vorschriften internationa-
len Standards entsprechen.

                                                                                      Das Kafala-System besteht fort   13
die Mindeststandards für Arbeits-       ID Card oder QID) für ungültig er-        setzen, die im Widerspruch zu den
zeiten, Ruhezeiten, Ansprüche und       klären. Arbeiter*innen, deren QID         allgemeinen Menschenrechten ste-
Löhne vorsehen – zumindest auf          abgelaufen oder für ungültig erklärt      hen.
dem Papier.                             worden ist, haben eine 90-tägige
   Halten die Arbeitgeber diese Min-    Frist, um den Arbeitsplatz zu wech-
deststandards nicht ein, werden         seln, bevor ihnen wegen des Ablaufs       Veränderungen,
sie dafür aber kaum oder gar nicht      der Aufenthaltsgenehmigung ein
zur Rechenschaft gezogen, da die        Bußgeld auferlegt wird. Sie müssen
                                                                                  aber kaum Verbesserungen
Arbeiter*innen es sich nicht leisten    allerdings einen gesonderten Antrag       Auch sieben Jahre, nachdem erst-
können, auch nur kurze Zeit auf die     auf die Erneuerung ihrer QID einrei-      mals behauptet wurde, das Kafala-
Rechtsprechung zu warten. Wäh-          chen, bevor sie einen Arbeitsplatz-       System sei abgeschafft worden, sind
rend des gesamten Beschwerdever-        wechsel beantragen können.                die Erfahrungen der Arbeiter*innen
fahrens bleiben die Migrant*innen          Arbeiter*innen schrecken davor         weitgehend dieselben geblieben,
der Gnade des Arbeitgebers ausge-       zurück, irgendetwas zu unterneh-          wie aus den Interventionen und Un-
liefert, gegen den sie klagen. Das      men, was ihren Bürgen verärgern           tersuchungen von Migrant-Rights.
ist bedauerlich, da die Prozesse, die   könnte, da dieser die Möglichkeit         org hervorgeht. Das 2015 eingeführ-
dem Arbeitsministerium unterste-        hat, ihnen Unannehmlichkeiten und         te sogenannte Lohnschutzsystem
hen, relativ arbeitnehmerfreundlich     rechtliche Schwierigkeiten zu berei-      (Wage Protection System) hat bis-
geführt werden und die Online-Platt-    ten, wodurch zudem ein weiteres           lang keine Eindämmung des Lohn-
form für den Arbeitsplatzwechsel        langwieriges Verfahren erforderlich       raubs zur Folge gehabt. Die Einbe-
leicht nutzbar und zugänglich ist.      wird. Die Einschüchterung erfolgt         haltung von Reisepässen ist zwar
Kommt ein Fall vor das Arbeitsge-       keineswegs immer auf verdeckte            illegal, bleibt aber weitverbreitet,
richt, wird ausnahmslos zugunsten       Weise. Die meisten Arbeiter*innen         und die Arbeitgeber werden dafür
der Arbeiter*innen entschieden.         mit niedrigem Einkommen leben             nicht belangt. Der 2018 eingerich-
   Der Angeklagte, das heißt der        in hochgradig überwachten Unter-          tete Unterstützungs- und Versiche-
Arbeitgeber, kann jedoch zu je-         künften, in denen ihr Kommen und          rungsfonds für Arbeitnehmer*innen
dem Zeitpunkt des Verfahrens            Gehen genau kontrolliert wird. Er-        verkürzt noch immer nicht die Zeit,
unter Berufung auf eine Vielzahl        fährt der Arbeitgeber davon, dass         die Arbeiter*innen auf die Auszah-
von Gründen und ohne die Pflicht        geklagt werden soll, hindert er den/      lung einbehaltener Löhne warten
zur Vorlage stichhaltiger Bewei-        die Arbeiter*in daran, zu Anhörun-        müssen, und die Bedingungen, un-
se eine Gegenklage gegen den/die        gen oder weiteren Terminen zu er-         ter denen vom Fonds Gebrauch
Beschwerdeführer*in einreichen.         scheinen, um die Klage voranzubrin-       gemacht wird, bleiben unklar. Die
Klagende Arbeiter*innen kämpfen         gen.                                      Erleichterung des Arbeitsplatzwech-
dann nicht nur um Gerechtigkeit,                                                  sels genügt ebenfalls nicht, um den
sondern müssen auch die eigene                                                    Würgegriff zu lockern, in dem die Ar-
Unschuld beweisen, das heißt, sich      Keine allgemeine                          beitgeber ihre Beschäftigten halten.
gegen Anschuldigungen verteidi-                                                      In den Jahren 2017 und 2018 wur-
gen, die von «Flucht» oder «Verlas-
                                        Definition                                den 1.200 Beschäftigte der Vertrags-
sen des Arbeitsplatzes» bis hin zu      Es liegt auf der Hand, dass Arbeitneh­    firma HKH mehrere Monate lang
Diebstahl oder Finanzbetrug reichen     mer*innen grundsätzlich benachtei-        nicht entlohnt und waren damit mit-
können.                                 ligt und von einer Abschiebung be-        tellos. Viele Beschäftigte verzweifel-
                                        droht sind, sobald ihre Fälle in die      ten und kehrten mit leeren Händen
                                        Zuständigkeit des Innenministeri-         in ihre Heimatländer zurück. Diejeni-
Unterkünfte                             ums fallen. Selbst wenn zusätzlich        gen, die vor Gericht zogen, konnten
                                        eine Klage beim MADLSA einge-             Mitte 2019 ein Urteil zu ihren Guns-
mit Überwachung                         reicht wird, ist zu befürchten, dass      ten erstreiten. Dieses Urteil wurde
Seit der Abschaffung des NOC müs-       die Ansprüche nicht geltend ge-           jedoch erst im dritten Quartal 2020
sen Arbeiter*innen über ein un-         macht werden können.                      vollstreckt und die Kläger erhielten
kompliziertes Online-Verfahren nur         Was die globalen Kampagnen und         lediglich den ihnen geschuldeten
noch bei ihrem aktuellen Arbeitge-      der Aktivismus gegen das Kafala-          Lohn, ohne jedwede Entschädigung
ber kündigen und einen Arbeits-         System nicht gesehen haben, sind          für die von ihnen erlittenen Härten.
platzwechsel beantragen. Sind die-      die eigenen Wissenslücken. Anders         Das Unternehmen gehört einem An-
se beiden Schritte erledigt, erhalten   als bei der Sklaverei, mit der das Ka-    gehörigen der Herrscherfamilie Ka-
sie eine Benachrichtigung über die      fala-System oft gleichgesetzt wird,       tars.
Genehmigung. Dieses System ist          gibt es keine allgemeine Definition          Etwa zur selben Zeit, im Jahr
tatsächlich lobenswert. Erhält der      des Bürgschaftssystems. Es wird           2018, wurden 800 Arbeiter bei
Arbeitgeber einen Bescheid über die     von den Menschen je nach ihrem            Hamton International ohne fließen-
Kündigung, kann er über eine App        Umfeld, ihrer Nationalität und ihrem      des Wasser oder sanitäre Einrich-
namens «Metrash» per Knopfdruck         Wohnort unterschiedlich erlebt und        tungen untergebracht und über ein
eine Klage gegen den/die Arbeiter*in    begriffen. Es ist also an der Zeit, von   Jahr lang nicht bezahlt. Zwei Arbei-
einreichen oder aber – da die Aufent-   pauschalen Forderungen nach einer         ter starben. Das Unternehmen lei-
haltsgenehmigung weiterhin an den       Reform des Kafala-Systems abzurü-         tete ein indischer Manager, der aus
Arbeitgeber gekoppelt ist – dessen      cken, um sich konkret mit den Prak-       dem Land geflohen ist. Sein katari-
bzw. deren Personalausweis (Qatar       tiken und Gesetzen auseinanderzu-         scher Partner, der vergleichsweise

14   Das Kafala-System besteht fort
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