FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin

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FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
#4 ∙ JUNI 2020
                                                        SCHUTZGEBÜHR 5 E

Das Kulturmagazin für Freiburg

                                                   Home-ZMF
                                            Tanzszene Freiburg
FREIBURG 2030                              Kunst & Verbrechen
Wie wir leben werden
                                           Der Weißblechkönig
                                                               Im Interview:
                                 Vivian Perkovic // Peter Carp
Aus dem ZYPRESSE VERLAG
www.zett-magazin.de                  Bücher // Kunst // Mediatheken // Musik
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
EDITORIAL

                                                                                                            Phuturistisches
                                                                          DIE KULTUR LEBT!

W
            as macht
            ein Kultur-                                                       gegen die Pandemie gera-
            magazin in                                                         de Fragen, wie jene nach
der Corona-Zeit? Die-                                                          unser aller Zukunft, massiv
se Frage wurde mir oft                                                         ins kollektive Bewusstsein
gestellt in den letzten                                                        gerückt.
Wochen, meist mit                                                                    Und natürlich heben
dem Zusatz „Da habt                                                       Bild: Lilli (9 Jahre)
                                                                                wir wie immer Kunst und
ihr doch gar nichts zu                                                          Künstlerinnen und Künst-
berichten, oder?“                                                               ler auf den Schild des Ma-
     Na, unser Kultur-                                                          jestix, tragen sie durch‘s
magazin ZETT. trotzt                                                            Dorf und machen unser
der Corona-Krise und                                      Magazin so ganz einfach zu einer Ausstellung
es trotzt ihr die Gewissheit ab, dass Kunst und          zum Mitnehmen. Dazu gibt es besonders viele
Kultur das Menschbleiben verbriefen: Jedes Bild          Bücher- und Mediatheken-Tipps quer durch
an der Wand, jedes Buch im Regal, jede CD im             unsere Themen für ruhige Stunden daheim und
Schrank ist ein Meisterbrief des Seins, des Füh-         Geleitworte einer kulturbeflissenen Mainzelfrau.
lens, des Liebens und Lebens und der Fantasie.               Wie alles, was unser Mensch­sein ausmacht,
     Es fällt mir schon schwer, mich daran zu            hat natürlich auch das Virale schon wieder neue
gewöhnen, Fantasie mit „F“ zu schreiben; dabei           Kunst hervorgebracht wie die papierlastigen
nicht an Limonade zu denken ist mir unmöglich.           Quarantäne-Bilder unserer Fotografin Janine
An einen Wegfall von Kunst und Kultur muss ich           Machiedo. Und wer sagt denn, dass man nicht
mich zum Glück nicht und hoffentlich niemals             sein eigenes ZMF im Garten, auf dem Balkon
gewöhnen.                                                oder im Wohnzimmer veranstalten kann? Ist
     Die inhaltlichen Planungen für dieses Heft          doch Alles nur eine Frage der PHantasie.
entstanden schon vor der Corona-Krise, und als
Redaktionsleiter musste ich genau zwei Seiten
streichen: Unsere handverlesenen Konzerttipps            Bleiben Sie neugierig...
und ebensolche Hinweise auf Lesungen, die                Herzlichst
in diesem Magazin üblicherweise je eine Seite
                                                                                                                 Harry der Zeichner

ausmachen. Dafür gewann unsere Titelstory
„Freiburg 2030 – Wie wir leben werden“ mit
zwölf Freiburger Visionären auf geradezu un-             Arne Bicker
heimliche Weise an Brisanz, hat doch der Kampf           Redaktionsleiter Zett.

 Impressum
 „ZETT. – Das Kulturmagazin für       Gestaltung: Schleiner & Partner       Fotografie: Janine Machiedo, Klaus
 Freiburg“ ist eine Magazinpublika-   Grafik, Layout: Frank Reder           Polkowski, Arne Bicker.
 tion der Zypresse Verlags GmbH,      Redaktionelle Leitung:                Für Druckfehler keine Haftung.
 Brunnenstraße 6, 79098 Freiburg.     Arne Bicker                           Das Copyright für Texte und Fotos
 redaktion@zett-magazin.de            Redaktionelle Mitarbeit: Jennifer     liegt beim Verlag und den Auto-
 www.zett-magazin.de                  Reyes, Reinhold Wagner, Astrid        ren / Fotografen. Nachdruck, Ver-
 www.zypresse.com                     Ogbeiwi, Anna Henschel, Mareike       vielfältigungen und elektronische
 Geschäftsführung:                    Kaiser, Tom Teuffel.                  Speicherung nur mit schriftlicher
 Caroline Kross                       Titelfoto: Martin Koswig              Genehmigung des Verlages.

                                                                                                                                      ZETT. JUNI 2020   3
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
INHALT
                                                                                                                   2030
TANZ                                               BÜCHER
Kleines Rund, großer Zuspruch                      Lesefreude pur

 59                                                 39
                           Foto: Klaus Polkowski

                                                                             FREIBURG 2030

                                                                                                                                          Foto: M. Koswig
                                                                             ab Seite 8

EDITORIAL                                                                 900 JAHRE STADTJUBILÄUM
   Phuturistisches – Die Kultur lebt!                               3      Ausgebremst – Was wird aus dem Stadtjubiläum?  22
LEIDKULTUR                                                                  60 Jahre Kunstpreis – Phalanx der Preisträger          23
   Die Stunde der Vernunft – Krisenperiode 2020                     6      Weltenfrauen – Im Gewand der Vielfalt                 24
   Janine Machiedo – Papierstau im Homeoffice                       7      Die Tablett-Kunst der Evelyn Höfs – Digital unperfekt  25
FREIBURG 2030 – WIE WIR LEBEN WERDEN                                      MEDIATHEKEN
   Freiburg 2030 – Wie wir leben werden                              8     3sat-Kulturzeit – Geschmeidigst produziert            26
   Stadtverkehr – E-Volution                                       10      Moderne Heldinnen – Fünf starke Frauen                 27
   Kunstbetrieb – In der Ahnungsgalerie                             11   FOTOGRAFIE
   Architektur & Stadtplanung – Verdichter und Lenker              12      Fotografie – Kleine Brötchen                          28
   Jobs & Wirtschaft – Klüger arbeiten                              13     • Jutta Panke                                         29
   Künstliche Intelligenz – Whatsapp von Cleopatra                 14      • Michaela Kindle                                     29
   Medien – Ethos statt Clickbait                                   15     • Yasemin Aus dem Kahmen                               30
   Urbanes Klima – Siesta in Freiburg                              16      • Dorothee Himpele                                     30
   Erneuerbare Energien – Freie Dauer-Power                         17     • Janine Machiedo                                       31
   Musik – Das Ende der Vinylisation                               18      • Horst Sobotta                                        32
   Energieversorgung – Hitziges Rheintal                           19      • Piotr Iwicki                                         32
   Polizei – Von wegen Hoverboard                                  20      • Jan Deichner                                         33
   Gesellschaft & Politik – Die neue Vernunft                      21      • Arne Bicker                                          33

                                                                           37                               40

                                                                          PRIMA PRISMA                     WEISSE RIESEN
                                                                          Dr. Peter Gerdes                 Helen Duppé

    900 JAHRE STADTJUBILÄUM
    ab Seite 22

4       ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
IMPULSIV                      MUSIK
Anke Augspach                 Zeltbau im Garten

 54                             56

                                                              Foto: Klaus Polkowski
                                                                                           KUNST
                                                                                           ab Seite 49

  Thomas Temmer – Regentanz                            34                                Celso Martínez Naves – Im Zwielicht                  52
  Dr. Peter Gerdes – Prima Prisma                      37                                Verbrechen in der Kunst – Artnapping & Goldpfunde    53
BÜCHER                                                                                    Anke Augspach – Impulsiv                             54
  Schöne Geschichten – Buchtipps der Stadtbibliothek   39                                Roland Hölderle – Der Chiffreur                      55
  Helen Duppé – Weiße Riesen                           40                                Martin Hunke – Feuer & Stahl                         55
  Philipp Multhaupt – Der Seiltänzer                   42                              MUSIK
  Anne Grießer – Wein-Crime                            44                                Zeltbau im Garten – Home-ZMF                         56
  Annette Pehnt – Tempelgänger                         44                                Die bessere Biographie – Wie Musik wirkt             57
  Julia Heinecke – Widerstand                          44                                Lauschangriff – CD-Tipps                             58
  Ulrike Halbe-Bauer – Im Zwiespalt                    45                              TANZ
  Marc Buhl – Nah am Vulkan                            45                                Mensabrunnen – Kleines Rund, großer Zuspruch         59
  Manuela Fuelle – Doppelagenten                       45                                Tanzen im Biotop – Wenn Körper sprechen              60
SATIRE                                                                                    Lebensgefühl der 20er – Provokation & Popkultur      62
  Lebenshilfe? Guter Rat für 19,90                     46                              GESELLSCHAFT
  Klaus Karlitzky – Frei und amtlich                   47                                Kunst für den guten Zweck – „1000 Drawings“          64
KUNST                                                                                     Fitness – Körper und Geist im ruhigen Fluss          66
  Heinz Soucek – Der Weißblechkönig                    49                                Tom Brane – DANKE                                    67
  Peter Carp – Mr. Hoffentlich                         50
  Harry der Zeichner – Sommer in Freiburg               51
                                                                 Foto: ZDF / Jana Kay

 55                            26

FEUER & STAHL                 3SAT-KULTURZEIT
Martin Hunke                  Vivian Perkovic

                                                  Fotografie
                                     KLEINE BRÖTCHEN                                      28

                                                                                                                              ZETT. JUNI 2020        5
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
LEIDKULTUR

                                                                                                                                                     Foto: Paul Maurer
                                                                                           Bild: Anaïs (9 Jahre)
                                                                                                                   Michael Kraske untersucht

Die Stunde der Vernunft                                                                                            sehr klug und differenziert den
                                                                                                                   Rechtsruck in Ostdeutschland und

KRISENPERIODE 2020
                                                                                                                   beschreibt einen der vielen Risse,
                                                                                                                   die sich durch unsere Gesellschaft
                                                                                                                   ziehen.
                                                                                                                   Michael Kraske // Der Riss.
                                                                                                                   Ullstein • 352 S. • 19.99 Euro
von Arne Bicker

D
       ie Corona-Krise hat uns eine schallende       Notfallsysteme etablieren. Aber welch eine
       Ohrfeige verpasst, und die Menschheit         Gelegenheit ist das, endlich auch an anderen
       steht auf ihrem Weg durch die Galaxis an      Stellschrauben zu drehen? Unsere weltweiten
einem Scheidepunkt. Schon vor Covid-19 lebten        Wirtschaftssysteme sind auf nie endendes
wir in einer tiefen Menschheitskrise: Weltweit       Wachstum ausgelegt. Sie fördern Raubbau
gab und gibt es eine Friedenskrise, Migrati-         an Natur und Klima, Gewinner und Verlierer,
onskrisen, die Klimakrise, eine politische Rechts-   Demütigende und Gedemütigte. Was für ein
ruckkrise, eine grassierende Ressourcenkrise         Irrsinn!
durch Raubbau an der Natur, weit verbreitet               Hat uns die Politik nicht gesagt, eine Be-
Autokratien, Kriege, Überbevölkerung, Armut,         kämpfung des Klimawandels sei zu teuer und
Tod, Hunger, Folter, Tierqual, Artensterben.         deshalb nicht zeitnah machbar? Und jetzt in
     All dies hat Jahr für Jahr weit mehr To-        der Corona-Krise ist das Mehrfache an Geld
                                                                                                                   Das National Geographic Magazin
desopfer gefordert als es Covid 19 je gelingen       plötzlich da? Und haben wir nicht zu 80 Pro-                  „Wir retten die Welt“ geht der
könnte. Hier in Deutschland hatten und haben         zent gesagt, wir wollen zwar den Klimawandel                  Frage nach, in was für einer Welt
wir eine Bildungskrise (Lehrermangel, PISA,          nicht, uns aber stillheimlich doch gefreut, dass              wir zum 100. Earth Day in 50 Jahren
unzureichende Digitalisierung), einen erdrü-         unsere politischen Vertreter uns den Ausweg                   leben werden und verweist auf die
ckenden Wohnungsnotstand, eine Sozialkrise           servierten, weiterhin großmotorige Automobile                 Vorteile hybrider Denkweisen.
                                                                                                                   National Geographic // Wir retten
mit zu viel Reichtum auf der einen und zu viel       zu kaufen und zigmal im Jahr in Urlaub und zu                 die Welt. Verlagshaus GeraNova
Armut auf der anderen Seite, zunehmend Ras-          vorgeblich unersetzlichen Auslandsmeetings                    Bruckmann • 6,50 Euro.
sismus, Hasspolitik und verrohte Schmähungen,        zu fliegen?
eine Krise der Volksparteien, eine Europa-Krise,          In der riesengroßen Menschheits- und
Konsumirrsinn, Desinformation und Steuer-            Menschlichkeitskrise vor Corona galt Vernunft
                                                                                                                                                     Foto: Blühdorn

betrüge in großem Stil, eine Rentenkrise, eine       vielfach als „naiv“. Sollten wir, einzelne Men-
Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus. Alles        schen, Unternehmen, Regierungen, Staaten,
schicksalsfrei selbst verursacht.                    Staatengemeinschaften, die Weltgemeinschaft
     Die Corona-Krise wird voraussichtlich be-       überhaupt dahin zurück wollen?
endet durch entweder 1.) ein Medikament, 2.)              Wie wäre es stattdessen mit einem würde-
einen Impfstoff, 3.) eine Durchseuchung. Wir         vollen Leben für ausnahmslos alle Menschen?
können dann versuchen zu dem oben geschil-           Dazu eine schnelle Energiewende, Ressour-                     Ingolfur Blühdorn vom Institut
derten Ist-Zustand zurückzukehren.                   censchonung, nachhaltiges Wirtschaften, ent-                  für Gesellschaftswandel und
     Aber es wird sich ohnehin manches än-           schleunigter Konsum, regionale Versorgung und                 Nachhaltigkeit (IGN) und seine
dern: Uns werden viele Menschenleben, Un-            Geburtenbegrenzung soweit möglich. Das alles                  Mitherausgeber beleuchten eine
                                                                                                                   Gesellschaft, die Wohlstand und
ternehmen, Arbeitsplätze und Geldreserven            auf der Basis eines regulierten Kapitalsystems                Lebensstil unter der Obhut einer
verlorengegangen sein. Wir werden uns auf die        und friedlicher, demokratischer Prozesse.                     Politik der Nicht-Nachhaltigkeit
nächste Pandemie vorbereiten, indem wir das               Wir könnten zumindest eine andere Rich-                  beharrlich verteidigt.
Gesundheitssystem umbauen, eine Fertigung            tung einschlagen. Der Beginn einer neuen Welt                 Ingolfur Blühdorn // Nachhaltige
überlebenswichtiger Gesundheitsprodukte              ist überfällig; die Chance war nie so groß wie                Nicht-Nachhaltigkeit.
                                                                                                                   Transcript Verlag, 334 S. • 19.99 Euro
im Inland einrichten, Test-, Erfassungs- und         jetzt.

6      ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
LEIDKULTUR

                         PAPIERSTAU
                           im Homeoffice
                             Die Fine-Arts-Fotografin Ja-
                             nine Machiedo verbrachte
                             wie so viele zwei Wochen in
                             Quarantäne. Bei zunehmen-
                             dem Lagerkoller erreichte sie
                             die Bitte des Kulturmagazins
                             ZETT., die Gemeinheiten der
                             Corona-Krise aus Ihrem Blick-
                             winkel häuslich-künstlerisch
                             in zwei Bildern in Szene zu
                             setzen. Hier ihre Arbeit „Wai-
                             ting for better times“. Ihr
Foto: Janine Machiedo.

                             zweites Bild „How to act like
                             this was Plan A“ finden Sie
                             auf Seite 38 im Bücher-Teil
                             unseres Magazins.

                                    ZETT. JUNI 2020       7
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
FREIBURG 2030

                                                                                                   Bild: Stadtplanungsamt
Sehr zu empfehlen ist der Besuch im Berliner „
                                             ­ Futurium“. Das am 5. Septem-
ber 2019 vom Bundesministerium für Bildung und F­ orschung eröffnete Haus
des Wissens um Möglichkeiten unweit des Berliner Hauptbahnhofs beschäf-
tigt sich auf 3.000 Quadratmetern detailreich, auf der Höhe der Zeit und
häufig interaktiv mit Zukunftsfragen zu den Themen Mensch, Natur, Technik,
Energie, Bauen, Transport, Ernährung. Der Eintritt ist frei.

Freiburg 2030
WIE WIR LEBEN WERDEN
von Arne Bicker
                                                                                                                                                                   2030
                                                                                                                            K
                                                                                                                                   ünstliche Intelligenz, Klima-
                                                                                                                                   wandel, Schutz vor Pandemien
                                                                                                                                   – war die Zukunft eigentlich zu allen Zeiten so spannend
                                                                                                                            wie jetzt? Es ist zu vermuten. Erwiesen ist, dass bahnbrechende
                                                                                                                            Erfindungen wie die Dampfmaschine, das Telefon oder das Inter-
                                                                                                                            net die menschliche Lebenswelt in rasantem Tempo verändert
                                                                                                                            haben. Und vorhergesehen hat diese Dinge niemand, noch nicht
                                                              Visionäre TV-Dokus                                            einmal Jules Verne. Ist also die Zukunft eine Gleichung, die nur
                                                                                                                            aus lauter Unbekannten besteht?
                                                              Die arte-Mediathek hält online
                                                              die Dokumentationen „Mobile                                        Nein, keineswegs. Natürlich können Dinge geschehen,
                                                                                                                            Erfindungen aufploppen, die uns alle aus den Socken hauen.
                                Screenshot: arte.tv

                                                              Zukunft - Die Stadt von morgen“,
                                                              „iHuman“ und „Das Echo der                                    Aber der Bereich zwischen Schicksalsergebenheit, visionärem
                                                              Zukunft - Kunst mit Genen und                                 Entdeckertum und weisem Gestaltungswillen lässt uns allen
                                                              künstlicher Intelligenz“ bereit.
                                                                                                                            einen immensen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Wer
                                                              // arte.tv/de
                                                                                                                            sich indes darauf beschränkt, Geschehnisse und Entwicklungen
                                                                                                                            passiv hinzunehmen oder anonym mit abfälligen Kommentaren
                                Screenshot: ardmediathek.de

                                                                                                                            zu begleiten, ist nicht mehr als ein Fussel auf dem Mantel der
                                                              Die Mediathek der ARD zeigt
                                                              „Flugtaxis für die Welt - Die                                 Geschichte.
                                                              Firma Volocopter aus Bruchsal“                                     Nur konstruktiv entwickeln wir uns weiter, lösen wir gesell-
                                                              und „Xenius - Stromspeicher der                               schaftliche und ethische Konflikte, bringen wir unsere Lebens-
                                                              Zukunft: Größenwahnsinnig oder                                welten voran und schaffen Chancen für die uns nachfolgenden
                                                              genial?“
                                                                                                                            Generationen. Aber ebenso gilt: Schwülstige Worte wie diese
                                                              // ardmediathek.de
                                                                                                                            gibt es schon mehr als genug. Wie also, unter Einbeziehung aller
                                                                                                                            bislang bekannten Faktoren, kann sie aussehen, unsere Zukunft?
                                                              In „Die Roboter kommen!“ geht die                                  Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, hat das
                                                                                                                                                                                                Rundes Foto: Zett. / M. Koswig

                                                              3sat-Sendung „Kulturzeit Extra“
                                                              der Frage nach, was Robotern und
                                                                                                                            Kulturmagazin ZETT. die Fragestellung heruntergebrochen auf
                                Screenshot: 3sat.de

                                                              Künstlicher Intelligenz zuzutrauen                            das südbadische Etwas namens Freiburg und auf einen gerade
                                                              ist. Und die Sendung „nano“ be-                               noch greifbar wirkenden Zeitpunkt in zehn Jahren - bis dahin
                                                              fasst sich mit dem „Ringen um die                             werden auch der neue Stadtteil Dietenbach und die Umgestal-
                                                              Mobilität von morgen“.                                        tung Stühlinger West fertig sein. Wie also werden wir hier in
                                                              // 3sat.de
                                                                                                                            Freiburg im Jahr 2030 leben?

8       ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
FREIBURG 2030
     Diese Frage habe ich in zwölf verschiedene Lebensbereiche
unterteilt und zu jedem eine Expertin, einen Experten hier in
Freiburg befragt. Auf diese Weise soll auf gerade mal zwölf
Magazinseiten ein möglichst umfassendes Bild entstehen, was
uns erwartet, wie unser Leben im Jahr 2030 ganz praktisch, ganz
konkret aussehen könnte, worauf wir uns einrichten, woran wir
mitgestalten können.
     Natürlich gehören die ureigenen ZETT.-Themen dazu: Me-
dien, Kunst, aber auch Bereiche wie Architektur, Energieversor-
gung, Stadtverkehrsplanung oder Politik. Jedem dieser Dutzend           Maja Göpel - Unsere Welt neu            Horst Opaschowski - Wissen was
    Bereiche haben wir eine Seite gewidmet; zwölf Expertinnen           denken. Ullstein-Verlag, 208 Sei-       wird. Patmos-Verlag, 280 Seiten,
                                                                        ten, 17,99 Euro.                        24 Euro.
       und Experten kommen zu Wort, in unserem ‚Club der
          Visionäre‘.
                Wie immer im ZETT. gibt es auch diesmal Quer-
              verweise zu unserer Titelstory: So empfehle ich zur
               Lektüre den herausragenden Bestseller der Öko-
                nomin Maja Göpel „Unsere Welt neu denken“.
                 Sie schreibt: „Unsere Zukunft ist nichts, was
                  bloß vom Himmel fällt. Nichts, das einfach nur
                   so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis
                   unserer Entscheidungen.“                             Thomas Piketty - Kapital und Ideo- 3TH1CS - Die Ethik der digitalen
                       Und wir Einzelne haben sehr viel zu ent-

                                                                                                    2030
                                                                        logie. Verlag C.H. Beck, 1312 Seiten,   Zeit. iRIGHTS media, 264 Seiten,
                   scheiden: Wie sehr wir unsere Umwelt schonen,        39,95 Euro.                             29,99 Euro (als E-Book 9,99 Euro).
                   welche Medien wir als solche wahrnehmen und
                  konsumieren, worauf wir unsere Meinungen
                 aufbauen, wie konsequent wir handeln und wo
                wir unser Kreuz bei Wahlen machen. Die Frage
               „Was wird sein?“ könnte deshalb auch lauten:
             „Was wollen wir?“.
                Wer zum Beispiel in der immensen Diskrepanz zwi-
         schen individuellem Reichtum und Armut ein Weltübel
      sieht, der findet in dem Buch „Kapital und Ideologie“ des
  französischen Autors Thomas Piketty Studienfutter. Piketty zu ausschließlich regenerativen Energien und einer solidarisch
fordert einen regulierten Kapitalismus und progressive Reichen- gerechteren Einkommens- und Besitzverteilung? Schnallen Sie
steuern. Und Horst Opaschowski nimmt uns mit in seine schrift- sich an, rufen Sie sich Christian Bruhns Captain-Future-Soundt-
liche Vorlesung „Wissen, was wird“, in der er uns Trends und rack in Erinnerung und blättern Sie um.                                    Los geht‘s!
Thesen serviert und, ähnlich
wie Maja Göpel, zum aktiven
Mitgestalten auffordert.
     In dem Buch „3TH1CS –
Die Ethik der digitalen Zeit“
betrachten die Herausgeber
Philipp Otto und Eike Gräf heik-
le Themen wie Kriegsroboter,
Ballerspiele und Algorithmen
vor dem Hintergrund der Mo-
ral: In 20 Texten stellen sich
Expertinnen und Experten aus
Europa, Amerika und Asien der
Herausforderung, neue Per-
spektiven zu Pflegerobotern,
autonomen Fahrzeugen, per-
sönlichen Drohnen, Sexrobo-
tern, Fake News, Deep Learning
                                                                                                                                                Foto: Futurium / David von Becker

oder Datenethik aufzuklappen.
     Stecken wir also wirklich
schon mitten drin, in einer
dritten industriellen Revolu-
tion, wie es Jeremy Rifkin in
seinem Buch „Der Globale
Green New Deal“ (siehe ZETT. /
Ausgabe 3) postuliert? Werden
wir Menschen unsere globale So soll es 2030 aussehen: Der neu gestaltete Freiburger Stadtteil S­ tühlinger-West im Windschatten des neuen
Wirtschaft umkrempeln, hin ­Rathauses (großes Oval) wird grün sein, v­ erkehrsarm und mehrstöckig bebaut.

                                                                                                                           ZETT. JUNI 2020                                9
FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
FREIBURG 2030

D
      eutschlands jüngster Oberbürgermeister besitzt mit sei-              In der ganzen Stadt werde, bis auf den Autobahnzubringer,
      ner Familie kein Privatauto. Zwar wird Martin Horn von          maximal Tempo 30 gelten, in vielen Spielstraßen Schrittgeschwin-
      einem Fahrer im Dienstwagen zu Terminen chauffiert,             digkeit. „Das gilt dann hoffentlich pauschal, ohne Schilderchaos.“
aber privat düst das 35 Jahre junge Stadtoberhaupt auf einem          Und „in allen Himmelsrichtungen“ hofft Horn an den Stadtgren-
geleasten E-Bike durch die City. Auf die Frage, wie der Freiburger    zen auf Park & Ride Plätze und dadurch möglichst wenige Autos
Stadtverkehr im Jahr 2030 aussehen wird, hält Horn gleich einen       in der Stadt. Stattdessen sieht er „urbane Lebensquartiere mit
ganzen Korb voller Antworten parat.                                   lebendig nutzbarem öffentlichen Raum.“
                                                                           Dazu komme eine intelligente, elektronische Verkehrsbe-

Stadtverkehr
                                                                      schilderung und ein Elektro-Lieferservice in der Innenstadt:
                                                                      „Einkäufe kann man sich umweltfreundlich nach Hause liefern

E-VOLUTION
                                                                      lassen, das wird dann zum Serviceangebot gehören.“
                                                                           Die vielbefahrene Ost-West-Achse, die zwischen Stadt-
                                                                      zentrum und Wiehre verläuft, sieht Martin Horn in einem un-
                                                                      terirdischen Stadttunnel verschwinden, ersetzt durch einen
                                                                      renaturierten Dreisamboulevard auf der Innenstadtseite „mit
     „Beispielgebend bis in zehn Jahren werden unsere Neu-            viel Grünflächen, dazu Rad- und Fußwege und beispielsweise
baugebiete Dietenbach, Stühlinger-West, Metzgergrün und               ein Spielplatz zwischen dem Café Extrablatt und der Innenstadt.
Schildacker sein. Da sehe ich für 2030 eine dichtere, urbane          Und ähnlich dem Rotteckring wird auch der Schlossbergring
Bebauung, dafür mehr grüne Flächen und neue Mobilkonzepte             verkehrsreduziert sein.“
mit Car-Sharing, Quartiersgaragen, Lastenrädern und insgesamt              Städtische Müllautos und Busse könnten 2030 vollständig
viel mehr Lebensraum für Menschen als für Autos“, erklärt Horn.       mit Elektro- und Wasserstoffantrieben ausgestattet sein, denkt
Auch in Freiburg werde es dann mietbare E-Scooter geben, jedoch       Martin Horn; bei privatwirtschaftlichem Schwerlastverkehr
nur als „kleiner Baustein“ in einem Konzept, das vor allem auf        rechnet er mit einem rund 50-prozentigen Wasserstoffanteil.
Fahrräder und Nahverkehr plus Elektromobilität mit möglichst          Durch solche Quoten werde sich die CO2-Bilanz zum Positiven
wenig privaten Autos setzen wird.                                     verändern.
     Bis zu 40 Prozent schätzt Martin Horn den Anteil an Elek-             „Wenn ich 2030 durch die Stadt spaziere, dann sehe ich
tro-Fahrzeugen in Freiburg in seiner Vision für das Jahr 2030.        Ladestationen für Elektromobile aller Art, angefangen von E-Tre-
Einige Tausend Mietfahrräder, die in Freiburg ‚Frelo‘ heißen,         trollern, E-Scootern, Pedelecs sowie E-Autos und E-Lieferwagen
werde es in zehn Jahren geben und dazu deutlich über hundert          und rund 100 Mietstationen für Fahr- und Lastenräder. Auch eine
‚Lasten-Frelos‘. Zudem sieht der parteilose OB vor seinem inne-       zweite Schienenquerung für Straßenbahnen in Bahnhofsnähe
ren Auge ein dichteres Radwegenetz mit breiten, attraktiven           kommt in meiner Vorstellung vor“ so Horn.
Radwegen, „die schnell und direkt in die Innenstadt führen.“               Sein Fazit: „Ich erwarte keine Revolu-
     Der öffentliche Nahverkehr solle zudem „sicher, zuver-           tion, sondern eine E-Volution. Unsere
lässig und in kurzer Taktung fahren“. Außerdem sollten neue           Stadt wird nicht autofrei sein, aber
Finanzierungskonzepte des Landes das fahrscheinlose Fahren            autoreduziert, zugunsten einer
ermöglichen“.                                                         deutlich höheren Lebensquali-
     Man kann Freiburgs Verwaltungschef also keineswegs               tät ihrer Bewohner. Dies wird
vorwerfen, er blicke nicht nach vorn. Am Besprechungstisch            nicht durch das Ausspielen vom
im OB-Büro malt Martin Horn mit Händen und Worten auch                Auto- gegen den Fahrradver-
„drei bis vier neue Stadtbahnlinien“ in die Luft: „Die Linie 1 wird   kehr gelingen, sondern durch
etwa bis zum Kappler Knoten verlängert, die Linie 3 bis nach          ein stetig besseres, bequemeres
Merzhausen, die Linie 4 bis zur Messe und zum Fußballstadion,         und umweltfreundlicheres Stadt-               Ma r t
                                                                                                                           i n Horn
die Linie 5 wird nach Dietenbach fahren, und eine neue                                 verkehrskonzept.“
Linie könnte St. Georgen anbinden.“

                                                                                                                                           Foto: Adobe Stock

10     ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030

                    D
                            er Begriff der Kunst ist schwer zu fassen. Und dann auch        explodieren. Neue Urbanitäten werden neue Stile schaffen,
                            noch eine Projektion in die Zukunft, ins Jahr 2030? Der         Topp-Kuratoren werden von Computerprogrammen abgelöst
                            renommierte Freiburger Galerist Albert Baumgarten emp-          und die Kontraste zwischen erster, zweiter, dritter und dann
                    fängt mich in seinen heiligen Hallen in der Kartäuserstraße. Auf        auch vierter und fünfter Welt werden sich verschärfen.“
                    dem Weg zum Besprechungszimmer passieren wir ein Bild des                    Und was macht die Kunst 2030 in Freiburg? „Museen wird
                    Malers Volker Blumkowski; es zeigt Männer, Klone, die gleichzeitig      es in der heutigen Form nicht mehr geben, das werden nur noch
                    in mehrere kleine Raketen hineinkriechen. Ist das ein Zeichen?          Kunstdepots sein. Die Ausstellungen finden woanders statt,
                         Ich schaffe es nicht, meine Kamera wirklich sachte auf dem         überall, in der virtuellen Welt oder unter freiem Himmel, zum
                    Glastisch abzusetzen, durch den wir unsere Schuhspitzen von             Beispiel auf dem Platz der alten Synagoge. Da können Passanten
                    oben sehen können. Albert Baumgarten beugt sich vor und schaut          Kunst über ihren Köpfen im Schwebezustand betrachten.“
                    mir durch seine Brille fest in die Augen: „Also, ich halte nichts von        Die visionäre Seite des Albert Baumgarten tickt weiter:
                    Algorithmen.“ Na das geht ja gut los. „Wenn da irgendwelche             „Künstler werden Schwerelosigkeit sichtbar machen. Interaktive
                    Holländer sogenannte neue Rembrandts von Computern malen                Kunst wird den Künstler als Gott der Kreation ablösen, Besucher
                    lassen, dann ist das doch nur eine neue Form der Reproduktion. So       und ihre Gedanken werden die Kunsterscheinung beeinflussen.“
                    ein wissenschaftlicher Stolz
                    kann auch etwas Lächerliches
                    haben.“
                         Werden also im Jahr                                                                                 Kunstbetrieb
                                                             IN DER AHNUNGSGALERIE
                    2030 keine von künstlichen
                    Intelligenzen erschaffenen
                    Kunstwerke unsere Wohn-
                    zimmer fluten? „Doch“, sagt
                    Baumgarten, „denn der breite
                    Geschmack wird sich 2030
                    mal wieder geändert haben. Aber vor allem wird es andere                Wie bitte soll das aussehen? „Stellen Sie sich eine Polarmeer-Per-
                    Präsentationsformen geben: Die Wohnzimmerwand wird als                  formance vor, in der Sie als Besucher das Gefühl haben, selbst
                    Kunstwand aus sich heraus so etwas wie ein riesiger E-Book-Rea-         auf einer Eisscholle durch eine gewaltige Ausstellung zu treiben.“
                    der sein. Da wird der Besitzer seine Kunst zeigen können, ohne              Und wird die Kunst irgendwann mal verschwinden? „Nein,
                    dass es aussieht wie auf einem Flatscreen.“                             niemals. Die Kunst wird sich weiterentwickeln, weil der denken-
                         Heute Baselitz, morgen Polke, und zwischendurch mal eben           de Mensch sie nach wie vor dringend braucht. Da geht es auch
                    die Bilder per Laserstrahl neu anordnen? „Etwa so. Und Galerien         um Neugier und Toleranz. Fast die Hälfte aller Kunststudenten
                    wie meine wird es 2030 nicht mehr geben, oder nur noch sehr             werden sich zuhause ausbilden lassen, Kunstakademien werden
                    wenige. Das verlagert sich in Online-Agenturen, in virtuelle            digitale Techniken lehren, wie zum Beispiel 3D-Skulpturen-Prints.
                    Ausstellungsräume und in globale Kunstkaufhäuser, die Origi-            Und 2030 werden sich auch neue Cross-Over-Stile herausbilden,
                    nal-Kunst auch vermieten werden.“                                       Verschmelzungen mit Musik, Performance, Literatur.“
                         Langsam kommt Baumgarten in Fahrt: „Künstler werden in                 OK, jetzt weiß ich, dass Albert Baumgarten alles andere ist als
                    Zukunft auch Ingenieure und Programmierer sein, Wissenschaftler         der Gralshüter eines in Beton gegossenen Kunstbegriffs. Vorbei an
                    werden Kunst machen und Künstler Wissenschaftler sein.“ Also            den fleißigen Raketenmännern trete ich
                    zurück in die Zukunft da Vincis? „Warum nicht? Viel mehr Künstler       hinaus in den Freiburger Nieselregen
                    werden Zukunftsforscher sein und ihre Vorahnungen präsentieren.         und schaue nach oben: kein men-
                    Und, ach ja, Kunstfreunde können sich ihren Lieblingskünstler           schen- oder maschinengemach-
                    als Smalltalk-Hologramm zum Hausbesuch bestellen.“                      tes Kunstwerk weit und breit.
                         Welche Stilrichtung wird 2030 vorherrschen? „Sie stellen           Ob ich mal kurz am Platz der
                    Fragen! Aber gut, ich denke, das ‚Anything Goes‘ wird förmlich          Alten Synagoge vorbeischaue?

                                                                                                                                      Al
                                                                                                                                           be r                    en
                                                                                                                                                  t B aumg a r t
Foto: Adobe Stock

                                     Kunst wird technikaffin und der Blick ändert sich.

                                                                                                                                           ZETT. JUNI 2020              11
FREIBURG 2030

D
      ie Frage, wie Freiburg im Jahr 2030 aussehen könnte, stelle    reicher und schwerfälliger. Was wir tun können: Es wird mehr

                                                                                                                                          Foto: Adobe Stock
      ich Matthias Hotz vom dreißigköpfigen Architekturbüro          Modulbauweise und Vorfertigung geben, um schnell und günstig
      hotz + architekten in Freiburg. Wir sitzen in einem licht-     zu sein.“
durchfluteten Besprechungsraum an einem riesigen Holztisch.              Wer neu bauen will, muss häufig abreißen. Und nicht nur Old-
An den Wänden hängen Bilder vollendeter Bauprojekte wie die          timer-Autos werden 2030 recycelt, sondern auch Oldtimer-Häuser.
Fahrradstation am Hauptbahnhof, die Solarfabrik auf der Haid,        „Nicht allein aus Kostengründen wird die Recycling-Fähigkeit von
das Bürogebäude Schnewlinstraße 12 mit seiner kippenden Fas-         Häusern eine wesentliche Rolle spielen. Bereits verwendete Baus-

Architektur & Stadplanung
VERDICHTER UND LENKER
sade, das United World College in der Kartäuserstraße, Forum         toffe werden aufbereitet und dem Baukreislauf wieder zugeführt.
Merzhausen, Theodor-Heuss-Gymnasium oder die abgerundete             „Die Konstruktionen und Materialzusammenfügungen werden
Druckerei Simon am Güterbahnhof.                                     durchdachter sein. Es wird geschraubte, gefügte Bauteile geben“,
     Ganz Deutschland und Freiburg speziell leiden am Fehlen         sagt Matthias Hotz. „Und Holz wird einen immensen Aufschwung
bezahlbarer Wohnungen. Im Jahr 2030 wird dieses Problem noch         erleben. Die Anzahl an Holzbauten wird extrem ansteigen.“
lange nicht gelöst sein, meint Matthias Hotz, aber man werde              Und was ist mit dem heutigen Trend der ‚Tiny Houses‘, kleine,
schon sehen können, in welche Richtung es gehen wird: „Sehr in       containerartige Wohneinheiten, die wenig Platz bieten, dafür
die Höhe zu bauen, wie das zum Beispiel in Basel geplant ist, löst   aber günstig und mobil sind? Matthias Hotz tut das als Spielerei
das Problem nicht, weil es zu teuer ist. Wir werden klüger nach-     ab: „Da ist überhaupt nichts dran. Ich habe mal mit meiner Frau
verdichten durch Aufstockungen und Neubauten. Die Wiehre ist         ein Fünfzig-Quadratmeter-Häuschen bewohnt – das war als
schon jetzt der am dichtesten bebaute Stadtteil Freiburgs, und der   Erfahrung ganz lustig, löst aber keine Probleme, weil es doch zu
ist hoch attraktiv. Der Bau von Einfamilien- und Reihenhäusern       viel Grundfläche braucht. Sinn würde es nur machen, wenn man
in der Stadt wird aber ein Ende haben.“                              die stapelt, aber dann schwindet die Attraktivität.“
     Durch Geschosswohnungsbau mit fünf bis sechs Stockwerken             Dafür lassen sich 2030 Heizkosten sparen. „Es wird Verwal-
wird künftig der Wohnraumbedarf abgedeckt. Wichtig sein wird         tungs- und Bürogebäude geben, die so gut gedämmt sind, dass
es auch günstig zu bauen. Hotz: „Die Systematik mit Bauvorschrif-    sie nicht mehr beheizt werden müssen“, erklärt Hotz. „Neue
ten, Gutachten, Genehmigungen und Sonderfachleuten müssen            Wohnhäuser werden so viel Energie, wie sie selbst verbrauchen,
entschlackt und vereinfacht werden. Aber daran, dass unsere          auch liefern, über ihre Dach- und Fassadenflächen, durch Wärme-
                   Politik das bis 2030 schafft, glaube ich nicht.   pumpen. Das ist natürlich standortabhängig. Der Freiburger Rolf
                                      Es wird im Gegenteil immer     Disch hat schon vor vielen Jahren gezeigt, wie’s geht. Aber 2030
                                                         umfang-     wird externe Energie so teuer sein und selbst produzierte deutlich
                                                                     günstiger, so dass neben Energieeinsparverordnungen auch die
                                                                     Wirtschaftlichkeit für dezentrale Einheiten spricht.“
                                                                          Bliebe die Frage der Stadtplanung: Das Motiv ‚Individual-
                                                                     verkehr raus, Wohn- und Lebensqualität rein‘ wird von Städten
                                                                     wie Barcelona oder Kopenhagen schon beispielhaft vorgelebt.
                                                                     Da müsste doch die Öko-Stadt Freiburg mit ihrer weitgehend
                                                                     autofreien Innenstadt der perfekte Ort für die Zukunft sein –
                                                                     Green City = Future City? „Bis 2030 passiert das nicht“, winkt
                                                                     Hotz ab, „aber der Trend, Straßen und Parkraum zurückzubauen
                                                                     und Öffentlichen Nahverkehr und Fahrräder zu priorisieren wird
                                                                     zumindest erkennbar sein.“
                                                                          Hotz weiter: „Die Stadtplanung durchläuft zu viele Gremien
                                                                     und Institutionen. Und wenn das Parken am Rande der Innenstadt
                                                                     zum Beispiel einfach nur verteuert wird,
                                                                     dann werden die Leute eben mehr
                                                                     bezahlen. Aber es wäre fatal, wenn
                                                                     2030 noch mehr einkommens-
                                                                     schwache Familien ins Umland
                                                                     flüchten müssten. Da wird der
                                                                     neue Stadtteil Dietenbach al-
                                                                     lein nicht ausreichen, das zu
                                                                     verhindern.“

                                                                                                                Ma
                                                                                                                     t t h ia s H o t z
Sieht so das künftige Green City Haus in Freiburg aus?

12       ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030
                                                                                                                                                  ????

                    R
                          oboter, Künstliche Intelligenz, Entkarbonisierung, Selbst-      für vernetzte Planung, Bau und Betrieb von Gebäuden und
Foto: Adobe Stock

                          fahrlogistik, Home-Office, Mechatronisierung – unserer          Bauwerken mittels modernster Software steht. Auer erläutert:
                          Wirtschafts- und Arbeitswelt stehen große Umbrüche              „Der Zimmermann wird nicht mehr irgendwelche Bretter sä-
                    bevor, auch in der Dienstleistungsstadt Freiburg. Was wird da-        gen, sondern wird ein Prozessmanager sein. Das heißt also, wir
                    von 2030 zu spüren sein, welchen Wandel zwischen Worthülse            müssen es schaffen, unsere Jugendlichen in eine ganz andere
                    und faktischer Neuausrichtung werden wir erleben? Mit diesen          Liga zu bringen als die, in der sie heute sind.“
                    Fragen habe ich Dr. Steffen Auer besucht, den Präsidenten der             Und Auer weiß, wie das gehen könnte: „Wirtschaft und
                    Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein.                     Politik müssen ehrlicher werden, denn schon 2030 haben wir
                         Seit 2011 ist Auer IHK-Präsident, spricht für 63.000 vor allem   eine komplexere, neue Arbeitswelt. Unsere Schulen brauchen
                    kleinere und mittlere Mitgliedsbetriebe. Gleichzeitig führt er        mehr modern ausgebildete Lehrer, mehr externe Referenten,
                    sein eigenes Unternehmen, die Schwarzwald-Gruppe in Lahr              mehr Ausstattung - da muss signifikant Geld reinfließen.“
                    mit 350 Mitarbeitern, der Zukunft entgegen. Hier hat Steffen              Und die Zukunft ist Steffen Auer schon selbst erschienen,
                    Auer selbst neue Strukturen, regenerative Energien, mehr              in Form einer Smart Factory von SICK Optoelektronik in Frei-
                    Eigenverantwortung und digitale Steuerelemente umgesetzt.             burg-Hochdorf: „Da gibt es jetzt schon eine vollautomatisierte
                    Man kann sagen, er tut, was er predigt.

                                                                                                               Jobs & Wirtschaft
                         Auf dem Schreibtisch in Auers Büro im dritten Stock
                    des IHK-Gebäudes in der Schnewlinstraße liegt eine

                                                                                       KLÜGER ARBEITEN
                    Studie mit dem Titel „Zukunftsstrategie Südlicher Oberr-
                    hein“. Steffen Auer holt aus: „Ich glaube, wir stehen am
                    Beginn einer vierten industriellen Revolution. Und fast alle
                    wirtschaftlichen Umbrüche in der Vergangenheit haben
                    gezeigt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze insgesamt
                    danach zugenommen hat. Das wird auch diesmal so sein. Aber            Fabrik - so etwas habe ich noch nicht gesehen. Da werden
                    Denken und Handeln werden sich ändern, weil viele Menschen            Produktionsaufträge von einem übergeordneten System an
                    in zehn Jahren etwas ganz anderes tun werden als heute.“              Fertigungsstationen vergeben, mit Zwischentransporten und
                         Denn, so Auer: „Die Art der Arbeit wird sich dramatisch          Produktion bei fortwährender Kontrolle. Da muss kein Mensch
                    verändern. Bislang wurden zum Beispiel Arbeiter an Fertigungs-        mehr etwas von Hand tun.“ Auers Erkenntnis: „Das System trifft
                    straßen in der Automobilindustrie durch Roboter ersetzt. Schon        in manchen Bereichen die besseren Entscheidungen, bis hin zur
                    2030 werden auch viele Buchhaltungs-, Management- und                 Unternehmensausrichtung.“
                    Personalarbeiten von vollautomatischer Software abgelöst sein.“            Auer weiter: „Der Dieselpreis könnte sich verdoppeln, Ener-
                         Die Weiterentwicklung der Arbeitswelt beginnt nicht jetzt.       gie-, Ressourcen- und Transportpreise werden steigen, Recycling-
                    Sie setzt sich einfach nur fort, mit den Mitteln der Zeit. Die Jobs   vorschriften und -notwendigkeiten werden sich verschärfen,
                    ändern sich, nicht ihre Zahl. Die Frage ist vor allem: Sind die       so dass Unternehmen ganz anders denken werden als sie das
                    Menschen bereit dazu? Kann und wird der Kohlekumpel in der            heute tun. Unternehmen werden zum Beispiel dezentral ihren
                    Lausitz künftig Solardachziegel in Reihe schalten? Eine Neuaus-       eigenen Strom erzeugen, Überkapazitäten an den Markt abgeben,
                    richtung ist gefordert, bei uns allen, in Fragen der Weiterbildung,   Transportlogistik, Ressourcenschonung und Abfallverwertung
                    der Umschulung und nicht zuletzt in der Basisausbildung des           systemgestützt steuern.“
                    modernen Menschen: Im Schulunterricht.                                     Und die soziale Komponente wird 2030 eine größere Rolle
                         Das Problem: Bleibt es bei Lippenbekenntnissen, wird vieles      spielen: „Wir müssen unsere Mitarbeiter besser unterstützen,
                    den Bach runtergehen. „Ich sehe das aber positiv als Heraus-          denn wir haben einen gewissen Wahnsinn erreicht, der nicht
                    forderung“, sagt Steffen Auer, „denn nur, wenn wir nichts tun,        mehr steigerbar ist. Wenn man heute eine E-Mail nicht inner-
                    fallen hier Arbeitsplätze weg, die woanders wieder aufgebaut          halb von 30 Minuten beantwortet, wird schon gefragt, ob man
                    werden. Es liegt also an uns selbst. Und an der Politik. Ein Bei-     tot sei. Die Digitalisierung hat uns diese Beschleunigung bis an
                    spiel: 2030 werden wir BIM haben.“                                    die Grenze beschert. Sie wird uns nun auch helfen, da wieder
                         BIM ist die Abkürzung für „Building Information Mode-            rauszukommen.“
                    ling“, eine Bauwerksdatenmodellierung, die als Oberbegriff                 Auers Fazit: „Wir haben irre Chancen, den notwendigen
                                                                                          Innovationssprung zu packen, weil unsere Ausgangslage mit die
                                                                                          beste in der Welt ist. Ich glaube nicht an das Szenario der Arbeits-
                                                                                          plätzevernichtung. Wir werden im Gegenteil zusätzliche, aber
                                                                                           hochqualifizierte Arbeitskräfte von außen brauchen, weil uns
                                                                                                      die Demografie am Wickel packen wird. Gleichzeitig
                                                                                                        wird der Arbeitsmarkt 2030 flexibler sein und sich
                                                                                                        auch an den Bedürfnissen der
                                                                                                        neuen Menschen aus-
                                                                                                        richten, von der 20 bis
                                                                                                        40-Stunden-Woche
                                                                                                        über Selbstver-
                                                                                                        antwortung und
                                                                                                        Home-Office mit
                                                                                                        Online-Live-Be-
                                                                     KI-gestütztes                      sprechungen bis
                                                                 Prozessmanagement
                                                                                                        hin zu neuen Sozi-
                                                              - unsere Arbeitswelten                                                   Dr .
                                                                                                    alberufen zum Wohle der                                  r
                                                            werden sich drastisch                                                           S t e f a n A ue
                                                           verändern.                          Gesellschaft.“

                                                                                                                                       ZETT. JUNI 2020      13
FREIBURG 2030

D
        er Weg zur Studiendekanin Professor Hannah Bast führt in        „Durch Massen an subtilen Daten aus dem menschlichen Körper

                                                                                                                                                 Foto: Adobe Stock
        eines der wie von göttlicher Hand ausgestreuten Gebäude         und die Echtzeitanalyse von Blut- und Speichelwerten wird der
        der 15. Fakultät am Freiburger Flugplatz. „051 - Informatik“,   Erkenntnisgewinn zu Krankheitsverläufen explodieren“. Und:
Eingang hinten rum, durch eine Metalltür, und dort geht es              „Bei der Hautkrebserkennung ist die KI heute schon extrem
alternativlos hinein in einen Aufzug. Wäre der nicht innen mit          zuverlässig.“ Denn: „Der Arzt kennt vielleicht tausend Fälle, die
Sperrholz verkleidet, man könnte denken, es ginge hier direkt           KI Millionen.“


hoch auf die Brücke eines Raumschiffes.

                                   Auch autonome Waffen werde es 2030 geben, nicht nur
     Eine vertikale Einbahnstraße bei Stromausfall, denke ich, als      Drohnen, sagt Bast, das sei leider eine verhältnismäßig ein-
ich in einen Flur trete, von dem wechselweise große, freundliche        fache Technik. „Aber von einem Roboter, der zum Beispiel die
Büros und ebensolche Besprechungsräume abgehen. Plötzlich               Spülmaschine ausräumt oder das Dach deckt, werden wir noch
biegt Frau Bast um eine Ecke: Wie lange wir wohl brauchen               meilenweit entfernt sein. Dass wir in absehbarer Zeit eine echte,

Künstliche Intelligenz
WHATSAPP VON CLEOPATRA
werden für das Interview? Und ob ich Fragen stellen wolle oder          künstliche Superintelligenz haben werden, das ist noch so weit
sie einfach ein bisschen referieren solle? „Beides.“ Dann los.

        weg wie die altägyptischen Pharaonen vom Handy.“ In meinem
     „Die kurzfristigen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz       Kopfkino sehe ich, wie Cleopatra Caesar eine Whatsapp schreibt:
werden maßlos überschätzt und die langfristigen Folgen maß-             „Hey Alter, Bock auf Chillen am Nil?“


los unterschätzt“, legt sie los. Ein dialektischer Beginn: Erst die          Überhaupt: Kommunikation, Journalismus - gilt da bald:
These, dann der Roboter als synthetischer Antichrist? „Diskurs          KI, übernehmen Sie? „Nein“, sagt die KI-Professorin Bast mit
und Medienberichterstattung geben oft nicht den wahren Stand            Bestimmtheit, „es wird zwar neue Methoden zum Fälschen
der Forschung wieder“, so die Professorin für Algorithmen und           von Fotos und Videos geben, aber KI wird so bald keinen guten
Datenstrukturen. Im Moment steckt also die Künstliche Intel-            Journalismus ersetzen. Höchstens Kurzmeldungen und so stan-
ligenz noch in den Babyschuhen? Oder sie liegt sogar noch im            dardisierte Texte wie Sportmeldungen und Promi-News können
Himmelbett?

                                                           2030 von Fabrikjournalismus geschrieben werden, mehr nicht.“


     „Was wir im Moment haben, ist eine noch relativ schemati-               Was wir aber 2030 haben werden, sei vollautonomes Fahren:
sche Null-Acht-Fuffzehn-Intelligenz“, so Bast. „Damit sind                      „Das ist letztendlich auch nur ein Zusammenwachsen
nur sehr spezifische Einzelaufgaben wie Gesichtser-                                    ständig besser werdender Assistenzsysteme. Spe-
kennung oder autonomes Fahren möglich. Die                                                ziell bei Lkws, Bussen, Straßenbahnen und
Revolution kam und kommt meist eher durch                                                    Taxis wird das zum Einsatz kommen. Neue
Low-Tech und kritische Masse zustande.“ Die                                                    Städte werden darauf ausgerichtet sein. Im
kritische Masse im Fall des Internets waren                                                     Privatbereich wird das aber noch nicht flä-
Rechner und Telefonleitungen. Im Fall der                                                       chendeckend stattfinden.“ Warum nicht?
KI sind das Daten, Speicherkapazitäten                                                           „Das dauert, bis das im Massenmarkt
und Verarbeitungsgeschwindigkeiten.

                                                            ankommt und es gibt ja auch erstmal
     Damit werde schon 2030                                                                      Wichtigeres.“


die Medizin revolutio-                                                                                Noch ein bohrender Professorin-
niert sein, meint                                                                                 nenblick und ich verlasse das Büro, in
Hannah                                                                                            dem Hannah Bast sofort ihr Notebook
Bast:                                                                                             aufklappt und sich tiefschürfenderen
                                                                                                  Dingen zuwendet. Ich aber denke an
                                                                                                  Cleopatra im
                                                                                                 Raumanzug
                                                                                                 und trotte
                                                                                                zum
                                                                                              Aufzug:
                                                                                            „Beam me
                           Da soll es irgendwann                                         down, Scotty.“
                                    mal alles rein.

                                                                                                                  Pr                        st
                                                                                                                       of.
                                                                                                                             H an n ah Ba

14      ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030

                    D
                            r. Franz Leithold war schwer zu fassen für das Kulturma-    einzugreifen und so Marktmacht zu erlangen. Gleiches gelte
Foto: Adobe Stock

                            gazin ZETT.: Zum Zeitpunkt des vereinbarten Interviews      für neuartige Konzern-TV-Sender; neben „Red-Bull-TV“ oder
                            musste die Freiburger Uni-Bibliothek gerade Corona-be-      „Bayern-München-TV“ hält Leithold auch einen „Nestlé-Sender“
                    dingt schließen; Leithold hatte als Leiter des Medienzentrums       oder einen „Mercedes-Benz-Kanal“ für möglich – wie immer sie
                    und stellvertretender Direktor der UB alle Hände voll zu tun. Am    dann auch heißen mögen.
                    Ende klappte es eine knappe Woche später dann doch noch –               Immerhin werde das Fixiertsein auf Einschaltquoten teilweise
                    am Telefon.                                                         verschwunden sein, „weil 2030 die Ansprüche der dann auch viel
                         „Das Zeitungssterben wird wei-

                                                                                                                                           Medien
                    tergehen“, meint Leithold. „Im Jahr
                    2030 werden wir nur, oder immerhin,

                                                               ETHOS STATT CLICKBAIT
                    halb so viele Zeitungen haben wie
                    heute. Und diese Zeitungen werden
                    leider alle als bezahlte Online-Ausga-
                    ben auftreten, wobei die Printausga-
                    be nur noch ein Beiwerk hierzu sein
                    wird. Es wird nach individuellen Prioritäten zusammenstellbare      politischer denkenden Menschen deutlich höher sein werden.
                    Online-Ausgaben geben, die man dann zum Beispiel auf großen         Seriöse Medien wie Spiegel, ZEIT, taz, FAZ, Süddeutsche oder
                    Readern lesen kann, ähnlich den E-Book-Readern der ersten           correctiv.org sowie die öffentlich-rechtlichen Formate werden
                    Generation.“                                                        hochqualifizierte und verantwortungsbewusste Journalisten
                         2030 werde das Fach ‚Medien‘ fest im deutschen Schulsystem     aufbieten im Einsatz gegen eine perfide Verblödung, wie sie
                    verankert sein, prophezeit Franz Leithold: „Uns wird spätestens     einigen politisch agierenden Gruppierungen nur allzu recht wäre.“
                    in zehn Jahren absolut klar sein, dass wir junge Menschen dazu           Diese seriösen Medien würden sich auch durch einen umfas-
                    ausbilden müssen, kritisch, verantwortungsvoll und selbstbewusst    senden Verzicht auf anonyme Hasskommentare auszeichnen,
                    mit Medien umzugehen und seriöse von unseriösen unterscheiden       meint Franz Leithold. „Radioprogramme wird es 2030 immer noch
                    zu können. Umgekehrt werden die Medien Leser einbinden als          geben, meist in digitaler Form. Sie werden parallel existieren und
                    eine Art Mitredakteure; unser gesamtes Bildungssystem wird          sich vermischen mit Musik- und Informationsstreamingdiensten.
                    endlich wieder ein humanistisches Menschenbild allen Lehr- und      All das wird auch jederzeit mobil empfangbar sein, auf dem
                    Ausbildungsplänen zu Grunde legen und sich weniger an den           Handy oder im selbstfahrenden Elektro-Auto.“ Der User wird
                    Anforderungen des freien Marktes ausrichten.“                       2030 sein eigener Programmchef sein.
                         Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem sagt Leithold             Und dann schließt sich ein Kreis, weil Leithold zum Ende des
                    ein neues Erstrahlen voraus: „Mit einer neuen Ausrichtung           Gesprächs wieder zur Corona-Krise des Jahres 2020 zurückfindet:
                    hin zu besserem, kritischem und investigativem Journalismus         „In zehn Jahren werden die Menschen aus dieser weltweiten Krise
                    und qualitativ hochwertiger Unterhaltung werden die Öffent-         gelernt haben, wie elementar wichtig seriöse Medien sind, die auf
                    lich-Rechtlichen 2030 auch einzelne Printmedien betreiben.“         der Grundlage eines ethischen Konzepts
                    Lineares Fernsehen mit festen Einschaltzeiten werde es zwar         nach journalistischen Kriterien ver-
                    noch geben, aber deutlich reduziert: „Streamingsdienste mit         antwortungsbewusst Informati-
                    massenkonformen Inhalten und nicht-lineare Mediathek-Ange-          onen recherchieren, aufbereiten
                    bote mit einer zentralen, europaweiten Mediathekplattform als       und darstellen. Ohne die geht
                    Anlaufstelle werden im Vordergrund stehen“, so Franz Leithold.      es einfach nicht. Ein unabhän-
                         Das gelte 2030 weiterhin auch für die weniger seriösen         giger Journalismus ist eine der
                    Mail-Medien wie „t-online“, „gmx“ oder „web.de“, die laut           Säulen unserer Demokratie“
                    Leithold dann noch stärker
                    danach trachten wür-                                                                                          Dr                         ld
                                                                                                                                       . Fr
                    den, mit manipulati-                                                                                                    a n z L e i t ho
                    ven Mitteln in gesell-
                    schaftliche Prozesse

                                                                   Auf den Durchblick
                                                                   kommt es an.

                                                                                                                                   ZETT. JUNI 2020                15
FREIBURG 2030

P
     rofessor Dr. Andreas Matzarakis trägt den Titel „Außerplan-        „Eine Stadt wie Freiburg ist grundsätzlich etwa drei Grad
     mäßiger Professor“, der ihm in meinen Augen gleich eine        wärmer als das Umland“, erklärt Matzarakis. „Wir nennen das
     sehr besondere Aura verleiht. Nur wenige Tage vor seinem       eine Wärmeinsel. Der Temperaturunterschied zwischen Innen-
sechzigsten Geburtstag klettert der Spezialist für Human-Bio-       stadt und Flugplatz kann zum Beispiel nachts bis zu sieben Grad
meteorologie, Stadtklimatologie, Tourismusklimatologie und          betragen. Die Menschen in den Städten erleben jetzt schon den
Klimafolgenforschung mit mir auf das Dach des Gebäudes an der       Klimawandel: Wenn Sie sich heute vom Waldrand auf der Haid
Stefan-Meier-Straße in Freiburg, in dem neben dem Rheinschiff-      in die Innenstadt bewegen, dann merken Sie bereits, was uns
fahrtsmuseum auch die Freiburger Dependance des Deutschen           der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten bringen wird.“
Wetterdienstes (DWD) zu finden ist.                                     2030 werden wir in Freiburg eine deutlich größere Hitze
    Der gebürtige Grieche Matzarakis studierte in München und       und mehr Hitzewellen haben, das stehe fest, erläutert Andreas
habilitierte in Freiburg über die „thermische Komponente des        Matzarakis. Die Menschen würden mehr schattenspendende
Stadtklimas“. Auf dem Dach seines Arbeitsplatzes hat er nicht nur   Bäume pflanzen, Sonnensegel zum Beispiel auf dem Platz der
eine meterologische Glaskugel - hier ist er auch ganz nah dran      alten Synagoge aufspannen und ihre mit reflektierenden Farben

Urbanes Klima
SIESTA IN FREIBURG
am Wetter, wenn auch nicht nahe genug, als dass mit Wachs           versehenen Häuserfassaden begrünen, um durch Verdunstung
verklebte Flügel Gefahr liefen zu schmelzen. Wer Matzarakis         ein besseres Mikroklima zu schaffen.
zuhört, könnte indes auf die Idee kommen, dass derartiges sogar          „Aber wohin reflektieren weiße Häuserfassaden?“, fragt
bald am Boden in Freiburg möglich ist.                              Matzarakis. „Natürlich auf den Menschen. Das ist eine Intensi-
     „Es wird heiß, soviel steht fest“, sagt der Professor, ohne    vierung der thermischen Bedingungen, sprich des Hitzestresses
seine Rooftop-Glaskugel auch nur eines Blickes zu würdigen.         für den Stadtmenschen.“ Also machen es die Griechen seit Jahr-
Wir steigen wieder hinab in sein Büro, auf dessen Schreibtisch      hunderten falsch? „Nein, durch weiße Fassaden bleiben Häuser
ein Daumenkino liegt mit dem Titel „Baden-Württemberg wird          innen kühl. Und haben Sie schon mal einen Griechen gesehen,
wärmer“. Matzarakis folgt meinem Blick: „Sie können gern eins       der mittags draußen in der Sonne steht?“
mitnehmen.“                                                              Jetzt hat er mich. Der Grieche in mir weiß, dass schon die
     Um das Jahr 2030 werde es in und um Freiburg über zehn         letzten beiden Sommer an meinem Schreibtisch in Freiburg
Prozent weniger Schnee geben und es werde in der Stadt 0,5          heißer waren als die zuvor. Matzarakis: „Nicht nur Stadtplanung
bis 1 Grad wärmer sein als heute, sagt Matzarakis. „Das ist eine    und Bauwesen in Freiburg müssen sich auf die neuen Bedingun-
ganze Menge. Die Winter werden insgesamt milder und mehr            gen einstellen, sondern vor allem der Kopf der Menschen. Wir
regenbehaftet sein und die Sommer heißer und mit weniger            neigen dazu bei Hitze Klimaanlagen einzuschalten. Die blasen
Niederschlägen. Und diese wenigen Regenfälle werden dafür           dann zusätzliche Wärme nach draußen und erwärmen die Stadt
oftmals intensiver ausfallen.“                                      noch mehr.“
     In Freiburg bin ich es gewohnt im Januar schon mal vor einem        Und was macht der Grieche? Siesta und Stromsparen. Genau
Café im Freien zu sitzen. Der Sommer ist hier gefühlt acht Mona-    so sollten es auch die Freiburger in künftigen Hitzesommern
te lang. Wird aus diesem südbadischen Standortvorteil künftig       halten, empfiehlt Matzarakis. Schon bald will der DWD eine
ein Standortnachteil nach dem Glutofen-Prinzip? Matzarakis          eigene App mit Gesundheits- und Wetterhinweisen herausbrin-
schwankt: „Das hängt davon ab, wie man Hitze betrachtet. Da         gen, die 2030 zum sommerlichen Alltag
geht es nicht nur um die Lufttemperatur, sondern auch um            gehören werden wie Schlangen vor
Feuchte, Wind, Bestrahlung und schließlich um den Menschen          den Eisdielen. Und für die Verwal-
selbst und seine Aktivitäten.“                                      tungen werden professionelle
                                                                    Hitzeaktionspläne entwickelt.
                                                                    Neben dem Hitzewarnsystem
                                                                    des Deutschen Wetterdienstes
                                                                    gibt es schon heute ein europä-
                                                                    isches Hitzeinformationssystem
                                                                    mit dem denkwürdigen Namen              ro
                                                                                                               f.                       ak
                                                                                                                                 is
                                                                                                             P

                                                                                                                  A nd               ar
                                                                    „EuroHEAT“.                                        r ea s Ma t z
                                                                                                                                             Foto: Adobe Stock

16     ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030

                    E
                         rneuerbare Energien sind – neben künstlicher Intelligenz –      den Energiewende-Ball flach zu halten, aber 2030 wird das Ge-
                         gerade DAS Zukunftsthema schlechthin. Vorhersage-Studien        schichte sein, weil sich bis dahin Bevölkerung und Wissenschaft
                         gibt es reichlich, so der „Energiewendeatlas 2030“ (Agentur     mit iher breiten Forderung der Energiewende gegen altbackene
                    für Erneuerbare Energien), der „Europäische Energieatlas“ (Hein-     Industrieinteressen durchgesetzt haben werden.“
                    rich-Böll-Stiftung) oder die „EWI-Analyse“ des Energiewirtschaft-        So, Burger hat also auch die Rahmenbedingungen im Blick.
                    lichen Instituts der Uni Köln.                                       „Wir müssen bedenken, dass wir bei einer vollelektrischen Ener-
                         Auch in Freiburg gibt es ausgewiesene Experten und Forscher     gieversorgung für Strom, Wärme, Verkehr und Industrie den
                    zum Thema. Professor Dr. Bruno Burger empfängt mich in der           zweieinhalb- bis dreifachen Strombedarf haben werden, weil
                    Abteilung für „Neue Bauelemente und

                                                                                                     Erneuerbare Energien
                    Technologien für die Leistungselektronik“
                    am Freiburger Fraunhofer-Institut für Sola-

                                                                           FREIE DAUER-POWER
                    re Energiesysteme (ISE). Er ist zuständig für
                    Energie-Elektronik, -Netze und -Systeme.
                    Genau der richtige Mann für eine Prognose,
                    was uns im Jahr 2030 erwartet. Im Verlauf
                    des Gesprächs wird mir klar, dass Professor
                    Burger ein forscher Optimist ist, der meine Fragen gern aufgreift,   Kohle und Öl als Energieträger durch Strom ersetzt werden. Um
                    um zu plakatieren, was heute und morgen schon getan werden           den zu decken, müssen wir aber nicht Wasserstoff aus Saudi-Ara-
                    kann, um die Dinge übermorgen in den Griff zu bekommen.              bien importieren oder Stromtrassen bis in die Sahara verlegen.
                         Burger blättert sein Bilderbuch der Zukunft Freiburgs im              Wir haben hier genug Sonne und Wind für unser Land.“
                    Jahr 2030 auf: „Wir werden große Batteriespeicher                                          Und wie sieht es 2030 in Freiburg aus? „Vom
                    haben, aber auch dezentrale Speicher in                                                      Flugplatz werden erste Elektrohubschrau-
                    Kellern von Privathäusern, die vor allem                                                         ber starten. Das Ladesäulennetz für
                    Sonnenstrom für sonnenscheinarme                                                                     Elektroautos wird sich in einem
                    Stunden vorhalten und zentral                                                                           rasanten Ausbau befinden, al-
                    gesteuert werden. Wir werden                                                                              lein in der Schlossberg-Gara-
                    alte und neue Dächer und                                                                                     ge werden 100 Ladesäulen
                    vor allem auch Fassaden                                                                                       installiert sein. Durch die
                    als Produktionsorte für                                                                                          Elektroautos wird die
                    photovoltaischen Strom                                                                                             Luft sauberer und der
                    erschließen.“                                                                                                        Verkehr wird leiser.
                         Und dann lässt                                                                                                    Es wird Batteriespei-
                    Burger gleich seinen                                                                                                    cher geben für den
                    ersten Ballon platzen:                                                                                                  täglichen Stromlas-
                    „Ein Netzknoten mit                                                                                                     tenausgleich und
                    einem großvolumi-                                                                                                       ein großflächiges
                    gen Batteriestrom-                                                                                                      Wachstum an Pho-
                    speicher wird in Fes-                                                                                                   tovoltaikanlagen.
                    senheim stehen, am                                                                                                           Neue Häuser
                    Standort des früheren                                                                                                  werden oftmals in
                    Atomkraftwerks, und                                                                                                  Holzbauweise er-
                    hier wird in Kombina-                                                                                              stellt, um CO2 lang-
                    tion mit dem Pumpspei-                                                                                           fristig zu binden. Und
                    cherwerk am Schluchsee                                                                                        das sind in meinen Augen
                    grenzüberschreitend Strom                                                                                   nur die Low Hanging Fruits
                    zwischengespeichert und                                                                                   – die ersten wirtschaftlich
                    ausgetauscht. Weitere, kleinere                                                                         Sinn machenden Schritte auf
                    Fünf-Megawatt-Stromspeicherein-                                                                      dem Weg zu einer 100-prozen-
                    heiten werden in Containerbauweise                                                               tigen Versorgung mit erneuerbaren
                    feuersicher in der Region verteilt sein.“                                                    Energien und erneuerbarem Wasserstoff
                         Das geht ja gut los – ist das schon Science                                      als saisonalem Speicher. “
                    Fiction? Nein, Bruno Burger weiß genau, wovon er spricht.                    Und was ist mit der Kernfusion, dem menschenge-
                    Er beugt sich vor: „Es wird insgesamt mehr Güterverkehr auf          machten Sonnenfeuer, an dem in Frank-
                    Schienen und weniger in der Schifffahrt geben. Hier am Rhein         reich und den USA mit Hochdruck
                    wird es Wasserstofftankstellen für die Rheinschifffahrt geben.“      geforscht wird? „Auf die Kernfusion
                    Und das alles schon 2030? „Wir werden zumindest auf einem            können wir nicht warten. Sie ist
                    sichtbaren Weg dorthin sein“, prognostiziert Burger. Seine Kolle-    vor 2050 nicht einsatzbereit,
                    gen haben die vollständige Energiewende hin zu ausschließlich        und bis dahin müssen wir die
                    erneuerbarem Strom bis 2050 mit einem Simulationsprogramm            Energiewende schon komplett
                    durchgerechnet, sogar „im Stundentakt“.                              abgeschlossen haben. Das Kli-
                         Die Windenergie werde in und um Freiburg nicht maßgeb-          ma ändert sich rasend schnell.
Foto: Adobe Stock

                    lich wachsen, meint Burger: „Viel Wind haben wir nicht. Dafür        Wir müssen heute reagieren                Pr
                                                                                                                                      of                        er
                    wird es Gleichstromtrassen von den Offshore-Anlagen aus dem          und dürfen nichts auf morgen                    . Dr                rg
                                                                                                                                              . B r un o B u
                    Norden geben. Jetzt, im Jahr 2020, versucht die Politik zwar noch,   vertagen.“

                                                                                                                                         ZETT. JUNI 2020       17
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