FREIBURG 2030 Wie wir leben werden - Zett. Magazin
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#4 ∙ JUNI 2020 SCHUTZGEBÜHR 5 E Das Kulturmagazin für Freiburg Home-ZMF Tanzszene Freiburg FREIBURG 2030 Kunst & Verbrechen Wie wir leben werden Der Weißblechkönig Im Interview: Vivian Perkovic // Peter Carp Aus dem ZYPRESSE VERLAG www.zett-magazin.de Bücher // Kunst // Mediatheken // Musik
EDITORIAL Phuturistisches DIE KULTUR LEBT! W as macht ein Kultur- gegen die Pandemie gera- magazin in de Fragen, wie jene nach der Corona-Zeit? Die- unser aller Zukunft, massiv se Frage wurde mir oft ins kollektive Bewusstsein gestellt in den letzten gerückt. Wochen, meist mit Und natürlich heben dem Zusatz „Da habt Bild: Lilli (9 Jahre) wir wie immer Kunst und ihr doch gar nichts zu Künstlerinnen und Künst- berichten, oder?“ ler auf den Schild des Ma- Na, unser Kultur- jestix, tragen sie durch‘s magazin ZETT. trotzt Dorf und machen unser der Corona-Krise und Magazin so ganz einfach zu einer Ausstellung es trotzt ihr die Gewissheit ab, dass Kunst und zum Mitnehmen. Dazu gibt es besonders viele Kultur das Menschbleiben verbriefen: Jedes Bild Bücher- und Mediatheken-Tipps quer durch an der Wand, jedes Buch im Regal, jede CD im unsere Themen für ruhige Stunden daheim und Schrank ist ein Meisterbrief des Seins, des Füh- Geleitworte einer kulturbeflissenen Mainzelfrau. lens, des Liebens und Lebens und der Fantasie. Wie alles, was unser Menschsein ausmacht, Es fällt mir schon schwer, mich daran zu hat natürlich auch das Virale schon wieder neue gewöhnen, Fantasie mit „F“ zu schreiben; dabei Kunst hervorgebracht wie die papierlastigen nicht an Limonade zu denken ist mir unmöglich. Quarantäne-Bilder unserer Fotografin Janine An einen Wegfall von Kunst und Kultur muss ich Machiedo. Und wer sagt denn, dass man nicht mich zum Glück nicht und hoffentlich niemals sein eigenes ZMF im Garten, auf dem Balkon gewöhnen. oder im Wohnzimmer veranstalten kann? Ist Die inhaltlichen Planungen für dieses Heft doch Alles nur eine Frage der PHantasie. entstanden schon vor der Corona-Krise, und als Redaktionsleiter musste ich genau zwei Seiten streichen: Unsere handverlesenen Konzerttipps Bleiben Sie neugierig... und ebensolche Hinweise auf Lesungen, die Herzlichst in diesem Magazin üblicherweise je eine Seite Harry der Zeichner ausmachen. Dafür gewann unsere Titelstory „Freiburg 2030 – Wie wir leben werden“ mit zwölf Freiburger Visionären auf geradezu un- Arne Bicker heimliche Weise an Brisanz, hat doch der Kampf Redaktionsleiter Zett. Impressum „ZETT. – Das Kulturmagazin für Gestaltung: Schleiner & Partner Fotografie: Janine Machiedo, Klaus Freiburg“ ist eine Magazinpublika- Grafik, Layout: Frank Reder Polkowski, Arne Bicker. tion der Zypresse Verlags GmbH, Redaktionelle Leitung: Für Druckfehler keine Haftung. Brunnenstraße 6, 79098 Freiburg. Arne Bicker Das Copyright für Texte und Fotos redaktion@zett-magazin.de Redaktionelle Mitarbeit: Jennifer liegt beim Verlag und den Auto- www.zett-magazin.de Reyes, Reinhold Wagner, Astrid ren / Fotografen. Nachdruck, Ver- www.zypresse.com Ogbeiwi, Anna Henschel, Mareike vielfältigungen und elektronische Geschäftsführung: Kaiser, Tom Teuffel. Speicherung nur mit schriftlicher Caroline Kross Titelfoto: Martin Koswig Genehmigung des Verlages. ZETT. JUNI 2020 3
INHALT 2030 TANZ BÜCHER Kleines Rund, großer Zuspruch Lesefreude pur 59 39 Foto: Klaus Polkowski FREIBURG 2030 Foto: M. Koswig ab Seite 8 EDITORIAL 900 JAHRE STADTJUBILÄUM Phuturistisches – Die Kultur lebt! 3 Ausgebremst – Was wird aus dem Stadtjubiläum? 22 LEIDKULTUR 60 Jahre Kunstpreis – Phalanx der Preisträger 23 Die Stunde der Vernunft – Krisenperiode 2020 6 Weltenfrauen – Im Gewand der Vielfalt 24 Janine Machiedo – Papierstau im Homeoffice 7 Die Tablett-Kunst der Evelyn Höfs – Digital unperfekt 25 FREIBURG 2030 – WIE WIR LEBEN WERDEN MEDIATHEKEN Freiburg 2030 – Wie wir leben werden 8 3sat-Kulturzeit – Geschmeidigst produziert 26 Stadtverkehr – E-Volution 10 Moderne Heldinnen – Fünf starke Frauen 27 Kunstbetrieb – In der Ahnungsgalerie 11 FOTOGRAFIE Architektur & Stadtplanung – Verdichter und Lenker 12 Fotografie – Kleine Brötchen 28 Jobs & Wirtschaft – Klüger arbeiten 13 • Jutta Panke 29 Künstliche Intelligenz – Whatsapp von Cleopatra 14 • Michaela Kindle 29 Medien – Ethos statt Clickbait 15 • Yasemin Aus dem Kahmen 30 Urbanes Klima – Siesta in Freiburg 16 • Dorothee Himpele 30 Erneuerbare Energien – Freie Dauer-Power 17 • Janine Machiedo 31 Musik – Das Ende der Vinylisation 18 • Horst Sobotta 32 Energieversorgung – Hitziges Rheintal 19 • Piotr Iwicki 32 Polizei – Von wegen Hoverboard 20 • Jan Deichner 33 Gesellschaft & Politik – Die neue Vernunft 21 • Arne Bicker 33 37 40 PRIMA PRISMA WEISSE RIESEN Dr. Peter Gerdes Helen Duppé 900 JAHRE STADTJUBILÄUM ab Seite 22 4 ZETT. JUNI 2020
IMPULSIV MUSIK Anke Augspach Zeltbau im Garten 54 56 Foto: Klaus Polkowski KUNST ab Seite 49 Thomas Temmer – Regentanz 34 Celso Martínez Naves – Im Zwielicht 52 Dr. Peter Gerdes – Prima Prisma 37 Verbrechen in der Kunst – Artnapping & Goldpfunde 53 BÜCHER Anke Augspach – Impulsiv 54 Schöne Geschichten – Buchtipps der Stadtbibliothek 39 Roland Hölderle – Der Chiffreur 55 Helen Duppé – Weiße Riesen 40 Martin Hunke – Feuer & Stahl 55 Philipp Multhaupt – Der Seiltänzer 42 MUSIK Anne Grießer – Wein-Crime 44 Zeltbau im Garten – Home-ZMF 56 Annette Pehnt – Tempelgänger 44 Die bessere Biographie – Wie Musik wirkt 57 Julia Heinecke – Widerstand 44 Lauschangriff – CD-Tipps 58 Ulrike Halbe-Bauer – Im Zwiespalt 45 TANZ Marc Buhl – Nah am Vulkan 45 Mensabrunnen – Kleines Rund, großer Zuspruch 59 Manuela Fuelle – Doppelagenten 45 Tanzen im Biotop – Wenn Körper sprechen 60 SATIRE Lebensgefühl der 20er – Provokation & Popkultur 62 Lebenshilfe? Guter Rat für 19,90 46 GESELLSCHAFT Klaus Karlitzky – Frei und amtlich 47 Kunst für den guten Zweck – „1000 Drawings“ 64 KUNST Fitness – Körper und Geist im ruhigen Fluss 66 Heinz Soucek – Der Weißblechkönig 49 Tom Brane – DANKE 67 Peter Carp – Mr. Hoffentlich 50 Harry der Zeichner – Sommer in Freiburg 51 Foto: ZDF / Jana Kay 55 26 FEUER & STAHL 3SAT-KULTURZEIT Martin Hunke Vivian Perkovic Fotografie KLEINE BRÖTCHEN 28 ZETT. JUNI 2020 5
LEIDKULTUR Foto: Paul Maurer Bild: Anaïs (9 Jahre) Michael Kraske untersucht Die Stunde der Vernunft sehr klug und differenziert den Rechtsruck in Ostdeutschland und KRISENPERIODE 2020 beschreibt einen der vielen Risse, die sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Michael Kraske // Der Riss. Ullstein • 352 S. • 19.99 Euro von Arne Bicker D ie Corona-Krise hat uns eine schallende Notfallsysteme etablieren. Aber welch eine Ohrfeige verpasst, und die Menschheit Gelegenheit ist das, endlich auch an anderen steht auf ihrem Weg durch die Galaxis an Stellschrauben zu drehen? Unsere weltweiten einem Scheidepunkt. Schon vor Covid-19 lebten Wirtschaftssysteme sind auf nie endendes wir in einer tiefen Menschheitskrise: Weltweit Wachstum ausgelegt. Sie fördern Raubbau gab und gibt es eine Friedenskrise, Migrati- an Natur und Klima, Gewinner und Verlierer, onskrisen, die Klimakrise, eine politische Rechts- Demütigende und Gedemütigte. Was für ein ruckkrise, eine grassierende Ressourcenkrise Irrsinn! durch Raubbau an der Natur, weit verbreitet Hat uns die Politik nicht gesagt, eine Be- Autokratien, Kriege, Überbevölkerung, Armut, kämpfung des Klimawandels sei zu teuer und Tod, Hunger, Folter, Tierqual, Artensterben. deshalb nicht zeitnah machbar? Und jetzt in All dies hat Jahr für Jahr weit mehr To- der Corona-Krise ist das Mehrfache an Geld Das National Geographic Magazin desopfer gefordert als es Covid 19 je gelingen plötzlich da? Und haben wir nicht zu 80 Pro- „Wir retten die Welt“ geht der könnte. Hier in Deutschland hatten und haben zent gesagt, wir wollen zwar den Klimawandel Frage nach, in was für einer Welt wir eine Bildungskrise (Lehrermangel, PISA, nicht, uns aber stillheimlich doch gefreut, dass wir zum 100. Earth Day in 50 Jahren unzureichende Digitalisierung), einen erdrü- unsere politischen Vertreter uns den Ausweg leben werden und verweist auf die ckenden Wohnungsnotstand, eine Sozialkrise servierten, weiterhin großmotorige Automobile Vorteile hybrider Denkweisen. National Geographic // Wir retten mit zu viel Reichtum auf der einen und zu viel zu kaufen und zigmal im Jahr in Urlaub und zu die Welt. Verlagshaus GeraNova Armut auf der anderen Seite, zunehmend Ras- vorgeblich unersetzlichen Auslandsmeetings Bruckmann • 6,50 Euro. sismus, Hasspolitik und verrohte Schmähungen, zu fliegen? eine Krise der Volksparteien, eine Europa-Krise, In der riesengroßen Menschheits- und Konsumirrsinn, Desinformation und Steuer- Menschlichkeitskrise vor Corona galt Vernunft Foto: Blühdorn betrüge in großem Stil, eine Rentenkrise, eine vielfach als „naiv“. Sollten wir, einzelne Men- Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus. Alles schen, Unternehmen, Regierungen, Staaten, schicksalsfrei selbst verursacht. Staatengemeinschaften, die Weltgemeinschaft Die Corona-Krise wird voraussichtlich be- überhaupt dahin zurück wollen? endet durch entweder 1.) ein Medikament, 2.) Wie wäre es stattdessen mit einem würde- einen Impfstoff, 3.) eine Durchseuchung. Wir vollen Leben für ausnahmslos alle Menschen? können dann versuchen zu dem oben geschil- Dazu eine schnelle Energiewende, Ressour- Ingolfur Blühdorn vom Institut derten Ist-Zustand zurückzukehren. censchonung, nachhaltiges Wirtschaften, ent- für Gesellschaftswandel und Aber es wird sich ohnehin manches än- schleunigter Konsum, regionale Versorgung und Nachhaltigkeit (IGN) und seine dern: Uns werden viele Menschenleben, Un- Geburtenbegrenzung soweit möglich. Das alles Mitherausgeber beleuchten eine Gesellschaft, die Wohlstand und ternehmen, Arbeitsplätze und Geldreserven auf der Basis eines regulierten Kapitalsystems Lebensstil unter der Obhut einer verlorengegangen sein. Wir werden uns auf die und friedlicher, demokratischer Prozesse. Politik der Nicht-Nachhaltigkeit nächste Pandemie vorbereiten, indem wir das Wir könnten zumindest eine andere Rich- beharrlich verteidigt. Gesundheitssystem umbauen, eine Fertigung tung einschlagen. Der Beginn einer neuen Welt Ingolfur Blühdorn // Nachhaltige überlebenswichtiger Gesundheitsprodukte ist überfällig; die Chance war nie so groß wie Nicht-Nachhaltigkeit. Transcript Verlag, 334 S. • 19.99 Euro im Inland einrichten, Test-, Erfassungs- und jetzt. 6 ZETT. JUNI 2020
LEIDKULTUR PAPIERSTAU im Homeoffice Die Fine-Arts-Fotografin Ja- nine Machiedo verbrachte wie so viele zwei Wochen in Quarantäne. Bei zunehmen- dem Lagerkoller erreichte sie die Bitte des Kulturmagazins ZETT., die Gemeinheiten der Corona-Krise aus Ihrem Blick- winkel häuslich-künstlerisch in zwei Bildern in Szene zu setzen. Hier ihre Arbeit „Wai- ting for better times“. Ihr Foto: Janine Machiedo. zweites Bild „How to act like this was Plan A“ finden Sie auf Seite 38 im Bücher-Teil unseres Magazins. ZETT. JUNI 2020 7
FREIBURG 2030 Bild: Stadtplanungsamt Sehr zu empfehlen ist der Besuch im Berliner „ Futurium“. Das am 5. Septem- ber 2019 vom Bundesministerium für Bildung und F orschung eröffnete Haus des Wissens um Möglichkeiten unweit des Berliner Hauptbahnhofs beschäf- tigt sich auf 3.000 Quadratmetern detailreich, auf der Höhe der Zeit und häufig interaktiv mit Zukunftsfragen zu den Themen Mensch, Natur, Technik, Energie, Bauen, Transport, Ernährung. Der Eintritt ist frei. Freiburg 2030 WIE WIR LEBEN WERDEN von Arne Bicker 2030 K ünstliche Intelligenz, Klima- wandel, Schutz vor Pandemien – war die Zukunft eigentlich zu allen Zeiten so spannend wie jetzt? Es ist zu vermuten. Erwiesen ist, dass bahnbrechende Erfindungen wie die Dampfmaschine, das Telefon oder das Inter- net die menschliche Lebenswelt in rasantem Tempo verändert haben. Und vorhergesehen hat diese Dinge niemand, noch nicht Visionäre TV-Dokus einmal Jules Verne. Ist also die Zukunft eine Gleichung, die nur aus lauter Unbekannten besteht? Die arte-Mediathek hält online die Dokumentationen „Mobile Nein, keineswegs. Natürlich können Dinge geschehen, Erfindungen aufploppen, die uns alle aus den Socken hauen. Screenshot: arte.tv Zukunft - Die Stadt von morgen“, „iHuman“ und „Das Echo der Aber der Bereich zwischen Schicksalsergebenheit, visionärem Zukunft - Kunst mit Genen und Entdeckertum und weisem Gestaltungswillen lässt uns allen künstlicher Intelligenz“ bereit. einen immensen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Wer // arte.tv/de sich indes darauf beschränkt, Geschehnisse und Entwicklungen passiv hinzunehmen oder anonym mit abfälligen Kommentaren Screenshot: ardmediathek.de zu begleiten, ist nicht mehr als ein Fussel auf dem Mantel der Die Mediathek der ARD zeigt „Flugtaxis für die Welt - Die Geschichte. Firma Volocopter aus Bruchsal“ Nur konstruktiv entwickeln wir uns weiter, lösen wir gesell- und „Xenius - Stromspeicher der schaftliche und ethische Konflikte, bringen wir unsere Lebens- Zukunft: Größenwahnsinnig oder welten voran und schaffen Chancen für die uns nachfolgenden genial?“ Generationen. Aber ebenso gilt: Schwülstige Worte wie diese // ardmediathek.de gibt es schon mehr als genug. Wie also, unter Einbeziehung aller bislang bekannten Faktoren, kann sie aussehen, unsere Zukunft? In „Die Roboter kommen!“ geht die Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, hat das Rundes Foto: Zett. / M. Koswig 3sat-Sendung „Kulturzeit Extra“ der Frage nach, was Robotern und Kulturmagazin ZETT. die Fragestellung heruntergebrochen auf Screenshot: 3sat.de Künstlicher Intelligenz zuzutrauen das südbadische Etwas namens Freiburg und auf einen gerade ist. Und die Sendung „nano“ be- noch greifbar wirkenden Zeitpunkt in zehn Jahren - bis dahin fasst sich mit dem „Ringen um die werden auch der neue Stadtteil Dietenbach und die Umgestal- Mobilität von morgen“. tung Stühlinger West fertig sein. Wie also werden wir hier in // 3sat.de Freiburg im Jahr 2030 leben? 8 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 Diese Frage habe ich in zwölf verschiedene Lebensbereiche unterteilt und zu jedem eine Expertin, einen Experten hier in Freiburg befragt. Auf diese Weise soll auf gerade mal zwölf Magazinseiten ein möglichst umfassendes Bild entstehen, was uns erwartet, wie unser Leben im Jahr 2030 ganz praktisch, ganz konkret aussehen könnte, worauf wir uns einrichten, woran wir mitgestalten können. Natürlich gehören die ureigenen ZETT.-Themen dazu: Me- dien, Kunst, aber auch Bereiche wie Architektur, Energieversor- gung, Stadtverkehrsplanung oder Politik. Jedem dieser Dutzend Maja Göpel - Unsere Welt neu Horst Opaschowski - Wissen was Bereiche haben wir eine Seite gewidmet; zwölf Expertinnen denken. Ullstein-Verlag, 208 Sei- wird. Patmos-Verlag, 280 Seiten, ten, 17,99 Euro. 24 Euro. und Experten kommen zu Wort, in unserem ‚Club der Visionäre‘. Wie immer im ZETT. gibt es auch diesmal Quer- verweise zu unserer Titelstory: So empfehle ich zur Lektüre den herausragenden Bestseller der Öko- nomin Maja Göpel „Unsere Welt neu denken“. Sie schreibt: „Unsere Zukunft ist nichts, was bloß vom Himmel fällt. Nichts, das einfach nur so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis unserer Entscheidungen.“ Thomas Piketty - Kapital und Ideo- 3TH1CS - Die Ethik der digitalen Und wir Einzelne haben sehr viel zu ent- 2030 logie. Verlag C.H. Beck, 1312 Seiten, Zeit. iRIGHTS media, 264 Seiten, scheiden: Wie sehr wir unsere Umwelt schonen, 39,95 Euro. 29,99 Euro (als E-Book 9,99 Euro). welche Medien wir als solche wahrnehmen und konsumieren, worauf wir unsere Meinungen aufbauen, wie konsequent wir handeln und wo wir unser Kreuz bei Wahlen machen. Die Frage „Was wird sein?“ könnte deshalb auch lauten: „Was wollen wir?“. Wer zum Beispiel in der immensen Diskrepanz zwi- schen individuellem Reichtum und Armut ein Weltübel sieht, der findet in dem Buch „Kapital und Ideologie“ des französischen Autors Thomas Piketty Studienfutter. Piketty zu ausschließlich regenerativen Energien und einer solidarisch fordert einen regulierten Kapitalismus und progressive Reichen- gerechteren Einkommens- und Besitzverteilung? Schnallen Sie steuern. Und Horst Opaschowski nimmt uns mit in seine schrift- sich an, rufen Sie sich Christian Bruhns Captain-Future-Soundt- liche Vorlesung „Wissen, was wird“, in der er uns Trends und rack in Erinnerung und blättern Sie um. Los geht‘s! Thesen serviert und, ähnlich wie Maja Göpel, zum aktiven Mitgestalten auffordert. In dem Buch „3TH1CS – Die Ethik der digitalen Zeit“ betrachten die Herausgeber Philipp Otto und Eike Gräf heik- le Themen wie Kriegsroboter, Ballerspiele und Algorithmen vor dem Hintergrund der Mo- ral: In 20 Texten stellen sich Expertinnen und Experten aus Europa, Amerika und Asien der Herausforderung, neue Per- spektiven zu Pflegerobotern, autonomen Fahrzeugen, per- sönlichen Drohnen, Sexrobo- tern, Fake News, Deep Learning Foto: Futurium / David von Becker oder Datenethik aufzuklappen. Stecken wir also wirklich schon mitten drin, in einer dritten industriellen Revolu- tion, wie es Jeremy Rifkin in seinem Buch „Der Globale Green New Deal“ (siehe ZETT. / Ausgabe 3) postuliert? Werden wir Menschen unsere globale So soll es 2030 aussehen: Der neu gestaltete Freiburger Stadtteil S tühlinger-West im Windschatten des neuen Wirtschaft umkrempeln, hin Rathauses (großes Oval) wird grün sein, v erkehrsarm und mehrstöckig bebaut. ZETT. JUNI 2020 9
FREIBURG 2030 D eutschlands jüngster Oberbürgermeister besitzt mit sei- In der ganzen Stadt werde, bis auf den Autobahnzubringer, ner Familie kein Privatauto. Zwar wird Martin Horn von maximal Tempo 30 gelten, in vielen Spielstraßen Schrittgeschwin- einem Fahrer im Dienstwagen zu Terminen chauffiert, digkeit. „Das gilt dann hoffentlich pauschal, ohne Schilderchaos.“ aber privat düst das 35 Jahre junge Stadtoberhaupt auf einem Und „in allen Himmelsrichtungen“ hofft Horn an den Stadtgren- geleasten E-Bike durch die City. Auf die Frage, wie der Freiburger zen auf Park & Ride Plätze und dadurch möglichst wenige Autos Stadtverkehr im Jahr 2030 aussehen wird, hält Horn gleich einen in der Stadt. Stattdessen sieht er „urbane Lebensquartiere mit ganzen Korb voller Antworten parat. lebendig nutzbarem öffentlichen Raum.“ Dazu komme eine intelligente, elektronische Verkehrsbe- Stadtverkehr schilderung und ein Elektro-Lieferservice in der Innenstadt: „Einkäufe kann man sich umweltfreundlich nach Hause liefern E-VOLUTION lassen, das wird dann zum Serviceangebot gehören.“ Die vielbefahrene Ost-West-Achse, die zwischen Stadt- zentrum und Wiehre verläuft, sieht Martin Horn in einem un- terirdischen Stadttunnel verschwinden, ersetzt durch einen renaturierten Dreisamboulevard auf der Innenstadtseite „mit „Beispielgebend bis in zehn Jahren werden unsere Neu- viel Grünflächen, dazu Rad- und Fußwege und beispielsweise baugebiete Dietenbach, Stühlinger-West, Metzgergrün und ein Spielplatz zwischen dem Café Extrablatt und der Innenstadt. Schildacker sein. Da sehe ich für 2030 eine dichtere, urbane Und ähnlich dem Rotteckring wird auch der Schlossbergring Bebauung, dafür mehr grüne Flächen und neue Mobilkonzepte verkehrsreduziert sein.“ mit Car-Sharing, Quartiersgaragen, Lastenrädern und insgesamt Städtische Müllautos und Busse könnten 2030 vollständig viel mehr Lebensraum für Menschen als für Autos“, erklärt Horn. mit Elektro- und Wasserstoffantrieben ausgestattet sein, denkt Auch in Freiburg werde es dann mietbare E-Scooter geben, jedoch Martin Horn; bei privatwirtschaftlichem Schwerlastverkehr nur als „kleiner Baustein“ in einem Konzept, das vor allem auf rechnet er mit einem rund 50-prozentigen Wasserstoffanteil. Fahrräder und Nahverkehr plus Elektromobilität mit möglichst Durch solche Quoten werde sich die CO2-Bilanz zum Positiven wenig privaten Autos setzen wird. verändern. Bis zu 40 Prozent schätzt Martin Horn den Anteil an Elek- „Wenn ich 2030 durch die Stadt spaziere, dann sehe ich tro-Fahrzeugen in Freiburg in seiner Vision für das Jahr 2030. Ladestationen für Elektromobile aller Art, angefangen von E-Tre- Einige Tausend Mietfahrräder, die in Freiburg ‚Frelo‘ heißen, trollern, E-Scootern, Pedelecs sowie E-Autos und E-Lieferwagen werde es in zehn Jahren geben und dazu deutlich über hundert und rund 100 Mietstationen für Fahr- und Lastenräder. Auch eine ‚Lasten-Frelos‘. Zudem sieht der parteilose OB vor seinem inne- zweite Schienenquerung für Straßenbahnen in Bahnhofsnähe ren Auge ein dichteres Radwegenetz mit breiten, attraktiven kommt in meiner Vorstellung vor“ so Horn. Radwegen, „die schnell und direkt in die Innenstadt führen.“ Sein Fazit: „Ich erwarte keine Revolu- Der öffentliche Nahverkehr solle zudem „sicher, zuver- tion, sondern eine E-Volution. Unsere lässig und in kurzer Taktung fahren“. Außerdem sollten neue Stadt wird nicht autofrei sein, aber Finanzierungskonzepte des Landes das fahrscheinlose Fahren autoreduziert, zugunsten einer ermöglichen“. deutlich höheren Lebensquali- Man kann Freiburgs Verwaltungschef also keineswegs tät ihrer Bewohner. Dies wird vorwerfen, er blicke nicht nach vorn. Am Besprechungstisch nicht durch das Ausspielen vom im OB-Büro malt Martin Horn mit Händen und Worten auch Auto- gegen den Fahrradver- „drei bis vier neue Stadtbahnlinien“ in die Luft: „Die Linie 1 wird kehr gelingen, sondern durch etwa bis zum Kappler Knoten verlängert, die Linie 3 bis nach ein stetig besseres, bequemeres Merzhausen, die Linie 4 bis zur Messe und zum Fußballstadion, und umweltfreundlicheres Stadt- Ma r t i n Horn die Linie 5 wird nach Dietenbach fahren, und eine neue verkehrskonzept.“ Linie könnte St. Georgen anbinden.“ Foto: Adobe Stock 10 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 D er Begriff der Kunst ist schwer zu fassen. Und dann auch explodieren. Neue Urbanitäten werden neue Stile schaffen, noch eine Projektion in die Zukunft, ins Jahr 2030? Der Topp-Kuratoren werden von Computerprogrammen abgelöst renommierte Freiburger Galerist Albert Baumgarten emp- und die Kontraste zwischen erster, zweiter, dritter und dann fängt mich in seinen heiligen Hallen in der Kartäuserstraße. Auf auch vierter und fünfter Welt werden sich verschärfen.“ dem Weg zum Besprechungszimmer passieren wir ein Bild des Und was macht die Kunst 2030 in Freiburg? „Museen wird Malers Volker Blumkowski; es zeigt Männer, Klone, die gleichzeitig es in der heutigen Form nicht mehr geben, das werden nur noch in mehrere kleine Raketen hineinkriechen. Ist das ein Zeichen? Kunstdepots sein. Die Ausstellungen finden woanders statt, Ich schaffe es nicht, meine Kamera wirklich sachte auf dem überall, in der virtuellen Welt oder unter freiem Himmel, zum Glastisch abzusetzen, durch den wir unsere Schuhspitzen von Beispiel auf dem Platz der alten Synagoge. Da können Passanten oben sehen können. Albert Baumgarten beugt sich vor und schaut Kunst über ihren Köpfen im Schwebezustand betrachten.“ mir durch seine Brille fest in die Augen: „Also, ich halte nichts von Die visionäre Seite des Albert Baumgarten tickt weiter: Algorithmen.“ Na das geht ja gut los. „Wenn da irgendwelche „Künstler werden Schwerelosigkeit sichtbar machen. Interaktive Holländer sogenannte neue Rembrandts von Computern malen Kunst wird den Künstler als Gott der Kreation ablösen, Besucher lassen, dann ist das doch nur eine neue Form der Reproduktion. So und ihre Gedanken werden die Kunsterscheinung beeinflussen.“ ein wissenschaftlicher Stolz kann auch etwas Lächerliches haben.“ Werden also im Jahr Kunstbetrieb IN DER AHNUNGSGALERIE 2030 keine von künstlichen Intelligenzen erschaffenen Kunstwerke unsere Wohn- zimmer fluten? „Doch“, sagt Baumgarten, „denn der breite Geschmack wird sich 2030 mal wieder geändert haben. Aber vor allem wird es andere Wie bitte soll das aussehen? „Stellen Sie sich eine Polarmeer-Per- Präsentationsformen geben: Die Wohnzimmerwand wird als formance vor, in der Sie als Besucher das Gefühl haben, selbst Kunstwand aus sich heraus so etwas wie ein riesiger E-Book-Rea- auf einer Eisscholle durch eine gewaltige Ausstellung zu treiben.“ der sein. Da wird der Besitzer seine Kunst zeigen können, ohne Und wird die Kunst irgendwann mal verschwinden? „Nein, dass es aussieht wie auf einem Flatscreen.“ niemals. Die Kunst wird sich weiterentwickeln, weil der denken- Heute Baselitz, morgen Polke, und zwischendurch mal eben de Mensch sie nach wie vor dringend braucht. Da geht es auch die Bilder per Laserstrahl neu anordnen? „Etwa so. Und Galerien um Neugier und Toleranz. Fast die Hälfte aller Kunststudenten wie meine wird es 2030 nicht mehr geben, oder nur noch sehr werden sich zuhause ausbilden lassen, Kunstakademien werden wenige. Das verlagert sich in Online-Agenturen, in virtuelle digitale Techniken lehren, wie zum Beispiel 3D-Skulpturen-Prints. Ausstellungsräume und in globale Kunstkaufhäuser, die Origi- Und 2030 werden sich auch neue Cross-Over-Stile herausbilden, nal-Kunst auch vermieten werden.“ Verschmelzungen mit Musik, Performance, Literatur.“ Langsam kommt Baumgarten in Fahrt: „Künstler werden in OK, jetzt weiß ich, dass Albert Baumgarten alles andere ist als Zukunft auch Ingenieure und Programmierer sein, Wissenschaftler der Gralshüter eines in Beton gegossenen Kunstbegriffs. Vorbei an werden Kunst machen und Künstler Wissenschaftler sein.“ Also den fleißigen Raketenmännern trete ich zurück in die Zukunft da Vincis? „Warum nicht? Viel mehr Künstler hinaus in den Freiburger Nieselregen werden Zukunftsforscher sein und ihre Vorahnungen präsentieren. und schaue nach oben: kein men- Und, ach ja, Kunstfreunde können sich ihren Lieblingskünstler schen- oder maschinengemach- als Smalltalk-Hologramm zum Hausbesuch bestellen.“ tes Kunstwerk weit und breit. Welche Stilrichtung wird 2030 vorherrschen? „Sie stellen Ob ich mal kurz am Platz der Fragen! Aber gut, ich denke, das ‚Anything Goes‘ wird förmlich Alten Synagoge vorbeischaue? Al be r en t B aumg a r t Foto: Adobe Stock Kunst wird technikaffin und der Blick ändert sich. ZETT. JUNI 2020 11
FREIBURG 2030 D ie Frage, wie Freiburg im Jahr 2030 aussehen könnte, stelle reicher und schwerfälliger. Was wir tun können: Es wird mehr Foto: Adobe Stock ich Matthias Hotz vom dreißigköpfigen Architekturbüro Modulbauweise und Vorfertigung geben, um schnell und günstig hotz + architekten in Freiburg. Wir sitzen in einem licht- zu sein.“ durchfluteten Besprechungsraum an einem riesigen Holztisch. Wer neu bauen will, muss häufig abreißen. Und nicht nur Old- An den Wänden hängen Bilder vollendeter Bauprojekte wie die timer-Autos werden 2030 recycelt, sondern auch Oldtimer-Häuser. Fahrradstation am Hauptbahnhof, die Solarfabrik auf der Haid, „Nicht allein aus Kostengründen wird die Recycling-Fähigkeit von das Bürogebäude Schnewlinstraße 12 mit seiner kippenden Fas- Häusern eine wesentliche Rolle spielen. Bereits verwendete Baus- Architektur & Stadplanung VERDICHTER UND LENKER sade, das United World College in der Kartäuserstraße, Forum toffe werden aufbereitet und dem Baukreislauf wieder zugeführt. Merzhausen, Theodor-Heuss-Gymnasium oder die abgerundete „Die Konstruktionen und Materialzusammenfügungen werden Druckerei Simon am Güterbahnhof. durchdachter sein. Es wird geschraubte, gefügte Bauteile geben“, Ganz Deutschland und Freiburg speziell leiden am Fehlen sagt Matthias Hotz. „Und Holz wird einen immensen Aufschwung bezahlbarer Wohnungen. Im Jahr 2030 wird dieses Problem noch erleben. Die Anzahl an Holzbauten wird extrem ansteigen.“ lange nicht gelöst sein, meint Matthias Hotz, aber man werde Und was ist mit dem heutigen Trend der ‚Tiny Houses‘, kleine, schon sehen können, in welche Richtung es gehen wird: „Sehr in containerartige Wohneinheiten, die wenig Platz bieten, dafür die Höhe zu bauen, wie das zum Beispiel in Basel geplant ist, löst aber günstig und mobil sind? Matthias Hotz tut das als Spielerei das Problem nicht, weil es zu teuer ist. Wir werden klüger nach- ab: „Da ist überhaupt nichts dran. Ich habe mal mit meiner Frau verdichten durch Aufstockungen und Neubauten. Die Wiehre ist ein Fünfzig-Quadratmeter-Häuschen bewohnt – das war als schon jetzt der am dichtesten bebaute Stadtteil Freiburgs, und der Erfahrung ganz lustig, löst aber keine Probleme, weil es doch zu ist hoch attraktiv. Der Bau von Einfamilien- und Reihenhäusern viel Grundfläche braucht. Sinn würde es nur machen, wenn man in der Stadt wird aber ein Ende haben.“ die stapelt, aber dann schwindet die Attraktivität.“ Durch Geschosswohnungsbau mit fünf bis sechs Stockwerken Dafür lassen sich 2030 Heizkosten sparen. „Es wird Verwal- wird künftig der Wohnraumbedarf abgedeckt. Wichtig sein wird tungs- und Bürogebäude geben, die so gut gedämmt sind, dass es auch günstig zu bauen. Hotz: „Die Systematik mit Bauvorschrif- sie nicht mehr beheizt werden müssen“, erklärt Hotz. „Neue ten, Gutachten, Genehmigungen und Sonderfachleuten müssen Wohnhäuser werden so viel Energie, wie sie selbst verbrauchen, entschlackt und vereinfacht werden. Aber daran, dass unsere auch liefern, über ihre Dach- und Fassadenflächen, durch Wärme- Politik das bis 2030 schafft, glaube ich nicht. pumpen. Das ist natürlich standortabhängig. Der Freiburger Rolf Es wird im Gegenteil immer Disch hat schon vor vielen Jahren gezeigt, wie’s geht. Aber 2030 umfang- wird externe Energie so teuer sein und selbst produzierte deutlich günstiger, so dass neben Energieeinsparverordnungen auch die Wirtschaftlichkeit für dezentrale Einheiten spricht.“ Bliebe die Frage der Stadtplanung: Das Motiv ‚Individual- verkehr raus, Wohn- und Lebensqualität rein‘ wird von Städten wie Barcelona oder Kopenhagen schon beispielhaft vorgelebt. Da müsste doch die Öko-Stadt Freiburg mit ihrer weitgehend autofreien Innenstadt der perfekte Ort für die Zukunft sein – Green City = Future City? „Bis 2030 passiert das nicht“, winkt Hotz ab, „aber der Trend, Straßen und Parkraum zurückzubauen und Öffentlichen Nahverkehr und Fahrräder zu priorisieren wird zumindest erkennbar sein.“ Hotz weiter: „Die Stadtplanung durchläuft zu viele Gremien und Institutionen. Und wenn das Parken am Rande der Innenstadt zum Beispiel einfach nur verteuert wird, dann werden die Leute eben mehr bezahlen. Aber es wäre fatal, wenn 2030 noch mehr einkommens- schwache Familien ins Umland flüchten müssten. Da wird der neue Stadtteil Dietenbach al- lein nicht ausreichen, das zu verhindern.“ Ma t t h ia s H o t z Sieht so das künftige Green City Haus in Freiburg aus? 12 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 ???? R oboter, Künstliche Intelligenz, Entkarbonisierung, Selbst- für vernetzte Planung, Bau und Betrieb von Gebäuden und Foto: Adobe Stock fahrlogistik, Home-Office, Mechatronisierung – unserer Bauwerken mittels modernster Software steht. Auer erläutert: Wirtschafts- und Arbeitswelt stehen große Umbrüche „Der Zimmermann wird nicht mehr irgendwelche Bretter sä- bevor, auch in der Dienstleistungsstadt Freiburg. Was wird da- gen, sondern wird ein Prozessmanager sein. Das heißt also, wir von 2030 zu spüren sein, welchen Wandel zwischen Worthülse müssen es schaffen, unsere Jugendlichen in eine ganz andere und faktischer Neuausrichtung werden wir erleben? Mit diesen Liga zu bringen als die, in der sie heute sind.“ Fragen habe ich Dr. Steffen Auer besucht, den Präsidenten der Und Auer weiß, wie das gehen könnte: „Wirtschaft und Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein. Politik müssen ehrlicher werden, denn schon 2030 haben wir Seit 2011 ist Auer IHK-Präsident, spricht für 63.000 vor allem eine komplexere, neue Arbeitswelt. Unsere Schulen brauchen kleinere und mittlere Mitgliedsbetriebe. Gleichzeitig führt er mehr modern ausgebildete Lehrer, mehr externe Referenten, sein eigenes Unternehmen, die Schwarzwald-Gruppe in Lahr mehr Ausstattung - da muss signifikant Geld reinfließen.“ mit 350 Mitarbeitern, der Zukunft entgegen. Hier hat Steffen Und die Zukunft ist Steffen Auer schon selbst erschienen, Auer selbst neue Strukturen, regenerative Energien, mehr in Form einer Smart Factory von SICK Optoelektronik in Frei- Eigenverantwortung und digitale Steuerelemente umgesetzt. burg-Hochdorf: „Da gibt es jetzt schon eine vollautomatisierte Man kann sagen, er tut, was er predigt. Jobs & Wirtschaft Auf dem Schreibtisch in Auers Büro im dritten Stock des IHK-Gebäudes in der Schnewlinstraße liegt eine KLÜGER ARBEITEN Studie mit dem Titel „Zukunftsstrategie Südlicher Oberr- hein“. Steffen Auer holt aus: „Ich glaube, wir stehen am Beginn einer vierten industriellen Revolution. Und fast alle wirtschaftlichen Umbrüche in der Vergangenheit haben gezeigt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze insgesamt danach zugenommen hat. Das wird auch diesmal so sein. Aber Fabrik - so etwas habe ich noch nicht gesehen. Da werden Denken und Handeln werden sich ändern, weil viele Menschen Produktionsaufträge von einem übergeordneten System an in zehn Jahren etwas ganz anderes tun werden als heute.“ Fertigungsstationen vergeben, mit Zwischentransporten und Denn, so Auer: „Die Art der Arbeit wird sich dramatisch Produktion bei fortwährender Kontrolle. Da muss kein Mensch verändern. Bislang wurden zum Beispiel Arbeiter an Fertigungs- mehr etwas von Hand tun.“ Auers Erkenntnis: „Das System trifft straßen in der Automobilindustrie durch Roboter ersetzt. Schon in manchen Bereichen die besseren Entscheidungen, bis hin zur 2030 werden auch viele Buchhaltungs-, Management- und Unternehmensausrichtung.“ Personalarbeiten von vollautomatischer Software abgelöst sein.“ Auer weiter: „Der Dieselpreis könnte sich verdoppeln, Ener- Die Weiterentwicklung der Arbeitswelt beginnt nicht jetzt. gie-, Ressourcen- und Transportpreise werden steigen, Recycling- Sie setzt sich einfach nur fort, mit den Mitteln der Zeit. Die Jobs vorschriften und -notwendigkeiten werden sich verschärfen, ändern sich, nicht ihre Zahl. Die Frage ist vor allem: Sind die so dass Unternehmen ganz anders denken werden als sie das Menschen bereit dazu? Kann und wird der Kohlekumpel in der heute tun. Unternehmen werden zum Beispiel dezentral ihren Lausitz künftig Solardachziegel in Reihe schalten? Eine Neuaus- eigenen Strom erzeugen, Überkapazitäten an den Markt abgeben, richtung ist gefordert, bei uns allen, in Fragen der Weiterbildung, Transportlogistik, Ressourcenschonung und Abfallverwertung der Umschulung und nicht zuletzt in der Basisausbildung des systemgestützt steuern.“ modernen Menschen: Im Schulunterricht. Und die soziale Komponente wird 2030 eine größere Rolle Das Problem: Bleibt es bei Lippenbekenntnissen, wird vieles spielen: „Wir müssen unsere Mitarbeiter besser unterstützen, den Bach runtergehen. „Ich sehe das aber positiv als Heraus- denn wir haben einen gewissen Wahnsinn erreicht, der nicht forderung“, sagt Steffen Auer, „denn nur, wenn wir nichts tun, mehr steigerbar ist. Wenn man heute eine E-Mail nicht inner- fallen hier Arbeitsplätze weg, die woanders wieder aufgebaut halb von 30 Minuten beantwortet, wird schon gefragt, ob man werden. Es liegt also an uns selbst. Und an der Politik. Ein Bei- tot sei. Die Digitalisierung hat uns diese Beschleunigung bis an spiel: 2030 werden wir BIM haben.“ die Grenze beschert. Sie wird uns nun auch helfen, da wieder BIM ist die Abkürzung für „Building Information Mode- rauszukommen.“ ling“, eine Bauwerksdatenmodellierung, die als Oberbegriff Auers Fazit: „Wir haben irre Chancen, den notwendigen Innovationssprung zu packen, weil unsere Ausgangslage mit die beste in der Welt ist. Ich glaube nicht an das Szenario der Arbeits- plätzevernichtung. Wir werden im Gegenteil zusätzliche, aber hochqualifizierte Arbeitskräfte von außen brauchen, weil uns die Demografie am Wickel packen wird. Gleichzeitig wird der Arbeitsmarkt 2030 flexibler sein und sich auch an den Bedürfnissen der neuen Menschen aus- richten, von der 20 bis 40-Stunden-Woche über Selbstver- antwortung und Home-Office mit Online-Live-Be- KI-gestütztes sprechungen bis Prozessmanagement hin zu neuen Sozi- - unsere Arbeitswelten Dr . alberufen zum Wohle der r werden sich drastisch S t e f a n A ue verändern. Gesellschaft.“ ZETT. JUNI 2020 13
FREIBURG 2030 D er Weg zur Studiendekanin Professor Hannah Bast führt in „Durch Massen an subtilen Daten aus dem menschlichen Körper Foto: Adobe Stock eines der wie von göttlicher Hand ausgestreuten Gebäude und die Echtzeitanalyse von Blut- und Speichelwerten wird der der 15. Fakultät am Freiburger Flugplatz. „051 - Informatik“, Erkenntnisgewinn zu Krankheitsverläufen explodieren“. Und: Eingang hinten rum, durch eine Metalltür, und dort geht es „Bei der Hautkrebserkennung ist die KI heute schon extrem alternativlos hinein in einen Aufzug. Wäre der nicht innen mit zuverlässig.“ Denn: „Der Arzt kennt vielleicht tausend Fälle, die Sperrholz verkleidet, man könnte denken, es ginge hier direkt KI Millionen.“ hoch auf die Brücke eines Raumschiffes. Auch autonome Waffen werde es 2030 geben, nicht nur Eine vertikale Einbahnstraße bei Stromausfall, denke ich, als Drohnen, sagt Bast, das sei leider eine verhältnismäßig ein- ich in einen Flur trete, von dem wechselweise große, freundliche fache Technik. „Aber von einem Roboter, der zum Beispiel die Büros und ebensolche Besprechungsräume abgehen. Plötzlich Spülmaschine ausräumt oder das Dach deckt, werden wir noch biegt Frau Bast um eine Ecke: Wie lange wir wohl brauchen meilenweit entfernt sein. Dass wir in absehbarer Zeit eine echte, Künstliche Intelligenz WHATSAPP VON CLEOPATRA werden für das Interview? Und ob ich Fragen stellen wolle oder künstliche Superintelligenz haben werden, das ist noch so weit sie einfach ein bisschen referieren solle? „Beides.“ Dann los. weg wie die altägyptischen Pharaonen vom Handy.“ In meinem „Die kurzfristigen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz Kopfkino sehe ich, wie Cleopatra Caesar eine Whatsapp schreibt: werden maßlos überschätzt und die langfristigen Folgen maß- „Hey Alter, Bock auf Chillen am Nil?“ los unterschätzt“, legt sie los. Ein dialektischer Beginn: Erst die Überhaupt: Kommunikation, Journalismus - gilt da bald: These, dann der Roboter als synthetischer Antichrist? „Diskurs KI, übernehmen Sie? „Nein“, sagt die KI-Professorin Bast mit und Medienberichterstattung geben oft nicht den wahren Stand Bestimmtheit, „es wird zwar neue Methoden zum Fälschen der Forschung wieder“, so die Professorin für Algorithmen und von Fotos und Videos geben, aber KI wird so bald keinen guten Datenstrukturen. Im Moment steckt also die Künstliche Intel- Journalismus ersetzen. Höchstens Kurzmeldungen und so stan- ligenz noch in den Babyschuhen? Oder sie liegt sogar noch im dardisierte Texte wie Sportmeldungen und Promi-News können Himmelbett? 2030 von Fabrikjournalismus geschrieben werden, mehr nicht.“ „Was wir im Moment haben, ist eine noch relativ schemati- Was wir aber 2030 haben werden, sei vollautonomes Fahren: sche Null-Acht-Fuffzehn-Intelligenz“, so Bast. „Damit sind „Das ist letztendlich auch nur ein Zusammenwachsen nur sehr spezifische Einzelaufgaben wie Gesichtser- ständig besser werdender Assistenzsysteme. Spe- kennung oder autonomes Fahren möglich. Die ziell bei Lkws, Bussen, Straßenbahnen und Revolution kam und kommt meist eher durch Taxis wird das zum Einsatz kommen. Neue Low-Tech und kritische Masse zustande.“ Die Städte werden darauf ausgerichtet sein. Im kritische Masse im Fall des Internets waren Privatbereich wird das aber noch nicht flä- Rechner und Telefonleitungen. Im Fall der chendeckend stattfinden.“ Warum nicht? KI sind das Daten, Speicherkapazitäten „Das dauert, bis das im Massenmarkt und Verarbeitungsgeschwindigkeiten. ankommt und es gibt ja auch erstmal Damit werde schon 2030 Wichtigeres.“ die Medizin revolutio- Noch ein bohrender Professorin- niert sein, meint nenblick und ich verlasse das Büro, in Hannah dem Hannah Bast sofort ihr Notebook Bast: aufklappt und sich tiefschürfenderen Dingen zuwendet. Ich aber denke an Cleopatra im Raumanzug und trotte zum Aufzug: „Beam me Da soll es irgendwann down, Scotty.“ mal alles rein. Pr st of. H an n ah Ba 14 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 D r. Franz Leithold war schwer zu fassen für das Kulturma- einzugreifen und so Marktmacht zu erlangen. Gleiches gelte Foto: Adobe Stock gazin ZETT.: Zum Zeitpunkt des vereinbarten Interviews für neuartige Konzern-TV-Sender; neben „Red-Bull-TV“ oder musste die Freiburger Uni-Bibliothek gerade Corona-be- „Bayern-München-TV“ hält Leithold auch einen „Nestlé-Sender“ dingt schließen; Leithold hatte als Leiter des Medienzentrums oder einen „Mercedes-Benz-Kanal“ für möglich – wie immer sie und stellvertretender Direktor der UB alle Hände voll zu tun. Am dann auch heißen mögen. Ende klappte es eine knappe Woche später dann doch noch – Immerhin werde das Fixiertsein auf Einschaltquoten teilweise am Telefon. verschwunden sein, „weil 2030 die Ansprüche der dann auch viel „Das Zeitungssterben wird wei- Medien tergehen“, meint Leithold. „Im Jahr 2030 werden wir nur, oder immerhin, ETHOS STATT CLICKBAIT halb so viele Zeitungen haben wie heute. Und diese Zeitungen werden leider alle als bezahlte Online-Ausga- ben auftreten, wobei die Printausga- be nur noch ein Beiwerk hierzu sein wird. Es wird nach individuellen Prioritäten zusammenstellbare politischer denkenden Menschen deutlich höher sein werden. Online-Ausgaben geben, die man dann zum Beispiel auf großen Seriöse Medien wie Spiegel, ZEIT, taz, FAZ, Süddeutsche oder Readern lesen kann, ähnlich den E-Book-Readern der ersten correctiv.org sowie die öffentlich-rechtlichen Formate werden Generation.“ hochqualifizierte und verantwortungsbewusste Journalisten 2030 werde das Fach ‚Medien‘ fest im deutschen Schulsystem aufbieten im Einsatz gegen eine perfide Verblödung, wie sie verankert sein, prophezeit Franz Leithold: „Uns wird spätestens einigen politisch agierenden Gruppierungen nur allzu recht wäre.“ in zehn Jahren absolut klar sein, dass wir junge Menschen dazu Diese seriösen Medien würden sich auch durch einen umfas- ausbilden müssen, kritisch, verantwortungsvoll und selbstbewusst senden Verzicht auf anonyme Hasskommentare auszeichnen, mit Medien umzugehen und seriöse von unseriösen unterscheiden meint Franz Leithold. „Radioprogramme wird es 2030 immer noch zu können. Umgekehrt werden die Medien Leser einbinden als geben, meist in digitaler Form. Sie werden parallel existieren und eine Art Mitredakteure; unser gesamtes Bildungssystem wird sich vermischen mit Musik- und Informationsstreamingdiensten. endlich wieder ein humanistisches Menschenbild allen Lehr- und All das wird auch jederzeit mobil empfangbar sein, auf dem Ausbildungsplänen zu Grunde legen und sich weniger an den Handy oder im selbstfahrenden Elektro-Auto.“ Der User wird Anforderungen des freien Marktes ausrichten.“ 2030 sein eigener Programmchef sein. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem sagt Leithold Und dann schließt sich ein Kreis, weil Leithold zum Ende des ein neues Erstrahlen voraus: „Mit einer neuen Ausrichtung Gesprächs wieder zur Corona-Krise des Jahres 2020 zurückfindet: hin zu besserem, kritischem und investigativem Journalismus „In zehn Jahren werden die Menschen aus dieser weltweiten Krise und qualitativ hochwertiger Unterhaltung werden die Öffent- gelernt haben, wie elementar wichtig seriöse Medien sind, die auf lich-Rechtlichen 2030 auch einzelne Printmedien betreiben.“ der Grundlage eines ethischen Konzepts Lineares Fernsehen mit festen Einschaltzeiten werde es zwar nach journalistischen Kriterien ver- noch geben, aber deutlich reduziert: „Streamingsdienste mit antwortungsbewusst Informati- massenkonformen Inhalten und nicht-lineare Mediathek-Ange- onen recherchieren, aufbereiten bote mit einer zentralen, europaweiten Mediathekplattform als und darstellen. Ohne die geht Anlaufstelle werden im Vordergrund stehen“, so Franz Leithold. es einfach nicht. Ein unabhän- Das gelte 2030 weiterhin auch für die weniger seriösen giger Journalismus ist eine der Mail-Medien wie „t-online“, „gmx“ oder „web.de“, die laut Säulen unserer Demokratie“ Leithold dann noch stärker danach trachten wür- Dr ld . Fr den, mit manipulati- a n z L e i t ho ven Mitteln in gesell- schaftliche Prozesse Auf den Durchblick kommt es an. ZETT. JUNI 2020 15
FREIBURG 2030 P rofessor Dr. Andreas Matzarakis trägt den Titel „Außerplan- „Eine Stadt wie Freiburg ist grundsätzlich etwa drei Grad mäßiger Professor“, der ihm in meinen Augen gleich eine wärmer als das Umland“, erklärt Matzarakis. „Wir nennen das sehr besondere Aura verleiht. Nur wenige Tage vor seinem eine Wärmeinsel. Der Temperaturunterschied zwischen Innen- sechzigsten Geburtstag klettert der Spezialist für Human-Bio- stadt und Flugplatz kann zum Beispiel nachts bis zu sieben Grad meteorologie, Stadtklimatologie, Tourismusklimatologie und betragen. Die Menschen in den Städten erleben jetzt schon den Klimafolgenforschung mit mir auf das Dach des Gebäudes an der Klimawandel: Wenn Sie sich heute vom Waldrand auf der Haid Stefan-Meier-Straße in Freiburg, in dem neben dem Rheinschiff- in die Innenstadt bewegen, dann merken Sie bereits, was uns fahrtsmuseum auch die Freiburger Dependance des Deutschen der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten bringen wird.“ Wetterdienstes (DWD) zu finden ist. 2030 werden wir in Freiburg eine deutlich größere Hitze Der gebürtige Grieche Matzarakis studierte in München und und mehr Hitzewellen haben, das stehe fest, erläutert Andreas habilitierte in Freiburg über die „thermische Komponente des Matzarakis. Die Menschen würden mehr schattenspendende Stadtklimas“. Auf dem Dach seines Arbeitsplatzes hat er nicht nur Bäume pflanzen, Sonnensegel zum Beispiel auf dem Platz der eine meterologische Glaskugel - hier ist er auch ganz nah dran alten Synagoge aufspannen und ihre mit reflektierenden Farben Urbanes Klima SIESTA IN FREIBURG am Wetter, wenn auch nicht nahe genug, als dass mit Wachs versehenen Häuserfassaden begrünen, um durch Verdunstung verklebte Flügel Gefahr liefen zu schmelzen. Wer Matzarakis ein besseres Mikroklima zu schaffen. zuhört, könnte indes auf die Idee kommen, dass derartiges sogar „Aber wohin reflektieren weiße Häuserfassaden?“, fragt bald am Boden in Freiburg möglich ist. Matzarakis. „Natürlich auf den Menschen. Das ist eine Intensi- „Es wird heiß, soviel steht fest“, sagt der Professor, ohne vierung der thermischen Bedingungen, sprich des Hitzestresses seine Rooftop-Glaskugel auch nur eines Blickes zu würdigen. für den Stadtmenschen.“ Also machen es die Griechen seit Jahr- Wir steigen wieder hinab in sein Büro, auf dessen Schreibtisch hunderten falsch? „Nein, durch weiße Fassaden bleiben Häuser ein Daumenkino liegt mit dem Titel „Baden-Württemberg wird innen kühl. Und haben Sie schon mal einen Griechen gesehen, wärmer“. Matzarakis folgt meinem Blick: „Sie können gern eins der mittags draußen in der Sonne steht?“ mitnehmen.“ Jetzt hat er mich. Der Grieche in mir weiß, dass schon die Um das Jahr 2030 werde es in und um Freiburg über zehn letzten beiden Sommer an meinem Schreibtisch in Freiburg Prozent weniger Schnee geben und es werde in der Stadt 0,5 heißer waren als die zuvor. Matzarakis: „Nicht nur Stadtplanung bis 1 Grad wärmer sein als heute, sagt Matzarakis. „Das ist eine und Bauwesen in Freiburg müssen sich auf die neuen Bedingun- ganze Menge. Die Winter werden insgesamt milder und mehr gen einstellen, sondern vor allem der Kopf der Menschen. Wir regenbehaftet sein und die Sommer heißer und mit weniger neigen dazu bei Hitze Klimaanlagen einzuschalten. Die blasen Niederschlägen. Und diese wenigen Regenfälle werden dafür dann zusätzliche Wärme nach draußen und erwärmen die Stadt oftmals intensiver ausfallen.“ noch mehr.“ In Freiburg bin ich es gewohnt im Januar schon mal vor einem Und was macht der Grieche? Siesta und Stromsparen. Genau Café im Freien zu sitzen. Der Sommer ist hier gefühlt acht Mona- so sollten es auch die Freiburger in künftigen Hitzesommern te lang. Wird aus diesem südbadischen Standortvorteil künftig halten, empfiehlt Matzarakis. Schon bald will der DWD eine ein Standortnachteil nach dem Glutofen-Prinzip? Matzarakis eigene App mit Gesundheits- und Wetterhinweisen herausbrin- schwankt: „Das hängt davon ab, wie man Hitze betrachtet. Da gen, die 2030 zum sommerlichen Alltag geht es nicht nur um die Lufttemperatur, sondern auch um gehören werden wie Schlangen vor Feuchte, Wind, Bestrahlung und schließlich um den Menschen den Eisdielen. Und für die Verwal- selbst und seine Aktivitäten.“ tungen werden professionelle Hitzeaktionspläne entwickelt. Neben dem Hitzewarnsystem des Deutschen Wetterdienstes gibt es schon heute ein europä- isches Hitzeinformationssystem mit dem denkwürdigen Namen ro f. ak is P A nd ar „EuroHEAT“. r ea s Ma t z Foto: Adobe Stock 16 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 E rneuerbare Energien sind – neben künstlicher Intelligenz – den Energiewende-Ball flach zu halten, aber 2030 wird das Ge- gerade DAS Zukunftsthema schlechthin. Vorhersage-Studien schichte sein, weil sich bis dahin Bevölkerung und Wissenschaft gibt es reichlich, so der „Energiewendeatlas 2030“ (Agentur mit iher breiten Forderung der Energiewende gegen altbackene für Erneuerbare Energien), der „Europäische Energieatlas“ (Hein- Industrieinteressen durchgesetzt haben werden.“ rich-Böll-Stiftung) oder die „EWI-Analyse“ des Energiewirtschaft- So, Burger hat also auch die Rahmenbedingungen im Blick. lichen Instituts der Uni Köln. „Wir müssen bedenken, dass wir bei einer vollelektrischen Ener- Auch in Freiburg gibt es ausgewiesene Experten und Forscher gieversorgung für Strom, Wärme, Verkehr und Industrie den zum Thema. Professor Dr. Bruno Burger empfängt mich in der zweieinhalb- bis dreifachen Strombedarf haben werden, weil Abteilung für „Neue Bauelemente und Erneuerbare Energien Technologien für die Leistungselektronik“ am Freiburger Fraunhofer-Institut für Sola- FREIE DAUER-POWER re Energiesysteme (ISE). Er ist zuständig für Energie-Elektronik, -Netze und -Systeme. Genau der richtige Mann für eine Prognose, was uns im Jahr 2030 erwartet. Im Verlauf des Gesprächs wird mir klar, dass Professor Burger ein forscher Optimist ist, der meine Fragen gern aufgreift, Kohle und Öl als Energieträger durch Strom ersetzt werden. Um um zu plakatieren, was heute und morgen schon getan werden den zu decken, müssen wir aber nicht Wasserstoff aus Saudi-Ara- kann, um die Dinge übermorgen in den Griff zu bekommen. bien importieren oder Stromtrassen bis in die Sahara verlegen. Burger blättert sein Bilderbuch der Zukunft Freiburgs im Wir haben hier genug Sonne und Wind für unser Land.“ Jahr 2030 auf: „Wir werden große Batteriespeicher Und wie sieht es 2030 in Freiburg aus? „Vom haben, aber auch dezentrale Speicher in Flugplatz werden erste Elektrohubschrau- Kellern von Privathäusern, die vor allem ber starten. Das Ladesäulennetz für Sonnenstrom für sonnenscheinarme Elektroautos wird sich in einem Stunden vorhalten und zentral rasanten Ausbau befinden, al- gesteuert werden. Wir werden lein in der Schlossberg-Gara- alte und neue Dächer und ge werden 100 Ladesäulen vor allem auch Fassaden installiert sein. Durch die als Produktionsorte für Elektroautos wird die photovoltaischen Strom Luft sauberer und der erschließen.“ Verkehr wird leiser. Und dann lässt Es wird Batteriespei- Burger gleich seinen cher geben für den ersten Ballon platzen: täglichen Stromlas- „Ein Netzknoten mit tenausgleich und einem großvolumi- ein großflächiges gen Batteriestrom- Wachstum an Pho- speicher wird in Fes- tovoltaikanlagen. senheim stehen, am Neue Häuser Standort des früheren werden oftmals in Atomkraftwerks, und Holzbauweise er- hier wird in Kombina- stellt, um CO2 lang- tion mit dem Pumpspei- fristig zu binden. Und cherwerk am Schluchsee das sind in meinen Augen grenzüberschreitend Strom nur die Low Hanging Fruits zwischengespeichert und – die ersten wirtschaftlich ausgetauscht. Weitere, kleinere Sinn machenden Schritte auf Fünf-Megawatt-Stromspeicherein- dem Weg zu einer 100-prozen- heiten werden in Containerbauweise tigen Versorgung mit erneuerbaren feuersicher in der Region verteilt sein.“ Energien und erneuerbarem Wasserstoff Das geht ja gut los – ist das schon Science als saisonalem Speicher. “ Fiction? Nein, Bruno Burger weiß genau, wovon er spricht. Und was ist mit der Kernfusion, dem menschenge- Er beugt sich vor: „Es wird insgesamt mehr Güterverkehr auf machten Sonnenfeuer, an dem in Frank- Schienen und weniger in der Schifffahrt geben. Hier am Rhein reich und den USA mit Hochdruck wird es Wasserstofftankstellen für die Rheinschifffahrt geben.“ geforscht wird? „Auf die Kernfusion Und das alles schon 2030? „Wir werden zumindest auf einem können wir nicht warten. Sie ist sichtbaren Weg dorthin sein“, prognostiziert Burger. Seine Kolle- vor 2050 nicht einsatzbereit, gen haben die vollständige Energiewende hin zu ausschließlich und bis dahin müssen wir die erneuerbarem Strom bis 2050 mit einem Simulationsprogramm Energiewende schon komplett durchgerechnet, sogar „im Stundentakt“. abgeschlossen haben. Das Kli- Die Windenergie werde in und um Freiburg nicht maßgeb- ma ändert sich rasend schnell. Foto: Adobe Stock lich wachsen, meint Burger: „Viel Wind haben wir nicht. Dafür Wir müssen heute reagieren Pr of er wird es Gleichstromtrassen von den Offshore-Anlagen aus dem und dürfen nichts auf morgen . Dr rg . B r un o B u Norden geben. Jetzt, im Jahr 2020, versucht die Politik zwar noch, vertagen.“ ZETT. JUNI 2020 17
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