AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Generationen - Bundeszentrale für ...
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70. Jahrgang, 52–53/2020, 21. Dezember 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Generationen Benjamin Ziemann Hans-Jürgen Urban · ZUR KRITIK EINES Christoph Ehlscheid PROBLEMBELADENEN BEGRIFFS GENERATIONEN GERECHTIGKEIT Helga Pelizäus · Jana Heinz STEREOTYPISIERUNGEN Benjamin Möckel VON JUNG UND ALT IN DER ZUKÜNFTIGE GENERATIONEN. CORONA-PANDEMIE GESCHICHTE EINER POLITISCHEN PATHOSFORMEL Karsten Hank · Anja Steinbach FAMILIALE Liane Schäfer GENERATIONEN GENERATIONENBRÜCHE IM BEZIEHUNGEN DEUTSCHEN ERINNERN ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Generationen APuZ 52–53/2020 BENJAMIN ZIEMANN HANS-JÜRGEN URBAN · CHRISTOPH EHLSCHEID ZUR KRITIK EINES GENERATIONENGERECHTIGKEIT PROBLEMBELADENEN BEGRIFFS In Zeiten einer ökonomisch-ökologischen Krise Seit Karl Mannheims „Problem der Generatio- gilt es, Generationenbeziehungen in die Suche nen“ (1928) werden diese oft über eine gemein- nach Wegen einer sozialökologischen Transfor- same Erlebnisschichtung definiert. Generationen mation zu integrieren. Generationengerechtig- sind jedoch am besten als medial aufbereitete keit wird ohne einen neuen Klassenkompromiss Zuschreibungen von Alterskohorten zu verstehen, jedoch kaum zu haben sein. die der Fremd- und Selbstthematisierung dienen. Seite 25–30 Seite 04–09 BENJAMIN MÖCKEL HELGA PELIZÄUS · JANA HEINZ ZUKÜNFTIGE GENERATIONEN. GESCHICHTE STEREOTYPISIERUNGEN VON JUNG UND ALT EINER POLITISCHEN PATHOSFORMEL IN DER CORONA-PANDEMIE Unter Verweis auf die Rechte „zukünftiger In der unsicheren Situation der Corona- Generationen“ wird in aktuellen Debatten häufig Pandemie können Stereotype von „Alt“ und eine stärkere Zukunftsdimension der Demokratie „Jung“ erste Schritte sein, um Handlungssicher- eingefordert. Dies hat eine lange zurückreichende heit und Orientierung zu bieten. Da sie jedoch Tradition, die auch für gegenwärtige Fragen der mit unbeabsichtigten Nebenfolgen einhergehen, politischen Partizipation relevant ist. sollten sie stets reflektiert werden. Seite 32–38 Seite 10–16 LIANE SCHÄFER KARSTEN HANK · ANJA STEINBACH GENERATIONENBRÜCHE FAMILIALE GENERATIONENBEZIEHUNGEN IM DEUTSCHEN ERINNERN Der Beitrag gibt einen Überblick über zentrale Im Akt des Aushandelns kann sich eine Gesell- Befunde zu intergenerationalen Beziehungen in schaft immer wieder neu darauf verständigen, an Deutschland und Europa, wobei auch familiale welchen Normen sich ihre Erinnerungskultur Generationenbeziehungen jenseits der „Kernfa- ausrichten soll. Intergenerationelle Dynamiken milie“ und die Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher können dabei die Auseinandersetzungen um das Kontexte berücksichtigt werden. „Wie“ des Erinnerns beeinflussen. Seite 18–24 Seite 39–44
EDITORIAL Die „Generation“ ist in den vergangenen Jahrzehnten neben politisch-soziologische Grundbegriffe wie „Klasse“, „Schicht“ oder „Milieu“ gerückt. Der Begriff ordnet Gesellschaften nach zeitlichen Zusammenhängen und dient dabei zum einen als wissenschaftliche Analysekategorie, über deren Potenziale und Grenzen sich trefflich debattieren lässt. Zum anderen wird er als Fremd- und Selbstthematisie- rungsformel dazu genutzt, gesellschaftliche Deutungs- oder Geltungsansprüche durchzusetzen. Insbesondere die zweite Dimension – in der Forschung zumeist als „Generationalität“ gefasst – scheint derzeit im Zuge der Corona-Krise durch die Frage, welche Generation heute und in der Zukunft vermeintlich die Hauptlast der Pandemie und ihrer Folgen zu tragen habe, an Bedeutung zu gewinnen. Rund 90 Jahre nachdem der Soziologe Karl Mannheim in seinem kanonischen Aufsatz das „Problem der Generationen“ diskutierte, sind die methodischen Zugänge indes ebenso vielfältig wie die inhaltlichen Fragen, die an diese anschlie- ßen: Was bedeutet ein Wandel der Generationen für den Umgang mit Vergangen- heit? Was sind mögliche Nebenfolgen von mitunter stereotypen Konstruktionen „einer alten“ oder „einer jungen“ Generation? Und wie lässt sich der Verweis auf „zukünftige Generationen“ als symbolischer Referenzpunkt für natürliche Ressourcen schonende Politik mit Fragen sozialer Gerechtigkeit so verbinden, dass beide Aspekte nicht gegeneinander ausgespielt werden? Diesen und weiteren Fragen widmen sich die Autor:innen dieser Ausgabe in sechs Beiträgen, die die Redaktion im Rahmen des diesjährigen Call for Papers aus zahlreichen Einsendungen ausgewählt hat. Sie alle zeigen, dass sich gesellschafts- politische Entwicklungen mitnichten allein durch zeitliche Zusammenhänge erklären lassen. Ohne deren Berücksichtigung gehen jedoch Aspekte verloren, die Hannah Arendt einst als essenzielle Bedingung politischen Handelns definierte: „Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Gene- ration errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muß die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.“ Frederik Schetter 03
APuZ 52–53/2020 GENERATIONEN IM 20. UND 21. JAHRHUNDERT Zur Kritik eines problembeladenen Begriffs Benjamin Ziemann Alleweil wird eine neue Generation gebacken. politischen Normalität einer parlamentarischen Den Anfang machen die „Wilhelminer“, die Al- Demokratie eröffnet.04 Die Generation der „68er“ terskohorte der zwischen 1854 und 1864 in – damit ist zumeist die Alterskohorte der um 1940 Deutschland geborenen Männer, zu denen auch Geborenen gemeint – wird von ihren Anfängen in Kaiser Wilhelm II. selbst zählte. Er steht manchen der Protest- und Studentenbewegung der späten Interpreten zufolge stellvertretend für den leicht 1960er Jahre bis zu ihrem linken politischen Enga- aufbrausenden, ebenso hochtrabenden wie ner- gement in den folgenden Jahrzehnten verfolgt. Für vösen kollektiven Charakter dieser Generation, die Zeit vor und nach der Jahrtausendwende wird der in dieser Lesart maßgeblich zur aggressiven die Zuschreibung von Generationen dann sehr viel imperialistischen Außenpolitik des Kaiserreiches bunter und unübersichtlicher. 2000 prägte der Au- seit der Jahrhundertwende beitrug.01 Darauf folgt tor Florian Illies in einem viel gelesenen Buch den die sogenannte Frontgeneration des Ersten Welt- Begriff der „Generation Golf“.05 Für die Alters- krieges, die in den Schützengräben an der West- gruppe der in den 1990er Jahren Geborenen hat front ihre prägenden Erlebnisse hatte. Die dort sich zuerst im englischen Sprachraum, bald danach eingeprägte Härte, Unnahbarkeit und Militanz aber auch in Deutschland, die Bezeichnung „Mil- fand in zahlreichen Kriegsromanen der 1920er lenials“ oder auch „Generation Y“ eingebürgert. und frühen 1930er Jahre ihren Ausdruck. Ihr Wie diese keineswegs vollständige Aufzäh- folgt wiederum die sogenannte Kriegsjugendge- lung zeigt, herrscht an prägnanten Namen und neration der zwischen 1900 und 1910 Geborenen, Zuschreibungen von Generationen kein Mangel. die im Schatten des Krieges aufwuchsen, aber zu Auffällig ist auch, dass der Generationenbegriff jung waren, um sich an der Front zu bewähren. als Bezeichnung konstant bleibt, dabei aber eine Die Zeit nach 1945 beginnt mit der sogenann- große Spannbreite von Phänomenen abdecken ten Flakhelfergeneration. Dies ist allerdings eine soll: Die erfahrungsprägende Wirkung der jahre- eher „unglückliche Kategorie“,02 da zu den Luft- langen Teilnahme an einem Krieg und die Vorlie- waffenhelfern der letzten Phase des Zweiten Welt- be für den Erwerb eines bestimmten Mittelklas- krieges eigentlich nur die drei Jahrgänge von 1926 sewagens sind zwei durchaus grundverschiedene bis 1928 zu rechnen sind, während die meisten his- Sachverhalte. Ebenso bunt und vielfältig präsen- torisch akzentuierten Generationenbegriffe eher tiert sich auch die historisch-sozialwissenschaftli- zehn bis 15 Jahrgänge umfassen. Der Soziologe che Forschung zum Begriff und zum Phänomen Helmut Schelsky hat für die in den 1920er Jahren der Generationen.06 Dabei bleiben erhebliche Geborenen auch von der „skeptischen Generati- Zweifel an der genauen begrifflichen Eingren- on“ gesprochen.03 Einen ähnlichen Akzent setzt zung, der Reichweite und dem Erklärungswert der Begriff der „45er“ für etwa dieselbe Altersko- des Generationenkonzepts bestehen, Zweifel, die horte, indem er sich auf das Jahr 1945 als jenen Mo- sich im Übrigen auch durch die einschlägige Li- ment bezieht, in dem das „Dritte Reich“ den Krieg teratur ziehen.07 Dessen ungeachtet wird Gene- verlor und die NS-Diktatur unterging. Lebensge- ration als ein „soziologischer Grundbegriff“ be- schichtlich, so das Argument, habe diese Erfahrung zeichnet, der neben Kategorien wie „Klasse“ und die Abkehr von den falschen Idealen des Hitlerfa- „Geschlecht“ angesiedelt sei und in seinem Er- schismus ermöglicht und damit den Weg für eine klärungsanspruch „mindestens einen ebenbürti- nüchterne Anerkennung und Unterstützung der gen Rang“ habe.08 Was hat es damit auf sich? Wel- 04
Generationen APuZ che Phänomene lassen sich mit dem Konzept der Kunst auf die Altersgebundenheit der Künstler Generation beschreiben, und welche Blindstellen und den daraus resultierenden „Generationscha- und Probleme bringt dieser Ansatz mit sich? rakter“ ihrer Werke zurückgeführt. Mit einer Me- tapher aus der Musik und in zutiefst idealistischer DER KLASSIKER Terminologie beschrieb Pinder die Generationen als „Stimmen“, deren „verborgene[s] Nachein- Um diese Fragen zu beantworten, empfiehlt sich ander“ der Kunsthistoriker als „Polyphonie“ er- zunächst der neuerliche Blick auf einen Text, den kennen und sichtbar machen müsse.11 alle Stellungnahmen zur Generationenforschung Um die Einseitigkeiten beider Ansätze zu als den „Klassiker“ bezeichnen:09 Gemeint ist ein überwinden, schlug Mannheim eine Synthese vor. Aufsatz von Karl Mannheim von 1928 zum „Pro- Dabei unterschied er zwischen „Generationslage- blem der Generationen“.10 Der aus Ungarn stam- rung“, „Generationszusammenhang“ und „Gene- mende Soziologe lehrte zu diesem Zeitpunkt als rationseinheit“.12 Die gemeinsame Lagerung einer Privatdozent an der Universität Heidelberg. Mit bestimmten Generation im sozialen Raum ergab seinen Arbeiten zur Wissenssoziologie, die die sich für Mannheim nicht automatisch aus dem ge- gesellschaftliche Bedingtheit und Relativität der meinsamen Aufwachsen bestimmter Alterskohor- Produktion von Wissen in den Blick nahmen, war ten, sondern aus der Möglichkeit einer gemeinsa- er einer der innovativsten soziologischen Denker men Partizipation an „verbindenden Ereignissen der 1920er Jahre. Gleich zu Beginn seines Aufsat- oder Erlebnisgehalten“. Für diese tiefgreifende zes präsentierte Mannheim seinen Ansatz als eine Prägung durch kollektiv geteilte Erfahrungen be- Synthese. Auf der einen Seite stehe ein generativ- nutzte Mannheim auch den Begriff der „Erlebnis- positivistisches Verständnis von Generationen, schichtung“.13 Diese Wortwahl hatte einen strate- das er vor allem in Frankreich vorherrschend sah. gischen Sinn, denn durch Mannheims Text zieht In dieser Lesart sind Generationen eigentlich Al- sich der Vergleich mit der sozialen Schichtung und terskohorten: Sie entstehen aus dem biologischen dem Begriff der Klasse als einer grundlegenden Rhythmus von Geburt und Tod und dem daraus Kategorie der Gesellschaftsanalyse. resultierenden generativen Verhalten, das mit de- In einen „Generationszusammenhang“ tritt mografischen Methoden messbar ist. Auf der an- eine Jugendkohorte erst dann ein, wenn aus der deren Seite gebe es ein romantisches Generatio- Möglichkeit einer Teilhabe an gemeinsamen Erleb- nenverständnis, das Mannheim in den deutschen nissen eine Realität wird, diese Jugend also an „der- Geisteswissenschaften verortete. Neben dem Phi- selben historisch-aktuellen Problematik orientiert losophen Wilhelm Dilthey, der den Generatio- ist“. Mannheim machte diese Begriffsbildung in di- nenbegriff seit den 1870er Jahren im deutschen rekter Analogie zur marxistischen Vorstellung des Sprachraum popularisiert hatte, nannte Mann- Übergangs von der Klasse „an sich“ zur Klasse „für heim den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder. In ei- sich“, also einer Arbeiterklasse, die erst über den nem zuerst 1926 erschienenen Buch hatte Pinder Klassenkampf und die Teilhabe an Arbeiterparteien die Abfolge von Stilrichtungen in der bildenden zu ihrer Aktionseinheit „für sich“ findet. Den letz- ten Punkt seiner Begriffstrias, die „Generationsein- 01 Vgl. Martin Doerry, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim–Mün- 07 Vgl. Ulrike Jureit/Michael Wildt, Generationen, in: dies. chen 1986. (Anm. 2), S. 7–26, hier S. 18 ff. 02 M. Rainer Lepsius, Kritische Anmerkungen zur Generations- 08 Ebd., S. 7 f. forschung, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. 09 Jureit (Anm. 6), S. 20–25. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 10 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kurt 2005, S. 45–52, hier S. 50. H. Wolff. (Hrsg.), Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, 03 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie Neuwied 1964, S. 509–565. Zur Einordnung und Analyse vgl. der deutschen Jugend, Düsseldorf–Köln 1957. Jürgen Zinnecker, „Das Problem der Generationen“. Überlegun- 04 Vgl. A. Dirk Moses, The Forty-Fivers. A Generation Between gen zu Karl Mannheims kanonischem Text, in: Jürgen Reulecke Fascism and Democracy, in: German Politics and Society 1/1999, (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhun- S. 94–126. dert, München 2003, S. 33–58. 05 Vgl. Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Frank 11 Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunst- furt/M. 2000. geschichte Europas, Leipzig 1928², S. 17 f., S. 89. 06 Vgl. als Einstieg Ulrike Jureit, Generationenforschung, 12 Mannheim (Anm. 10), S. 541. Göttingen 2006. 13 Ebd., S. 536. 05
APuZ 52–53/2020 heit“, beschrieb Mannheim als ein „einheitliches Ein weiteres Problem von Mannheims Ansatz Reagieren“ und „Mitschwingen“ verschiedener ist, dass er trotz seines Versprechens einer Syn- Gruppen innerhalb eines Generationszusammen- these die romantische Fundierung des Generatio- hangs. Als Beispiel dafür nannte er das Mit- und Ge- nenkonzepts nicht überwunden hat. Zwar lehnte geneinander einer „romantisch-konservative[n]“ Mannheim die von Pinder stammende Vorstel- und einer „liberal-rationalistische[n]“ Strömung in lung ab, jede Generation habe ein „inneres Ziel“, der gebildeten Jugend um 1800.14 welches ihr Lebensgefühl präge.18 Aber auch die Idee einer gemeinsamen, von einer ganzen Alters- PROBLEME UND BLINDSTELLEN kohorte geteilten Erlebnisschichtung ist selbst zu- DES GENERATIONENKONZEPTS tiefst romantisch geprägt. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass Mannheim die bürgerliche Ju- Im Abstand von mehr als 90 Jahren wird deut- gendbewegung als Beispiel für eine durch „Grup- lich, dass in Karl Mannheims Generationenkon- penbildungen“ konkret gewordene Generations- zept eine Reihe von Problemen eingelassen sind, einheit anführte.19 Doch die Jugendbewegung der von denen sich die Generationenforschung bis Zeit um 1900 war ein Sonderfall, eine sozial höchst heute nicht vollständig gelöst hat.15 Das erste be- exklusive, in ihren Ritualen und Verkehrsformen steht darin, dass Mannheim drei Dimensionen nach innen gewandte und von einem elaborierten von Generation zusammenführt und verklam- Gefühlscode getragene Form der Vergemeinschaf- mert, die analytisch besser getrennt gehalten wer- tung, die auf einer ausdrucksstarken Variante des den: die biologische Abfolge von in bestimmten romantischen Jugendmythos basierte. Die 1913 Jahrgangsgruppen geborenen Alterskohorten; etwa 25 000, ausnahmslos bürgerlichen Mitglieder durch gemeinsame Ereignisse geprägte Genera- der „Wandervogelbewegung“ standen eben nicht tionen; und schließlich Generationen als Alters- in einer auf gemeinsamer „Erlebnisschichtung“ stufen, die innerhalb des Lebenslaufes aufeinan- basierenden Generationslagerung mit gleichaltri- der folgen (Kindheit, Jugend, Alter). Dieses erste gen Jugendlichen aus Arbeiter- und Bauernfamili- Problem wird dadurch gesteigert, dass Mannheim en, die bis zu zwölf Stunden am Tag an der Werk- seinen Generationenbegriff eng an den „Mythos bank oder auf dem Feld harter körperlicher Arbeit Jugend“ koppelt:16 Für ihn ist es allein die Ju- nachgingen. Vor 1914, aber auch noch lange da- gendphase, in der dauerhaft prägende Erfahrun- nach, waren die Wahrnehmungsweisen und Erfah- gen gemacht werden, und es ist die Jugend, die rungswelten unterbürgerlicher Schichten von de- für das Versprechen einer Erneuerung der Ge- nen der kleinen Gruppe des Bildungsbürgertums sellschaft und damit für das progressive Voran- meilenweit entfernt.20 Die angebliche „Tatsache, schreiten der Geschichte steht. Diese Festlegung daß Menschen verwandter Jahrgänge historische war eng an die Entdeckung der Jugend als einer Ereignisse aus derselben lebenszeitlichen Perspek- eigenständigen Lebensphase im letzten Drittel tive heraus wahrnehmen“, ist eben keineswegs „so des 19. Jahrhunderts und an die intensive Kulti- einleuchtend wie trivial.“21 Es bleibt in jedem Ein- vierung des Jugendmythos in der Weimarer Re- zelfall empirisch zu untersuchen, welche Erlebnis- publik gekoppelt. Sie ist nur vor diesem zeitspe- prägungen tatsächlich vorlagen, welche Altersko- zifischen Hintergrund zu verstehen. Heute ist der horten von ihnen betroffen waren und in welchem Mythos der Jugend verblasst und die Jugendpha- Umfang bestimmte Erlebnisse Gemeinschaften se eher zu einem sozialen Problem geworden. Zu- stifteten. Erst dann lässt sich entscheiden, ob eine dem ist die Annahme, dass allein die Jugend durch mögliche generationelle Prägung nicht durch klas- Sozialisation und Erziehung tiefgreifend geprägt sen-, schicht- und geschlechtsspezifische Faktoren wird, nicht mehr plausibel, wie etwa die Vorstel- durchbrochen oder unterlaufen wurde. lung eines lebenslangen Lernens andeutet.17 18 Mannheim (Anm. 10), S. 518. Jürgen Zinnecker sieht dies anders, teilt aber die Kritik an der romantischen Überfrachtung 14 Ebd., S. 544, S. 547. des Generationskonzepts. Vgl. Zinnecker (Anm. 10), S. 40 f. 15 Vgl., auch zum Folgenden, Zinnecker (Anm. 10), S. 39–44. 19 Mannheim (Anm. 10), S. 524. 16 Ebd., S. 50; vgl. Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank 20 Vgl. Wolfgang Kaschuba, Lebenswelt und Kultur der unter- Trommler (Hrsg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos bürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München Jugend, Frankfurt/M. 1985. 1990. 17 Vgl. Zinnecker (Anm. 10), S. 39 f., S. 50 ff. 21 Jureit/Wildt (Anm. 7), S. 13. 06
Generationen APuZ Damit ist ein weiterer Kritikpunkt angespro- ohne Frauen konstruiert, sondern vielmehr ganz chen, die Geschlechterblindheit, ja mehr noch der gezielt gegen diese. Der Generationendiskurs der Geschlechterbias von Mannheims Ansatz und fast Weimarer Republik bezog nur im Ausnahmefall aller an ihn anschließenden Forschungen.22 Aus junge Frauen ein, die in der Regel – weitaus präzi- Mannheims Text geht klar hervor, dass die jugend- ser – als „junge Angestellte“ oder „junge Arbeite- liche Generation für ihn stets nur aus jungen Män- rin“ firmierten.26 Als die Boulevardzeitung „Tem- nern bestand und das Kind somit zwangsläufig zu po“ 1929 das „Gesicht der weiblichen Generation“ einem „Jüngling“ heranwuchs.23 Nehmen wir ei- suchte, geschah dies im Rahmen eines Schönheits- nige der genannten Generationsprägungen in den wettbewerbs, den die Redaktion ausgelobt hatte.27 Blick, so ist klar, dass sowohl die „Frontgenerati- Mannheims Generationenkonzept und vie- on“ des Ersten Weltkrieges als auch die „Flakhel- le der an ihn anschließenden Forschungen weisen fergeneration“ als exklusiv männlich zu verstehen also mindestens vier miteinander verzahnte Pro- sind. Dasselbe gilt aber auch für die „Kriegsju- bleme und Blindstellen auf: die Vermengung der gendgeneration“. Diese wird üblicherweise durch Dimensionen Alterskohorte, generationelle Prä- den Versuch charakterisiert, die fehlende Fronter- gung und Lebensalter; die Bindung an den um fahrung, welche die älteren Brüder dieser Alters- 1900 entstandenen Jugendmythos; die Geschlech- gruppe aufwiesen, durch einen aggressiven Nati- terblindheit, die historisch oft mit der gezielten onalismus und eine betont militante Haltung in Verneinung der Präsenz und Handlungsfähigkeit den innenpolitischen Kämpfen der Weimarer Re- von Frauen verbunden war; und schließlich die ro- publik zu kompensieren. Wiederum liegt dem nur mantische Überzeichnung der auf einer gemeinsa- eine recht schmale Stichprobe ausnahmslos bür- men „Erlebnisschichtung“ basierenden „Genera- gerlicher Repräsentanten dieser Altersgruppe zu- tionslagerung“, die gewissermaßen den Rohstoff grunde. Auch die zeitgenössische Literatur, auf die darstellt, auf dessen Grundlage dann ein „Gene- sich die historische Konstruktion dieser generati- rationszusammenhang“ entstehen kann. Diesen onellen Lagerung stützt, beschrieb diese Gruppe Punkt will ich an einem konkreten Beispiel noch- ganz selbstverständlich als „Söhne ohne Väter und mals vertiefen, da er die wichtigste Ursache für die Lehrer“, wie es der Journalist Peter Suhrkamp so oft anzutreffende Überzeichnung der Fundie- 1932 in einem Essay formulierte.24 rung von Generationen im 20. Jahrhundert ist. Auffällig an dieser Formulierung ist auch, dass Für die Frontgeneration des Ersten Weltkrie- Suhrkamp keine Notwendigkeit sah, die prägende ges scheint es selbstverständlich, eine gemeinsame Wirkung der Mütter zu erwähnen. Das ist kein Zu- Generationslagerung anzunehmen. Der Historiker fall. Denn eine Analyse der zahlreichen Texte, die Ulrich Herbert etwa definiert – in klarer Anleh- in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Pro- nung an Karl Mannheim – eine „politische Gene- blematik der jugendlichen Altersgruppen erörter- ration“ dadurch, dass „bedeutsame und langfris- ten, zeigt, dass sie allein „Männergenerationen“ tig folgenreiche Ereignisse und Entwicklungen die konzipierten. Die Beschwörung männlich-aggres- Erlebnisse einer zu dieser Zeit heranwachsenden siver Eigenschaften in dieser Alterskohorte sollte Altersgruppe geprägt“ haben. Dies, so seine These, eine als krisenhaft verstandene Unordnung der Ge- traf „auf den alle bisherigen Erfahrungsdimensio- schlechterbeziehungen korrigieren. Dazu gehörte nen sprengenden Ersten Weltkrieg (…) in beson- auch eine gezielte „Negation der Mutter“, die den derer Weise zu“.28 Aber war dies tatsächlich der weiblichen Einfluss auf die heranwachsenden jun- Fall? Wer gehörte überhaupt zu der nach 1918 so gen Männer herunterspielte oder komplett leugne- wortreich ausgemalten Frontgeneration? Zur Be- te.25 Die Kriegsjugendgeneration war also nicht nur antwortung dieser Frage sind zunächst einige Zah- len nötig. Von den rund 13,1 Millionen Männern, 22 Vgl. auch im Folgenden Christina Benninghaus, Das Ge- schlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Generati- 26 Ebd., S. 134. onalität und Männlichkeit um 1930, in: Jureit/Wildt (Anm. 2), 27 Jochen Hung, Das veränderliche „Gesicht der weiblichen S. 127–157. Generation“. Ein Beitrag zur politischen Kulturgeschichte der 23 Mannheim (Anm. 10), S. 538. Vgl. Benninghaus (Anm. 22), späten Weimarer Republik, in: Gabriele Metzler/Dirk Schumann S. 130 f. (Hrsg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer 24 Zit. nach Ulrich Herbert, Drei politische Generationen im Republik, Bonn 2016, S. 217–253, hier S. 234. 20. Jahrhundert, in: Reulecke (Anm. 10), S. 95–114, hier S. 99. 28 Herbert (Anm. 24), S. 97. Ähnlich argumentiert Jureit 25 Vgl. Benninghaus (Anm. 22), S. 132 ff., S. 147–156. (Anm. 6), S. 42. 07
APuZ 52–53/2020 die von 1914 bis 1918 in Deutschland zum Wehr- ter der wilhelminischen Gesellschaft und die zer- dienst eingezogen wurden, dienten zwei Drittel im störerische Dynamik des Kapitalismus.31 So waren Feldheer und ein Drittel in den Garnisonen in der klassen- und schichtspezifische Deutungen wich- Heimat. Gewiss, es gab einen Austausch von Per- tiger als potenziell generationsprägende. Die An- sonal. Aber viele Soldaten blieben eben auch die nahme einer gemeinsamen „Generationslagerung“ meiste oder die gesamte Zeit des Krieges über in der Frontsoldaten gehört ins Reich der Legende, der Heimat stationiert und arbeiteten dort als Aus- und zwar genauer: einer in der Nachkriegszeit von bilder oder im Wachdienst. Die Front sahen sie Schriftstellern, soldatischen Kampfbünden und nicht einmal aus der Ferne.29 Aber auch die An- anderen Organisationen konstruierten und sorg- gehörigen des Feldheeres standen keineswegs alle fältig gepflegten Legende, aus der sich kulturelles stets oder auch nur für längere Zeit an der Front und politisches Kapital schlagen ließ. und waren dort direkt in Kampfhandlungen ver- Generationen lassen sich also nicht als Ge- wickelt. Hunderttausenden von Militärangehöri- meinschaften verstehen, die durch gemeinsame gen oblag die Überwachung der Zivilbevölkerung Sozialisation oder kollektive gemachte Erfah- in den besetzten Gebieten im Osten und Westen rungen gestiftet werden. Für diese durch Mann- und in den Etappengebieten in Belgien und Nord- heim geprägte Annahme gibt es keine hinreichen- frankreich. Sozialistische Autoren wie Heinrich den empirischen Belege. Das gilt nicht nur für die Wandt und Wilhelm Appens machten die Etappe so oft bemühte Frontgeneration des Ersten Welt- nach 1918 gerade deshalb zum Gegenstand höchst krieges, sondern etwa auch für die sogenannten erfolgreicher kriegskritischer Broschüren, weil die 45er. Historiker und Sozialwissenschaftler ha- dort vorherrschende Korruption und Völlerei der ben hier auf der Grundlage sehr schmaler empiri- Offiziere in starkem Kontrast zu der in der Wei- scher Stichproben weitreichende, aber nicht hin- marer Zeit so oft beschworenen Rede einer vom reichend belegte Schlussfolgerungen gezogen.32 Kampf geprägten Frontgeneration stand.30 Das bedeutet nicht, dass die Kategorie der Gene- Aber selbst unter den eigentlichen Frontsol- ration damit völlig bedeutungslos wäre. Es zeigt daten, deren Einheit für längere Zeit an der Front vielmehr, dass das seit Karl Mannheim fortge- stationiert war, finden wir keineswegs eine auch schriebene Verständnis von Generationen als Er- nur annähernd einheitliche „Erlebnisschichtung“. fahrungsgemeinschaften nicht plausibel ist. Das hat viele Gründe. Einer war die extrem un- gleiche Verteilung der Kampfhandlungen an den GENERATIONALITÄT ALS Fronten. Auch an der Westfront gab es stille Sek- MEDIALE KONSTRUKTION toren, wo Divisionen mit vielen älteren Soldaten eine Stellung hielten, ohne vom Herbst 1914 bis in Aus dieser Feststellung lassen sich verschiede- das Frühjahr 1918 hinein in nennenswerte Kampf- ne Konsequenzen ziehen. Die Historikerin Mary handlungen verwickelt zu sein. Noch wichtiger Fulbrook hat mit Blick auf die besondere Prä- war die sozial- und klassenspezifische Verarbei- gung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhun- tung des Fronterlebnisses. Die zahlreichen Front- dert durch Diktaturen und Gewalt vorgeschlagen, soldaten aus dörflich-bäuerlichen Schichten er- Generationen als Einheiten zu verstehen, die auf lebten und deuteten die Front in den gewohnten solche spezifischen „Herausforderungen“ in einer Stabilisierungsmechanismen der ländlichen Ge- bestimmten Art und Weise reagieren. Fulbrook sellschaft: gesicherte Ernährung, christliche Fröm- macht deutlich, dass die Annahme „gemeinsamer migkeit und agrarische Subsistenz. Für die eben- Schlüsselerfahrungen“ empirisch nicht überzeu- falls zahlreichen Soldaten aus der sozialistischen gend ist.33 Stattdessen richtet sie den Blick auf die Industriearbeiterschaft war der Krieg eine Bestäti- individuell erprobten und vollzogenen, aber doch gung ihrer Erfahrungen über den Klassencharak- 31 Vgl. ders., Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrun- gen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, S. 57–106, 29 Vgl. Richard Bessel, The „Front Generation“ and the Politics S. 229–289; Wolfgang Kruse, Krieg und Klassenheer. Zur of Weimar Germany, in: Mark Roseman (Hrsg.), Generations in Revolutionierung der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg, in: Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany Geschichte und Gesellschaft 4/1996, S. 530–561. 1770–1968, Cambridge 1995, S. 121–136, S. 124 f. 32 Zur Kritik an der Forschung vgl. Moses (Anm. 4), S. 103–114. 30 Vgl. Benjamin Ziemann, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten- 33 Mary Fulbrook, Dissonant Lives. Generations and Violence Überleben-Verweigern, Essen 2013, S. 198–219. Through the German Dictatorships, Oxford 2011, S. 9. 08
Generationen APuZ in einem kollektiven Möglichkeitsraum begrenz- Einheiten oft erhebliche Unterschiede in der Er- ten Formen, in denen eine Generation jeweils auf lebnisschichtung verdecken soll, um damit Deu- die Erfahrung von Diktatur und Krieg reagiert. tungs- oder Geltungsansprüche in der Gesellschaft Doch auch dieser Zugang lebt von der von vorn- durchzusetzen. Für diesen Fokus auf die kommu- herein gemachten Annahme, dass bestimmte Al- nikative und mediale Inanspruchnahme oder Zu- terskohorten durch ihre besondere Sichtbarkeit schreibung einer Generationslagerung hat sich der im historischen Prozess quasi automatisch „he- Begriff der „Generationalität“ eingebürgert.37 Ein rausstechen“. Bei Fulbrook sind dies vor allem methodisch umsichtiges und empirisch höchst er- die sogenannten 1929er, die nach 1945 als poli- tragreiches Beispiel für diesen Zugang ist die Stu- tisch unbelastet gelten konnten.34 Das von ihr vor- die des Historikers Benjamin Möckel zur Kriegs- geschlagene Modell von challenge und response jugendgeneration in den beiden deutschen Staaten führt weiter als die Annahme einer übergreifen- nach 1945. Auf der Grundlage von Selbstzeug- den Erlebnisschichtung. Aber trotz der Heranzie- nissen und publizierten Texten kann Möckel zei- hung zahlreicher Selbstzeugnisse verlieren sich die gen, dass die Inanspruchnahme des Generationen- Spuren der so verstandenen „1929er“ doch bald begriffs durch die Jugendjahrgänge des Zweiten im Strudel der Umbrüche des 20. Jahrhunderts.35 Weltkriegs gerade dazu diente, mit der „Entwer- Die andere, zentrale Konsequenz besteht da- tung“ der im Dritten Reich geprägten „Gemein- rin, das Konzept der Generation von der Bindung schaftsvorstellungen“ umzugehen und daraus an eine gemeinsame prägende Erfahrung kom- neue biografische Perspektiven für die Zeit nach plett zu lösen und als eine diskursiv konstruierte 1945 abzuleiten. Die Rede von der Generation er- und medial inszenierte Identitätskonstruktion zu scheint so als eine „biografische Metapher“, mit verstehen. In diesem Sinne sind Generationen als der sich die doppelte Herausforderung von Zu- „imaginäre Begriffe“ bezeichnet worden.36 Damit sammenbruch und Neuanfang nach 1945 sowohl ist nicht gemeint, dass eine solche Imagination fol- individuell als auch kollektiv ausdeuten ließ.38 genlos bleibt. Der Blick richtet sich vielmehr da- rauf, dass „Generation“ eine begriffliche Zuschrei- FAZIT bung ist, die in der öffentlichen Diskussion von sozialen und politischen Konflikten verwendet Über der Verwendung des Begriffs der „Genera- wird, aber auch der kollektiven Selbstthematisie- tion“ in Deutschland im 20. Jahrhundert liegt der rung und Selbstbeschreibung bestimmter Alters- lange Schatten der bürgerlichen Jugendbewegung kohorten dienen kann, ohne dass dem eine einheit- um 1900. Der klassische Text von Karl Mannheim liche Erfahrungsprägung zugrunde liegen muss. war stark vom romantischen Grundgefühl, der Be- Die Pointe eines so verstandenen Konzepts be- schwörung des gemeinsamen Erlebnisses und dem steht gerade in der Aufmerksamkeit dafür, dass die Kult der Jugend geprägt, der die Jugendbewegung öffentlich zirkulierende Rede von generationellen auszeichnete. Die ebenso inflationäre wie konflikt reiche Inanspruchnahme des Begriffs in der Weima- rer Republik vertiefte den irreführenden Eindruck, 34 Ebd., S. 7 f. dass sich Generationen auf eine geteilte „Erlebnis- 35 Vgl. Armin Nolzen, Rezension zu Mary Fulbrook, Dissonant schichtung“ zurückführen lassen. Generationen Lives. Generations and Violence Through the German Dictator- ships, 21. 6. 2012, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb- sind in erster Linie jedoch Identitätskonstruktio- 16086. nen, die bestimmte Alterskohorten in der Gesell- 36 Bessel (Anm. 29), S. 121. schaft sichtbar machen und Individuen die Möglich- 37 Jürgen Reulecke, Einführung, in: ders. (Anm. 10), S. VII-XV, keit bieten, ihre eigene Lebensgeschichte vor diesem hier S. VIII. Vgl. Jureit (Anm. 6), S. 40–52, aber immer noch mit Hintergrund zu deuten und zu reflektieren. Dabei dem Schwanken zwischen „Selbstbeschreibungen“ und „Erfah- rungen“, ebd., S. 46. wird auch deutlich, dass die Massenmedien in diesen 38 Vgl. Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generati- Prozess der semantischen Erzeugung von Generati- onsbehauptung. Die „Kriegsjugendgeneration“ in den beiden onen eine immer wichtigere Rolle spielen.39 deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014, S. 385 f. Siehe auch den Beitrag von Benjamin Möckel in dieser Ausgabe BENJAMIN ZIEMANN (Anm. d. Red.). 39 Vgl. Björn Bohnenkamp, Doing Generation. Zur Inszenie- ist Professor für neuere deutsche Geschichte an der rung von generationeller Gemeinschaft in deutschsprachigen University of Sheffield. Schriftmedien, Bielefeld 2011. b.ziemann@sheffield.ac.uk 09
APuZ 52–53/2020 STEREOTYPISIERUNGEN VON JUNG UND ALT IN DER CORONA-PANDEMIE Helga Pelizäus · Jana Heinz Die Covid-19-Pandemie trifft jeden. Das Auf- chen Brennglas studiert werden, was in der So- rechterhalten des „normalen“ Alltags ist für alle ziologie schon lange als typisch spätmodern eine Herausforderung, auch aufgrund sich stetig beschrieben wird. In risikosoziologischer Termi- ändernder Verhaltensregeln sowie national, regi- nologie ausgedrückt, ist die derzeitige Situation onal und kommunal unterschiedlicher Strategien. gekennzeichnet durch eine Pluralisierung kogni- „Ungewissheit“, „Uneindeutigkeit“ und „Nicht- tiver Grenzen und Grenzziehungen, mit der Fol- wissen“ sind Schlagworte, die die Pandemie stän- ge, dass sich ehemals stabile Orientierungs- und dig begleiten. In den Wissenschaften, in medialen Handlungsrahmen auflösen.04 So verschwimmt Diskursen und im sozialen Miteinander existiert die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen. eine Vielzahl verschiedener, sich teils diametral Wissenschaftliche Erkenntnisse werden teils in widersprechender Einschätzungen der Situati- Zweifel gezogen, früher meist als illegitim gelten- on. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue des „Wissen“, etwa Verschwörungserzählungen, Wissenslücken und Ambivalenzen aufgedeckt, erhält Beachtung und Anerkennung. Maßnah- alte Annahmen infrage gestellt und verworfen men und Verbote beziehungsweise Grenzziehun- oder neue, noch nicht geprüfte, formuliert wer- gen werden beschlossen, erhalten aber nur einen den. Doch trotz aller Ungewissheit scheint eines „Als-ob-Charakter“.05 Von den meisten Men- klar: Schenkt man vielen Medienberichten Glau- schen werden sie zwar anerkannt, aber ihr fikti- ben, dann ist die Generation der Alten die heuti- ver Charakter erscheint vielen offensichtlich. Die ge Risikogruppe, die Generation der Jungen jene Konsequenz dieser Unübersichtlichkeit ist, dass der Zukunft.01 Ad-hoc-Entscheidungen getroffen werden, die Die Unübersichtlichkeiten und Ungewiss- nur für gewisse Zeit Geltung erhalten, und Dis- heiten werden auf individueller und gesamtge- kussionen eher durch Nichtwissen als durch Wis- sellschaftlicher Ebene vielfach als Überrumplung sen bestimmt werden. und Überforderung erlebt. Aus risikosoziologi- Um bei der Bekämpfung der Pandemie auf scher Sicht sind sie keineswegs überraschend. Die individueller, gesellschaftlicher und instituti- Schwierigkeiten politischen Handelns auf der Ba- oneller Ebene Orientierung und Handlungs- sis von Nichtwissen sowie unbeabsichtigte Ne- sicherheit zu ermöglichen, müssen gleichwohl benfolgen gesellschaftlichen Wandels werden seit Entscheidungen getroffen werden, insbesondere den 1980er Jahren intensiv erforscht.02 Die umso von politischen Akteur*innen. Denn „Handeln dringlichere Suche nach Gewissheiten in Zeiten, ist nur möglich, wenn sich die Welt als erwartbar in denen sich Unsicherheit und Uneindeutigkeit stabil darstellt und nicht permanent auch anders scheinbar explosionsartig vermehren, ist dabei ein erscheint“. Das bedeutet, dass „aus dem Univer- wichtiges Thema. Risikosoziolog*innen verwei- sum denkbarer Möglichkeiten bestimmte (…) sen darauf, dass das individuelle Erleben von Un- als handlungsrelevant ausgewählt, andere hin- gewissheit in hohem Maße von den herrschenden gegen als irrelevant ausgeblendet werden, wo- gesellschaftlichen Deutungen und Interpretatio- bei genau dieser Selektionsprozeß zu (sozialer) nen geprägt ist.03 Ob sich der Mensch den Unge- Eindeutigkeit und Sicherheit führt“.06 In diesem wissheiten hilflos ausgeliefert fühlt oder sie eher Sinne sind Sicherheiten also immer soziale Kon- als Herausforderung erlebt, die er durch eigenes struktionen, die je nach Kontext unterschiedlich Handeln erfolgreich bewältigen kann, hängt ent- ausbuchstabiert werden. scheidend vom gesellschaftlichen Kontext ab. Während sich die Bundesregierung bei der Am Beispiel der Corona-Pandemie kann Einschätzung der Pandemie beispielsweise vor wie unter dem mittlerweile bereits sprichwörtli- allem auf wissenschaftlich fundierte Eindeutig- 10
Generationen APuZ keitskonstruktionen des Robert Koch-Instituts BILDER VON (RKI) beruft und auf dieser Basis Maßnahmen ALT UND JUNG beschließt, zeigen sich auf individueller Ebe- ne auch Konstruktionen jenseits der Rationali- Vor allem in Anlehnung an Angaben des RKI08 tät. Hier kann auch das Bauchgefühl Sicherheit werden ältere Menschen derzeit meist als schutz- stiften – oder einfach das Vertrauen darauf, dass bedürftig und hilflos beschrieben, als Gruppe schon alles gut gehen werde. Auch der Rückgriff mit hohem Risiko für schwere Krankheitsverläu- auf Verschwörungserzählungen kann der Fiktion fe und Sterblichkeit. Diese vereinfachte Typisie- von Sicherheit dienen. Auf der anderen Seite gibt rung ist problematisch, da sie das gesellschaftliche es Menschen, die durch ihre Akzeptanz von Am- Miteinander prägt. Altersbilder verfestigen sich bivalenz und Widersprüchen „auch in undurch- in dem Maße, wie sie konkretes Handeln anlei- schaubaren Situationen pragmatisch, gegenwarts- ten. Dass sie sich auch in den Köpfen der älteren orientiert, voller Selbstvertrauen und im eigenen Menschen selbst verfestigen können, zeigen zum Interesse (…) entscheiden“.07 Gegenwärtig aller- Beispiel Studien, die belegen, dass sich pflegebe- dings scheint allgemein die Hoffnung auf ein- dürftige Menschen umso weniger selbstständig deutige Antworten zu überwiegen. Der Wunsch verhalten und fühlen, je mehr Unterstützung sie nach Gewissheiten und einer endgültigen Lösung erfahren.09 Das gegenwärtig herrschende Alters- des Problems der Covid-19-Pandemie scheint bild steht in deutlichem Widerspruch zum sechs- ungebrochen. ten Altenbericht der Bundesregierung, in dem Die Definition (vermeintlich) eindeutiger 2010 dazu aufgefordert wurde, das Alter gerade Risikogruppen kann in dieser Situation Sicher- nicht mit Krankheit, Fürsorge- und Hilfsbedürf- heit bieten, auf der aufgebaut und mit der poli- tigkeit gleichzusetzen, sondern die Heterogeni- tische Akteur*innen Handlungsfähigkeit bewei- tät und die Kompetenzen und Potenziale älterer sen können. Oder überspitzt formuliert: Je klarer Menschen zu betonen.10 das zu Schützende und je konkreter daraufhin die Ein pauschalisierendes Bild wird auch von Gefährdungslage definiert werden, desto eindeu- Kindern und Jugendlichen gezeichnet. Schon tiger können Maßnahmen formuliert und eigene jetzt werden sie mitunter als „Generation Co- Erfolge belegt werden. Unbeabsichtigte und un- rona“ bezeichnet,11 die unter den eingeführten erwünschte Nebenfolgen können dabei schnell Maßnahmen am meisten leide.12 So wurde bei- aus dem Blick geraten. Ein Beispiel hierfür sind spielsweise in öffentlichen Diskursen bereits nach die Stereotypisierungen der Generationen im wenigen Wochen Homeschooling festgehalten, Rahmen der Pandemiebekämpfung. dass die Pandemie Bildungsprobleme verschärft. Dabei wird mitunter übersehen, dass diese nicht per se Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung 01 Die Begriffe „Generation“, „Alt“ und „Jung“ werden in An- lehnung an die Berichterstattung umgangssprachlich verwendet, der Pandemie sind. Vielmehr kommen zwei seit nicht als soziologische Kategorien. Langem bekannte Funktionsdefizite des deut- 02 Vgl. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986; Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 08 Vgl. Robert Koch-Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu 1995; Helga Pelizäus-Hoffmeister, Biographische Sicherheit im SARS-CoV-2 und COVID-19, 13. 11. 2020, www.rki.de/DE/Con- Wandel? Eine historisch vergleichende Analyse von Künstlerbio- tent/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html. graphien, Wiesbaden 2006. 09 Vgl. Margret M. Baltes/Hans-Werner Wahl, The Dependen- 03 Vgl. Helga Pelizäus-Hoffmeister, Das lange Leben in der cy-Support Script in Institutions: Generalization to Community Moderne. Wechselbeziehungen zwischen Lebensalter und Settings, in: Psychology and Aging 3/1992, S. 409–418. Modernisierung, Wiesbaden 2006. 10 Vgl. Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der 04 Vgl. Ulrich Beck/Wolfgang Bonß/Christoph Lau, Theorie Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft, reflexiver Modernisierung – Fragestellungen, Hypothesen, Bundestagsdrucksache 17/3815, 17. 11. 2010, www.bmfsfj.de/ Forschungsprogramme, in: Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), blob/77898/a96affa352d60790033ff9bbeb5b0e24/bt-druck- Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt/M. 2001, S. 11–59. sache-sechster-altenbericht-data.pdf. 05 Ebd., S. 39. 11 Vgl. überblicksartig Kirsten Girschick, Frust bei der „Ge- 06 Vgl. Wolfgang Bonß, Die gesellschaftliche Konstruktion neration Corona“, 18. 10. 2020, www.tagesschau.de/inland/ von Sicherheit, in: Ekkehard Lippert/Andreas Prüfert/Günther coronavirus-jugendliche-101.html. Wachtler (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, 12 Vgl. Detlef Fickermann/Benjamin Edelstein (Hrsg.), „Lang- Wiesbaden 1997, S. 21–41, hier S. 24. sam vermisse ich die Schule …“. Schule während und nach der 07 Vgl. Pelizäus-Hoffmeister (Anm. 2), S. 328 f. Corona-Pandemie, Münster 2020. 11
APuZ 52–53/2020 schen Bildungssystems zusammen: die starke druck bringen können.16 In Expert*innenforen Korrelation zwischen sozioökonomischem Sta- und politischen Strategieplänen werden ihre Be- tus der Eltern und dem schulischen Erfolg ihrer dürfnisse – wenn überhaupt – gebündelt von Kinder sowie eine unzureichende digitale Infra- Interessenvertreter*innen eingebracht. Ähnliches struktur.13 lässt sich für die Gruppe der älteren Menschen Der medialen Berichterstattung kommt mit feststellen: Hier sind es vor allem Pflegeheimlei Blick auf die Stereotypisierung von „Alt“ und ter*innen, Verbände und Wissenschaftler*innen, „Jung“ eine besondere Bedeutung zu. Mediale die um ihre Einschätzung der Situation gebeten Diskurse lassen sich als argumentative Praxis cha- werden. rakterisieren, durch die kollektives Wissen her- Betrachtet man die Pandemie in ihrem zeitli- vorgebracht und abgesichert wird. Sie werden chen Verlauf, dann zeigt sich, wie sich Themen nicht einseitig von Individuen erzeugt, sondern und Bilder verschieben, einige mehr oder weni- produzieren und formieren auch Wahrnehmun- ger verschwinden, andere zur quasi unhinterfrag- gen und „Wahrheiten“ für andere. Damit erzeu- ten Selbstverständlichkeit werden und wieder an- gen sie Regeln, die bestimmen, was und wie über dere neu auftauchen und an Relevanz gewinnen Dinge gesprochen und was verschwiegen wird, können. Zugespitzt kann zwischen vier Phasen was als wahr und was als falsch erscheint. Gera- unterschieden werden. Da sich die Themen aller- de in gesellschaftlichen Ausnahmezuständen wie dings nicht in allen Zeitungen gleichzeitig verla- den gegenwärtigen sind Diskurse zur Verständi- gern und zudem unterschiedliche Schwerpunkte gung über Veränderungen, Risiken und „Nor- gesetzt werden, dient diese Einteilung nur einer malität“ wesentlich. Sie spiegeln die Einstellung vagen Orientierung. der Gesellschaftsmitglieder wider, beschreiben sie und prägen das Bewusstsein in Hinblick auf Suche nach Gefahren, Gefährdete sowie die Angemessenheit Eindeutigkeiten politischer Maßnahmen. Die erste Phase könnte auch als „Chaos“ beschrie- Im Folgenden wird am Beispiel der Online- ben werden. Weder konnten eindeutige Angaben Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“, zur Gefährlichkeit des neuartigen Corona-Virus, der „Welt“ und der „Taz“ von Anfang März bis seinen Verbreitungswegen oder seiner Infektio- Ende September 2020 skizziert, in welcher Wei- sität gemacht, noch über konkrete Ideen zu Ge- se von älteren Menschen sowie Kindern und Ju- genmaßnahmen berichtet werden. Durch die gendlichen mit besonderem Fokus auf intergene- Vielfalt unterschiedlicher (Experten-)Meinungen rationelle Beziehungen berichtet wird.14 Auf den und Einschätzungen waren nicht nur Privatper- ersten Blick fällt auf, dass ältere Menschen und sonen, sondern auch Politiker*innen überfordert Kinder in öffentlichen Diskussionen kaum selbst und verunsichert. Das Entwickeln von Maßnah- zu Wort kommen. Es wird allenfalls über Kin- men zur Eindämmung einer Pandemie setzt ein der berichtet oder sie werden medizinisch un- Mindestmaß an Wissen entweder über den so- tersucht.15 Dies steht in klarem Widerspruch zu genannten Feind – das Virus und seine Verbrei- wesentlichen Ansätzen kindheitssoziologischer tungswege – voraus oder darüber, wer besonders Forschungen, die gerade Konzepte wie „Agency“ zu schützen ist. Da konkretes Wissen zum Virus und „Akteurschaft“ stark machen, damit Kinder anfangs fast völlig fehlte, konnte nur die Definiti- ihre Anliegen und Bedürfnisse selbst zum Aus- on der zu schützenden Gruppe(n) Anhaltspunkte für Schutzmaßnahmen liefern. Im Februar 2020 wiesen erste Erkenntnis- se des RKI darauf hin, dass das Virus für ältere 13 Vgl. Jana Heinz, Sputnik-, PISA- und Corona-Schock: End- lich Digitalisierung der Schulen?, in: Schiedel-Exchange 6/2020, Menschen besonders gefährlich ist und das Risiko S. 23 f. tödlicher Krankheitsverläufe mit dem Alter sta- 14 Insgesamt wurden 122 Artikel unterschiedlicher Ressorts tistisch zunimmt. Auf dieser Basis wurde in der inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei wurden die Artikel ausge- Folge vielfach ein Bild älterer Menschen als stark wählt, die bei der Schlagwortsuche mit den Begriffen „Corona“, „Generationen“, „Alt“ beziehungsweise „Ältere“ sowie „Jung“ beziehungsweise „Jugend“ und „Kinder“ aufgelistet wurden. 16 Vgl. Doris Bühler-Niederberger, Lebensphase Kindheit. The- 15 Vgl. z. B. „Kinder sind keine Virenschleudern“. Interview mit oretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume, Weinheim– Torsten Spranger, 27. 4. 2020, https://taz.de/!5678362. Basel 2020. 12
Generationen APuZ gefährdet und schutzbedürftig gezeichnet. Neben über geeignete Strategien zu ihrem Schutz disku- Menschen mit Atemwegserkrankungen wurden tiert. Zugespitzt kann zwischen zwei Positionen sie zur Risikogruppe erklärt. Diese Stereotypi- unterschieden werden: sierung erschien präzise und eindeutig genug, um Die erste Position erachtete die nun von der zumindest für ein wenig Klarheit in der ansons- Politik nach und nach eingeführten Maßnahmen ten unüberschaubaren Situation zu sorgen. Und für sinnvoll. Hier lautete das Motto, Abstand zu mit dieser Festlegung konnte über geeignete Stra- halten im Namen der Solidarität.23 Im überwie- tegien zur Eindämmung der Gefährdung nach- genden Maße wurden die Schließung öffentlicher gedacht werden – etwa darüber, dass die „Alten und privater Einrichtungen, Grenzschließungen und Schwachen (…) zu schützen“ seien,17 die Si- und Kontaktbeschränkungen, also all das, was tuation insbesondere ihnen „eine striktere Isola- meist unter dem Begriff „Lockdown“ verhandelt tion“ vorschreibe.18 Die Jüngeren dagegen sollten wird, akzeptiert. Die Pandemie, so wurde betont, „Verantwortung für die ältere Generation“ über- sei zugleich eine Chance, Verantwortung für an- nehmen.19 dere zu übernehmen und damit der eigenen Rolle So hilfreich das Bild älterer Menschen als ein- als Staatsbürger*in gerecht zu werden. deutige Risikogruppe auf der einen Seite sein Die zweite Position vertrat den Ansatz, dass mag, so unpassend ist es auf der anderen. Es wird ältere Menschen freiwillig zu Hause bleiben soll- einerseits die Heterogenität des Alters ignoriert, ten, damit die Jungen ihr Leben weitgehend un- die sich unter anderem in der großen zeitlichen beschränkt fortführen können. So wurde bei- Lebensspanne ausdrückt.20 Andererseits, und das spielsweise ein Mediziner mit den Worten zitiert, wiegt schwerer, wird ein teils defizitäres Alters- es würde „die Zahl der schweren Infektionen bild gezeichnet, das die Selbstbestimmtheit äl- verringern, wenn die Gruppe der über 75-Jähri- terer Menschen völlig übersieht. Eigenverant- gen zu Hause bleibt, und je mehr Alte dies tun, wortlichkeit wird ihnen pauschal abgesprochen desto früher können die Jungen wieder raus“.24 – beispielsweise mit den Worten, sie „seien dank- Teils wurde auch über Berechnungen des Öko- bar, dass jemand ihre Sorgen ernst nehme“.21 nomen Bernd Raffelhüschen berichtet, der be- Erfolgte ein fast paternalistischer Zugriff auf hauptete, durch den sogenannten Lockdown sei die Älteren, tauchten Kinder in der Berichterstat- die Zahl der gewonnenen Lebensjahre für die Ge- tung kaum auf – und falls doch, dann vor allem samtgesellschaft geringer als ohne ihn, Rücksicht- zur Klärung der Frage, „inwiefern Kinder das nahme der Jungen auf die Alten rechne sich also Coronavirus übertragen (…) und Schulen und volkswirtschaftlich nicht.25 Auch die Aussage des Kindergärten wie Brutstätten wirken“.22 grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Pal- mer lässt sich hier einordnen: „Ich sage es Ihnen Abstand im Namen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland mög- der Solidarität licherweise Menschen, die in einem halben Jahr Vor dem Hintergrund der definierten Risiko- sowieso tot wären.“26 Diese Position verweist gruppe wurde in der zweiten Phase insbesondere auf einen Generationenkonflikt, der auf unter- schiedlichen Ebenen – Einkommen, Wohn- und Arbeitssituation, soziale Bedürfnisse oder Ähnli- 17 Moritz Seyffarth, Nun muss meine Generation Verzicht ler- nen und Größe beweisen, 14. 3. 2020, www.welt.de/206538483. ches – diskutiert wird, mit dem immer gleichen 18 Senioren in der Corona-Krise: Die Ängste im Rahmen halten. Interview mit Sabine Köhler, 22. 5. 2020, www.sueddeutsche.de/ leben/familie-senioren-in-der-corona-k rise-die-aengste-im- 23 Vgl. Ingo Arend, Solidarisches Abstandhalten, 30. 3. 2020, rahmen-halten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200520- https://taz.de/!5673911. 99-131035. 24 Zit. nach Heike Haarhoff, Sperrt uns ein!, 10. 4. 2020, 19 Ebd. https://taz.de/!5675306. 20 Hier lassen sich Unterschiede zwischen den Medien bele- 25 Vgl. Dorothea Siems, Shutdown rettete Millionen – aber senkt gen. So wird in Artikeln der „Süddeutschen Zeitung“ wiederholt unsere Lebenserwartung erheblich, 15. 6. 2020, www.welt.de/ darauf verwiesen, dass eigentlich Menschen sehr hohen Alters 209561613. („Hochaltrige“) gemeint sind, wenn von der besonderen Gefähr- 26 Zit. nach Palmer: „Menschen die in halbem Jahr sowieso tot dung gesprochen wird. wären“, 28. 4. 2020, www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit- 21 „Die Pandemie ist schrecklich“. Interview mit Karl Lauter- tuebingen-palmer-menschen-die-in-halbem-jahr-sowieso-tot- bach, 25. 4. 2020, https://taz.de/!5678392. waeren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200428-99- 22 Interview mit Torsten Spranger (Anm. 15). 863349. 13
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