Götterinventare. Zur topischen und allegorischen Formation der paganen Antike in mythologischen Namenskatalogen des Mittelalters - Ingenta Connect

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pen          Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 19–40

Hans Jürgen Scheuer

Götterinventare.
Zur topischen und allegorischen Formation der paganen
Antike in mythologischen Namenskatalogen des Mittelalters

I. Augustinus’ Schrift De civitate Dei (413–426) behandelt in ihrem sechsten Buch die Fra-
ge, ob den paganen Göttern ein Gottesdienst gebühre.1 Denn nachdem das Christentum sie
innerweltlich als unnütze simulacra und unreine Einbildungen (immundi spiritus) entlarvt
habe, erwiesen sie sich obendrein als ohnmächtig, die Welt zu transzendieren, sprich: ein Le-
ben nach dem Tod in Aussicht zu stellen, das mehr wäre als eine imaginierte Fortsetzung des
zu überwindenden irdischen. Eine solche Erwartung aber scheitere schon an der Vielheit der
Idole, deren Verehrung eben nichts anderes als ein Dienst an der Welt sei. Jene Gottheiten
multiplizierten sich nämlich mit den Bedürfnissen ihrer Anbeter, und zwar nicht nur pro-
portional zur Kleinteiligkeit der erbetenen Gaben aus ihrem eng begrenzten Wirkungsfeld,
sondern zusätzlich exponentiell mit den Aktionen und Passionen, dem Tun und Leiden, das
die menschliche Existenz an Wünsche und Begierden binde. Die Zahl der Götter vermehre
sich so ins Unabsehbare und erzeuge eine phantasmatische Fülle, der nichts Substantielles
entspreche. Deshalb partikularisiere und zersetze jene eingebildete Fülle die absolute Einheit
Gottes, bis die copia der Details nur mehr den absoluten Mangel an kohärentem höherem
Sinn ausstelle. Von der Transzendenz blieben lediglich Mosaiksteine, die sich bestenfalls zu
einem Bild pantheistischer Immanenzverfallenheit zusammenfügen ließen.
   Mit seiner Kritik zielt Augustinus auf die Götterlehre des römischen Enzyklopädisten,
Sprach- und Religionshistorikers Marcus Terentius Varro. Dessen Konzept einer theologia
tripertita siedelt zwischen dem genus fabulare (als Sammlung von Göttergeschichten) und
dem genus civile (als Bereich der Riten und öffentlichen Kultübungen) eine dritte Kategorie
an: das genus naturale als „höchste Form der Göttererkenntnis“.2 In jener Zone drängeln
sich – so Augustinus – die Gottheiten in einer solchen Dichte, dass man sie nicht mehr
klar auseinanderhalten und hierarchisieren könne: Philosophische Ideen im Gewand erle-
sener Götternamen (numina selecta)3 gehen überkreuz mit volkstümlichen Alltagsgöttern
(als plebeia numinum multitudo), die elementare Lebensabläufe gleichermaßen unter
1   Den lateinischen Text zitiere ich im Folgenden nach der Ausgabe Sancti Aurelii Augustini Episcopi De Civitate Dei
    Libri XXII, recog. Bernhardus Dombart et Alfonsus Kalb, Sigle „Aug. civ“ (Augustinus [51981]), die deutsche
    Übersetzung nach dem Band der ‚Bibliothek der Kirchenväter‘ Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus
    zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, aus dem Lateinischen übers. v. Alfred Schröder (Augustinus
    [1911–16]), im Fließtext gekennzeichnet mit „Schröder“.
2   Den Grund für die Rekonstruktion der „mythographischen Topik“ Varros legt Graevenitz (1987, 48–58, hier:
    58).
3   Vgl. die zwanziggliedrige Aufzählung der numina selecta nach Varro in Aug. civ. VII,2: Janus, Jupiter, Saturnus,
    Genius, Mercurius, Apollo, Mars, Vulcan, Neptunus, Sol, Orcus, Liber Pater, Tellus, Ceres, Juno, Luna, Diana,
    Minerva, Venus und Vesta. Ein solcher, freilich anders zusammengestellter Zwanzigerkanon liegt noch dem
    Kataloggedicht Der zwainzig götter aigenschaft (23.3.1546) von Hans Sachs zugrunde, vgl. Keller, Goetze
    (1894, 349).

© 2022 Hans Jürgen Scheuer - http://doi.org/10.3726/92171_19 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung
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kanonisierten Kult- wie unter apokryphen Eigennamen orchestrieren. Das hat schwerwiegende
Konsequenzen: Die Größenverhältnisse der Gottheiten geraten durcheinander; die staatstra-
genden und die außerhalb öffentlicher Verehrung stehenden machen einander wechselseitig
ihre Geltung, sei es fürs Kleine, sei es fürs Große, streitig. So etwa, wenn der Ursprung des
Lebens von der Zeugung bis zur Geburt in lauter Teilfunktionen zerlegt und Schritt für Schritt
mit numina eingehegt werde, so dass die edelsten Vollzüge ausgerechnet den kleinen Göttern
zugeschrieben, den großen dagegen noch die unreinsten Körperfunktionen dediziert würden:
        [D]ie erste Gottheit, Janus, eröffnet den Zugang für die Aufnahme des Samens, wenn die Leibes-
        frucht empfangen wird, womit all diese, stückweise den Teilgottheiten zugewiesenen Aufgaben
        ihren Anfang nehmen [cuncta opera sumunt exordium minuatim minutis distributa numinibus].
        Dabei findet sich auch Saturnus ein, den der Samen selbst angeht; ebenso Liber, der den Mann
        durch Erguß des Samens befreit; ebenso Libera, die sie auch mit Venus gleichsetzen; sie hat die
        Aufgabe, die nämliche Wohltat dem Weibe zu erweisen, damit auch dieses durch Samenerguß
        befreit werde. Sie alle gehören zu denen, die man auserlesene nennt [qui selecti appellantur]. Jedoch
        auch die Göttin Mena stellt sich da ein, die der monatlichen Reinigung waltet, eine Tochter Jupiters
        zwar, aber nicht von edler Art. Und diesen Wirkungskreis der monatlichen Reinigung weist Varro
        in dem Buche über die auserlesenen Götter der Juno zu, die unter den auserlesenen Göttern sogar
        die Königin ist und nun hier als Juno Lucina zugleich mit ihrer Stieftochter Mena diesem Blut-
        fluße vorsteht. Es stellen sich weiter ein zwei ganz obskure Götter [duo nescio qui obscurissimi],
        ein Vitumnus und ein Sentinus, und spenden der Leibesfrucht der eine das Leben, der andere
        die Empfindung. Man beachte: obwohl ganz untergeordnete Gottheiten [cum sint ignobilissimi],
        gewähren sie doch weit mehr als die vielen vornehmen und auserlesenen. Denn in der Tat, was
        wäre das Ganze, was der Mutterschoß birgt, ohne Hinzutritt des Lebens und der Empfindung
        anders, als eine ganz gewöhnliche Masse, nicht besser als Schlamm und Staub [nisi nescio quid
        abiectissimum limo ac pulveri comparandum]? (Aug. civ. VII,2; Schröder, S. 334 f.)

Derartig ungehemmte, willkürliche Parzellierung unterläuft jede Rangordnung und verei-
telt den stetigen Aufstieg zu höherer Erkenntnis. Das kosmische Band, das der olympische
Götterreigen in einer philosophischen Theologie der Naturerscheinungen allenfalls noch
symbolisieren könnte, löst sich in eine Serie von Götternamen auf, die außerhalb materieller
Vollzüge und innerweltlicher Deutung keinerlei spirituelle Bedeutung transportieren und an
sich binden können. Solche numina bilden keinen Kanon des Seins, sondern eine potentiell
offene Liste parataktisch angeordneter, allein über den Akt des Aufzählens lose miteinander
verbundener nomina ohne ontisches Fundament. Ihr Wesen ist daher sowohl im poetischen
Fabulieren des Mythos als auch im politischen Kommunizieren des Gemeinwesens rein sprach-
lich: deiktisch, demonstrativ, theatral –„fabelnde Theater- und Bühnentheologie“ (theologia
fabulosa theatrica scaenica, Aug. civ. VI,7) auch und gerade da, wo sie den staatlichen Kult
begründet und fides – verpflichtende Wechselseitigkeit in der Gemeinschaft – herstellen soll.
    Von Augustinus auf ihr charakteristisches nominalistisches Sprachspiel zurückgeführt,
bewegt sich die gesamte Varronische theologia tripertita daher innerhalb eines allegorischen
Kontinuums. Die darin befangenen Götternamen formieren Reihen stillgelegter Metaphern
und Topoi, die sich aus jeder Position nach allen Seiten in Wortfeldern entfalten und aktua-
lisieren lassen, um weltliche Aktivitäten zu beschreiben – ohne Rücksicht auf die Rangfolge
systembildender, geschweige denn transzendentaler Begriffe. Das erklärt, warum Varros
wichtigstes Erkenntnisinstrument die Etymologie ist, wie Augustinus beispielhaft an der
Gottheit des Liber-Bacchus vorführt:

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                              Peter Lang
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       Und wie? stehen nicht gerade die in so armselige kleine Stücke zerteilten Aufgaben der Götter
       [numinum officia tam viliter minutatimque concisa], um derentwillen man sie, wie es heißt, je nach
       dem besonderen Amt eines jeden [pro uniuscuiusque proprio munere] anrufen müsse, […] mehr mit
       mimischer Possenreißerei [scurrilitati mimicae] als mit göttlicher Würde in Einklang? […] Den
       Gott Liber lassen sie nach liberamentum benannt sein, weil durch seine Wohltat die Männer bei
       der Ausübung des Beischlafs durch Ausscheidung des Samens liberiert werden; dasselbe Geschäft
       besorgt bei den Frauen Libera, die sie auch für die Venus halten, die ebenfalls, wie sie versichern,
       den Samen ausscheide; und deshalb werde dem Liber zu Ehren das männliche Glied im Tempel
       aufgestellt, der Libera zu Ehren das weibliche. Dazu gesellt man dem Liber zugeteilte Weiber und
       Wein zur Entzündung der Begierlichkeit. So wurden die Bacchanalien in höchster Raserei gefei-
       ert [summa celebrabantur insania] […]. Doch mißfiel solches Gebaren später dem vernünftigeren
       Senate und er schaffte es ab. Vielleicht haben sie daran wenigstens endlich gemerkt, was unreine
       Geister, wenn sie für Götter gehalten werden, am Geiste des Menschen für ein Unheil anrichten
       können [in hominum mentibus possint]. In den Theatern jedoch wäre so etwas jedenfalls nicht
       vorgekommen; dort spielt man, aber man rast nicht; freilich grenzt es schon an Raserei, für Götter
       zu halten die, die sich auch nur an solchen Spielen ergötzen [quamvis deos habere, qui etiam ludis
       talibus delectentur, simili est furoris]. (Aug. civ. VI,9; Schröder, S. 320 f.)

Augustins aus den Varronischen Antiquitates rerum humanarum et divinarum (1. Jhd. v.
Chr.)4 kompilierte Götterkataloge bilden Inventare der menschlichen Triebnatur und des
von ihr befeuerten Weltverhaltens. Nach außen spiegeln sie die Kräfte, die in der auf munera
– auf Gabentausch, Ämterteilung und Schuldverpflichtungen – beruhenden communitas
des politischen Gemeinwesens wirken, wo die göttlichen und die menschlichen Dinge zum
Austausch kommen und über Tauschbeziehungen verhandelt werden.5 Nach innen orien-
tiert, stellen sie die in der Einzelseele arbeitenden Begierden aus und steigern jene ostentativ
bis ins Extrem des furor. Gelesen vom Standpunkt der den Christen verheißenen Erlösung
nach dem Tode, ergibt die enzyklopädische Übersicht über die paganen numina und über
den Sachgehalt ihrer nomina ein Spektakel reiner Innerweltlichkeit. Seine Phantasmen
transportieren pure Sinnlichkeit bar jeglichen anagogischen Sinns. Indem Augustinus die
antike Götterwelt auf eine Dämonologie reduziert und die Götternamen zu Medien kon-
tinuierlicher metaphorischer Übertragung erklärt, tendieren seine Kataloge letztlich dazu,
sich in anfangs- und endlose Kolumnen aufzulösen.

II. Im Jahre 1790 liest ein anders gesinnter Autor, der gerade von seiner italienischen Reise
nach Weimar zurückgekehrt ist, Varros Götterlehre wie ein Palimpsest durch Augustins
kritische Rasur des Originals hindurch. Wo Augustinus aus der Perspektive des Jenseits-
glaubens die Vielgötterei und deren Katalogisierung durch den römischen Polyhistor
Varro als Beleg für die Mangelhaftigkeit paganer Gottesvorstellung interpretierte, kehrt
Goethe in seinen lateinisch verfassten Annotationen zu De civitate Dei die allegorische
Operation um.6 Aus Augustins tendenziöser Allegorese setzt er eine poetische Allegorie
frei, indem er die polemische Intention seiner Quelle einfach streicht und eine eigene

4    Zur Rekonstruktion des Varronischen Konzepts einer Geschichte der Religion vgl. Cancik (2008, bes. 31–34)
     sowie Rüpke (2014).
5    Zum Konzept der communitas, entwickelt aus der Semantik von lat. munus im Sinne eines verpflichtenden
     Gabentauschs und seiner Unterwerfungslogik vgl. Esposito (2004).

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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Exzerptliste anlegt. Sie besteht aus den Gottheiten, die den Geschlechtsakt rahmen, ihn
anbahnen und vom Koitus bis zur Empfängnis und Schwangerschaft schützen und be-
gleiten. Namen an Namen reihend, erschließt und expliziert Goethes Kommentar aus der
Semantik, die lexikalisch in den nomina propria sedimentiert ist, eine detaillierte Vorstel-
lung gelebter Sexualität. Mit anderen Worten: Goethe rekonfiguriert Augustins Listen
zum Katalog einer vergangenen Lebenswelt. Deren Verlust münzt er um zur scheinbar
unbegrenzten Fülle eines Metaphernbandes, das sich vor den Augen der gegenwärtigen
Leser Zug um Zug entrollt. Es ist, als hätte das intimste Geheimnis des Lebens aus-
gerechnet in der Ausdruckslosigkeit der Augustinischen Götterliste eine Transportform
durch die Zeiten hindurch gefunden, mit deren Hilfe sich die Phänomene hier und jetzt
für die Einbildungskraft retten lassen. So vermag noch die abgelebteste Mythologie den
prägnanten Augenblick in unserer Wahrnehmung freizusetzen, indem sie Nachbilder des
antiken Lebens anstößt7 – als ob kein Tod wäre, kein Nach-dem-Leben (außer dem der
„Nachwelt“) und alles ein Prozess ununterbrochener Fortzeugung, lebendiger Tätigkeit
und Wiedergeburt: eine Weltdeutung, die Augustinus genauso wenig akzeptiert hätte, wie
Goethe den Rigorismus der Augustinischen Religionskritik gelten lassen konnte.
   Augustins und Goethes konträre Varro-Lektüren realisieren – durch den Aufweis von
absolutem Mangel bzw. von grenzenloser Fülle – am Stoff der antiken Mythographie zwei-
erlei gegensätzliche Optionen des Gebrauchs von Katalogen göttlicher Namen:

1. die enzyklopädische Grundstruktur des aufbereiteten Namensmaterials. Als lose Ver-
   knüpfung aus dem kommunikativen Gebrauch herausgefallener nomina werden die Göt-
   ternamen in der Wissensform der Mythologie zu einem topisch-lexikalischen Netzwerk
   verbunden. Jeder Name bezeichnet darin einen Ort oder Knotenpunkt, an dem sich
   konsensuelle Meinungen, Argumente, Bildvorstellungen, Wert- und Affektbesetzungen
   versammeln und im Namen verdichten. Sobald sie in die histoire oder in den discours pro-
   blembearbeitender Narrative modular oder exkurshaft eingefügt werden, kann man sie
   bald ad bonam, bald ad malam partem oder simultan in beide divergierenden Richtungen
   auslegen (in utramque partem disserere nach Cicero)8. Zwischen den axiologischen Extrem-
   punkten erlaubt das eine graduelle, feinabstimmbare Intensivierung der Rede, die nach
   Merkmalen sucht, um ein sakrales oder profanes Phänomen je im Licht (oder Schatten)
   seines Gegenprinzips erscheinen zu lassen. Es geht dabei einerseits um ein mapping, d. h.:

6 Vgl. Goethe (1987); auch in: Goethe (1990). Man könnte sagen: Goethe wendet eine der Grundoperationen der
  Allegorie, die inversio (nach Quintilian das lateinische Synonym zum griechischen Terminus), auf die Allegorie
  selbst an.
7 Einen entsprechenden Eindruck antiker Lebenswelt hält Goethe in seinen autobiographischen Erinnerungen
  an die Campagne in Frankreich 1792 beim Betrachten des spätrömischen Grabmonuments von Igel bei Trier
  fest: „Wie viel traurige, bildlose Obelisken sah ich nicht zu meiner Zeit errichten, ohne daß irgend jemand an
  jenes Monument gedacht hätte. Es ist freilich schon aus einer spätern Zeit, aber man sieht immer noch die Lust
  und Liebe, seine persönliche Gegenwart mit aller Umgebung und den Zeugnissen von Tätigkeit sinnlich auf
  die Nachwelt zu bringen. Hier stehen Eltern und Kinder gegeneinander, man schmaust im Familienkreise; aber
  damit der Beschauer auch wisse, woher die Wohlhäbigkeit komme, ziehen beladene Saumrosse einher, Gewerb
  und Handel wird auf mancherlei Weise vorgestellt.“ (Goethe [81982]).
8 Cicero bedient sich jener Formel an verschiedenen Stellen seines Werks: De orat. II 30; Rep. III 8; Luc. 7. 60.
  104; Ac. post. I 45; Fin. Ill 3; V 10; Tusc I 8; II 9; Nat. deor. I 11; II 168; Div. II 150; De fato 1; vgl auch Tusc.
  V 83; Div. I 62; II 2.

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   eine inventarisierende Übersicht von in Götternamen verdichteten Attributen, übertragen
   auf ein größeres, vieldeutiges Phänomen, das als Ganzheit nicht direkt ansprechbar und
   benennbar zu sein scheint. Vergleichbar einem Itinerar, verzeichnet die Namenssequenz
   einen Weg durch den unübersichtlichen mentalen Raum, wo physische und numinose
   Kräfte in der Wahrnehmung kohabitieren und aufeinanderstoßen. Andererseits geht es
   um ein blending, d. h.: ein Hinüber- und Herüberspielen zwischen unterschiedlichen
   Schichten gegenstrebiger Merkmale in der Zeit.9 Solche Überlappungen bringen im An-
   titypus den Typus zum Vorschein und machen im Typus den Antitypus sichtbar.10 Die
   erste, topologische Formation bringt eine Liste hervor, aus der einzelne Lemmata heraus-
   gelöst und ekphrastisch erweitert werden können. Wenn solche Amplifikationen sich zu
   inserierten Szenen oder Erzählpassagen entfalten, entsteht ein komplexeres Gefüge: eine
   zusätzlich in der zeitlichen Dimension sich bewegende typologische Folge.11 Sie ermöglicht
   es, memorierend, präsentierend und antizipierend Bezüge innerhalb eines Systems von
   Vorstellungen aufzurufen, ja ein solches System überhaupt erst hervorzurufen.
2. die Polarität der allegorischen Signifikanz. Sie schwankt zwischen leerlaufender Semiose,
   in der ein Zeichen das andere gibt, ohne den Übertragungsprozess mit einem Stoppbefehl
   zu versehen oder ihn auf den Horizont einer Sinntotalität hin zu lenken, und einer entge-
   gengesetzten onto-theologischen Gewichtung, die es für möglich hält, aus den kunstvoll
   in Bild und Schrift konstruierten, sprachlich ausgelegten Zeichenverhältnissen auf die
   Signatur des Schöpfers und auf die Sinnfülle seiner Schöpfung zu schließen, ja sie in
   einem kühnen Sprung über alle Vermittlungsstufen hinweg zu erfassen. In jener Span-
   nung zwischen zerbröselnder Partikularität und aufscheinender Singularität bewegt sich
   seit jeher die rhetorische Praxis und Epistemologie der Allegorie. Ihr dürfte nicht dadurch
   beizukommen sein, dass man sich entweder für die Negativität oder für die Positivität
   allegorischen Bedeutens entscheidet,12 sondern am ehesten, indem man die Dynamik
   des metaphorischen Transports bei der Produktion psychischer Wirkungen auf die Vor-
   stellungskraft mit ins Kalkül zieht.13 Das bedeutet für die Analyse von Götterkatalogen,
   dass sie als ein Spielraum rhetorischer Wirksamkeit durch die vis verbi der Namen14 zu
   betrachten sind: hinsichtlich ihrer Introjektion vor dem inneren Auge bzw. hinsichtlich
   ihrer Projektion in die wahrgenommene äußere Welt mit ihren Handlungsoptionen.

III. Markus Asper hat im Sinne jener Unterscheidung zwischen enzyklopädischer Topik
und Allegorie auf das unterscheidende Merkmal des epischen Katalogs gegenüber der
bloßen Aufzählung von Dingen (enumeratio) oder der lexikalischen Synonymenhäufung
(congeries) hingewiesen: Es liege in seinem „Darstellungsziel der ἐνάργεια […] einer kom-
plexen Handlung“, in einer Detaillierung mithin, die der Suggestion einer „quantitativen
 9 Zur Unterscheidung der beiden Begriffe mapping und blending in der neueren kognitiven Metapherntheorie
   vgl. Fauconnier, Turner (2002), Grady (2007) sowie Grady, Oakley, Coulson (1999).
10 Vgl. Zimmermann (2000).
11 Mit den Worten Northrop Fryes: „Typology is a figure of speech that moves in time: the type exists in past and
   the antitype in present, or the type exists in present and the antitype in future.“ (Frye [1982, 80]).
12 Vgl. Drügh (2000) vs. Kablitz (2016).
13 Vgl. Whitman (1987) sowie Whitman (2010).
14 Grundlegend zum literarischen Verständnis des Namens als konzentriertester Form der Ekphrasis Reich (2011,
   bes. 13–85).

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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Enormität“ diene und somit über die Anmutung einer copia, über die der Erzähler sachlich
wie sprachlich verfüge, einen beschreibenden und affektischen Mehrwert in die Narration
oder Argumentation seiner Kontexte einbringe:

        Seiner Funktion nach wäre der K[atalog] im rhetorischen System […] als Subspezies der Ekphrasis
        zu behandeln, doch findet sich diese Systematisierung nirgends.15

Damit verstößt der Katalog im poetischen Zusammenhang gezielt gegen zwei Prinzipien, die
dem Aristotelischen Mimesis-Begriff zugehören: die gute Übersichtlichkeit (εὐσ ύ ν οπ τ ο ν)
und die leichte Merkbarkeit (εὐμ ν ημ ό νευ τ ο ν) des Artefakts. Dass ein Poet (wie Homer)
oder eine Poetin (wie Sappho) dennoch Kataloge zusammenstellen (und sei es in Form
einer praeteritio, die auflistet, was nicht behandelt werden soll), führt ihre Meisterschaft vor
Augen, noch das Unübersichtliche oder Unmerkbare zu bewältigen. Insofern koppelt der
Katalog die von ihm ausgestellte Quantität an ein Qualitätsversprechen: an den Ausweis
einer über das Normalmaß hinaus gesteigerten Ordnungskompetenz.16
   Zugleich forciert der Katalog eine andere Dimension, die nach antikem Verständnis dem
mimetischen Vermögen durchaus eigen ist: Als kleinteilige Darstellung, die nirgends inne-
hält, nur gelegentlich und beiläufig Namen oder Attribute der aufgezählten Gegenstände
narrativ ausfaltet, gibt er dem Verlauf der Wahrnehmung Form und Richtung. Damit sorgt
der Katalog dafür, das Amimetische der bloßen Häufung von Gegenständen und Wörtern
zu verlebendigen. Die durchlaufende Sprachbewegung vermag die Beweglichkeit des Be-
schriebenen zu simulieren, auch wenn, ja gerade weil es in der Aufgliederung keine feste
Kontur gewinnt, sondern sich im zeitlichen Fluss der aufzählenden Performanz befindet
und darin die Erkenntnis des begrifflich Nicht-Fassbaren sprunghaft vor Augen stellt. Auch
in einer nicht-aristotelischen und nicht-platonischen Poetik wie der des Horaz gibt jene
Beweglichkeit der Serie den Ausschlag. Sie wird in der Ars poetica durch die Kombinatorik
der Chimäre wiedergegeben. Deren diskontinuierlicher Bauplan fordert aus lauter aneinan-
dergereihten, organisch inkommensurablen Teilkörpern das iudicium auf Produktions- wie
auf Rezeptionsseite heraus. Friedrich Gaede hat die Horaz’schen Prinzipien folgendermaßen
vom organologischen Einheitsdenken der Aristotelischen Poetik abgesetzt:

15 Asper (1998, Sp. 916). Zur Differenz von Katalog und Liste im vormodernen Epos und in moderner Adaptation
   vgl. auch Contzen (2020).
16 Vgl. Sabine Mainbergers Definition des Katalogs im Gegensatz zur Liste: „‚Katalog‘ steht in engem Zusammenhang
   mit Information (zum Beispiel Bibliothekskatalog) oder Ökonomie (Warenkatalog) und ist literaturgeschichtlich
   mit der epischen Tradition verbunden. Beide Kontexte verweisen auf ein hohes Maß an Ordnung und eignen sich
   daher weniger zur Benennung von lose versammelnden oder ostentativ chaotischen Aufzählungen.“ (Mainberger
   [2018, 91]). An anderem Ort nennt Sabine Mainberger den Katalog „ein fülliges Panorama“ (Mainberger [2003,
   50]). Mit ihm ist der Schein einer gewissen Komplettheit verbunden. Sie ist freilich nicht von der Sache her gege-
   ben, sondern in der Wahrnehmung der Betrachtenden begründet: An den katalogisierten Gegenständen sehen
   wir uns satt. Sie werden uns Stück für Stück – als herauslösbare Exempla einer anders unbegreiflichen Ganzheit
   – vor Augen gestellt. Die Liste dagegen bricht mit jener Suggestion von Ganzheit. Sie häuft und serialisiert, was
   uns in welcher Reihenfolge auch immer erinnernd, antizipierend oder vergegenwärtigend in den Sinn kommt.
   Insofern wurzelt sie in der Situation ihrer Entstehung und spielt von der Vorstellung und ersten (mündlichen
   oder gedanklichen) Verbalisierung in die Schriftform der Kolumne oder Tabelle hinüber.

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       Für Horaz […] ist Einheit verwirklicht, wenn Anfang, Mitte und Ende einer Dichtung einander
       „nicht widerstreiten“ [Ars 152: primo ne medium, medio ne discrepet imum], sich also nicht mehr
       auseinander entfalten und eine Ganzheit bilden, sondern nur eine Verbindung von Teilen, deren
       Verschiedenheit gerade dadurch betont ist, daß sie zusammenstimmen, also das Gebot des aptum
       erfüllen müssen. Damit ist an die Stelle der aristotelischen Ganzheit, die auf der Gleichsetzung
       von Denken und Sein gründet, die Harmonie der Einzelheiten getreten. Das gilt auch für den
       Aufbau von De arte poetica: hier reiht sich Einzelaussage an Einzelaussage, deren Zusammenhang
       darin besteht, daß sie aus dem gleichen Prinzip motiviert sind. Die Art des Prinzips erklärt sich aus
       der Urteilsfähigkeit, die für das aptum sorgt. Das Urteil und seine Implikationen spielen darum
       in Horazens Kunstlehre die Rolle, die der Syllogismus in der aristotelischen Poetik gespielt hat.
       Was für Aristoteles der Zusammenhangsgedanke war, ist für Horaz die Unterschiedenheit der
       Positionen, die im Gebot ihrer Harmonisierung, sei es der von Künstler und Kunstwerk oder der
       Teile des Kunstwerks untereinander, zum Ausdruck kommt.17

Aufgabe der Dichtung im Sinne der Horaz’schen Poetik ist es demnach,

       aus widerstreitenden Elementen, alternativen Optionen und Wertungen unter wechselnden Vor-
       zeichen eine concordia discors (Hor. ep. I,12,19) zu formen. Sie soll die Unterscheidungen innerhalb
       des Werkganzen mobilisieren, die Urteilskraft des Publikums affektiv/imaginativ ansprechen und
       dadurch exemplarisch den Anspruch eines konsensuellen aptum geltend machen.18

Insofern die Episteldichtung des Horaz, zu der sein Brief an die Pisonen über Poetik zählt,
der Gattung Satire angehört, fügt sie der epischen Funktion des Katalogs eine ethische
Dimension hinzu: Durch die angedeutete Fülle des Disparaten führt sie die Offenheit
und Unabschließbarkeit moralischer Urteile in einer irritierenden (Un-)Gestalt vor Augen.
Eben jener Sprung zwischen Gestaltwahrnehmung und Entstaltung macht die besondere
Erkenntnisleistung des vormodernen Katalogs aus.

IV. Dass topische Ordnung und allegorische Ambivalenz katalogförmig in Dichtungen
eingehen, ist seit Homers Ilias und Odyssee Merkmal der literarischen Großform Epos.
Darin manifestiert sich sein umfassender, weltdeutender und Erzählen fundierender An-
spruch.19 Was speziell die Listungen oder Katalogisierungen antiker Götternamen in mit-
telalterlichen Dichtungen leisten sollen, ist freilich eine Frage, die nicht allein mit Verweis
auf eine hergebrachte Gattungskonvention zu beantworten ist. Sie muss am Zusammen-
spiel von Topik und Allegorie, von Wissen und Poetik fallweise erörtert werden.20 Dabei

17 Gaede (1978, 38 f.).
18 Scheuer (2015a, 43).
19 Als paradigmatisch gilt einerseits der Schiffskatalog in der Ilias, andererseits der Katalog der toten Heroinnen
   und Heroen, die Odysseus bei seinem Gang durch die Unterwelt begegnen (11. Buch der Odyssee); vgl. zu
   letzterem die phänomenologische Entwicklung der Katalogform aus den Operationen des Selektierens und
   Erzählens durch Regazzoni (2008). Über den Zusammenhang von Zählen und Erzählen wird dem Katalog
   eine elementare, geradezu ursprungshafte narrative Force zugeschrieben, vgl. Wedell (2011).
20 Generell zum Auftreten und zur Funktion epischer Kataloge in mittelhochdeutscher Dichtung vgl. Müller
   (2003). An Epik und Erzählung ist der Katalog freilich nicht gebunden. Er lässt sich genauso gut in theatralen
   Formen finden (etwa in Teichoskopien oder Chorliedern) oder in lyrischen Formen (die additiv strophische
   Reihen bilden). In Mittelalter und Früher Neuzeit kommen für die Lyrik Leich und Reigen oder hymnische,
   litaneihafte Serien, verstanden als sang- und tanzbare Katalogformen, hinzu, für die Dramatik Reihenspiele

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26 | Hans Jürgen Scheuer: Die pagane Antike in mythologischen Namenskatalogen des Mittelalters

hat die Mythographie der Antike im Hinblick auf topische Wissensorganisation und
allegorische Bildproduktion mittelalterlich ihren Sitz vornehmlich im Feld der septem artes
liberales, wo moralische und natürliche Ordnung einander begegnen und überlagern. Dort
erscheint der Götterkatalog gleichermaßen in beiden systematischen Kontexten: inner-
halb des sprachzentrierten Triviums wie innerhalb des an Zahl und Relation orientierten
Quadriviums. Speziell für seine kompendiöse Präsentationsform und sein Wirkungspo-
tential wird zwischen Rhetorik und Astrologie,21 den jeweils komplexesten Ausprägungen
trivialen und quadrivialen Wissens, nach seiner Aufgabe und Evidenz zu suchen sein.
Sämtliche artes erhalten dabei ihre über das Sachwissen hinausdeutende Signifikanz vor
dem Hintergrund ihres Bezugs auf weltliche oder spirituelle Ordnungen.
   Das mythographische Wissen erreicht die mittelalterliche Dichtung auf verschiedenen
Wegen und in vielfältig aufbereiteter Form: enzyklopädisch lemmatisiert sowie allegorisch
aufgeladen. Es bietet sich dem gelehrten, vor allem durch Lateinunterricht und durch
auctores-Studium routinierten Gebrauch zur Bildung von Exempeln und Gleichnissen für
das dynamische Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos, von Welt- und Seelenleben an.
Jean Seznec hat deshalb in seiner Studie La survivance des dieux antiques. Essai sur le rôle de
la tradition mythologique dans l’ humanisme et dans l’art de la Renaissance (1940) prägnant
davon gesprochen, „daß die Götter im Mittelalter in gedanklichen Systemen überlebten, die
sich bereits am Ende der heidnischen Welt herausgebildet hatten“.22 Sie überdauern nicht
als mythisch präsente oder kultisch verehrte, sondern als interpretierte und in ihrer Wie-
derholung rekonfigurierte: So erkennen wir zwar die alten Götter an ihren hergebrachten
Namen, in ihrer jeweiligen Zusammenstellung bleiben sie aber nicht dieselben, sondern
kehren in euhemeristisch-historischer, physisch-naturkundlicher, psychisch-moralischer
und spiritueller Perspektive verändert wieder. Sie durchlaufen die Schichten der Schrift­
sinnallegorese, die grundsätzlich nicht als aufsteigende Qualitätsstufen zu verstehen sind,
sondern als bruchlos ineinander übergehende Intensitäten des rationalen Schematismus der
sinnlichen Wahrnehmung. Neben den lexikographischen und religionswissenschaftlichen
Spezialinteressen eines Varro, Cicero oder Augustinus wirken sich dabei Mythenrezeption
und ihre Transformation in Mythologie auf die mittelalterliche Katalogisierung von anti-
ken Göttern aus, die häufig mit Heroinnen und Heroen, Herrscher- und Künstlernamen
sowie personifizierten Wertbegriffen kombiniert wird. Verschiedene Quellen werden zu
solchem Zweck ausgeschöpft und bilden jene „gedanklichen Systeme“ (Seznec), denen die
Namenskataloge ihr präpariertes Wissen entnehmen:23

   und prozessionsartige Aufführungsformen, die wie dramatisierte Kataloge wirken. Als Beispiel für einen dra-
   matisierten Götterkatalog vgl. Hans Sachs, Ein comedi, das judicium Paridis, vom 9.1.1532, in: Keller (1873
   [BLVS 115], 41–64), eine freie Bearbeitung des Spectaculum de iudicio Paridis von Jakob Locher.
21 So schließt Oswalds von Wolkenstein Lied Des grossen herren wunder (K 22) die Tierkreiszeichen und Plane-
   tennamen in seinem Götterkatalog zu einer Physiognomik und Charakterologie der Planetenkinder zusammen
   (vgl. Klein [2015, 67–73]). Grundlegend zu den astronomischen Bildtraditionen im Kontext mittelalterlicher
   Kosmo- und Psychologie Blume (2000).
22 Seznec (1990, 3).
23 Eine umfassende Übersicht über die mythographischen Summen seit der Antike hat Paul Michel zusammen-
   gestellt, abrufbar unter: ,
   zuletzt: 30.8.2021.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                               Peter Lang
Hans Jürgen Scheuer: Die pagane Antike in mythologischen Namenskatalogen des Mittelalters | 27

1. Schulautoren wie Vergil oder Lucan für das historische Epos bzw. Ovid und Claudian
   für die Aitien-Dichtung in der Tradition des Kallimachos;
2. psychologische Allegorien aus dem Bereich der Menippeischen Satire wie Martianus
   Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii (5. Jhd.), Boethius’ Consolatio Philosophiae
   (525) oder die Psychomachia des Prudentius (Beginn des 5. Jhds.);24
3. glossatorische Praktiken der auctores-Kommentierung, die den Boden dafür bereiten,
   Mythen in enzyklopädische Lemmata herunterzubrechen (vgl. Hyginus’ Fabulae [2.
   Jhd.?], Lactantius Placidus’ In Statii Thebaida commentum [5. Jhd.], Fulgentius’ My-
   thologiae [6. Jhd.], Isidor von Sevilla, De diis gentium [VIII. Buch der Etymologiae, 6.
   Jhd.], die Mythographi Vaticani I/II [Überlieferung ab dem 11. Jhd.] sowie III [Ps.-Al-
   beric von London, 12. Jhd.] bis Alexander Neckhams Commentum super Martianum
   [1177/1190]);25
4. Nachdichtungen im Kontext lateinischer Stilübungen (Pseudo-Vergiliana und -Ovidi-
   ana), die den Mustern poetischer Lehrbücher wie der Ars Versificatoria des Matthaeus
   von Vendôme (vor 1175) oder der Poetria Nova Galfreds von Vinsauf (1208–1214) in
   der Tradition des Horaz folgen.

Aus jenen Feldern wandern Figuren und Ikonographien paganer Gottheiten in volks-
sprachliche Dichtungen ein, sei es in großräumige Bearbeitungen antiker Stoffe (matière de
Rome),26 sei es als imaginationssteigernde Motive in kleinteilige ekphrastische Passagen des
Versromans (matière de Bretagne),27 sei es gleichnishaft in Formen höfischer Lehrdichtung
(besonders der Minnelehre). Die folgenden Beispiele werden zeigen, wie in den jeweiligen
Zusammenstellungen Sinnlichkeit und rationales Deutungsschema in Katalogen mitein-
ander interagieren und komplexe Spielarten des Nachlebens der Antike in der Spannung
von Weltimmanenz und Transzendenz hervorbringen.

V. Eine mittelenglische Traumvision aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts führt
Trivium und Quadrivium, sprachbasierte Moral und zahlbasierte Natur in einer phan-
tasmatischen „Sprache der Seele“ zusammen, indem die Dichtung verschiedene mytho-
logische und allegorische Namenslisten und szenisch ausgeführte Kataloge von paganen
Göttern und von christlich konzipierten Personifikationen antagonistischer Seelenvermö-
gen miteinander verknüpft. Zwischen 1478 und 1483 entstanden, kombiniert die Vision
unter dem Titel Le Assemble de Dyeus, or Banquet of Gods and Goddesses, with the Discourse
of Reason and Sensuality vier unterschiedliche Modi der Rede:28

24 Zum Nachleben der Stoa in allegorischer Abstraktion, Sprachdenken und Seelenlehre des Mittelalters vgl.
   Bardzell (2009).
25 Vgl. zur poetischen Arbeit jener gelehrten Quellen in der mittelalterlichen Dichtung meine beiden Aufsätze
   Scheuer (2015b) sowie Scheuer (2017).
26 Vgl. Contzen (2020).
27 So etwa in der Beschreibung des Bildprogramms auf dem Sattel von Enites Zelter; vgl. Strittmatter (2013,
   228–265).
28 Im Folgenden zitiere ich die Dichtung nach Chance (1999); zur Überlieferung und Gliederung der Dichtung
   vgl. besonders die Einleitung (Introduction, in: Chance [1999, 1–26]).

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1. die Szenerie eines Gerichtshofs (Assemble), vor dem innerhalb der höfischen Gemein-
   schaft Konflikte exemplarisch verhandelt und geregelt werden (nach dem Muster etwa
   des provençalischen Minneparlaments)29;
2. das antikisierende Setting eines Symposions (Banquet), das Geselligkeit über die Dis-
   kussion philosophischer Dilemmata herstellt (hier durch den Discourse über das Ver-
   hältnis von Rationalität und Sinnlichkeit);
3. die agonale Austragung eines grundlegenden Widerspruchs in Form einer Psychoma-
   chie, in der Tugenden und Laster in persona gegeneinander kämpfen.
4. Hinzu kommt ein vierter Aspekt, den der Titel der Druckausgabe anspricht und dem
   schon in der Manuskriptüberlieferung ein eigenes Register gewidmet ist: The Inter-
   pretacyon of the Natures of Goddys and Godesses. Mit Interpretacyon ist eine Weise des
   Deutens gemeint, wie sie in der spätantiken und mittelalterlichen Tradition allegori-
   scher Lehrdichtung (von Martianus Capellas Hochzeit Merkurs und der Philologie bis
   zum Ovide moralisé) bekannt ist: Sie transformiert die vis verbi – sprich: die Impulse,
   die von den aufgerufenen Namen aus dem Inventar des Mythos aktiviert werden –
   in einen Kommentar, der die rhetorisch freigesetzten psychischen vires in moralische
   virtutes (oder vitia) ummünzt (und umgekehrt), indem er den discours als histoire rea-
   lisiert. Das heißt: Der erzählte Traum entspricht einer durchgehenden Bildrede (meta-
   phora continua), die Erzählung und Kommentar nahtlos ineinander übergehen lässt,
   um das kontinuierliche Spiel der Kräfte zwischen Sinnlichkeit und Sinn darzustellen.

In der Anlage des Narrativs exteriorisieren die Götternamen das Kräftespiel in der Außen-
welt, dem Makrokosmos: Apollo und Phebus, mythologisch Name und Epiklese derselben
Gottheit, stehen für zweierlei Entitäten, für Sonne und Licht, ebenso wie Phebe und Diana
getrennt voneinander für den Mond (korreliert mit Gewässern und Gezeiten) und den
Wald (verstanden als Jagdgrund) stehen. Sie repräsentieren insgesamt die trans- und die
sublunare Sphäre der Welt. In letzterer wirken die verschiedensten Energien: elementare
(Eolus, the wynde, or God of the eyre / Neptunus God of the see), klimatische (Saturne God of
colde), vegetative (Ceres Godesse of corne / Isys Godesse of frute / Bachus God of wyne), soziale
(Mercurius God of language / Discorde Godesse of debate and stryfe), intellektuelle (Jubyter
God of wysdom / Othea Godesse of wysdom) und andere sowohl bindende (Cupido God of
love / Venus Godesse of love) als auch trennende (Mars God of batayll / Mynerve Godesse of
batayll or of harneyse) Kräfte.30 Zur Göttertafel treten weitere Gäste hinzu: sage phylosophyrs
und poetes many folde – ein Kanon von 22 Namen, das ‚Who is Who‘ antiken Wissens
und antiker Poesie, das bei Sychero and Arystotyll olde beginnt und durch den weißbärtigen

29 Vgl. David Hume, Enquiry concerning the Principles of Morals IV,17: „Bei den Völkern, die eine zweifelhafte
   Liebschaft durch den Brauch bis zu einem gewissen Grad billigen, wenn sie denn mit einem dünnen Schleier
   der Heimlichtuerei bedeckt ist, entstehen umgehend eine Reihe von Regeln, die diese Verbindung wohlwollend
   fördern. Das berühmte Minneparlament in der Provence entschied früher alle schwierigen Fälle dieser Art.“
   (Hume [2002, 40]). Zur literarischen Institution solcher Gerichtshöfe in der deutschsprachigen Überlieferung
   vgl. Mohr (2016) sowie Lichtblau (2007).
30 Wie meine Auswahl der gelisteten Namen zeigt, sind die Positionen der Naturkräfte meist doppelt besetzt. Auf
   ihre physische Positivität wird zusätzlich die Unterscheidung zwischen weiblichem und männlichem Geschlecht
   angewandt, weil solche Paarbildung für die Konstitution einer modellhaften communitas wesentlich ist.

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Orpheus abgeschlossen wird. Alle nehmen Platz, nur Dyscord, die Göttin des Streits, findet
– wie einst bei der Hochzeit von Thetis und Peleus – keinen freien Sitz mehr. Sie öffnet
daraufhin einer destruktiven Macht das Tor, die jedem lebendigen und geselligen Zusam-
men- und Widerspiel von Kräften ein Ende bereitet: Attropos – eigentlich eine der drei
Parzen – dringt in die Festgesellschaft ein und wird später mit Klarnamen angesprochen als
Dethe (V. 1403), der Tod. Seine Opfer unter den Mächtigsten der Erde aufzählend, droht
er den Versammelten, sie dem Vergessen anheimfallen zu lassen, und redet dem Prinzip des
Unfriedens derart das Wort, dass der Makrokosmos in ein Schlachtfeld verwandelt wird,
weil eine einzige Kraft dem Tod zu widerstehen wagt: die Tugend. Deshalb sollen Vyce und
Vertew mit ihrem jeweiligen Gefolge an Lastern und Tugenden die Entscheidung ausfechten.
   Die Aufstellung der Heere gibt dem Erzähler Gelegenheit zu extensiver Listung der Kom-
battanten: Insgesamt verfügt das vitium in den sieben Abteilungen der Todsünden (Pryde,
Envy, Wrethe, Covetyse, Glotony, Lechery, Slowthe) über 75 Unterabteilungen mit 100 Typen
von Übeltätern. Dagegen sammelt virtus, gewarnt von Morpheus, vermittelt durch ihre Botin
imagynacion und vorbereitet durch Baptym (= die Taufe), die Kardinaltugenden in vier Abtei-
lungen (unter der Führung von Ryghtwysnes, Prudence, Streyngth, Temperaunce), gefolgt von
sieben capteyns (Humylyté, Charyté, Pacyence, Lyberalyté, Abstynence, Chastyté, Good Besynesse)
und 68 Unterabteilungen mit 40 Typen von Wohltätern, die sämtlich namentlich aufgerufen
werden. Zu den Unterabteilungen zählt auch Konnyng (= cunning), die List und Klugheit.
Ihr gehören in einer inserierten Sonderliste alle artes und scienciae (inklusive magischer,
mantischer und physiognomischer Techniken, die freilich als Alliierte abgewiesen werden)
an. Im Falle einer Niederlage der Laster-Truppen kündigt Attropos an, dem Naturzusam-
menhang, den die Festversammlung repräsentiert, ihren Dienst zu entziehen. Darin deutet
sich eine wichtige Umakzentuierung der allegorischen Tableaus an: Der Triumph von Vertew
wird den Tod in seinen angestammten Wirkungsbereich zurückweisen, in die Natur und
Weltimmanenz, während der eigentlich transzendente Konflikt, der Streit zwischen Reson
und Sensualyte, in die Ethik und in die (christliche) Religion verschoben wird. Der Sieg geht
letztlich an die Tugend. Sie kämpft im Namen Jesu, der zugleich als Triumphator über den
Tod verherrlicht wird und dadurch Vertew zur Apotheose verhilft: Im Zeichen der Sakra-
mente übertreffen die zur christlichen virtus gesteigerten vires den paganen Götterapparat
der Naturkräfte, den sie gleichwohl als Fundament und Motor ihrer Signifikanz nutzen.
   Die Rahmung der Traumvision tut ein Übriges, um die interagierenden Götter- und
Tugend-/Lasterinventare ideologisch einzuordnen und zu einem dynamischen System der
Weltdeutung zusammenzuschließen: Hatte die Darstellung des Trauminhalts die Funktion,
den sinnlichen Erscheinungen und ihrer Wahrnehmung, der Sensualyté, ein rationales Schema
zu unterlegen, so erklärt der Rahmen jenes Schema gebundener Sinnlichkeit zum Organon
des Weltverstehens unter der Herrschaft der Dame Doctryne. Behütet vom Torwächter Wytte,
residiert sie in einer Laube, umgeben von Holy Texte, Glose, Moralyzation und ihrem Schreiber
Scrypture. In jener Konfiguration überträgt sie unter den Augen des aus seinem Traum erwa-
chenden Erzählers die Muster der Schriftauslegung auf das Buch der Schöpfung: Sie unterzieht
jedes Element der Vision einer Allegorese. Vorbereitet wird das schon im Prolog des Banquet.
Das Ich der Traumvision beschwört darin den Meister des Quadriviums, die Gründerfigur aller
messenden Disziplinen und den Entdecker des arithmetischen Bandes zwischen Musik und
Astronomie, Pythagoras, um in seinem Namen die zentrale Frage der Dichtung anzuzeigen:

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        To loke on Pictagoras speere I had begonne, / Syttyng all solytary alone besyde a lake, / Musyng
        on a manere how that I myght make / Reason and Sensualyté in oon to acorde. / But I cowde nat
        bryng about that monacorde. (V. 3–7)
Im Namen der pythagoreischen Kosmosharmonie sucht das Erzähler-Ich nach der Konso-
nanz von sensus und ratio, stößt aber, nachdem die von ihm imaginierte Festgesellschaft sich
feierlich zur Tafelrunde formiert hat, stattdessen auf Dyscord, die Dissonanz. Obwohl sie
den Tod, Dethe, auf den Plan ruft, wirkt sie in paradoxer Weise nicht einfach zerstörerisch.
Vielmehr dekonstruiert sie den Kanon der Götterversammlung, indem sie deren Harmonie
als eine concordia discors offenlegt, worin tiefgreifende Konflikte walten. Jener Einsicht in die
Unabwendbarkeit von Disharmonie und Tod – nichts anderes bedeutet ja der Rollenname
Attropos – entspricht die Haltung des erzählenden und räsonierenden Träumers: Melancholie
(Sadnesse) gibt den Grundton seiner Buchführung an. Sie steht am Anfang und am Ende
des Unternehmens, die verschiedenen Listen in der begrifflich geprägten Anschaulichkeit
allegorischer Katalogdichtung zusammenzuführen.31

VI. Rund zweihundert Jahre zuvor hat Konrad von Würzburg dasselbe Sujet des Gast-
mahls der Götter und Menschen in seinem Trojanerkrieg (1281/87) bearbeitet.32 Der
Krieg, der durch den Auftritt der Discordia ins Rollen kommt, ist auch hier eine Weltka-
tastrophe: Vom Hochzeitsfest der Thetis über den Zankapfel für die Schönste, den Streit
der drei Göttinnen und das Paris-Urteil mündet sie im Raub der Helena, im Kriegszug der
Griechen und in der destructio Troiae. Doch ist die untergehende Welt in Konrads Katalog
der Hochzeitsgäste anders konzipiert als im späteren Vergleichstext Banquet of Gods and
Goddesses. Das beginnt damit, dass als Ausrichter des Festes nicht der Sonnengott Apollo,
sondern Her Jûpiter, der hübsche – also: höfische – got (V. 813) genannt wird. Zudem greift
Konrad in die mythische Genealogie ein, indem er die mergötinne Thetis zu dessen swester
(V. 821) erklärt – gegen das Zeugnis der Metamorphosen Ovids, wo sie als eine von Zeus
selbst begehrte Nymphe vorgestellt wird. Damit gehen zwei Prinzipien in die Ekphrasis
ein, die den gesamten Roman prägen: Er zielt darauf, die Aitiologie der höfischen Leit-
werte êre und minne aus dem Gewaltzusammenhang des Kampfes um Troja abzuleiten.
Denn der Trojastoff bietet sich als säkular-historiographische Variante zum biblischen
Paradiesmythos an: Erklärt der Tabubruch Adams und Evas, wie das Menschengeschlecht
zur Fähigkeit gelangte, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden, so gehen aus dem
Trojanischen Krieg die Distinktionsmerkmale des Adels in Form einer Genealogie ständi-
scher Moral hervor. Vor Troja manifestiert sich historisch zum ersten Mal die axiologische
Korrelation von Liebe und sozialer Anerkennung durch ritterlichen Kampf, deren Balance
durch die Präsenz der Schönheit Helenas und durch das minnegeleitete Urteil des Paris
gestört wird: des wart vil manic lîp verlorn, / der von ir minne tôt gelac (V. 320 f.).
   Um die aristokratische Aura von der biblischen Adamskindschaft abzuheben, präsentiert
Konrads Genealogie der höfischen Moral das paradigmatische Paar Peleus und Thetis, das
Heros und Göttin miteinander verbindet, in bukolischer Umwelt. Darin leben die Götter

31 Die Pose des visionären Dichters erinnert an den ersten Reichston Walthers von der Vogelweide, der den Sänger,
   nachdenkend über die Unmöglichkeit, die sich auflösende Einheit der Welt in einem „Schrein“ zusammenzu-
   halten, als Melancholiker präsentiert.
32 Ich zitiere nach Keller (1965).

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als naturkundige Heiler, Zauberer und Erfinder niuwer liste. Sie verleiten durch ihre tech-
nisch-magischen Fähigkeiten die mit ihnen koexistierenden Menschen dazu, ihnen prîsant
und Opfer darzubringen, und verführen sie zur Anbetung ihrer bilde: zur Idolatrie. Insofern
wird das Problem, das im Trojanischen Krieg zum Ausbruch kommt, im Götterkatalog
Konrads exponiert. Bei ihm wie im Banquet of Gods and Goddesses geht es um das Exempel
einer durch Sinnlichkeit überwältigten Vernunft. Wie sich die antiken Götter ihre Ver-
ehrer mit Hilfe ihrer manipulativen Künste unterwerfen, so überwältigt Helena – schon
im homerischen Epos und der daran anknüpfenden mythologischen Tradition das Bild
schlechthin – als erotisches Phantasma das Urteilsvermögen ihrer Betrachter. Das ist ein
ernsthaftes, jederzeit aktuelles Problem, denn es betrifft kein historisch durch die christliche
Offenbarung überwundenes Stadium, sondern eine psychische Disposition, wie sie schon
in der Antike mit Helenas Wirkung verbunden wurde. Dazu bemerkt Roberto Calasso:

       Nach dem Zeugnis des Stesichoros und des Euripides war Helena ein Bild. Nach dem Zeugnis des
       Homer war Helena das Bild. Die homerische Sichtweise ist wesentlich schwieriger und mehr zu
       fürchten. Mit einem Bild umzugehen, von dem man weiß, daß ihm eine Realität gegenübersteht,
       impliziert eine geringere Spannung, als mit einem Bild zu verhandeln, von dem man weiß, daß es
       selbst Realität ist. Helena ist wie das Gold im Verhältnis zur Ware: zwar ist es selbst auch Ware,
       aber eine, die jede andere Ware darstellen kann. Bild ist eben dieses Darstellen.33

Jupiters Hof führt entsprechend in seiner paradigmatischen Exposition durch die Katalog-
form jenen Stoff vor Augen, aus dem sämtliche Phänomene seiner sozialen Realität gemacht
sind. Deshalb setzt er sich aus einer Anzahl spezialisierter Ämter und ihrer Funktionsfelder
zusammen, wie sie den einzelnen Gottheiten zugeteilt sind: Apollo ist der Meister aller
arzenîe list, Mars beherrscht aller strîte meisterschefte, Cupide firmiert als der minne schütze,
Mercurius als aller göte bote, Bache ist des wînes got, Emineus (= Hymenaeus) der Gott, der
aller briuteloufte wielt, Neptune erkande wol die lûne / der wazzer und der wilden mer, die
Oreades sind die götinn aller berge hôch, Juno fungiert als des wirtes wîp und ist als Juno
Moneta zugleich die Gottheit, diu schatzes unde guotes wielt, die Dryades sind der boume
küniginne, Pallas götinn aller wîsheit, Ceres versteht sich auf die tugent aller sæte, Venus
dominiert die minne, Najades heißen die Nymphen, die der fontânen wielten, Amadryades
bezeichnen der bluomen küniginne, Dyane schließlich beherrscht vor allen anderen die
jegerîe. Als menschliche Gäste erscheinen Priamos, Hector und Elenus sowie incognito, als
Hirte verkappt, Paris: die prominentesten Vertreter des Trojanischen Königshauses.
   Adlige Menschen und Götteradel begegnen einander gleichberechtigt in einer Gemein-
schaft der Auserwählten, die in je einer Hinsicht unvergleichbar und besonders tugendhaft
erscheinen, weil sie durch partielles Wissen und Können zu Besonderem tauglich und im-
stande sind. Das gilt in makrokosmischer Dimension für die Natur- und Kulturtechniken,
führt aber über die Kategorie des Bildes auch zum Mikrokosmos der seelischen facultates:
Sie erzeugen ja allererst die Realität der höfischen Welt bzw. Helenas. Wenn daher bei
Konrad – anders als im Banquet – die christlichen Tugend- und Lasterkataloge als regula-
tive Vorstellungen fehlen, dann geht es im Götterkatalog des Trojanerkriegs offenbar nicht
um das Disziplinieren der Sinnlichkeit, sondern im Sinne Augustins darum, die Götter

33 Calasso (1990, 387).

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unter die daimones zu versetzen: unter jene mediatisierenden Kräfte zwischen Mensch und
Gottheit, durch die sich Außenwelt in Innenwelt verwandelt und Phänomene der einen sich
phantasmatisch in Antriebe der anderen übersetzen lassen. Damit schließt Konrad in seinem
Katalog freilich nicht an die Polemik des Augustinus an, sondern erschließt poetisch ein
enorm gesteigertes affektives Potential. Dessen Intensität lässt sich ebenso in allen Einzel-
heiten zum Panorama des Kriegsgeschehens ausfalten wie in detaillierten Beschreibungen
menschlicher Artefakte konzentrieren, etwa im Apfel der Discordia, dessen Ekphrasis die
Widersprüche so zusammendrängt, dass er in nuce den gesamten Krieg versinnbildlicht.34

VII. Ein anderer Götterkatalog, den Rudolf von Ems in seine Weltchronik (um 1220–1254)
inseriert,35 trennt Namen und Funktionen, offenbar um anzuzeigen, dass es kein wahres, ein-
heitliches Kriterium gibt, um die Exzellenz der Götter gegenüber den Menschen abzusetzen:
        in swelhin dingin ie der man / was uf der erde vollekomin, / darubir wart er so genomin / ze gote
        von der tumbin diet, / als in des túvils spot geriet. / der wart durh sine herschaft / ze gote irchorn
        und durch kraft, der dur wisheit, der dur kunst, / der durh sterche, der durh gunst, / der durh
        húbscheit, der durh zuht, / der durh edils kúnnes fruht, / der durh liebi, der durh forhte, / ie nah
        dén werken dú er worhte, / der durh zoubirlichiu list. (V. 3183–3196)

In einigem Abstand folgt dann die Aufzählung der numina. Sie macht keinen Unterschied
zwischen Göttern und Heroen, da beide Gruppen gleichermaßen nur ‚überkräftige‘ Männer
und Frauen bezeichnen. Damit verflüchtigt sich – wiederum im Anschluss an Augustinus
– die transzendente Dimension des Katalogs. Er fällt folglich in zwei Listen auseinander,
wenn die Namen den Qualitäten nachgetragen werden:
        daz sag ich iuh als ich ez las. / Demorgon der erste was, / der uber chriechschú lant / wart ein
        werdir got irchant / nah der verworhtin heidin ê. / noh wart der valschen gôte me, / die dú scrift
        úns nennet sus: / Mars und Saturnus, / Jupiter unde Archas / und der sternwarter Atlas, / Pollux
        unde Castor, / die dú tumbe diet embor / truoc in ir herzen sere / und bot in gotlich ere; / Phebus
        und Neptûnus, / Fulcanus und Mercurius, / Appollo und Hercules, der kraft / gediende alsolhe
        herschaft / das si wurdin ouh genant / ubir allir Chriechin lant / an helfe krefte riche gôte. […]
        die gottinne hiezin so: / Pallas unde Juno, / Venus und Dyana, / Ceres und Europa, / Tethis und
        Minerva, / und einú hiez Latona, / von der Appollo wart geborn. (V. 3204–3237)36

Zwar spielt der Bezug beider Listen aufeinander immer noch mit der Totalitätssuggestion des
Katalogs. Doch dominiert der Eindruck, dass die formale Trennung von Eigenschaften und
Namen eher die Substanz- und Bodenlosigkeit der Idolatrie erweisen soll. Die Menschen,

34 Vgl. Scheuer (2006, bes. 60 ff.).
35 Zitiert nach Ehrismann (1915). Der Götterkatalog folgt auf ein topographisches Inventar der Welt, nachdem
   die drei Noahsöhne Sem, Ham und Japhet sie untereinander geteilt und territorialisiert haben. Das religiöse
   Profil steht mithin in Zusammenhang mit genealogischen, geologischen und ethnologischen Gegebenheiten.
36 Der erste Name des Katalogs, Demorgon, dem aufgrund seiner Anciennität bei Rudolf von Ems die höchste
   Geltung zukommt, geht auf den Statius-Kommentar des Lactantius Placidus zurück. Der Kommentator
   spricht in seiner Bemerkung zum IV. Buch der Thebais von einer Gottheit über allen anderen Göttern, deren
   eigentlicher Name nicht gewusst werden dürfe: dicit autem deum δ ημ ι ου ρ γ ό ν cuius scire nomen non licet. Jener
   Demiurg wird in der lateinischen Manuskriptüberlieferung zu demogorgon verschrieben und entwickelt ein
   mythographisches Eigenleben, das bis heute nachwirkt. Davon legen Boccaccios De Genealogia Deorum oder
   Hans Sachsens Kataloggedicht Der zwainzig götter aigenschaft ebenso Zeugnis ab wie moderne Adaptationen
   im Fantasy-Rollenspiel Dungeons and Dragons oder in der Netflix-Serie Stranger Things.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                       Peter Lang
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