Hört auf die Beschäftigten! - Arbeiterpolitik

Die Seite wird erstellt Thorben-Hendrik Raab
 
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6 2 . Ja h rga ng · N u m m e r 3 · a p r i l 2 0 21 · EUR 2 , 5 0

                          IN F O RMA T I O N S B RIE F E D ER GRUPPE AR B EI T ERP O LI T I K

n Ko r r e s p o n d e n z : S o l i da r i tät m i t d e m P e r s o n a l i n d e n K r a n k e n h äu s e r n

Hört auf die Beschäftigten!
Zum Ende des letzten Jahres führte die Entlassung der               Das ist nicht zu schaffen.« (Fachkrankenschwester auf
Krankenschwester Romana Knezevic aus dem Askle-                     der Intensivstation am Klinikum St. Georg). Eine andere
pios-Klinikum Sankt Georg zu breiter Empörung in                    Kollegin im Bericht des NDR: »Ich kann auf der Intensiv-
Hamburg und darüber hinaus. Was war geschehen?                      station keine adäquate Sterbebegleitung machen.« Und
                                                                    eine weitere Fachkrankenschwester bestätigt, dass sie
Am 17. Dezember hatte Romana Knezevic in einem In-                  auch mit Putzarbeiten beschäftigt waren.
terview mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) den                        Kurz vor Weihnachten leitete die Klinikleitung das
Personalmangel und die daraus resultierenden Arbeits-               Kündigungsverfahren gegen Romana Knezevic ein. Ein
belastungen im Klinikum Sankt Georg kritisiert. Die Re-             Asklepios-Sprecher      erklärte   gegenüber    der    taz
aktion der Klinikleitung kam prompt. Chefarzt Bertold               (28.12.2020): »Bei allem Verständnis für teils berechtigte
Bein wies am nächsten Tag im NDR alle Vorwürfe zurück.              Kritik am Gesundheitssystem ist es gleichwohl nicht hin-
    Auf einer Kundgebung am 21. Dezember vor dem Kli-               nehmbar, dass Mitarbeiter aus ideologisch-politisch moti-
nikum St. Georg bestätigten jedoch Kolleginnen und Kol-             vierten Gründen gegenüber Medien wissentlich Falsch-
legen die Kritik an den Zuständen gegenüber dem NDR:                meldungen verbreiten oder Ausnahmesituationen als
»Was ich, vor allem in der letzten, Zeit erlebe, dass wir in        Regelfälle darstellen.« Der eigentliche Grund: Asklepios
jeder Schicht zu wenig Personal haben, dass wir drei oft            will eine gewerkschaftlich und politisch engagierte Be-
vier, es kommt auch vor, dass wir fünf hoch intensiv-               schäftigte loswerden, die auch als Vertreterin ihrer Kol-
pflichtige Patienten gleichzeitig in der Versorgung haben.          leginnen und Kollegen Mitglied im Betriebsrat ist. »Der

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Fotos: www.hamburger-krankenhausbewegung.de

Versuch, unserer Kollegin zu kündigen, wird auf den Sta-         Die Unterstützer Knezevics fordern unterdessen auch
 tionen als durchsichtiger Einschüchterungsversuch wahr-      den Hamburger Senat auf, sich aktiv einzuschalten. Der
 genommen und sorgt für Wut«, so die Mitteilung der           hält zurzeit 25,1 Prozent am Klinikum und solle auf Askl-
‚Hamburger Krankenhausbewegung‘. (taz, 28.12.2020)            epios einwirken, damit die Kündigung vom Tisch
     Rechtskräftig ist die Entlassung noch nicht, denn die    komme.«1
 fehlende Zustimmung des Betriebsrates muss Asklepios            Am 27. Januar gab das »Hamburger Bündnis für mehr
 durch ein entsprechendes Urteil des Arbeitsgerichtes er-     Personal im Krankenhaus« folgende Pressemitteilung
 setzen lassen. Dafür wurde der 1. Februar als gericht-       heraus (siehe Kasten):
 licher Gütetermin angesetzt. Bis dahin wurde Romana,
 trotz des Mangels an Pflegekräften, mit sofortiger Wir-
                                                              1   Junge Welt, 26.01.2020
 kung vom Dienst suspendiert.
     Die Leitung von Asklepios hat das Gegenteil des Ge-
 wollten erreicht. Weder konnte sie die Beschäftigten ein-
 schüchtern noch die öffentliche Diskussion über die Ar-              H e f t N r. 1 / 2 · J a n u a r 2 0 2 1 · J g . 6 2
 beitsbedingungen unterbinden. So wurde eine tägliche
 Mahnwache vor dem Sankt-Georg-Klinikum organisiert.          Klinikum St.Georg
 Dort informieren Aktive der ‚Hamburger Krankenhaus-          Hört auf die Beschäftigten!                                                       1
 bewegung‘ und des ‚Bündnisses für mehr Personal im
 Krankenhaus‘ über den Rausschmiss und über die Situa-        Nach dem Klatschen kommt die Klatsche                                             6
 tion im Klinikum.                                            Buchvorstellung: Markt zerfrisst Gesundheitswesen!                                8
     »Die Solidarität der Bevölkerung sei ‚überwältigend‘,
                                                              Massenkündigung bei Durstexpress                                                10
 schilderte eine Pflegekraft gegenüber jW. So käme der Ein-
 wohnerverein des Viertels jeden Tag vorbei und bringe        Ver.di-Vorsitzende des Hauptpersonalrates Berlin
 heiße Getränke. Solidaritätserklärungen aus dem ganzen       nach Absprachen mit dem Beamtenbund und den
 Bundesgebiet flatterten den Unterstützern von Romana         Unabhängigen gewählt                                                            12
 Knezevic ins Haus. Dass ‚der Hilfeschrei einer Pflegerin‘
                                                              Thyssenkrupp: Fall ins Bodenlose?                                               14
 eine derartige Reaktion der Geschäftsleitung hervorrufe,
 mache ‚viele Menschen wütend‘, sagte eine Aktivistin ge-
 genüber jW.                                                  Ein Jahr rassistische Morde in Hanau
     In einer Petition verlangt die ‚Hamburger Kranken-       Die Angehörigen der Opfer kämpfen um Aufklärung 15
 hausbewegung‘ des Weiteren, dass die ‚Einschüchterung‘
 von Beschäftigten durch Asklepios ein Ende haben müsse.      Darmstadt: #SayTheirNames                                                       18
 Diesen Aufruf haben inzwischen 8.000 Menschen unter-         Gedenken in Siegen                                                              19
 zeichnet.
                                                              Breite Mobilisierung in Berlin                                                  20
     Auf Kritik war bei den Aktivisten das anfängliche Ver-
 halten von ver.di gestoßen. Zwar unterstützen die Rechts-
 anwälte der Gewerkschaft die von Kündigung bedrohte          Zur Diskussion über die Initiative #zero-covid
 Betriebsrätin, doch sei die Unterstützung von ver.di für     Lohnarbeit und Kapital in Zeiten von Corona                                     21
 Romana Knezevic ‚zunächst zu zaghaft gewesen‘, hieß es
 aus Kreisen der Aktiven gegenüber jW. Ähnlich sieht das
Angelika Teweleit. Die Sprecherin der Vereinigung für
 kämpferische Gewerkschaften (VKG) kritisierte am Mon-
 tag im jW-Gespräch folgendes: Wenn eine ‚ver.di-Betriebs-
 rätin gekündigt werden soll, weil sie Missstände öffent-            Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: A. Karaberis
 lich macht‘, sei dies ein Angriff auf alle Pflegenden, die       Herstellung und Vertrieb: GFSA – Gesellschaft zur Förderung des
 sich gegen ‚die schrecklichen Auswirkungen des Profit-                 Studiums der Geschichte der Arbeiterbewegung e.V.
                                                                         GFSA e.V. • Postbank Hamburg • BIC: PBNKDEFF
 strebens‘ zur Wehr setzten. Verdi müsse hierauf ‚mit einer
                                                                               IBAN: DE 28 2001 0020 0410 0772 05
 bundesweiten Kampagne‘ reagieren, so Teweleit. ‚Wir              Zuschriften an: GFSA e.V. • Postfach 106426 • 20043 Hamburg
 sind alle Romana‘, erklärte sie.                                  e-mail: arpo.berlin@gmx.de • Internet: www.arbeiterpolitik.de

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Solidarität mit Romana
Aus Anlass des Versuches der Asklepios-Kliniken, der                 • Aufstockung auch der Service- und Reinigungskräfte,
 Pflegekraft und Betriebsrätin Romana Knezevic zu kün-                 um das Pflegepersonal von deren Arbeiten zu entlasten;
 digen, nachdem diese über Missstände in den Kranken-                • Verzicht auf elektive Eingriffe, solange die Corona-Pan-
 häusern öffentlich berichtet hatte, veranstaltet das Ham-             demie nicht in den Griff zu kriegen ist;
 burger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus am                  • sichere Ausstattung der Beschäftigten mit wirk-
 Sonntag (31.01.2021) – am Tag vor dem ersten Arbeits-                 samen persönlichen Schutzausrüstungen gegen Anste-
 gerichtstermin –eine Protestversammlung auf dem Rat-                  ckungen;
 hausmarkt.                                                          • speziell an die Behörde: »Reden Sie auch mit den Be-
     Das Bündnis stellt sich damit gemeinsam mit der                   schäftigten und nicht nur mit den Krankenhausbetrei-
 Hamburger Krankenhausbewegung an die Seite von Ro-                    bern!«
 mana Knezevic – Wir sind alle Romana! Die Forderungen
 richten sich sowohl an den Asklepios-Konzern als auch               Ein entsprechender Appell »Hört auf die Beschäftigten!«
 an die Sozialbehörde, die die Aufsicht über die Kranken-            wird mittlerweile von 37 Organisationen, Initiativen und
 häuser führen sollte:                                               Bündnissen aus der Zivilgesellschaft sowie prominenten
• keine Kündigung wegen kritischer Äußerungen, nicht                 Hamburger*innen unterstützt. Alle Unterzeichner*innen
  von Romana Knezevic und auch nicht von anderen;                    finden sich auf https://pflegenotstand-hamburg.de/hoert-
• wirksame Maßnahmen gegen den von Klinikbetreibern                  auf-die-beschaeftigten
   und Gesundheitspolitikern verursachten Personalnot-
   stand;

Am 31. Januar, einen Tag vor dem gerichtlichen Güteter-              gt – aufgrund vorausgegangener Auseinandersetzungen
min, fanden sich trotz der Kälte gut 100 Unterstützende              mit Asklepios jetzt leider nicht bei uns.
mit zahlreichen Transparenten zu einer Protestversamm-                   2004: Aus der angekündigten Rationalisierung wird
lung vor dem Hamburger Rathaus ein.                                  Privatisierung – der Hamburger Senat genehmigt den
                                                                     Verkauf des LBK an Asklepios zunächst nur zu 49,9 %,
                                                                     um die Bevölkerung ruhig zu halten und dem Wider-
                                                                     stand der Gewerkschaftsbasis zu begegnen – unsere Ge-
Ein Redebeitrag vom 31. Januar 2021:                                 werkschaftsvorstände, orientiert an der in Hamburg re-
‘Nichts werde natürlich genannt                                      gierenden SPD, stimmen wie bei der Schließung des
 in solcher Zeit blutiger Verwirrung                                 Hafenkrankenhauses zu. Seit 2007, drei Jahre danach
 verordneter Unordnung                                               und gültig bis heute, bleibt Hamburg nur die ‚Sperrmino-
 planmäßiger Willkür‘                                                rität‘ von 25,1 %.
              B. Brecht, aus ‚Die Ausnahme und die Regel‘, 1930–31       Und an die erinnern wir Sie jetzt: Setzen Sie sich mit
                                                                     dieser verbleibenden »Sperrminorität« und Ihrer Autori-
Solidarität mit Romana Knezevic und ihren Kolleginnen                tät dafür ein, dass Romana Knezevic Betriebsrätin und
und Kollegen, auch im Namen des ver.di-Ortsvereins                   Beschäftigte bei Asklepios bleibt!
Hamburg und in Erwartung, dass sich alle Gewerk-                         Und, im Einvernehmen mit Romana: Es geht nicht
schaften in Hamburg und bundesweit unserem Protest                   nur um sie und die ihr angedrohte Entlassung – es geht
anschließen!                                                         vor allem auch um ihre Kolleginnen und Kollegen, es
    Vorab an die für das Gesundheitswesen Zuständigen                geht um Patienten, die unter den Folgen der profitorien-
hier im Rathaus und an den Mediziner (!) und Bürger-                 tierten Maßnahmen von Asklepios leiden, es geht um die
meister Peter Tschentscher: 1997 haben Ihre Vorgänger                Beseitigung des zitierten »medizinischen Vakuums, das
aus Kostengründen das Hafenkrankenhaus schließen                     Menschen mit dem Leben bezahlen« – nicht nur in Ham-
lassen – gegen alle Proteste. Mehr als 5000 waren damals             burg. Es geht um Überwindung der Konkurrenz sozialer
auf der Straße, bei den Demonstrationen läuteten die                 Einrichtungen und Krankenhäuser auf dem »Markt der
Glocken Hamburger Kirchen. Antwort der Behörde für                   Gesundheitsanbieter«, damit das Verhältnis Arzt-Patient
Arbeit und Soziales, jeglichen Widerstand missachtend:               nicht weiter verkommt zur profit-orientierten Geschäfts-
»Es wird im LBK (Landesbetrieb Krankenhäuser) Ham-                   beziehung. Schluss mit ‚Menschen als Kostenfaktor‘,
burg kein Krankenhaus geben, das von Rationalisierungs-              Schluss mit: ‚Wer nicht zahlen kann, stirbt früher‘!
maßnahmen verschont bleibt.« Vergeblich warnte Chef-                     Ob Widerstand gegen die Arbeitsbedingungen bei As-
arzt Dr. Seidel: »Es wird ein medizinisches Vakuum                   klepios oder der Verteidigung von Grundrechten bei Co-
entstehen, das Menschen mit dem Leben bezahlen wer-                  vid19: Lasst uns im Blick behalten die Alternative zum
den.« Heute, auch infolge der Pandemie, bewahrheitet                 Neoliberalismus, der diese Missstände zur Folge hat. Ge-
sich seine Voraussage.                                               sellschaftliche Veränderungen müssen erkämpft werden,
    Dezember 2001: Olaf Scholz, damals noch Innensena-               nicht allein von den jeweils Beschäftigten, sondern ge-
tor, verordnet den Brechmitteleinsatz, bei dem Achidi                meinsam mit anderen, die – wie wir – anfangen die der-
John aus Nigeria qualvoll getötet wurde. Am nachträg-                zeitigen Verhältnisse und ihre Entwicklung infrage zu
lichen Protest vorm UKE war Dr. Montgomery – heute                   stellen: die Gesundheitsverhältnisse in ihrer Gesamtheit,
Vorsitzender des Weltärztebundes – redeführend beteili-              die fortgesetzten Krankenhausschließungen, Wohn-

A r b e i t e r p o l i t i k N r . 3 · A p r i l 2 0 21                                                                     3
Kundgebung am 31. Januar 2021 vor dem Rathaus                                                          Foto:Reinhard Schwandt

raumnot, Rüstungsproduktion und Waffenexporte, Ex-           und Mitarbeiter unseres Hauses seit einem Jahr vor be-
pansionspolitik und Kriegsvorbereitungen, Klimabewe-         sondere physische und psychische Herausforderungen.
gungen, Rassismus und, und, und.                             Wir können verstehen, dass eine Mitarbeiterin die extrem
   Zum Schluss, gerichtet an bei Asklepios und in ande-      schwierige und das Pflegepersonal stark belastende Situ-
ren Krankenhäusern Beschäftigte, die Euch noch nicht         ation auf der Intensivstation öffentlich macht, auch wenn
unterstützen – nochmals mit Bertolt Brecht:                  diese selbst nicht auf einer Intensivstation arbeitet. Dies
                                                             entbindet unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter je-
‚Nun zu Euch, Ärzte und Pfleger. Wir denken                  doch nicht bei medialen und öffentlichen Aussagen den
Auch unter euch muss es etliche geben                        Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu überprüfen – beson-
 Wenige vielleicht, aber doch etliche, die                   ders dann, wenn die Aussagen auf Hörensagen beruhen.
 Sich erinnern an die Verpflichtung denen gegenüber, die         Bitte lassen Sie mich festhalten: Die im Interview ge-
 Menschenantlitz tragen wie sie. Diese                       troffenen Aussagen sind nicht zutreffend.
 Fordern wir auf, unsere Kranken zu unterstützen                 Trotzdem haben wir bereits am 04. Januar 2021 in
 In ihrem Kampf gegen die Krankenkassen und die              einem gemeinsamen Gespräch mit Frau Knezevic und
 Gebräuche der Krankenhäuser                                 dem Vorsitzenden unseres Betriebsrats – Herrn Dr. Küh-
 Die unterdrückte Klasse betreffend.                         nau – die Hand ausgestreckt und Möglichkeiten für eine
 Wir wissen, dazu müsst ihr                                  Rücknahme des eingeleiteten Verfahrens (eine Kündi-
 Euch in Kämpfe verwickeln mit andern, den willfährigen      gung wurde noch nicht ausgesprochen) angeboten und
 Werkzeugen                                                  erörtert.
 Der Ausbeutung und des Betrugs. (…)                             Frau Knezevic hat uns über Ihren Anwalt mitteilen
 Kämpft mit uns!‘                                            lassen, dass Sie zu diesem Schritt nicht bereit sei. Somit
                        Aus Svendborger Gedichte 1933-1938   konnten wir das laufende Verfahren bislang leider nicht
                                                             aus der Welt schaffen, ich bitte dafür um Verständnis.«
Kämpft mit uns – mit Romana, ihren Kolleginnen und
Kollegen, mit allen, die sie unterstützen!                   Abschwören und auf Gnade hoffen: Das »Gesprächs-
                                                             angebot« war im Einvernehmen mit Romana von den
                                                             Schreibenden des Offenen Briefes abgelehnt worden, es
                                                             sei denn, die Asklepios-Leitung sei bereit die beantragte
                                                             Kündigung zurückzunehmen.
Arbeitsgericht Hamburg, 1. Februar 2021:                         Der Gütetermin verlief dem zitierten Brief entspre-
                                                             chend: Romana blieb bei ihren Aussagen, die Geschäfts-
Dem Gütetermin war am 19. Januar ein offener Brief von       führung bei ihrer Forderung an den Betriebsrat dem
Mitgliedern des Einwohnervereins im Stadtteil St. Georg      Kündigungsantrag zuzustimmen. Zwar wurde noch ein
an die Leitung des Asklepios-Krankenhauses voraus-           weiterer Gütetermin vorgeschlagen, der nach Ansicht
gegangen, in dem die Forderung sofortiger Rücknahme          des Anwaltes von Romana verlaufen werde wie der erste.
der Kündigung von Romana begründet wurde. Der ge-            Für Mai sei der Gerichtstermin vorgesehen, in dem ein
schäftsführende Direktor des Klinikums, Thomas Rupp,         Urteil gesprochen werde.
hatte daraufhin ein Gespräch vorgeschlagen:                      Die Proteste gehen weiter. Bereits vor dem Arbeitsge-
   »Wir freuen uns sehr, dass Sie die Entwicklung un-        richt deutete sich das mit der Beteiligung von etlichen
serer Klinik so engagiert begleiten. Auch müssen wir Ih-     Asklepios-Beschäftigten und etwa 100 Unterstützenden
nen zustimmen: Die Pandemie stellt alle Mitarbeiterinnen     an. Am Folgetag eine Video-Konferenz mit etwa 60 Betei-

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ligten, darunter wieder mehrere Kolleginnen und Kolle-      Aus der Stellungnahme
gen von Romana, die nicht nur zu einer weiteren Protest-
kundgebung wurde, sondern wo durch die Schilderungen        der Hamburger Krankenhausbewegung
von Schwestern der Intensiv- und anderer Stationen des
Klinikums und Mitgliedern des Pflegepersonals belegt        »Liebe Freundin / Lieber Freund würdiger Bedingungen
wurde, was Romana öffentlich gemacht hatte: die Über-       in Hamburgs Krankenhäusern, der gemeinsame Druck
forderung der Beschäftigten, die Zumutung permanenter       aus Stadt und Krankenhäusern zeigt erste Wirkung! Askl-
physischer und psychischer Überbelastung.                   epios hat den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung von
                                                            Romana Knezevic vor dem Arbeitsgericht Hamburg zu-
                                                            rückgezogen. Damit gesteht Asklepios ein, dass Romanas
                                                            Aussagen über die Folgen des Personalmangels an den
»Nach Streit mit Pflegerin: Asklepios zieht                 Hamburger Krankenhäusern ins Schwarze treffen und
überraschend Kündigung zurück                               der Vorwurf der Falschbehauptung keiner gerichtlichen
                                                            Prüfung standgehalten hätte.
Die Kündigung der Hamburger Krankenschwester Roma-              […] Von der Online-Stadtversammlung mit 170
na Knezevic hat große Wellen geschlagen. […] Der Fall       Teilnehmer*innen aus der ganzen Stadtgesellschaft ging
ging vor Gericht – jetzt zog das Klinikum die Kündigung     das Signal aus: Hamburg verhandelt mit! Die Gesund-
zurück. […]                                                 heitsversorgung in dieser Stadt geht alle an. Hunderte
   Auf MOPO-Nachfrage beim Unternehmen teilte ein           Emails sind in den Tagen nach der Online-Stadtversam-
Sprecher mit:                                               mlung an Asklepios und Sozialbehörde gegangen. Die
   ‚Asklepios hat sich entschieden, die arbeitsrechtliche   Online-Petition hat über 10 000 Unterschriften erreicht.
Auseinandersetzung mit dem Betriebsrat der Asklepios        Dutzende Solidaritätserklärungen aus diversen Ham-
Klinik St. Georg im Zusammenhang mit der beabsichtig-       burger Betrieben, Einrichtungen und Vereinen erreichten
ten Kündigung der Pflegekraft zu beenden. Unser aller       die Krankenhausbeschäftigten. Und die wochenlange
Anliegen ist es, das wichtige Berufsbild der Pflege zu      Dauerkundgebung von Krankenhausbeschäftigten aus
stärken.‘ […] Die Krankenhausbeschäftigten sehen sich in    vielen Häusern vor dem AK St. Georg wurde aktiv aus
der Rücknahme der Kündigung in ihrer Kritik bestätigt.      dem Stadtteil und darüber hinaus unterstützt. […] Die-
[…] Die Fragen, die Knezevic aufgeworfen hat, bleiben       sen Druck haben Asklepios, Senat und Sozialbehörde
dennoch offen, heißt es in der Mitteilung weiter. Diese     gespürt! Und deshalb ist jetzt die große Chance da, den
Auseinandersetzungen sollen jetzt transparent und ‚ohne     Schwung aufzunehmen und mit noch mehr Druck und
Einschüchterung‘ weitergeführt werden.« (Hamburger          Solidarität die Krankenhausträger und politisch Verant-
Morgenpost vom 17.02.2021)                                  wortlichen endlich zum Handeln zu bewegen.
                                                            Schaffen wir endlich sichere und würdige Bedingun-
                                                            gen an unseren Hamburger Krankenhäusern!«
Romana Knezevic mailte am 17. Februar u.a.:                                                      R.HH., 01.03.2021 n

»Wir haben ganz klar bewiesen, wie viel man errei-
chen kann, wenn alle zusammenhalten! Und das war             Eine Darstellung der Privatisierung der städtischen
erst der Anfang! Jetzt geht es mit geballter Power da-       Krankenhäuser in Hamburg im Jahre 2005 findet ihr
rum, dass die Arbeitsbedingungen in den Kliniken sich        auf unserer webseite: https://arbeiterpolitikde.
endlich verbessern!                                          Der Download am Ende des Artikels »Solidaritaet mit
Ganz lieben Gruß                                             dem Personal in den krankenhaeusern«
Romana«

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Quelle: FototeamHessen, ReinerKunze

n C a r i ta s v e r h i n d e rt a l lg e m e i n v e r b i n d l i c h e n Ta r i f v e rt r ag Pf l e g e

Nach dem Klatschen kommt die Klatsche
Als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie Fahrt auf-                    Wohlfahrtsverbände (außer dem »Diakonischen Dienst-
nahm und die Pflegekräfte in Krankenhäusern und in                     geber in Niedersachsen«).
der Alterspflege an die Grenzen ihrer Belastbarkeit ka-                    Am 29.1.2021 konnte sich ver.di mit dem BVAP
men, wurde ihnen allgemeines Wohlwollen und Wert-                      schließlich auf einen Tarifvertrag einigen und beide
schätzung entgegengebracht. Mancherorts klatschten                     Parteien kündigten an, dafür beim Arbeitsminister die
die in ihre Wohnungen verbannten Bürger*innen nach                     Allgemeinverbindlichkeit zu beantragen. Dieses Vor-
italienischem Vorbild von den Balkonen, und die Politik                haben stieß auf den entschiedenen Widerstand des Ar-
versprach, die Situation der Pflegenden grundlegend zu                 beitgeberverbands Pflege (AGVP), in dem vor allem die
verbessern.                                                            privaten Unternehmen zusammengeschlossen sind. Prä-
    Ein Schritt war die Erhöhung des Mindestlohns in                   sident dieses Verbandes ist der ehemalige FDP-Politiker
der Pflege, der höher ist als der gesetzliche Mindestlohn.             Rainer Brüderle. Der AGVP drohte eine Klage an und be-
Eine Verbesserung stellte diese Maßnahme vor allem für                 hauptete, der ausgehandelte Tarifvertrag binde weniger
Beschäftigte in Ostdeutschland und in einigen privaten                 als drei Prozent der deutschen Altenpflegeunternehmen.
Pflegeheimen dar. Der große Wurf wurde aber von Ge-                    Außerdem wurde ver.di mit drastischen Worten die Ko-
sundheitsminister Spahn und vor allem von Arbeitsmi-                   alitionsfähigkeit abgesprochen: »Für einen deutschland-
nister Heil mit der versprochenen Allgemeinverbindlich-                weit gültigen Tarifvertrag in der Altenpflege müsste die
keit der Tarifverträge im Pflegebereich angekündigt. Auf               Gewerkschaft ver.di deutschlandweit durchsetzungsfähig
Antrag der Tarifvertragsparteien kann ein Tarifvertrag                 sein und mit ihren Mitgliedern die Interessen der Arbeit-
vom Bundesarbeitsminister als »allgemeinverbindlich«                   nehmer deutschlandweit notfalls mit Streik durchsetzen
erklärt werden, wenn der Vertrag »im öffentlichen Inte-                können. Hierfür fehlen ver.di alle Voraussetzungen. Un-
resse« ist. In diesem Fall erhält der Tarifvertrag quasi Ge-           ter den Altenpflegekräften von Bayern bis Vorpommern
setzescharakter und es müssen sich auch die Unterneh-                  haben ver.di-Mitglieder Seltenheitswert. In der ambu-
men daran halten, die nicht im Arbeitgeberverband sind.                lanten Pflege kennen die Arbeitnehmer ver.di bestenfalls
Die früher geltende Bedingung, dass der Tarifvertrag                   vom Hörensagen. Mit ihren wenigen Mitgliedern unter
mindestens für die Hälfte der betroffenen Beschäftigten                den deutschlandweit 1,2 Millionen Arbeitnehmern in der
gelten müsse, wurde 2018 abgeschwächt. Heil behauptete,                Altenpflege gehört ver.di auf die Rote Liste der ausster-
das Gesetz sei nun soweit geändert, dass ein allgemein-                benden Arten.« Diese Einschätzung ist sicher überzogen,
verbindlicher Tarifvertrag in der Pflege möglich sei. Für              verweist aber auf real existierende Probleme von ver.di
die Politik war dieses Thema auch deshalb wichtig, weil                im Pflegebereich.
es wegen der miesen Arbeitsbedingungen in der Pflege                       Die Hoffnung für ver.di waren nun die kirchlichen
sehr schwer ist, überhaupt Personal zu finden. Viele, die              Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonisches Werk. Mit
sich mit der Pflege beschäftigten, waren allerdings von                ihrer Zustimmung zum Tarifvertrag wäre der Geltungs-
Anfang an skeptisch, ob angesichts der zersplitterten Si-              bereich erheblich ausgedehnt worden und die Chancen
tuation im Pflegebereich eine Allgemeinverbindlichkeit                 für eine Allgemeinverbindlichkeit wären gestiegen. Im
überhaupt realistisch ist.                                             Vorfeld gab es wohl intensive Gespräche von ver.di mit
    Verhandlungen über einen solchen Tarifvertrag be-                  Caritas und Diakonie zu diesem Thema. Am 25. Febru-
gannen schon im Oktober 2019 zwischen ver.di und                       ar jedoch machte die Caritas einen Strich durch diese
der »Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pfle-                    Rechnung und lehnte den Tarifvertrag ab. Interessant
gebranche (BVAP)«, in der vor allem freie Wohlfahrts-                  dabei ist, dass die von der Caritas gezahlten Gehälter in
verbände wie der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die                    der Regel über denen liegen, die im Tarifvertrag mit der
Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Diakonische Dienstgeber                   BVAP festgelegt wurden. Teilweise hätte aber auch die
in Niedersachsen, der Paritätische Gesamtverband und                   Caritas Löhne erhöhen müssen. Doch dürfte das Geld
die Volkssolidarität zusammengeschlossen sind. Private                 hier eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die offizi-
Unternehmen fehlen fast gänzlich, ebenso wie kirchliche                elle Begründung der Caritas gibt sich sehr sozial: Wenn

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der Tarifvertrag allgemeinverbindlich werde, würden          nun »Scheinheiligkeit« vorgeworfen. Das wäre ein neuer
die Pflegekasse und andere Kostenträger die Zahlung für      Ton in der Auseinandersetzung. Ver.di hofft nun darauf,
Leistungen an diesem Tarif orientieren und die höheren       die Löhne durch eine erneute Anhebung des Pflegemin-
Kosten bei anderen Einrichtungen nicht mehr finanzie-        destlohns verbessern zu können. Hier haben die privaten
ren. Das aber stimmt nicht: Das Sozialgesetzbuch regelt      Arbeitgeber nach einer Gesetzesänderung nicht mehr die
ausdrücklich, dass durch Tarifverträge entstehende Ko-       Möglichkeit ein Veto einzulegen. Aber auch die kirch-
sten nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden dürfen.     lichen Arbeitgeber standen hier meistens auf der Bremse.
Nur nebenbei wird erwähnt, was wohl der eigentliche          Und der Pflegemindestlohn wurde schon im April 2020
Grund sein dürfte: Die Beibehaltung eines eigenstän-         erhöht und es wurden weitere jährliche Steigerungen bis
digen kirchlichen Arbeitsrechts ohne Tarifverträge, auch     April 2022 festgelegt. Weitere Erhöhungen sind also regu-
unter dem Begriff »Dritter Weg« bekannt (siehe Kasten).      lär erst ab 2023 möglich. Ohne starken Druck von unten
   Auch die Arbeitgeberseite der Diakonie hatte sich ge-     wird es da keine schnelle Erhöhung geben. Und das ist
gen die Annahme des Tarifvertrags ausgesprochen. Die         für ver.di ein Problem, das nicht so einfach zu lösen ist.
Verhandlungen darum wurden mit einem »Schade um                  Ver.di-Vorsitzender Frank Werneke hofft deshalb da-
die verlorene Zeit« kommentiert. Nach dem Beschluss          rauf, Minister Spahn werde eine Zusage einlösen, nach
der Caritas hat sich die »Arbeitsrechtliche Kommission«      der die Pflegekasse die Mehrkosten übernehmen könne,
der Diakonie gar nicht mehr mit dem Thema befasst, da        wenn sich Pflegeheimbetreiber oder ambulante Pflege-
die Allgemeinverbindlichkeit ja sowieso nicht mehr mög-      dienste an einen Tarif halten. (Tagesspiegel 26.2.2021).
lich sei. Von Seiten der Gewerkschaft gab es einige Pro-     Lohnerhöhungen gingen dann nicht zu Lasten der Profi-
testaktionen vor Caritasgeschäftsstellen, vor allem am       te, sondern würden von den Beitragszahler*innen finan-
8.März, dem Internationalen Frauentag. Der Caritas wird      ziert.                                  R.D., 12.03.2021 n

Gott kann man nicht bestreiken! · Der »Dritte Weg« des kirchlichen Arbeitsrechts
Obwohl die kirchlichen Verbände für ihre Kitas, Kran-        es, mit dem dortigen diakonischen Arbeitgeber einen Ta-
kenhäuser, Pflegeheime und Beratungsstellen massen-          rifvertrag abzuschließen.
haft staatliche Zuschüsse erhalten, bestehen sie beim
Arbeitsrecht auf einem Sonderweg. Das bedeutet für           Dritter Weg als Wettbewerbsvorteil
die Beschäftigten eine erhebliche Einschränkung ihrer
Rechte als Arbeitnehmer*innen. So gibt es zum Beispiel       Das Bild der »kirchlichen Dienstgemeinschaft«, in der
keinen Betriebs- oder Personalrat, sondern »Mitarbeiter-     »Dienstgeber« und »Dienstnehmer« dem christlichen
vertretungen«, die deutlich weniger Rechte haben als die     Gebot der Nächstenliebe verpflichtet und Streiks des-
Interessenvertretungen in anderen Betrieben.                 halb nicht angebracht sind, wird durch die Entwicklung
   Auch Tarifverträge widersprechen dem kirchlichen          im Sozialbereich jedoch immer stärker in Frage gestellt.
Arbeitsrecht. Die Arbeitsbedingungen der kirchlich Be-       Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat sich in
schäftigten werden in »Arbeitsrechtlichen Kommissi-          den letzten Jahren ein grundlegender Wandel bei den ge-
onen« beschlossen. Dies wird kirchenintern als »Dritter      meinnützigen Wohlfahrtsorganisationen vollzogen. »An
Weg« bezeichnet. Dieser soll sich sowohl von der einsei-     die Stelle des klassischen dualen Systems von öffentlichen
tigen Festlegung der Gehälter und Arbeitsbedingungen         und freigemeinnützigen Trägern im Sozialsektor tritt so
durch den Arbeitgeber als auch von der gängigen Pra-         ein Mix von (zahlenmäßig abnehmenden) öffentlichen
xis von Tarifverhandlungen unterscheiden, bei der die        Trägern, frei-gemeinnützigen und privaten Leistungsan-
Arbeitnehmer*innen die Möglichkeit haben, ihren For-         bietern, die in einem Wettbewerb zu einander stehen und
derungen durch Streiks Nachdruck zu verleihen. Es            um Preise und Qualitäten konkurrieren.« (Hans-Böckler-
wird das Bild einer »kirchlichen Dienstgemeinschaft«         Stiftung: Leiharbeit und Ausgliederung in diakonischen
konstruiert, die Arbeitskampfmaßnahmen als Mittel der        Sozialunternehmen: Der »Dritte Weg« zwischen normati-
Konfliktregulierung ausschließt. »Gott kann man nicht        vem Anspruch und sozialwirtschaftlicher Realität). Die
bestreiken«, ist eine Aussage von Günther Bahrenhoff,        kirchlichen Arbeitgeber reagieren auf diese Herausfor-
bis 2014 Mitglied im Diakonischen Rat des Diakonischen       derungen wie private Anbieter auch: Lohnkosten sollen
Werkes, bei einem Arbeitsgerichtsprozess um das Streik-      gesenkt werden, viele Tätigkeitsbereiche werden ausge-
recht in kirchlichen Einrichtungen.                          gliedert oder durch Leiharbeitskräfte ausgeübt und die
    Statt in Tarifverhandlungen sollen Lohn- und Ar-         Betroffenen mit Billiglöhnen abgespeist. Sie verhalten
beitsbedingungen einvernehmlich in einer »Arbeits-           sich in diesem Wettbewerb also wie ein ganz norma-
rechtlichen Kommission« (ARK) besprochen werden.             ler Arbeitgeber. Der Dritte Weg mit seinem Streikverbot
Die Seite der Arbeitnehmer*innen hat dabei aber keine        stellt somit einen Wettbewerbsvorteil dar gegenüber
Möglichkeit Druck auszuüben, da ein Streikrecht nicht        öffentlichen und privaten Konkurrenten – auf Kosten
vorgesehen ist. Die Gewerkschaft ver.di und andere Ver-      der Beschäftigten. Zahlten die kirchlichen Organisati-
bände haben sich deshalb aus diesen Kommissionen             onen in den neunziger Jahren analog zum Öffentlichen
verabschiedet. Vereinzelt gab es bereits Streiks in kirch-   Dienst, so gibt es heute schon deutliche Abweichungen
lichen Einrichtungen. Aber nur in Niedersachsen gelang       nach unten.

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Foto: www.hamburger-krankenhausbewegung.de

n B u c h vo r s t e l lu n g :

Markt zerfrisst Gesundheitswesen!
Stimmen aus einem zornigen Bereich

Im August 2020, also unmittelbar nach den Erfahrungen      endlich eine Pflegerin kam, sagte die, sie seien hier to-
mit der ersten Welle der Pandemie, erschien dieses Buch    tal unterbesetzt und hätten zwei Patienten reanimieren
von Klaus Dallmer.                                         müssen – »wer noch um Hilfe rufen kann, dem geht es
   In 17 Interviews berichten Beschäftigte aus dem Ge-     doch noch relativ gut.«
sundheitswesen und Gewerkschaftsvertreter*innen über           Nur noch einen Schritt weiter ist es bis zur Triage
die Arbeitsbedingungen in der Branche. Statt mit einer     – der Anordnung, wegen Personalnot die Patienten mit
Besprechung stellen wir das Buch vor mit der Wiederga-     den schlechtesten Überlebenschancen nicht zu versor-
be des Vorworts vom Herausgeber.                           gen. Soll trotz Protests des Intensivpflegepersonals auch
                                                           schon vorgekommen sein – sicherlich nur im Ausland.
Worum geht’s?                                              Oder? Die Intensivstationen sind voll, weil die OP-Säle
                                                           ausgelastet sein müssen.
Wer die hier versammelten Interviews liest, wird verste-       Der Widerstand der GesundheitsarbeiterInnen und
hen, wo der Sachverstand des Gesundheitswesens wirk-       ihrer Gewerkschaft richtet sich vor allem gegen das Sy-
lich sitzt. Und steht und rennt und schwitzt und hebt      stem der Fallpauschalen (DRG[1]) und gegen deren Aus-
und hetzt und über die Grenzen der Erschöpfung arbei-      wirkungen. Darum wiederholen sich diese Punkte in
tet. Dieser Sachverstand wird von der Gesundheitspolitik   den Interviews – wir sollten das nicht als Doppelungen,
missachtet, und das schon über Jahrzehnte.                 sondern als Sprechchor lesen. Dieses Fallpauschalensy-
    Mit der Corona-Epidemie ist der Öffentlichkeit noch    stem hat bewirkt, dass Privatkliniken sich spezialisieren
einmal deutlicher geworden, was da im Argen liegt.         können auf die gewinnbringenden Behandlungen und
Schon die simple Bevorratung mit Schutzausrüstung          dass der aufwendige Minusbereich für die öffentlichen
kommt im just-in-time-System nicht vor, weil Vorrats-      Versorger bleibt – die dann auch »auf Deibel komm raus«
haltung Geld kostet, unsere Krankenhäuser aber nach        sparen müssen, wenn sie die Gynäkologie aufrechterhal-
Konkurrenz und Gewinn organisiert sind. Will die Ge-       ten wollen oder die Kinderstation.
sellschaft das weiter so hinnehmen, oder ist es nicht          Und woran wird gespart? Etwa zwei Drittel der Kran-
höchste Zeit, dass wir hier endlich aufräumen – zugun-     kenhauskosten sind Personalkosten. Also sind seit Ende
sten von Beschäftigten und PatientInnen? Die Beschäf-      der 90er Jahre ca. 50.000 Stellen im Pflegebereich abge-
tigten im Gesundheitswesen haben es mehr als verdient,     baut worden. Das Geld wird mit den Operationen verdient
dass sie in ihren Kämpfen unterstützt werden, und zwar     – wie gut man anschließend gepflegt wird, das ist für die
von möglichst vielen. Denn sie haben mächtige Gegner,      Kostenerstattung uninteressant. Je weniger Pflegekräfte
denen ihre Gewinne wichtiger sind als das Wohl derer,      also zwischen den Patienten hin-und herhetzen, desto
die diese Gewinne erarbeiten – oder das Wohl der Pati-     mehr Gewinn wird gemacht. Diesem wirtschaftlichen
entInnen. Und schließlich kann es uns alle treffen, dass   Zwang unterliegen auch die öffentlichen Krankenhäuser.
wir schlecht behandelt werden, wenn unsere Krankheit       Ein Operierter mehr pro Pflegekraft bedeutet statistisch
nicht gewinnbringend ist. Oder dass an uns herumge-        eine um 7% höhere Sterblichkeit innerhalb der ersten 30
schnitten wird, obwohl es eigentlich überflüssig ist –     Tage. Übersetzt: je weniger Pflege, desto mehr Tote, desto
aber lukrativ. Oder dass wir am bewusst herbeigeführten    besser fürs Budget. Dieses System ist pervers. Es muss
Personalmangel sterben: Mein Bruder lag mit Herzinfarkt    weg.
auf der Intensivstation und hörte nachts aus einem Ne-         Die neoliberale Wende hat bewirkt, dass das Streben
benzimmer Wimmern und Hilferufe – stundenlang. Als         nach Gewinnen sich auch noch in die letzten Poren der

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Gesellschaft hineingefressen hat – in Thüringen war so-          Wenn die Arbeitenden in Bewegung kommen und
gar die Gefängnispsychiatrie, die Forensik, privatisiert.    sich für starke staatliche Beteiligung an den Unterneh-
Aktionäre haben für die psychiatrische Behandlung von        men einsetzen, die »too big to fail« geworden sind, und
Straftätern Gewinne eingestrichen, bis die Landesregie-      für ihre eigene Mitbestimmung der Unternehmenspolitik
rung die Notbremse gezogen hat.                              – dann wären wir ein Stück vorangekommen auf dem Weg
    Diese neoliberale Wende müssen wir nun wohl end-         zum alten Traum der Arbeiterbewegung, dass die wirk-
lich zurückwenden. Dafür brauchen die Beschäftigten          lichen Sachverständigen gemeinsam und in großer Zahl
des Gesundheitswesens und ihre Gewerkschaft ver.di           bestimmen, wie gearbeitet und was produziert wird. Das
auch die Unterstützung der anderen Gewerkschaften. In        wird die BMW-Aktionäre und die Bahlsen-Erben wenig
der Autoindustrie werden die Beschäftigten sich ja nicht     freuen, und große Widerstände muss man einkalkulie-
ewig den Marktmanövern ihrer Geschäftsleitungen un-          ren. Und wir müssen mit großzügig finanzierten Gegen-
terordnen können. Das Überangebot hat ja schon Mitte         kampagnen rechnen, die jede soziale Forderung ableh-
2019 dazu geführt, dass die Autoindustrie Zehntausende       nen mit Hinweis auf die große Verschuldung, die ja zur
von Arbeitsplätzen abbauen wollte. Bleibt den Automobi-      Rettung »unserer Wirtschaft« nötig war. Unserer? Nur
larbeiterInnen etwas anderes übrig, als um ihre Arbeits-     die Solidarität der vielen kann da die Rettung bringen,
plätze zu kämpfen?                                           und so mancher heute noch zögerliche Gewerkschafter
    Der weltweite Profit-Produktionsapparat hielt sich nur   wird wohl über seinen eigenen Schatten springen.
noch durch Niedrigzinsen, Überschuldung und Finanz-              Ob die Beschäftigten es schaffen, Schritte auf dem
spekulation über Wasser, weil die aufgetürmten Produk-       Weg in eine bessere Zukunft durchzusetzen, oder ob
tionskapazitäten die kaufkräftige Nachfrage übersteigen      sie sich wieder mit einer gesellschaftlich untergeord-
und sich nicht mehr amortisieren können – Corona hat         neten Position zufriedengeben – einer untergeordneten
ihm mit der teilweisen Unterbrechung von Produktion          Position, die sie beispielsweise zwingt, mitten in der
und Lieferketten den Stoß auf eine Rutschbahn versetzt,      höchsten Ansteckungsgefahr der Corona-Epidemie im
von der wir nicht wissen, wo sie enden wird. Es wird         Dreischichtbetrieb U-Boote zu bauen – das hängt von der
womöglich die Katastrophe einer ungeheuren Arbeitslo-        Stärke ihrer Bewegung ab.
sigkeit auf die Menschen zukommen.                               Die GesundheitsarbeiterInnen sind die ersten, die für
    Werden die Gewerkschaften und ihre Mitglieder sich       ihren Arbeitsbereich die Bestimmung durch die Mark-
dann anders verhalten können, als sich für eine radikale     tlogik mehrheitlich ablehnen und dafür bereits die ge-
Arbeitszeitverkürzung einzusetzen – und für Konversion       sellschaftliche Hegemonie in den Köpfen erreicht haben.
von Produktion hin zu gesellschaftlich nützlichen Pro-       Und sie haben mit dem System der Teamdelegierten eine
dukten?                                                      alte Form der Arbeiterdemokratie bereits wieder neu er-
    Und ist es nicht denkbar, dass die Beschäftigten der     funden. Sie brauchen die Unterstützung aller anderen
Unternehmen, in die der Staat zur Rettung einsteigt, eine    Arbeitenden. Jetzt wird ihnen auch noch die verspro-
wirkliche Mitbestimmung einfordern? Die Flugbegleiter-       chene Corona-Prämie verweigert. Wenn die Pandemie
gewerkschaft hat Forderungen in diese Richtung gestellt.     vorbei ist und Massenaktionen wieder möglich werden,
Sollte der Anteil des Staatsfonds dann nicht empfindlich     sollten die Verantwortlichen, die Profiteure und ihre
über die 25%-Marke gesteigert werden, die eine wirk-         Helfer sich warm anziehen.
same Einflussnahme ermöglicht, und die die Regierung             Die vorliegenden Interviews sind eine Momentauf-
bisher noch peinlich zu unterschreiten trachtet? Muss        nahme. Welche Stellung in der Gesellschaft die Beschäft-
hier nicht auch die soziale Wende in die Köpfe der Regie-    igten erobern oder in welche Stellung sie sich zurück-
renden? Erste Ansätze sind ja zu sehen: das Ersticken der    drängen lassen, das entscheiden letztendlich sie selbst.
Umwelt an den Auspuffgasen des Kapitalismus und die          Sie sind diejenigen, auf deren Arbeit diese Gesellschaft
große Bewegung dagegen haben den Beginn einer Ener-          beruht.
giewende ins Handeln der Regierenden gezwungen. Sie                                        Klaus Dallmer, Juni 2020 n
legen sich nun sogar mit der mächtigen Autolobby an und
verweigern ihr die Abwrackprämie.
    Die Brennstoffzelle ist 1966 erfunden worden; die
Wasserstofftechnologie wird aber erst jetzt gepuscht, und
es ist der Staat, der sie puschen muss – damit ist über
die Fähigkeit des Marktes, die gesellschaftliche Entwick-
lung zu steuern, alles gesagt. Und dass gewisse Fleischfa-                                Markt zerfrisst
briken eigentlich enteignet und kommunalisiert werden                                     Gesundheitswesen! –
müssten, kann auch dem begriffsstutzigsten Politiker                                      Stimmen aus einem
nicht verborgen bleiben.                                                                  zornigen Bereich
    Dass das Regierungshandeln nicht so unzureichend
und nachtrabend bleibt, dafür kann nur die immer größer                                   Klaus Dallmer [Hg.]
werdende Protestbewegung sorgen, wenn sie die Masse
der Beschäftigten erfasst. Noch können die Regierenden                                    Erschienen bei:
es sich leisten, die Unterschriften Hunderttausender von                                  http//: diebuchmacherei
Petitionsunterstützern in den Papierkorb wandern zu                                       ISBN 978-3-9822036-4-5
lassen, und die Volksentscheide zum Gesundheitssystem
in die Schubladen von Verwaltung und Gerichten.                                           256 Seiten · 12,00 Euro

A r b e i t e r p o l i t i k N r . 3 · A p r i l 2 0 21                                                            9
n Ko r r e s p o n d e n z : Ko l l e g * i n n e n d e s O e t k e r Ko n z e r n s i n U n ru h e

Massenkündigung bei Durstexpress
                                                                       Wer nun geglaubt hatte, es komme zu einer ordent-
                                                                   lichen Fusionierung beider Unternehmen, sah sich bald
                                                                   eines Besseren belehrt. Nach Einschätzung des Unter-
                                                                   nehmens arbeitet die Firma Durstexpress nicht effektiv
                                                                   genug und erreiche bei weitem nicht die Produktivität
                                                                   und Effizienz der Firma Flaschenpost und müsse deshalb
                                                                   liquidiert werden.
                                                                       Doch scheint dieses Argument im boomenden Markt
                                                                   der Getränkeauslieferung nur vorgeschoben. Die Ge-
                                                                   schäftsentwicklung der Firma war in den letzten Jahren,
                                                                   speziell aber in den Monaten des Jahres 2020, positiv. Das
                                                                   Unternehmen stellte im vergangenen Jahr laufend neue
                                                                   Leute ein.
                                                                       Der entscheidende Grund für die Liquidierung von
                                                                   Durstexpress ist vielmehr, dass Oetker die besser be-
                                                                   zahlten Beschäftigten von Durstexpress los werden will.
                                                                   Überall dort, wo Durstexpress und Flaschenpost gemein-
                                                                   sam ausliefern, werden die Filialen von Durstexpress
                                                                   geschlossen. Die KollegInnen können sich dann bei den
                                                                   Niederlassungen von Flaschenpost bewerben, müssen
                                                                   aber bei Einstellung mit einem geringeren Stundenlohn,
                                                                   einer gekürzten Wochenarbeitszeit und einem befristeten
                                                                   Vertrag rechnen. Dies betrifft vor allem die Niederlas-
                                                                   sungen in Leipzig, Bochum und Berlin die Auslieferung
                                                                   in Tempelhof. Und überall dort, wo Durstexpress bisher
                                                                   alleine ausgeliefert hat, sollen die Kolleg*innen zwar
                                                                   übernommen werden, doch ist unbekannt, zu welchen
                                                                   Konditionen. Sie befürchten, dass auch sie gekündigt
                                                                   werden und sich neu bewerben müssen.

                                                                   Arbeitstätigkeit

                                                                   Mit dem Angebot einer Lieferzeit von zwei bis drei Stun-
                                                                   den nach Bestellung hatte Durstexpress in den Zeiten des
Kolleg*innen verbrennen Kopien ihrer Kündigungsschreiben           Lockdowns genau das richtige Angebot. Da viele Kunden
                                                                   aus beruflichen wie privaten Gründen pandemiebedingt
Am 04.02.2021 hatten sich vor der Zentrale des Ge-                 häufiger zu Hause blieben und den Weg zum Händler
tränkeauslieferers Durstexpress in der Stralauer Allee             scheuten, um Ansteckungen zu vermeiden, bestellten sie
11 im Berliner Bezirk Friedrichshain knapp zweihundert             im Internet ihre Getränke.
Kolleg*innen unter den Fahnen der NGG versammelt.                      Während der Kunde bei der Lieferung an die Haustü-
Sie kamen mehrheitlich aus Berlin. Vertreten waren aber            re den Aufwand für Kauf und Transport spart, haben die
auch Kolleg*innen aus anderen ostdeutschen Nieder-                 Beschäftigten der Auslieferfirmen die Last, schwere Ge-
lassungen des Unternehmens, aus Leipzig, Dresden und               genstände transportieren zu müssen. Nicht immer kann
Halle. Trotz nasskalten Wetters hielten sie die andert-            eine Sackkarre zur Arbeitserleichterung genutzt werden.
halbstündige Kundgebung tapfer durch. Ihre Gesichter               In Berlin gibt es viele Altbauten, die keinen Fahrstuhl be-
waren gezeichnet von Wut und Enttäuschung über den                 sitzen. Da müssen die Getränkekisten bis in den fünften
Arbeitgeber, signalisierten aber auch Entschlossenheit,            Stock geschleppt werden. Ein Knochenjob.
sich dem Vorgehen des Unternehmens entgegen stellen
zu wollen.                                                         Gewerkschaftliche und betriebsrätliche
                                                                   Organisierung
Was war geschehen?
                                                                   Bisher war dieser Bereich der Dienstleistungen gewerk-
Vor einigen Monaten hatte der Oetker Konzern für satte             schaftliches Niemandsland. Die Beschäftigten der Nah-
800 Millionen Euro die Firma Flaschenpost gekauft, ob-             rungs- und Genussmittelindustrie sind überwiegend in
wohl er selbst auf dem Markt der Getränkeauslieferung              kleineren und mittleren Betrieben tätig. Entsprechend
mit der Firma Durstexpress vertreten ist. Flaschenpost             rüde ist der Umgangston. Wer sich nicht dem vom Ar-
hat etwa 6.000 Beschäftigte, Durstexpress ca. 3.500.               beitgeber bestimmten Betriebskonsens unterordnet, wird

10                                                                                            A r b e i t e r p o l i t i k N r . 3 · A p r i l 2 0 21
schnell aussortiert und gemobbt. Niedrige Löhne, kaum        nommen wurde. So hatte die Gewerkschaft sowohl Zei-
geregelte sonstige Tarifleistungen und eine unzuläng-        tungen, Rundfunk und Fernsehen auf den Konflikt auf-
liche Arbeitszeiterfassung sind hier gang und gäbe. Diese    merksam gemacht. Sie war auch in den sozialen Medien
Firmen arbeiten mit einem Heer von befristet Beschäf-        aktiv. Außerdem gelang es ihr, vier (!!!) Bundestagsab-
tigten, die schnell ausgewechselt werden können. Nicht       geordnete zur Abgabe einer Solidaritätserklärung zu ge-
einmal Betriebsräte gibt es in vielen dieser Unternehmen.    winnen, drei von den Linken (Petra Pau, Pascal Meißner,
Entsprechend niedrig ist der gewerkschaftliche Organi-       Gesine Lötzsch) und eine von der SPD (Cansel Kiziltepe).
sationsgrad.                                                 Grußadressen kamen vom Betriebsrat der zum Oetker
    Da aber die Gewerkschaft NGG fast nur solche Be-         Konzern gehörenden Brauerei Kindl Schultheiß als auch
triebe in ihrem Zuständigkeitsbereich hat, muss sie sich     von der Eisenbahnergewerkschaft EVG sowie vom DGB
diesen Bedingungen stellen, um als Gewerkschaft zu           Berlin-Brandenburg.
überleben. Und dies hat sie in den letzten Jahren auch          Der Oetker Konzern wird in den kommenden Wochen
getan. Mittlerweile verfügt sie über eine Vielzahl von       bei der Zusammenlegung beider Firmen nicht auf eine
Erfahrungen. Bei der Nudelfabrik in Riesa konnte sie         unterwürfige Belegschaft treffen, sondern auf eine, die
zunächst einen Betriebsrat gründen und dann einen            sich wehrt.
recht passablen Haustarifvertrag mit den Beschäftigten                                            H.B., 11.02.2021 n
durchsetzen. Auf den Weg gemacht haben sich auch die
Kolleg*innen der Firmen Sonnländer Getränke in Rötha,
Frosta-Tiefkühlwerk Lommatzsch, Cargill-Ölwerk Riesa
sowie Bautzner Senf. Auch bei dem Konflikt im Wombat         Nicht mit uns –
Hotel in Berlin war die NGG präsent und unterstützte die
Kolleg*innen beim Kampf um die Einrichtung eines Be-         Oetker schluckt Getränkelieferdienste
triebsrates und dem Abschluss eines Tarifvertrages.1         Bericht in der UZ vom 15.02.2021
    Bei der Firma Durstexpress gab es bisher keinen Be-
triebsrat, bei der Firma Flaschenpost nur in der Zentrale    Die Kündigungen für die Kolleginnen und Kollegen vom
in Münster und der Niederlassung in Düsseldorf. Tarif-       Getränkelieferdienst »Durstexpress« in Berlin, Bochum
vertragliche Regelungen gab es in beiden Firmen nicht.       und Leipzig kamen nicht per Flaschenpost. Aber das Un-
    Noch zu Beginn der Pandemie hatten die Durstex-          ternehmen »Flaschenpost« schluckt seinen Konkurrenten
press Kolleg*innen von ihren Chefs lobende Worte ge-         »Durstexpress«, nachdem es zuvor selbst geschluckt
hört. Sie seien Helden und mit ihrem aufopferungsvollen      wurde, um im Getränkevertrieb flexibler Marktführer zu
Einsatz in schwierigen Zeiten das Rückgrat der Firma.        sein. Das schließt eine Schlankheitskur ein. Beide Unter-
Diese Worte schienen vielen glaubwürdig zu sein, weil        nehmen gehören der Familie Dr. Oetker, »Flaschenpost«
sie von einer Firma kamen, die sich selbst in der Außen-     erst seit Ende letzten Jahres. 2019 verbuchte die Familie
darstellung als Familienunternehmen präsentiert.             etwa 7,4 Milliarden Umsatz, 2020 dürfte die Rate pan-
    Die Massenkündigung durch den Oetker Konzern             demiebedingt erheblich größer gewesen sein. Bis gestern
rüttelte die KollegInnen beider Firmen wach. Sie traten      galten die Kolleginnen und Kollegen von »Durstexpress«
in großer Zahl der NGG bei. In den Niederlassungen der       als Helden, heute sind sie arbeitslos. Gedankt wurde kei-
Firma Durstexpress in Berlin Tempelhof und in Leipzig        nem der schwere Job. Diese bittere Erkenntnis macht die
richteten sie mit der Gewerkschaft Wahlvorstände ein,        Runde unter der Belegschaft. Wirtschaftskrise und Men-
um eine Betriebsratswahl durchführen zu können. Am           schenverachtung des Kapitals, selbst wenn es Süßes pro-
28.01.2021 organisierten NGG und FAU in Leipzig eine         duziert, sind am eigenen Leib erfahrbar geworden.
Kundgebung, um für den Erhalt der Arbeitsplätze einzu-
treten.2
    Auf der Kundgebung in Berlin stellten sie mit einem
Flyer ihre Forderungen vor. Ihr Ziel ist es, dass es bei
der Zusammenführung beider Unternehmen keine Ver-
schlechterung der bisherigen Arbeits- und Entlohnungs-
bedingungen geben dürfe. Sie verlangten ferner, die Fra-
gen der Zusammenführung beider Unternehmen mit der
Gewerkschaft zu verhandeln. Und sie forderten, dass es
bei den anstehenden Wahlen zu den örtlichen Betrieb-
sräten keine Behinderung seitens der Unternehmen ge-
ben darf.

Breite Solidarität

Die NGG hatte es in Berlin geschafft eine recht große Zahl
von Beschäftigten für ihre Kundgebung zu mobilisieren.
Auffällig war, dass der Konflikt in den Medien wahrge-

1   Vgl. Arpo 3‘19 ↑
2   Vgl. Korrespondenz aus der UZ ↑                          Kundgebung in Leipzig

A r b e i t e r p o l i t i k N r . 3 · A p r i l 2 0 21                                                           11
In Leipzig sind es 500 Beschäftigte, die nicht über-     der von den Erfahrungen mit der zynischen Taktik der
nommen werden sollen oder nur dann, wenn sie eine            Oetker-Gruppe berichtete. Dass der Generationswechsel
Probezeit absolvieren und sich neu bewerben, sich un-        in der Oetkerfamilie schuld an allem sei, wie es teilweise
ter Wert verkaufen und gesiebt werden können. Man            aus dem Leipziger Stadtrat verlautete, ist hoffentlich
kennt das. Vom Unternehmen »Flaschenpost« heißt es,          nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Ein gemeinsamer
dass die Ausbeutungsrate höher ist, der Lohn geringer,       Nenner dürfte gewesen sein, dass die Gewerkschaft zu
die Sozialleistungen unsicherer und bescheidener, die        ihren Wurzeln zurückkehren müsse, per Organisation
Antreiberei umfassend. Eine Perspektive ist das nicht.       Kampffähigkeit aufzubauen hat.
Solidarität übende Betriebsräte der Radeberger-Gruppe            Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Ein entscheidendes
hoben in einem Offenen Brief an die kapitalistischen         Ergebnis hat er aber schon jetzt gehabt: Gemeinsam und
Macher des Ganzen hervor, dass »sozialpartnerschaftli-       organisiert ist er ein Mutmacher, schweißt zusammen,
che Zusammenarbeit ein wichtiger Bestandteil der Ge-         bringt Gewinn an Erkenntnis und Erfahrung.
sellschaft« sei. Mit dieser Illusion, diesem Appell an die                                   Ein Kollege aus Leipzig n
Moral wird den Betroffenen kaum zu helfen sein, denn
bei der »Flaschenpost« sind weder Gewerkschaften noch        Nachbemerkung zu den beiden Artikeln über
Betriebsräte beliebt. Zwar hat man auch in Leipzig die       Durstexpress
Hoffnung nicht ganz aufgegeben, weiß aber, dass dies
eine Frage des Kräfteverhältnisses ist und Krupp und         Kleiner Erfolg
Krause keine Partner werden können. Ohne Kampf kein
Sieg, das ist allen ziemlich klar. Sie fordern: Betriebsü-   Die Aktivitäten der Kolleg*innen in den einzelnen Stand-
bergang statt Kündigungen (Übernahme zu den jetzigen         orten von Durstexpress, resp. ihre gute Öffentlichkeitsar-
Bedingungen).                                                beit und die Unterstützung durch die Gewerkschaft NGG,
    So wählten sie einen Betriebsrat, vernetzten sich mit    haben dazu geführt, dass die zuständigen Arbeitsagen-
anderen ihrer Branche, richteten tägliche Mahnwachen         turen, die einer Massenkündigung widersprechen kön-
ein, richteten Forderungen an die Politik und organisi-      nen, entschieden haben, die Kündigungen in den betrof-
erten sich gewerkschaftlich. Der Motor in der Belegschaft    fenen Standorten Berlin und Leipzig für zwei Monate
war zunächst die FAU. Sie, die Klartext sprach, dankte       bis Ende März auszusetzen. Nach ihrer Einschätzung sei
der Gewerkschaft NGG für die gesamte Organisation und        es dem Oetker-Konzern zuzumuten, den Beschäftigten
Unterstützung des bisherigen Kampfes. Die NGG rief zu        im Bereich der Getränke Auslieferung oder in anderen
einer Kundgebung am 28. Januar vor dem Betriebsgelän-        Unternehmen des Konzerns alternative Beschäftigungs-
de auf. 130 Teilnehmer konnten gezählt werden, darunter      möglichkeiten anzubieten. In Bochum lehnte die Agen-
auch Betroffene aus Berlin und Dresden, die sich von der     tur einen entsprechenden Antrag ab.
großen Solidarität sehr beeindruckt zeigten. Entschlos-          Eine Lösung für alle wird es aber nur dann geben,
senheit, dies war das Hauptmerkmal des Protestes.            wenn der Druck auf den Konzern bestehen bleibt.
Aufmerksam wurde einem Kollegen aus Berlin zugehört,                                                  H.B., 15.03.21 n

Ver.di-Vorsitzende des Hauptpersonalrates Berlin
nach Absprachen mit dem Beamtenbund und den
Unabhängigen gewählt
Der Hauptpersonalrat (HPR) der Berliner Verwaltung           chenämtern. Vertreten werden sie, soweit es die DGB-
vertritt 144.000 Beschäftigte in Senats- und Bezirksver-     Gewerkschaften1 betrifft, von ver.di, der GEW, der GdP
waltungen, staatlichen Schulen und Kitas sowie Polizei       und der IG BAU. Und daraus ist ein Problem entstanden.
gegenüber dem Arbeitgeber, dem Land Berlin.
    Früher, als die Stadtreinigung und die städtischen       Konflikte zwischen den DGB-Gewerkschaften
Versorgungsbetriebe für Wasser, Strom und Gas noch
Teil des Öffentlichen Dienstes waren, gehörte der über-      Schon anlässlich der Personalratswahlen 2012 und 2016
wiegende Teil der Mitglieder des HPR der ÖTV (Gewerk-        vertraten die genannten drei kleineren DGB-Gewerk-
schaft Öffentliche Dienst Transport und Verkehr) und ab      schaften die Auffassung, dass ihr Anteil an sicheren
2001 der aus mehreren Einzelgewerkschaften gebildeten        Plätzen auf der mit ver.di gemeinsam erstellten Liste er-
ver.di (Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft) an.          höht werden müsste. Mehr Sitze fordern sie auch bei der
    Dies änderte sich mit der Privatisierung der o.g. Be-    Besetzung des HPR-Vorstandes.
triebe. Der HPR war nur noch für deutlich weniger Be-           Zum Maßstab nahmen sie die jeweilige Anzahl der
schäftigte zuständig. Von ihnen arbeiteten 60.000 in         in ihren Bereichen Beschäftigten. Auch vor der Perso-
den Verwaltungen, 55.000 im Schulbereich sowie in den
Kita-Eigenbetrieben, 30.000 bei der Polizei sowie in den     1   Daneben gibt es noch die Mitgliedsverbände des Deutschen Beam-
Ordnungsämtern, sowie einige wenige in den Grünflä-              tenbunds sowie unabhängige Verbände.

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