HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz

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HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

                                       HOTSPOT
                                               Biodiversität im Alltag

                                                                            39 | 2019
                                                       Forschung und Praxis im Dialog
                                        Informationen des Forum Biodiversität Schweiz

                                                                     HOTSPOT 39 | 2019   1
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
IMPRESSUM
                                                           Editorial

                                                                             Das Forum Biodiversität feiert in diesem Jahr sein
HOTSPOT                                                                      20-jähriges Bestehen. Es wurde mit dem Ziel ins Le-
Zeitschrift des Forum Biodiversität Schweiz                                  ben gerufen, die Erkenntnisse der Biodiversitätsfor-
39 | 2019
                                                                             schung in die Gesellschaft und Politik einfliessen zu
Herausgeber                                                                  lassen, damit die Biodiversität in all ihren Facetten
Forum Biodiversität Schweiz, Akademie der Natur-                             erhalten bleibt. Wurde dies erreicht? In einzelnen
wissenschaften (SCNAT), Laupenstrasse 7, Postfach,                           Bereichen konnte das Forum Biodiversität sicher
CH-3001 Bern, Tel. +41 (0)31 306 93 40,                    wichtige Akzente setzen (siehe S. 21f). Gleichzeitig sehen wir immer
biodiver­sity@scnat.ch, www.biodiversity.ch
                                                           noch einen rasanten und sich teils verstärkenden Rückgang der Biodi-
                                                           versität in der Schweiz und weltweit, und dies trotz der Erkenntnis,
Das Forum Biodiversität Schweiz fördert den Wissens­-
                                                           dass Biodiversität essenziell ist für unser Wohlbefinden und für viele
austausch zwischen Biodiversitätsforschung, Verwal­
tung, Praxis, Politik und Gesellschaft. Die Zeitschrift    Ökosystemleistungen. Wo also stehen wir in der Biodiversitätsdebatte?
HOTSPOT ist eines der Instrumente für diesen Aus­          Wie bewegt die biologische Vielfalt die Menschen, und wo sind persön-
tausch. Sie wird zweimal jährlich jeweils in einer deut­   liche Anknüpfungspunkte?
schen und einer französischen Ausgabe publiziert. Die      Anfang dieses Jahres habe ich das Präsidium des Forums übernommen
nächste Ausgabe von HOTSPOT erscheint im Herbst
                                                           und möchte mich in dieser Rolle für die Biodiversität einsetzen. Zur
2019. Alle Ausgaben von HOTSPOT stehen auf
www.biodiversity.ch/hotspot als PDF zur Verfügung.         Geburtsstunde des Forums, vor zwei Jahrzehnten, stand ich gerade am
                                                           Anfang des Biologiestudiums. Dort hatte ich erstmalig direkten Kon-
Um das Wissen über Biodiversität allen Interessierten
zugänglich zu machen, möchten wir den HOTSPOT
                                                           takt mit der Biodiversitätsforschung. Mein Bezug zur biologischen
gratis abgeben. Wir freuen uns über Unterstützungs-        Vielfalt wurde aber schon viel früher angelegt. Es waren Naturerleb-
beiträge. HOTSPOT-Spendenkonto: PC 30-204040-6             nisse in der Kindheit, welche mich nachhaltig prägten: Das Beobach-
(IBAN CH91 0900 0000 3020 4040 6).                         ten der regen Aktivitäten bei einem Waldameisenhügel. Das erste Mal
                                                           einen Frosch in den Händen halten. Das Finden und Aufziehen von
Redaktion: Dr. Da­­niela Pauli, Dr. Gregor Klaus,
Dr. Danièle Martinoli                                      Schmetterlingsraupen.
Übersetzung ins Deutsche: Irene Bisang, Zürich             Ich stimme Edward O. Wilson zu, dass eine positive Einstellung und
(Seiten 26, 27)                                            Faszination bezüglich der Vielfalt an Organismen, eine Biophilie, uns
Gestaltung/Satz: Esther Schreier, Basel                    Menschen schon in der Kindheit eigen ist. Diese Faszination bleibt aber
Druck: Print Media Works, Schopfheim im Wiesental
                                                           nur bestehen, wenn es positive Verstärkungen gibt: eine reichhaltige
(D). Papier: Circle matt 115 g/m2, 100 % Recycling
Auflage: 3600 Ex. deutsch, 1200 Ex. französisch            und vielfältige Umwelt, in welcher Biodiversität beobachtet werden
                                                           kann; einen Lehrplan in der Schule, in dem Biodiversität einen hohen
© Forum Biodiversität Schweiz, Bern, April 2019
                                                           Stellenwert hat; und wohl am wichtigsten: Bezugspersonen, welche
Manuskripte unterliegen der redaktionellen Bear-           eine positive Haltung zur Biodiversität haben. Dies scheint bei weitem
beitung. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren
                                                           nicht allen vergönnt, und viele Menschen scheinen den Blick und Be-
müssen nicht mit der Meinung des Forum Biodiver-
sität Schweiz übereinstimmen. Nachdruck nur mit            zug zur Biodiversität im Alltag zu verlieren.
schriftlicher Erlaubnis der Redaktion gestattet.           Wenn uns Kinder und Jugendliche heute die Dringlichkeit zum Han-
                                                           deln im Kontext von globalen Veränderungen wie dem Klimawandel
                                                           aufzeigen, so sind es genau sie, die diesen Blick für das Wesentliche
Fotos
                                                           haben: nämlich, dass eine vielfältige Natur nicht nur schön ist, son-
Beat Ernst, Basel (Titelseite, Seiten 4, 7, 11, 12, 15,
16, 19, 20).                                               dern dass deren Erhalt auch für uns Menschen essenziell ist. Der Be-
Wir bedanken uns herzlich bei: Gärtnerei Dobler,           griff «Biodiversität» mag im Alltag angekommen sein, die entsprechen-
Muttenz; Schreinerei Warteck, Basel; Press&Books,          den Handlungen zum Erhalt der Biodiversität sind aber noch alles
Valora Schweiz AG, Bahnhof Basel SBB; Modesa-              andere als alltäglich. Die Arbeit geht dem Forum Biodiversität also
Stofftrucke, Basel; Coop, Filiale Güterstrasse, Basel;
                                                           vorläufig noch nicht aus.
Familie Glättli-Paterson, Bottmingen; Bahnhof Apo-
theke Drogerie, Basel; City Apotheke, Basel.
                                                           Prof. Dr. Florian Altermatt
                                                           Präsident des Forum Biodiversität Schweiz

2      HOTSPOT 39 | 2019
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

                        Biodiversität im Alltag

    		 Brennpunkt                                                                   Rubriken

                        Leitartikel                                                 Aus dem Forum
            05          Biologische Vielfalt im Alltag – meist präsent, oft    21   20 Jahre Forum Biodiversität Schweiz
              		        herbeigesehnt, häufig verkannt                              Von Daniela Pauli
                        Von Gregor Klaus und Daniela Pauli
                                                                                    Bundesamt für Umwelt BAFU
                   		   Biodiversität – vom Fachwort zum Alltagsbegriff        24   Biodiversität bringt’s! Rückblick auf die letztjährige
            06          Von Eva Spehn                                               BAFU-Tagung
                                                                                    Von Gregor Klaus
                   		   «Die Menschen haben eine inhärente Vorliebe
            08          für Biodiversität»                                          Bundesamt für Landwirtschaft BLW
                        Interview mit Prof. Dr. Petra Lindemann-Matthies von   26   Kulturpflanzen und ihre wilden Verwandten –
                        der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe                      ein Schatz für unsere Zukunft
                                                                                    Von Sibyl Rometsch und Sylvain Aubry
                        Natur im Alltag einst und heute
            10          Von Karl Martin Tanner                                      Die Grafik zur Biodiversität

                                                                               28   Wer kennt den Begriff Biodiversität?
                        Kinder brauchen naturnahe Freiräume                         Von Michael Buess
            13          Von Markus Weissert

                        Die Wahrnehmung der Biodiversität ist werte-
            14          abhängig
    		                  Von Michael Buess

                        Die unerkannte Biodiversität auf Banknoten
            17          Von Sascha Ismail

                        Hobbygärtnerinnen und -gärtnern ist Biodiversität
            18          wichtig
                        Von Robert Home, Maro Moretti, David Frey
                        und Nicole Bauer

                                                                                    Zu den Bildern in diesem HOTSPOT
                                                                                    Die Bildstrecke «Biodiversität im Alltag», die sich unab-
                                                                                    hängig von den einzelnen Artikeln durch das Heft zieht,
                                                                                    weist auf die oftmals verborgene Biodiversität im Alltag
                                                                                    hin – mal spielerisch, mal überraschend.
                                                                                    Übrigens: Haben Sie das Elefäntchen entdeckt, das sich
                                                                                    auf jedem einzelnen Bild versteckt?

                                                                                    Biodiversität...
                                                                                    … im Badezimmerschrank (Seite 4)
                                                                                    … auf Stoffen (Seite 7)
                                                                                    … in der Schreinerei (Seite 11)
                                                                                    … im Kinderzimmer (Seite 12)
                                                                                    … in der Werbung (Seite 15)
                                                                                    … im Lebensmittelgeschäft (Seite 16)
                                                                                    … in der Gärtnerei (Seite 19)
                                                                                    … am Kiosk (Seite 20)

                                                                                    Fotos Beat Ernst Basel

                                                                                                                           HOTSPOT 39 | 2019    3
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
4   HOTSPOT 39 | 2019
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

Leitartikel
Biologische Vielfalt im Alltag –
meist präsent, oft herbeigesehnt, häufig verkannt
Von Gregor Klaus und Daniela Pauli

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der   Biodiversität als Grundbedürfnis                    Dabei wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für ei-
moderne, urbane Mensch im Alltag weitge-           Immer weniger Menschen haben im Alltag              ne mutige Richtungsänderung. In der Bevöl-
hend ohne Natur und ohne Biodiversität aus-        noch Möglichkeiten für bunte, spannende Er-         kerung spriessen seit einigen Jahren zarte
kommen könnte. Zum Frühstück gibt es Kaffee        lebnisse in einer vielfältigen Natur. Dabei ha-     Pflänzchen, die dringend Zuwendung benöti-
aus der Kapsel und quadratischen Toast, nichts     ben wir eine inhärente Vorliebe für biologi-        gen: So ist immer mehr Leuten der Begriff Bio-
erinnert an Kaffeeplantagen und Weizenfelder.      sche Vielfalt, wie Petra Lindemann-Matthies         diversität geläufig (siehe S. 6). Gleichzeitig hat
Zum Mittagessen genehmigen wir uns ein Steak       von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe          das Insektensterben viele Menschen unabhän-
oder ein Schnitzel, als ob zuvor nie ein Tierle-   im Interview darlegt (siehe S. 8). Irgendwo in      gig von ihren Werthaltungen aufgerüttelt
ben existiert hätte. Wohnquartier und Arbeits-     uns schlummert die Liebe zur Natur – trotz Zi-      und für die Anliegen der Biodiversität sensibi-
ort sind weitgehend versiegelt, wo es grün ist,    vilisation und Digitalisierung. Natur gehört zu     lisiert. Im Rahmen einer Aktion der Schweize-
dominieren Kirschlorbeer und Einheitsrasen.        uns wie der Schlüssel zum Schloss. Kein Wun-        rischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG
Die Freizeit verbringen wir am Tablet oder in      der: Die Geschichte der Menschen ist untrenn-       wird 2019 vermehrt über Biodiversität berich-
Sport­hallen.                                      bar mit derjenigen der restlichen biologischen      tet und die Bevölkerung zum Handeln aufge-
                                                   Vielfalt verbunden. Natur zu schützen und           rufen. Aktionen wie die «Stunde der Garten-
Allgegenwärtige Biodiversität                      in den Alltag zu integrieren heisst, unsere         vögel» von BirdLife Schweiz, bei der man sich
Da stellt sich unweigerlich die Frage: Kommen      Geschichte und innersten Bedürfnisse zu ver-        vor das Fenster oder in den Garten setzt und
wir im Alltag ganz ohne Biodiversität aus? Mit-    teidigen.                                           Arten zählt, haben regen Zulauf. Haus- und
nichten, wie die Bilder in diesem HOTSPOT ein-     Und es gibt weitere gute Nachrichten: Men-          Familiengärtnerinnen und -gärtner geben in
drücklich zeigen. Sie lenken unseren Alltags-      schen können sehr wohl zwischen artenarmen          einer aktuellen Umfrage an, dass die «Förde-
blick direkt auf echte oder vermeintliche Biodi-   und artenreichen Wiesenflächen unterschei-          rung der biologischen Vielfalt» ein wichtigstes
versität. Diese steckt in den Töpfchen, Fläsch-    den und bevorzugen ganz klar die artenrei-          Kriterium ihrer Arbeit ist (siehe S. 18). Hat viel-
chen und Tuben im Badezimmerschrank, in            chen, wie verschiedene Umfragen gezeigt ha-         leicht eine stille Revolution begonnen?
den Lebensmitteln, Kleidern und Möbeln. In-        ben. Die Wahrnehmung von Biodiversität              Vieles ist im Gange, auch wenn noch nicht
nen und aussen sind wir besiedelt von Myria-       durch die Menschen unterscheidet sich dabei         alles Gold ist, was glänzt. So ist Natur zwar
den von Kleinstlebewesen, die uns schützen,        je nach Werthaltung (siehe S. 14), Geschlecht       auch auf den neuen Schweizer Banknoten prä-
bei der Verdauung helfen und hin und wieder        und Nationalität (siehe S. 8).                      sent: Auf dem 50-Franken-Schein aber wurde
auch mal krank machen.                             Allen gemein sind allerdings die mittlerweile       unter dem Motto «Die vielseitige Schweiz» ein
Unser Alltagsbezug zur Biodiversität blüht im      erschreckend geringen Artenkenntnisse. Das          Löwenzahn abgebildet – ein Sinnbild für Mono­-
Verborgenen – ist aber allgegenwärtig. Die Pa-     dürfte vor 100 Jahren, als die meisten Men-         tonie und im Stickstoff erstickte Biodiversität
lette reicht bis zum Benzin an der Tankstelle,     schen in der Schweiz noch einen engen Natur-        (siehe S. 17).
das uns heute nur deshalb zur Verfügung steht,     bezug hatten, anders gewesen sein (siehe S. 10).
weil vor Millionen von Jahren Ökosysteme ge-       Mit der einsetzenden Entfremdung von der Na-        Lebensqualität zurückgewinnen
nug Biomasse in bestimmten Gebieten der            tur brach das Wissen um das Artenspektrum           Es gilt, die Naturvielfalt bewusster in den ganz
Weltmeere produzieren konnten. Etwas von           massiv ein und beschränkt sich heute vielfach       normalen Alltag zurückzuholen. Tun wir es
dieser Vielfalt oder deren Abbild holen wir aber   nur noch auf «herzige» oder gefährliche Arten       nicht, verzichten wir gedankenlos auf Lebens-
auch bewusst in die Wohnung, und seien es          wie Koala, Tiger oder Brennnessel.                  qualität. Es geht nicht darum, zwischen dem
nur ein paar Orchideen am Fenster, Plüschtiere                                                         Schutz der Wirtschaft und dem Schutz der Na-
im Kinderzimmer oder Computerspiele in fan-        Die Verantwortung der Politik                       tur zu wählen. Es ist kein entweder-oder, son-
tastisch modellierten Naturlandschaften.           Weil Sensibilisierungskampagnen Biodiversi-         dern ein sowohl-als-auch! Oder anders gesagt:
Der Bezug ist aber auch ganz handfest: Natur       tät nur in kleinen Schritten in den Alltag zu-      Wer sich für die Biodiversität engagiert, setzt
und Wildnis faszinieren uns Menschen. Out­         rückbringen können, braucht es unbedingt            sich auch für das Wohlergehen der heutigen
door-Sportarten waren noch nie so beliebt wi­e     auch grosse Schritte, die nur die Politik einläu-   und zukünftiger Generationen ein.
heute, Tendenz steigend. Biodiversität ist das     ten kann. Der Aktionsplan Biodiversität des
zentrale Element von Erholungsgebieten und         Bundes geht in die richtige Richtung (siehe
bedeutend für die kindliche Entwicklung (sie-      S. 24), ist aber aufgrund der heutigen politi-             Die Autoren
he S. 13). Umso bedenklicher ist es, dass natür-   schen Realitäten bis jetzt noch nicht der ganz             Dr. Gregor Klaus ist freier Wissenschaftsjournalist und
liche und naturnahe Gebiete von guter ökologi-     grosse Wurf, den es braucht, um die Biodiversi-            Redaktor von Hotspot. Dr. Daniela Pauli ist Leiterin
scher Qualität in den letzten 100 Jahren stetig    tätsverluste zu stoppen.                                   des Forum Biodiversität Schweiz und Redaktorin von
seltener geworden sind.                                                                                       HOTSPOT.

                                                                                                                                        HOTSPOT 39 | 2019          5
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

Biodiversität – vom Fachwort zum Alltagsbegriff

Biodiversität ist ein Begriff an der              Biodiversität als Grenzobjekt                     tische Biologie dar, bei der der Mensch Biodi-
Grenze zwischen Wissenschaft, Po-                 Letztendlich ist Biodiversität ein schwer greif-  versität sogar selbst herstellt durch die Syn-
                                                  bares, weit gefasstes Konzept für alles, was these neuer Organismen.
litik und Gesellschaft. Er schafft
                                                  mit der belebten Natur zu tun hat. Biodiversi- Im Welt-Biodiversitätsrat (IPBES), der 2019 sei-
Raum, der es ermöglicht, sich trotz               tät wird denn auch gerne dazu verwendet, nen ersten globalen Zustandsbericht veröf-
Differenzen in der Werthaltung                    eine globale, regionale oder lokale Aussage fentlicht hat, werden diese unterschiedlichen
zur Natur und manchmal schier                     über den Zustand der Natur zu machen, um Werthaltungen gegenüber der Natur explizit
                                                  ein Werturteil zu fällen und um die Notwen- mitgedacht, und zwar schon im konzeptio­
unvereinbarer Interessen auf einen
                                                  digkeit einer Anpassung unserer Wirtschafts- nellen Rahmen. Der Einbezug unterschiedli-
Kompromiss zur Erhaltung und                      weise und unserer Zivilisation aufzuzeigen. cher Wissensarten (z.B. das Wissen indigener
Förderung der Biodiversität zu ei-                Eine sinkende Biodiversität deutet bei dieser oder traditioneller Gruppen) und ein pluralis-
nigen. Ein Blick hinter die Kulissen              Sichtweise auf eine nicht nachhaltige Situati- tischer Bewertungsansatz sind dabei zentral
                                                  on oder gar eine Gefährdung des Lebens auf (Díaz et al. 2015, 2018). Dabei wird Biodiversi-
des neuen Alltagsbegriffs lohnt sich
                                                  der Erde insgesamt hin.                           tät zusammen mit den Menschen gedacht, da
deshalb. Von Eva Spehn                            In vielen Diskussionen wird selbstverständ- es immer stärker in unser Bewusstsein rückt,
                                                  lich angenommen, dass alle das Gleiche mei- dass sie nicht nur für den Lebensunterhalt,
Biodiversität ist eine relativ junge Wortschöp-   nen, wenn sie von Biodiversität reden. Biodi- sondern auch aus soziokulturellen, ethischen
fung. Die Wurzeln reichen in die späten           versität ist zwar ein Begriff, der seine Wurzeln und spirituellen Gründen wichtig ist (Redford
1950er-Jahre zurück. In den 1970er-Jahren         in der Wissenschaft hat. Doch im Grunde ist und Mansour 1996). Bis 2021 wird dement-
wurde Artenreichtum zum ersten Mal «natu-         er politisch aufgeladen. Oft wird er als neues sprechend ein thematischer Bericht zur Be-
ral diversity» genannt, 1980 tauchte «biolo­      Wort für «Natur» gebraucht oder ist mit ei- wertung der Natur und Biodiversität erarbei-
gical diversity» mit dem Konzept von geneti-      nem Appell des Schützens verbunden: ein tet. Dabei werden auch die Naturbeziehung
scher Vielfalt und Artenvielfalt auf. Mitte der   «epistemisch-moralischer Hybrid» und ein und die damit verknüpfte Werthaltung der
1980er-Jahre entwickelten Forschende wei­         «Grenzobjekt» (Potthast 2005), das sich zwi- einzelnen Akteure analysiert, die sich hinter
tere und umfangreichere Definitionen. Mit         schen Wissenschaft, Naturschutz und Politik ihrem jeweiligen Gebrauch des Begriffs Biodi-
dem Buch «Biodiversity» von Edward O. Wilson      aufspannt.                                        versität verbergen.
(1988) wurde der Begriff erstmals breit ge-       Die Dehnbarkeit des Wortes Biodiversität
streut.                                           führt dazu, dass sich jede und jeder darin wie- Der gemeinsame Nenner
                                                  derfinden kann, was ihn für ein sehr breites Die unterschiedlichen Werthaltungen, hinter
Siegeszug eines Zungenbrechers                    Spektrum von Interessengruppen relevant denen sich ein unterschiedliches Verhältnis
Heute kennt der Grossteil der Schweizer Be­       macht. Er ist daher geeignet, auch unverein- zur Natur verbirgt, führen zu einer jeweils an-
völ­­kerung den Begriff Biodiversität. 74 % ga-   bare Positionen unter einen Hut zu bringen – deren Motivation, Biodiversität zu schützen
ben 2016 in einer Umfrage an, «Biodiversität»     aber meist nur scheinbar. Denn der gemeinsa- oder zu fördern. Agrarforschende, die sich
schon einmal gehört oder gelesen zu haben         me Begriff überdeckt wie eine Haut die unter- um den Verlust von Nutzpflanzen und Nutz-
(Forschungsinstitut gfs-zürich 2016). 2009 lag    schiedlichen Werthaltungen der verschiede- tierrassen sorgen, oder Ethnobiologinnen und
dieser Anteil erst bei 48 %. Diese Erfolgsge-     nen Stakeholder (Redford und Mace 2018).         -biologen, die mit Landwirten zusammenarbei-
schichte ist erstaunlich angesichts der Tatsa-                                                      ten, die traditionelle Landrassen anbauen,
che, dass der Begriff den meisten Menschen        Werthaltungen aufdecken                           sind  beispielsweise wichtige Partner bei der
nur schwer über die Lippen kommt.                 Forschende haben erst kürzlich eine Typolo-       Erhaltung   und Förderung der Biodiversität
Biodiversität richtig definieren können im-       gie von Mensch-Naturbeziehungsmodellen er- (Jackson et al. 2007, Nazarea 2006), ebenso
merhin zwei von drei Personen, die das Fach-      stellt, die helfen kann, bei Konflikten zwi- wie Pharmaunternehmen, die nach neuen
wort kennen (Forschungsinstitut gfs-zürich        schen Interessensgruppen Klarheit zu gewin- Medikamenten in Wildarten suchen.
2016). Am häufigsten nannten die Befragten        nen (Muradian und Pascual 2018). Sie reichen Insgesamt ist man sich einig, dass Biodiversi-
«Vielfalt bei Natur, Pflanzen und Tieren», was    von «Natur am liebsten ohne Mensch» (Wild- tät etwas Gutes bedeutet – dies stellt somit ei-
der offiziellen Definition der Biodiversitäts-    nis als Ideal), zu «Mensch ohne Kontakt zur nen gemeinsamen Nenner aller Interessens-
konvention (CBD 1992) schon recht nahe            Natur» (Urbanität, Technologie als Ideal), «Na- gruppen dar. Der Sache «Biodiversitätsschutz»
kommt.                                            tur nutzen» (Grüne Ökonomie, Ökosystem- kommt man näher, wenn die unterschiedli-
Diese wissenschaftliche Definition ist eigent-    leistungen), «Stewardship der Natur» (d.h. ver- chen Werthaltungen hinter dem Begriff Biodi-
lich wertneutral. Und doch ist allgemein klar:    nünftiges Verwalten der Natur durch den versität geklärt werden. Das bedeutet, dass
Biodiversität ist etwas Gutes, und ihr Schutz     Menschen im Bewusstsein seiner eigenen Ab- die Konflikte aufgedeckt und ausgetragen
ist daher erwünscht. Biodiversität wird im All-   hängigkeit) bis hin zur Dominanz des Men- werden müssen.
tag oft als ein Gegenentwurf gedacht zur vom      schen über die Natur (z.B. das Abholzen der
Menschen dominierten Welt mit ihren ausge-        Wälder im Mittelalter bei uns oder das Anle- Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot
dehnten Monokulturen, verbauten Agglome-          gen von Palmölplantagen im Regenwald in
rationen und Shoppingcentern.                     Südostasien). Eine neue Herausforderung für
                                                  das Mensch-Naturverhältnis stellt die synthe-

6      HOTSPOT 39 | 2019
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Die Autorin
Dr. Eva Spehn arbeitet als wissenschaftliche Mitarbei-
terin beim Forum Biodiversität und ist dort für Internati-
onales (IPBES, CBD) zuständig. Sie hat in Pflanzenöko-
logie zu Biodiversität und Ökosystemleistungen an der
Universität Basel promoviert und arbeitet seit vielen
Jahren auch als Koordinatorin im Internationalen For-
schungsnetzwerk «Global Mountain Biodiversity As-
sessment». Kontakt: eva.spehn@scnat.ch

                                                             HOTSPOT 39 | 2019   7
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

«Die Menschen haben eine inhärente Vorliebe für Biodiversität»

Wie nehmen verschiedene Bevöl-                                                      HOTSPOT: Auf dem Weg vom Hauptbahnhof               Menschen in Europa und den USA kommen
kerungsgruppen Biodiversität im                                                     Karlsruhe zur Pädagogischen Hochschule              heutzutage in ihrem Alltagsleben auch oh-
                                                                                    haben wir nach Biodiversität Ausschau ge-           ne Kenntnis der sie umgebenden wildleben-
Alltag wahr? Und wie kann Bildung
                                                                                    halten. Viel haben wir nicht gefunden.              den Tiere und Pflanzen gut zurecht. Hat dies
diese Wahrnehmung schärfen?                                                         Petra Lindemann-Matthies: Auf der Strecke           Auswirkungen auf die Einstellung zur Biodi-
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Petra                                                    gibt es tatsächlich kaum biologische Vielfalt:      versität?
Lindemann-Matthies von der Päda-                                                    Ein paar Bäume, kurz gehaltene Rasenflächen,        Das ist ein sehr interessanter Punkt: Denn un-
                                                                                    struppige Ligusterhecken. An vielen anderen         sere Studien haben klar gezeigt, dass Schwei-
gogischen Hochschule Karlsruhe.
                                                                                    Orten in Karlsruhe sind in den letzten Jahren       zerinnen und Schweizer eine Vorliebe für Bio-
                                                                                    aber artenreiche Grünflächen entstanden.            diversität haben, auch wenn sie die realen Ar-
                                                                                    Dank des Biodiversitätskonzepts der Stadt           tenzahlen nur vage wahrnehmen. Wenn sie
                                                                                    nimmt die Artenvielfalt wieder zu. Das Bau-         zwischen artenarmen und artenreichen Wie-
                                                                                    amt legt biodiverse Wiesen in grossem Stil an.      sen und Gärten wählen müssen, entscheiden
                                                                                    Auch Restflächen an den Tramlinien werden           sie sich für artenreiche Systeme.
                                                                Foto Gregor Klaus

                                                                                    zunehmend ökologisch aufgewertet.
                                                                                                                                        Gilt das für alle Bevölkerungsgruppen?
                                                                                    Erkennen Menschen diese Biodiversität?              In einer aktuellen Untersuchung haben wir
                                                                                    Nein, nicht unbedingt. Unsere Umfragen und          dazu Menschen aus 43 Staaten befragt, die
                                                                                    Experimente haben gezeigt, dass Menschen            seit mindestens zwei Jahren im Kanton Zü-
                                                                                    zwar durchaus in der Lage sind, zwischen ar-        rich leben. Während Menschen aus reichen
                                                                                    tenarmen- und artenreichen Wiesenflächen            Ländern artenreiche Wiesen bevorzugten,
                                                                                    zu unterscheiden, dass sie aber die Artenzahl       zeigten Menschen aus ärmeren Ländern keine
                                                                                    in Wiesen mit geringem Artenreichtum über-          klare Präferenz. Viele fanden Monokulturen
                                                                                    schätzen und die Artenzahl in Wiesen mit ei-        toll. Ich vermute, dass sie den Ernteertrag hö-
                                                                                    nem hohen Artenreichtum zunehmend unter-            her gewichten als die anderen Leistungen der
                                                                                    schätzen. Interessant ist aber, dass in allen Un-   Ökosysteme. Diejenigen, die eher die artenrei-
                                                                                    tersuchungen die ästhetische Bewertung der          chen Systeme bevorzugten, hatten ein gewis-
                                                                                    Flächen mit zunehmender Artenzahl anstieg,          ses Hintergrundwissen über ökologische Zu-
                                                                                    das heisst, die artenreichsten Flächen immer        sammenhänge.
                                                                                    am besten gefielen. Dies deutet darauf hin,
                                                                                    dass Menschen eine inhärente Vorliebe für bio-      Womit wir bei der Bildung wären.
                                                                                    logische Vielfalt haben. Artenreiche Wiesen         Genau. Die kann nicht hoch genug einge-
                                                                                    hatten dabei nicht nur positive Effekte auf das     schätzt werden. Massnahmen müssen dabei
                                                                                    ästhetische, sondern auch auf das tatsächlich       langfristig gedacht werden. Eine ehemalige
                                                                                    messbare körperliche Wohlbefinden. Je arten-        Doktorandin von mir hat in Argentinien
                                                                                    reicher unsere Testwiesen waren, desto besser       Schülerinnen und Schüler befragt, mit denen
                                                                                    erholten sich Menschen von Stress. «Vielfalt»       eine Naturschutzorganisation Workshops zur
                                                                                    ist also besser als «Einfalt».                      Artenvielfalt durchgeführt hatte. Das Wissen
                                                                                                                                        der Kinder und Jugendlichen über die lokale
                                                                                    Gibt es gesellschaftliche Unterschiede in Be-       Artenvielfalt war kurz nach den Workshops
         Prof. Dr. Petra Lindemann-Matthies hat Biologie,                           zug auf das Wissen über Biodiversität?              deutlich besser. Doch bereits nach einem Jahr
         Geographie und Physik für das Lehramt an der Sekun-                        Sehr starke sogar. Um diese Frage zu beant-         war es fast wieder vollständig verschwunden.
         darstufe II studiert und anschliessend mehrere Jahre                       worten, sind Forschende um die ganze Welt           Das heisst: Wir benötigen bei der Umweltbil-
         als Lehrerin gearbeitet. Für ihre Doktorarbeit am Insti-                   gereist und haben die Artenkenntnis der je-         dung länger andauernde oder wiederholte In-
         tut für Umweltwissenschaften der Universität Zürich                        weiligen Bevölkerung untersucht. Die Resulta-       terventionen. Ganz umsonst waren die Work-
         bearbeitete sie das Thema «Children’s perception of                        te sind eindeutig: Je höher der Lebensstandard      shops in Argentinien allerdings nicht: Bei
         biodiversity in everyday life and their preferences for                    in einem Land ist, desto geringer ist das ökolo-    Schülerinnen und Schülern, die bereits etwas
         species». Nach einigen Jahren als wissenschaftliche                        gische Wissen. Selbst innerhalb von Ländern         Wissen über lokale Arten und ihren Nutzen
         Mitarbeiterin habilitierte sie zum Thema «Biodiversity                     mit niedrigem Lebensstandard findet sich die-       hatten, blieb mehr vom Gelernten hängen.
         perception, awareness and education» am Institut für                       ser Zusammenhang: Je reicher ein Haushalt           Das zeigt: Man lernt das am Besten, was man
         Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der                            ist, desto geringer sind die Artenkenntnisse.       schon ein bisschen kennt. Auf Vorwissen
         Universität Zürich. Seit 2010 ist Petra Lindemann-Mat-                                                                         kann Bildung am besten aufbauen.
         thies Professorin für Biologie und ihre Didaktik an der                    Gilt diese Heterogenität auch für Länder
         Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Sie ist unter an-                      wie die Schweiz und Deutschland?                    Unterscheiden sich Männer und Frauen in
         derem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zur Aus-                     Nein, hier ist niemand so arm, dass er sein Es-     ihrer Artenkenntnis und -wahrnehmung?
         stellung im Nationalparkzentrum Ruhestein (National-                       sen in der Natur suchen muss. Und hat man           Alle unsere Studien haben gezeigt: Frauen ken-
         park Schwarzwald) und Nachhaltigkeitsbeauftragte                           sich erst einmal von der Natur entkoppelt,          nen mehr Arten und finden artenreiche bunte
         des Rektorats der PH Karlsruhe.                                            muss man auch die Arten nicht mehr kennen.          Wiesen noch schöner, als dies Männer tun.

8      HOTSPOT 39 | 2019
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

Woran könnte das liegen?                        Sie bilden an der Pädagogischen Hochschule       gartenerfahrung stark profitieren: Durch per-
Kleine Kinder beiden Geschlechts lieben es      zukünftige Lehrpersonen aus und sind An-         sönlich bedeutsame Erfahrungen im Schul-
gleichermassen, draussen zu sein. Aber was      laufstelle für Lehrerinnen und Lehrer. Das       garten verbessern sie unter anderem ihre
machen sie in der Natur? Beobachtungen zei-     sind wahre Multiplikatoren für Nachhaltig-       Wahrnehmung für pflanzliche Vielfalt und
gen, dass viele Buben den erstbesten Stock      keit. Was geben Sie ihnen mit auf den Weg?       für Zusammenhänge zwischen Organismen,
nehmen und damit durch die Gegend rennen,       Eine ganze Menge! Biodiversität ist zunächst     was der Naturentfremdung entgegengewirkt
wohingegen Mädchen eher Blumen pflücken         einmal ein wichtiges Thema in unseren lehr-      und auf diese Weise einen Beitrag zum Erhalt
und arrangieren. So wird möglicherweise die     amtsbezogenen Bachelor- und Masterstudien-       der Artenvielfalt im Sinne der Bildung für
unterschiedliche Artenkenntnis und -wahr-       gängen. Wir stellen zudem Unterrichtsmate-       nachhaltige Entwicklung leistet.
nehmung generiert.                              rialien zur Verfügung und unterhalten ein
                                                Nachhaltigkeitslabor für Schulen. Lehrkräfte     Profitieren Studierende von einer aufgewer-
Hat das Elternhaus einen Einfluss auf die Ar-   können sich dort aus zahlreichen Boxen zu        teten Umgebung der Hochschule?
tenkenntnisse?                                  verschiedenen Umweltthemen bedienen und          Sehr sogar! Die Aufwertungen finden im Rah-
Ja. Eine unserer Untersuchungen hat gezeigt,    einen anschaulichen Unterricht gestalten. Ei-    men unseres Projektes «Die Kunst der Biodi-
dass nicht die Schule der Haupteinflussfaktor   nige dieser Boxen sind von Studierenden zu-      versität» statt. Wie der Name sagt, sind auch
auf die Artenkenntnis und -wahrnehmung ist,     sammengestellt und getestet worden. Für          Kunststudierende beteiligt. Alle hatten wenig
sondern das Elternhaus. Wenn die Eltern         mich ist es wichtig, dass die Studierenden und   Artenkenntnis. Im Rahmen des Pflanzenin-
nichts wissen, wissen auch die Kinder nichts.   die Lehrpersonen ganz praktisch an die Um-       ventars zur Erhebung des Ist-Zustands und
Umso schlimmer ist es, wenn die ganze Gesell-   weltthemen und vor allem an die Biodiversi-      der Planungen haben sie sehr viel über Biodi-
schaft sich immer weiter von der Natur ent-     tät herangehen. Handlungskompetenzen wer-        versität gelernt. Sie mussten auch via Sponso-
fremdet. Eine unserer Schlussfolgerungen aus    den immer noch unterschätzt. Wissen ist          ring einen Teil der finanziellen Mittel für die
der Studie war: Die Schulen müssten theore-     wichtig, Handeln eingeübt zu haben ist aber      Aufwertungen zusammentragen. In den kom-
tisch auch die Eltern einbeziehen.              wichtiger.                                       menden Jahren wird es Hochbeete, Blumen-
                                                                                                 wiesen und Sitzgelegenheiten geben. Wichtig
Das dürfte schwierig werden. Gibt es andere Vermitteln Sie den Studierenden solche               ist ein gemähter Bereich entlang der Wege,
Möglichkeiten, Kinder und Erwachsene zu Kompetenzen?                                             der sogenannte Freundschaftsstreifen. Denn
sensibilisieren?                                Ja, in verschiedenen Projekten. Das Projekt      Menschen dürfen nicht das Gefühl haben,
Das Potenzial von Schutzgebieten und Zoos «Einfach mal etwas verändern», Projekte im             dass etwas chaotisch aussieht; tun sie es, dann
wird in Europa viel zu wenig genutzt. Da könn- Hochschulgarten und die Aufwertung der            lehnen sie es ab. Der Freundschaftsstreifen ist
te man viel von den USA lernen. Dort gibt es Grünflächen rund um die Hochschule sind             wichtig, weil er die Akzeptanz solcher Mass-
zum Beispiel sogenannte Zoomobile, an denen nur drei Beispiele. Beim ersten Projekt ver-         nahmen stark fördert. Die naturnahen Räu-
Besucherinnen und Besucher mit Hilfe von pflichten sich unsere Studierenden, eine Wo-            me sind aber nicht nur Keimzellen für zu-
Rangerinnen und Rangern interaktiv auf be- che oder länger in Bezug auf ein bestimmtes           künftige Aufwertungen, sondern zugleich
drohte Arten aufmerksam gemacht werden. Thema nachhaltig zu leben. Sie können zum                auch Klassenzimmer. Hier können Studieren-
Der Tierpark Goldau hatte versuchsweise beim Beispiel Plastik vermeiden, vegan leben, Müll       de biologische Zusammenhänge und Vielfalt
Bartgeiergehege ein entsprechendes Zoomobil sammeln, Energie sparen, sich nur mit dem            erleben und untersuchen.
aufgestellt. Man konnte dort beispielsweise Fe- Fahrrad fortbewegen und vieles mehr. Die Er-
dern in Eisenoxid färben und damit das simu- fahrungen werden regelmässig im Plenum              Manche der Tiere auf den Flächen erzeugen
lieren, was ältere Bartgeier in der Natur in diskutiert, so dass man voneinander lernen          Ekel. Schnecken zum Beispiel. Wie gehen Sie
Pfützen machen, um auffälliger zu werden. kann. Die Studierenden machen das gerne                damit um?
Ranger standen für Fragen bereit und konnten und halten es auch fast immer durch. Wir tes-       Mit der richtigen Herangehensweise kann der
die Zoobesucher auf jenem Wissensstand ab- ten das auch in den Schulen. Mehrere meiner           Ekel gemindert oder sogar abgestellt werden.
holen, auf dem die jeweiligen Besucherinnen Masterstudierenden haben bereits die Wir-            Bringt man zum Beispiel Nacktschnecken mit
und Besucher waren. Unsere begleitenden Un- kungen solcher Selbstverpflichtungseinheiten         in den Unterricht, rufen zunächst alle Schüle-
tersuchungen haben gezeigt, dass diese Art untersucht und festgestellt, dass die Teilneh-        rinnen und Schülern iiih, aber am Ende der
der Wissensvermittlung deutlich besser ist als menden noch Monate später vieles im Alltag        Unterrichtseinheit hat jede und jeder ihre bzw.
die normalen Informationsschilder, die kaum umsetzen, und dass sie andere motiviert ha-          seine Schnecke auf der Hand und ihr einen Na-
gelesen werden. Leider sind die Zoomobile ben, es ihnen gleich zu tun. Nachhaltigkeit            men gegeben. Dann sind das nicht einfach
sehr teuer, vor allem aufgrund der hohen Per- muss im Kleinen beginnen. Man kann das             Schnecken, sondern Lisa, Egon, Fritz und Lilli.
sonalkosten.                                    nicht überstülpen. Ich habe begonnen, diesen
                                                Ansatz zu publizieren, um auch etablierte        Ist die Bildung der Schlüssel zur Erhaltung
Die sind in den USA auch sehr hoch.             Lehrkräfte dafür zu gewinnen.                    der Biodiversität?
Dort löst man dieses Problem mit Freiwilli-                                                      Es ist ein wichtiger Hebel. Die Sensibilisie-
genarbeit durch Rentnerinnen und Rentner. Gärtnern die Studierenden gerne?                       rung der Bevölkerung kann aber nur in ganz
Das ist durchaus beliebt, weil diese Menschen Nicht nur die Studierenden, auch die Schüle-       vielen kleinen Schritten erfolgen. Das braucht
sehr viel Anerkennung bekommen. Ich verste- rinnen und Schüler! Allerdings sind viele            Zeit. Das reicht sicher nicht, um die Biodiver-
he nicht, wieso in Deutschland oder der Lehrkräfte mit einem Schulgarten überfor-                sität zu erhalten. Es ist an der Politik, grosse
Schweiz kaum jemand die Initiative ergreift, dert. In unserem Hochschulgarten werden             Schritte einzuläuten.
mobile Stände in Zoos, botanischen Gärten deshalb Lehramtsstudierende darauf vorberei-
oder Schutzgebieten aufzubauen. Ich würde tet, einen Schulgarten selbst anzulegen oder           Interview: Gregor Klaus und Danièle Martinoli,
mich nach der Pensionierung sofort freiwillig mitzugestalten und Schülerinnen und Schü-          Redaktion HOTSPOT
dafür melden.                                   ler für die Gartenarbeit zu begeistern. Unter-
                                                suchungen zeigen, dass Kinder von der Schul-

                                                                                                                           HOTSPOT 39 | 2019   9
HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

Natur im Alltag einst und heute

Obwohl schon längst keine Bäue-                  schaft 1964). Dies legt den Schluss nahe, dass            hend korrigiert werden, dass praktisch aus-
rinnen und Bauern mehr, baute ein                bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-            nahmslos die ganze Dorfbevölkerung sehr
                                                 derts ein namhafter Teil der Dorfbevölkerung              häufig mit vielfältiger Natur in nahen Kon-
Grossteil der ländlichen Bevölke-
                                                 nicht tagtäglich (beim Ausüben der Erwerbs-               takt gekommen ist. Da der Grad der Mechani-
rung in der Schweiz bis ins 20. Jahr-            tätigkeit) mit der Natur in Kontakt gekom-                sierung gering war, gab es für Alt und Jung
hundert hinein landwirtschaftliche               men ist. Ein Irrtum, wie sich im Folgenden                viel Handarbeit zu verrichten. Es lässt sich
Produkte zur Selbstversorgung an.                zeigen wird.                                              nicht sicher sagen, von welcher Art die Natur-
                                                                                                           kenntnisse waren, aber es liegt auf der Hand,
Damit blieb ein gewisser Natur-
                                                 Verbreitete Selbstversorgung                              dass den Kindern von den Eltern laufend Wis-
bezug erhalten. Erst im Laufe des                Der Urgrossvater des Autors war in den                    sen, welches Relevanz für die Landbewirt-
letzten Jahrhunderts setzte eine                 1880er- und 1890er-Jahren Lehrer in Buus. Es              schaftung hatte, insbesondere über Nützlinge
Entfremdung ein.                                 ist ein Glücksfall, dass seine Tochter, Emme-             und Schädlinge sowie Kulturpflanzen, vermit-
                                                 line Tanner, später Aufzeichnungen über das               telt wurde.
Von Karl Martin Tanner
                                                 Leben im Dorf gemacht hat. Sie schreibt (Tan-             2003, gut hundert Jahre später, hatte Buus
                                                 ner, ohne Jahrgang): «(...) wer kaufte Milch? Ein         980 Einwohnerinnen und Einwohner. Viele
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind in der      paar arme und alte Leute, die keine Kuh oder Geiss        Berufsleute pendelten zum Arbeiten in ande-
Schweiz die Arten- und Nischenvielfalt sowie     besassen und eben noch der Schulmeister. (...) Da reif-   re Gemeinden. Es gab noch immer die stattli-
die Individuenzahlen zahlreicher Lebewesen       te der Entschluss selber eine Geiss oder Kuh zu haben.    che Zahl von 24 landwirtschaftlichen Haupt-
drastisch zurückgegangen (Lachat et al. 2010).   Zum zweiten kaufte die Lehrersfrau das Mehl. Sol-         und Nebenbetrieben (Basellandschaftliche Ge-
Folglich darf man davon ausgehen, dass frü-      ches war in der Mühle zu haben. Wer kaufte Mehl?          bäudeversicherung 2004). Aber durch gross-
here Bewirtschafterinnen und Bewirtschafter      Arme und alte Leute und eben der Schulmeister. Ja         flächige Meliorationseingriffe und den inten-
von Kulturlandflächen in der Schweiz – quasi     und für diese gab der Müller nicht sein schönes Mehl.     siven Einsatz von Dünger und Pestiziden war
«en passant» – mit einer deutlich grös­seren     Da tat es geringes und mit Roggen gemischt. (...) Das     die Artenvielfalt insbesondere seit der Mitte
biologischen Vielfalt in Berührung gekom-        Fleisch: das verkaufte der Wirt und Metzger im Dorf.      des 20. Jahrhunderts erheblich zurückgegan-
men sind als heutige.                            (...) Einmal hatten die jungen Leutli ein Gelüsten        gen. Die Landwirtschaftsflächen wurden nur
                                                 nach etwas geräuchertem, und der Lehrer machte            noch von wenigen Leuten bearbeitet, und die
Naturentfremdende Handwerksberufe                sich selber auf die Beine, um etwas rechtes zu holen.     Mechanisierung hatte auch diese immer mehr
Wenn man wissen möchte, wie viele Menschen       In der School [Schlachtlokal] erklärte er dem Wirt, er    vom «handfesten» Kontakt mit der artenar-
vor 1900 sehr häufig nah mit der Natur in Kon-   hätte gern ein Schüfeli. (...) Unser Wirt und Metzger     men Scholle weggebracht.
takt kamen, also «etwas» von Biodiversität       sah darauf unseren Lehrer verwundert an, so dass          Auch heute, 16 Jahre danach, sind die Men-
mitbekommen haben, sollte man rekonstruie-       dieser glaubte, er hätte ihn nicht verstanden, und        schen bei der Ausübung ihrer Berufstätigkeit
ren, wer welcher Arbeit nachgegangen ist. In     sein Begehren wiederholte. Doch da sagte der Gewal-       noch immer weit entfernt von regelmässigen
dieser Absicht wollen wir exemplarisch das ba-   tige hinter seinem Haubank: ‹Jä – das essen wir sel-      Begegnungen mit vielfältiger Natur. Und doch
sellandschaftliche Dorf Buus, eine heute noch    ber.› Was konnte man da machen? Sich vornehmen,           könnte zumindest in Buus die Talsohle der
ländliche Gemeinde im Tafeljura, näher be-       selber ein Säuli zu kaufen. Die Eier: nicht einmal ihre   Biodiversitätsverluste einerseits und der
trachten. 1850 hatte es 613 Einwohnerinnen       Eier verkauften die Bauernfrauen gerne. (...) Drum        Wahrnehmung von Artenvielfalt andererseits
und Einwohner, 1900 waren es 611 (Direktion      also Hühner kaufen und selber Eier haben.»                schon bald durchschritten sein. Denn es gibt
des Innern Basel-Landschaft 1944). In einer      Die Schilderung klärt zweifelsfrei, dass auch             im Dorf eine zunehmende Zahl von Personen,
handschriftlichen Heimatkunde wird 1863 ei-      die Handwerker und die Gewerbetreibenden                  die in ihrer Freizeit bewusst Nähe zur Natur
ne erstaunlich grosse Zahl von Handwerkern       und eben sogar der Lehrer in kleinerem oder               suchen und sich aktiv für das Schaffen von
aufgeführt: 2 Schneider, 3 Schuster, 2 Wagner,   grösserem Umfang Land bewirtschaftet ha-                  mehr Diversität einsetzen: Rund um den
1 Hufschmied, 1 Küfer, 4 Zimmerleute, 2 Mau-     ben. Bei sehr vielen Dorfbewohnern floss also             Farnsberg, zum Teil auf Buusner Boden, läuft
rer, 1 Metzger, 3 Leinenweber, 1 Nagelschmied.   die Arbeitsenergie in mindestens zwei Stand-              seit 2004 unter dem Namen «Obstgarten
Dazu kamen als Gewerbe 1 Getreidemühle, 2        beine. Das Standbein «Landbewirtschaftung»                Farnsberg» ein grossflächiges Projekt zur öko-
Ölmühlen, 2 Sägen und 1 Hanfreibe, ferner 2      war eine Selbstverständlichkeit, da es die Er-            logischen Aufwertung des Kulturlandes (www.
Wirtschaften (Schaub 1863). Als «Handelsleu-     nährung garantieren musste; es ging um                    obstgarten-farnsberg.ch). Zudem hat der Na-
te» gab es 2 Boten und 2 Krämer.                 nichts weniger als um Selbstversorgung. Nur               tur- und Vogelschutzverein Buus die stattli-
Zu diesen Handwerkern und Gewerbetreiben-        die armen und alten Leute hatten kein Land                che Zahl von mehr als 300 Mitgliedern. Diese
den dürften rund 30 Haushaltungen gehört         bzw. nicht die Kraft dazu, Boden zu bearbei-              pflegen Hecken, säen Blumenwiesen an, be-
haben. Ausserdem gab es 1862 in den Häusern      ten. Der Grad der Armut dürfte sogar direkt               treuen rund 400 Nistkästen und vieles mehr.
45 Seidenband-Webstühle (Graf 1972). Man         mit dem Grad der Selbstversorgung korreliert              Es gibt auch eine aktive Jugendgruppe (www.
kann also annehmen, dass in einer beträchtli-    gewesen sein.                                             nvb-buus.ch). Viele Lichtblicke also!
chen Anzahl der für 1870 und 1900 bezeugten
124 Haushalte Einkommen aus handwerkli-          Naturschutz als Lichtblick                                Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot
cher oder gewerblicher Betätigung erarbeitet     Die oben geäusserte Folgerung bezüglich Na-
wurde (Statistisches Amt Kanton Basel-Land-      turnähe der Menschen muss somit dahinge-

10     HOTSPOT 39 | 2019
Der Autor
Dr. Karl Martin Tanner hat Zoologie, Botanik, Geo-
grafie und Geologie studiert. Er war 12 Jahre lang Ober-
assistent an der Professur für Natur- und Landschafts-
schutz der ETH Zürich. Daneben arbeitete er als Dozent
für Sachunterricht an der Pädagogischen Hochschule
FHNW. Seit 2014 ist Karl Martin Tanner freischaffend in
den Bereichen Natur- und Landschaftsgeschichte sowie
Didaktik des Sachunterrichts tätig.
Kontakt: km.tanner@bluewin.ch

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Der Autor
                         Dr. med. Markus Weissert ist Kinderneurologe FMH
                         und ehemaliger Leiter der neuropädiatrischen Abtei-
                         lung im Ostschweizer Kinderspital St. Gallen. Er ist Ex­
                         perte für Ursache-Wirkungsbeziehungen im Bereich
                         Entwicklungsneurologie, Natur und Pädago­      gik und
                         setzt sich für die Verbreitung der Waldkin­derpädagogik
                         ein. Kontakt: m_weissert@bluewin.ch

12   HOTSPOT 39 | 2019
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

Kinder brauchen naturnahe Freiräume

Kinder verbringen heute weniger                   Höfflin 2016). Als Ursache wird einerseits das      > Mütter, die in grünen Wohnsiedlungen le-
Zeit mit Spielen im Freien als Häft-              Fehlen von attraktiv gestalteten Freiräumen         ben, haben schwerere Neugeborene – auch un-
                                                  aufgeführt, anderseits beansprucht die In­door-     ter Berücksichtigung anderer Variablen wie
linge auf ihrem täglichen Freigang.
                                                  Nutzung elektronischer Medien zeitlich bereits      den Sozialstatus (Markevych et al. 2013, Dad-
Es fehlt an gestaltbaren attraktiven              ein Vielfaches des Outdoor-Aufenthalts.             vand et al. 2012).
Freiräumen im Wohnumfeld. Dabei                   Umso wichtiger sind Bemühungen, Kinder wie-         > Bei Kindern erhöht die mangelhafte Out­
bieten naturnahe biodiverse Frei-                 der in die freie Wildbahn zu entlassen. In ei-      door-Tageslichtexposition gepaart mit lang-
                                                  nem Waldkindergarten führen Klettern, Verste-       dauernder Bildschirmarbeit das Risiko für eine
räume ideale Voraussetzungen für
                                                  cken, Schnitzen, Feuern und Kochen zu einer         kindliche Kurzsichtigkeit (Sankaridurg 2015,
eine altersgemässe kindliche Ent-                 vielfältigeren Bewegungsentwicklung im Ver-         Dadvand et al. 2017). Eingeschränkte Sonnen-
wicklung. Sie schaffen die Grundla-               gleich zu Kindern in einem konventionellen          lichtexposition führt zu verbreitetem kindli-
ge für die körperliche und psychi-                Kindergarten ohne besondere pädagogische            chen Vitamin-D-Mangel, ein Risikofaktor für
                                                  Konzeption (Regelkindergarten). Im Rahmen ei-       eine gestörte Skelettentwicklung.
sche Gesundheit der Kinder und ihre
                                                  ner Dissertation konnte festgestellt werden,        > Wer als Kind von vielen Grünflächen umge-
Persönlichkeitsentwicklung.                       dass Kinder aus Waldkindergärten im Vergleich       ben ist, läuft später weniger Gefahr, psychisch
Von Markus Weissert                               zu jenen aus konventionellen Einrichtungen ei-      zu erkranken (Engemann et al. 2019).
                                                  ne höhere Schulreife in Bezug auf Motivation,       > Dem Mikrobiom der Umwelt kommt eine
Für die Entwicklung des kindlichen Nervensys-     Ausdauer und Konzentrationsvermögen haben           grosse Bedeutung für das Mikrobiom in unse-
tems sind Myelinisierung (Bemarkung der Ner-      (Häfner 2002). Wo Waldkindergärten fehlen,          rem Körper zu. Bei Neugeborenen erfolgt bei-
venfasern) und Synaptogenese (Bildung von         könnte auch die Umgestaltung eines versiegel-       spielsweise nach natürlicher Geburt eine
Nervenzell-Verbindungen) von ausschlagge-         ten Schulhofs zu einem strukturierten naturna-      Keimbesiedelung durch die Mutter; bei einem
bender Bedeutung. Die Myelinisierung ermög-       hen Pausenplatz Anreize für gesteigerte Bewe-       Kaiserschnitt fällt diese Reaktion schwächer
licht eine schnelle Informationsübertragung,      gungsaktivitäten schaffen (Fjørtoft 2004, Her-      aus, was ein höheres Risiko für Allergien und
die Synapsen gewährleisten die Informations-      rington und Brussoni 2015).                         entzündliche Erkrankungen beinhaltet (Wam-
vernetzung im Nervensystem. Es gilt, das Ent-     Die Defizite in differenzierten Bewegungser-        pach et al. 2018).
wicklungsfenster für die sensomotorische Syn-     fahrungen haben heute vermehrt Therapiever-         > Der weltweite fortschreitende Biodiversitäts-
aptogenese bis zum Schulalter optimal zu nut-     ordnungen wie Physiotherapie, Psychomoto-           verlust beim Mikrobiom geht einher mit einer
zen – und zwar mit Hilfe der Biodiversität.       rik oder Ergotherapie zur Folge. Dazu kom-          Zunahme von Allergien (Heuschnupfen, Asth-
                                                  men Übergewicht durch Inaktivität und sit-          ma) und nicht entzündlichen Krankheiten
Vielfalt wirkt                                    zende Haltung sowie Beschwerden im Bewe-            (z.B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) (Haahtela
Eine naturnahe, biodiverse Umgebung ermög-        gungsapparat. Auch exekutive Funktionen wie         et al. 2013).
licht den Kindern, mit variablen taktil-kinäs-    Gedächtnis und Konzentrationsvermögen pro-          > Eine reiche Biodiversität des Bodenlebens
thetischen Reizen auf unterschiedlichen Bö-       fitieren von einem Outdoor-Unterricht (Hill-        stärkt die menschliche Immunabwehr und
den mit wechselhafter Topographie reiche Be-      man et al. 2014, Torquati et al. 2017). Aus ver-    bietet Schutz vor infektiösen und parasitären
wegungserfahrungen zu sammeln. Balancie-          schiedenen Beobachtungen geht die positive          Erkrankungen (Liddicoat et al. 2018).
ren und Klettern fördern Bewegungsdosierung       Wirkung naturnaher Räume auf das Aufmerk-           > Ebenso begünstigt die Biodiversität die
und Gleichgewicht und verhelfen zu Selbstsi-      samkeitsvermögen hervor. Ein Parkspazier-           Gesundheit der Atemwege über die Einat-
cherheit. Gleichzeitig machen die Kinder in na-   gang von 20 Minuten verbessert die Konzen­          mung des Umweltmikrobioms (Liddicoat et al.
turnahen Lebensräumen nachhaltig vernetzte        tration bei Kindern mit einer schweren Auf-         2018).
multimodale Sinneserfahrungen.                    merksamkeitsstörung (ADHS) genauso wie ei-          Diese Erkenntnisse beunruhigen im Hinblick
Der regelmässige Aufenthalt in der Natur för-     ne Dosis Ritalin® (Taylor 2009).                    auf den Biodiversitätsverlust, vor allem im
dert zudem die Artenkenntnis von Pflanzen                                                             Landwirtschaftsland und im Siedlungsraum.
und Tieren, eine Voraussetzung für den Arten-     Zahlreiche Vorteile                                 Zusammenfassend zeigt sich eine klare wis-
schutz und den Erhalt der Biodiversität. Aktu-    Die kindliche Gesundheit ist eng verknüpft mit      senschaftliche Evidenz zur Bedeutung natur-
ell können 2000 bayrische Gymnasiasten            der Biodiversität der Umgebung. In den letzten      naher, biodiverser Freiräume für die Entwick-
durchschnittlich nur noch 5 der 15 häufigsten     Jahren konnten wissenschaftliche Untersu-           lung und die Gesundheit der Kinder. Leena
Singvögel benennen (Gerl et al. 2018). Ein re-    chungen die Zusammenhänge näher klären.             von Hertzen vom Zentralkrankenhaus der
gelmässiger Aufenthalt in der Natur fördert       > Qing Li von der Nippon Medical School in To-      Universität Helsinki schrieb in ihrem lesens-
aber nicht nur das Umweltwissen, sondern ist      kio hat den inhalativen Effekt von Terpenen         werten Bericht «Helsinki alert of biodiversity
auch die Basis für späteres Umwelthandeln.        (flüchtige ätherische Öle aus dem Holz) nach        and health»: «Reconnection to nature should
                                                  einem Waldspaziergang auf die Immunab-              be built in early life to get the greatest bene-
Raus in die Natur!                                wehr untersucht und einen stimulierenden Ef-        fits, e.g. we need more outdoor kindergartens
Laut einer Pro Juventute-Studie verbrachten       fekt auf die lymphatischen T-Zellen nachge-         and family/school nature clubs» (von Hertzen
fünf- bis neunjährige Kinder an drei unter-       wiesen (Li et al. 2006). Damit hat er die Voraus-   et al. 2015).
suchten Werktagen lediglich 29 Minuten ohne       setzung für die in Südostasien mittlerweile
Aufsicht zum Spielen im Freien (Blinkert und      verbreitete «Waldbadtherapie» geschaffen.           Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot

                                                                                                                                HOTSPOT 39 | 2019   13
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag

Die Wahrnehmung der Biodiversität ist werteabhängig

Verschiedene Werthaltungen in                    Entsprechend stellten wir im Rahmen der Un-                 re Erfolgsbeweise. Zudem wird intellektuelle
der Bevölkerung führen dazu, dass                tersuchung nicht nur inhaltliche Fragen rund                Kompetenz höher gewichtet als Zurschaustel-
                                                 um die Thematik Biodiversität, sondern frag-                lung von Reichtum; der Glaube an Ideale (u.a.
Biodiversität unterschiedlich wahr-
                                                 ten zusätzlich auch die für die Charakterisie-              Schutz des Schwächeren) ist diesen Menschen
genommen wird. Dies zeigt eine für               rung nötigen psychografischen Items ab (vgl.                wichtig.
das BAFU durchgeführte Studie. Die               Box). Dies ermöglichte es anschliessend, das                Generell scheinen Personen in den Aussen-
neuen psychografischen Erkenntnis-               entsprechende Antwortverhalten verglei-                     feldern den Zustand der Biodiversität in der
                                                 chend für verschiedene psychografische Ty-                  Schweiz eher positiver einzuschätzen und
se können als Basis für zukünftige
                                                 pen/Felder auszuwerten und daraus Ansatz-                   entsprechend auch weniger Handlungsdruck
Kommunikations­konzepte dienen.                  punkte für eine zielgruppenspezifische Kom-                 zu sehen. Im Gegensatz dazu sind Personen
Von Michael Buess                                munikation abzuleiten.                                      mit einer stärkeren Innenorientierung kriti-
                                                                                                             scher, was den aktuellen Zustand der Biodi-
Warum interessieren sich die einen Menschen                                                                  versität angeht. Diese Trends haben vermut-
mehr für Kreuzfahrtferien und andere mehr                                                                    lich auch mit der Bekanntheit der Begrifflich-
für Adventure-Trekkings? Aus dem Konsum-                Die Radar-Psychografie kurz erklärt                  keit Biodiversität sowie insbesondere auch
güter- und Dienstleistungsmarketing ist gut             Die Radar-Psychografie bietet die Möglichkeit der    dem entsprechenden Interesse für das Thema
belegt, dass unterschiedliche Werthaltungen             Zielgruppensegmentierung ausserhalb der klas-        zu tun, welches bei den Innenorientierten
zu unterschiedlichen Präferenzen und damit              sischen soziodemografischen Dimensionen (wie         grösser ist als bei den Aussenorientierten. Zu-
auch zu unterschiedlichem Informations- und             Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, etc.). Im     dem ist bei den Aussenorientierten die Vor-
                                                        Vordergrund stehen dabei Wertvorstellungen
Einkaufsverhalten führen. Entsprechend wer-                                                                  stellung, dass das eigene Verhalten einen Ef-
                                                        der Zielpersonen, welche eine adäquate Positio-
den in der Konsumgüter- und Marketingfor-                                                                    fekt auf den Zustand der Biodiversität hat,
                                                        nierung im psychografischen Raum und eine ge-
schung seit Jahren erfolgreich psychografi-                                                                  vergleichsweise unterdurchschnittlich vertre-
                                                        zielte Ansprache ermöglichen (siehe Grafik S. 28).
sche Modelle verwendet, um Konsumenten-                 Basis für die Radar-Psychografie ist ein geeichter   ten – was auch zu einer tieferen Handlungs-
und Kundengruppen psychografisch zu cha-                und standardisierter Psychografie-Test, bei wel-     bereitschaft führt.
rakterisieren, so besser zu verstehen und ent-          chem die Zielpersonen Stellung zu 26 Aussagen
sprechende Produktgestaltungs-, Werbe- und              nehmen. Aufgrund des Antwortmusters wird für         Der Mehrwert der Psychografie
Marketingmassnahmen zielgruppenspezifisch               jede einzelne Person ein Werteprofil mit Werte-      Die generellen Ergebnisse (v.a. die erneute
auszurichten. Aber lässt sich ein solcher psy-          haltungen erkennbar. Dies wiederum ermöglicht        Feststellung des Wahrnehmungs-Gaps) sind
chografischer Ansatz auch auf den Umwelt­               beispielsweise eine gezielte Ansprache (Kommu-       grundsätzlich wenig überraschend. Durch die
bereich und dabei konkret auf das Thema Bio-            nikation) oder Positionierung von Produkten und /    zusätzliche psychografische Auswertung und
diversität anwenden?                                    oder Dienstleistungen.                               Typologisierung ist es nun aber möglich,
                                                                                                             Handlungs- und Kommunikationsmassnah-
Positionierung im psychografischen Raum                                                                      men zielgruppenspezifisch zu entwickeln.
Im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt                                                                        Insbesondere scheint es anhand der Ergebnis-
(BAFU) hat das Forschungsinstitut DemoSCOPE      Wahrnehmungs-Gap bestätigt                                  se angezeigt, die Innen- und Aussentypen un-
genau diesen Versuch unternommen. Auslö-         Generell zeigen die Umfrageergebnisse, dass                 terschiedlich zu adressieren.
ser für die Studie war der bereits durch frü­    der Begriff Biodiversität und die damit ver-                Erste Analysen zeigen, dass es zielführend er-
here Untersuchungen festgestellte «Wahrneh-      bundenen Aspekte in der Schweizer Bevölke-                  scheint, die eher Innengerichteten, welche be-
mungs-Gap» im Themenbereich Biodiversität.       rung relativ gut bekannt sind. Allerdings zeig-             reits über einen besseren Informationsstand
Damit ist gemeint, dass gemäss Umfragen die      te sich auch wieder der erwartete Wahrneh-                  und auch eine höhere Handlungsbereitschaft
Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer        mungs-Gap. Einen Mehrwert bzw. eine neue                    verfügen, darin zu bestärken, ihr Engagement
der Meinung ist, um die Artenvielfalt in unse-   Perspektive auf die Thematik ergibt sich nun                im Bereich Biodiversität zum Wohle der gan-
rem Land sei es gut oder sogar sehr gut be-      aber durch die zusätzlichen psychografischen                zen Gesellschaft weiterzuführen bzw. noch zu
stellt und der Zustand der Biodiversität hätte   Auswertungen der Umfrageergebnisse an-                      verstärken. Bei den Aussengerichteten muss
sich in den letzten 10 Jahren zudem verbes-      hand der 11 psychografischen Felder. So kann                dagegen zunächst «Basisarbeit» geleistet wer-
sert. Die wissenschaftlichen Fakten zeigen       bei einer Mehrheit der Fragen bzw. Antworten                den, um das nötige Wissen zu vermitteln und
aber exakt das Gegenteil. Die Schweizer Bevöl-   eine mehr oder weniger deutliche West / Ost-                so auch die entsprechende Handlungsbereit-
kerung schätzt den Zustand von Flora und         bzw. Aussen- / Innen-Tendenz festgestellt wer-              schaft überhaupt hervorrufen zu können. Da-
Fauna entsprechend also viel zu gut ein.         den (siehe Grafik S. 28). Aussengerichtete                  bei muss bei den Aussentypen stärker auf die
Um diesen Wahrnehmungs-Gap genauer zu            Menschen zeichnen sich dabei vor allem                      Ich-Orientierung abgezielt werden, es muss
untersuchen, wurde eine Umfrage geplant          durch Charaktereigenschaften wie Kontakt-                   also versucht werden zu vermitteln, weshalb
und durchgeführt. Anstatt uns wie sonst oft      freude, offenes Erfolgsstreben, Wichtigkeit                 es im persönlichen Interesse dieser Personen
geläufig auf eine Charakterisierung von ver-     des eigenen Auftretens sowie einer stark mate­-             sein sollte, etwas für die Biodiversität zu tun.
schiedenen Zielgruppen anhand von soziode-       rialistisch geprägten Werthaltung aus. Innen-               Mehrwert bietet die Psychografie aber nicht
mographischen Merkmalen zu fokussieren,          gerichtete zeigen genau ein gegenteiliges Pro-              nur in Bezug auf mögliche Inhalte von Kom-
wählten wir einen psychografischen Ansatz.       fil. Hier zählen innere Werte mehr als sichtba-             munikationsmassnahmen, sondern v.a. auch

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