HOTSPOT Biodiversität im Alltag - 39 | 2019 - Naturwissenschaften Schweiz
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Brennpunkt – Biodiversität im Alltag HOTSPOT Biodiversität im Alltag 39 | 2019 Forschung und Praxis im Dialog Informationen des Forum Biodiversität Schweiz HOTSPOT 39 | 2019 1
IMPRESSUM Editorial Das Forum Biodiversität feiert in diesem Jahr sein HOTSPOT 20-jähriges Bestehen. Es wurde mit dem Ziel ins Le- Zeitschrift des Forum Biodiversität Schweiz ben gerufen, die Erkenntnisse der Biodiversitätsfor- 39 | 2019 schung in die Gesellschaft und Politik einfliessen zu Herausgeber lassen, damit die Biodiversität in all ihren Facetten Forum Biodiversität Schweiz, Akademie der Natur- erhalten bleibt. Wurde dies erreicht? In einzelnen wissenschaften (SCNAT), Laupenstrasse 7, Postfach, Bereichen konnte das Forum Biodiversität sicher CH-3001 Bern, Tel. +41 (0)31 306 93 40, wichtige Akzente setzen (siehe S. 21f). Gleichzeitig sehen wir immer biodiversity@scnat.ch, www.biodiversity.ch noch einen rasanten und sich teils verstärkenden Rückgang der Biodi- versität in der Schweiz und weltweit, und dies trotz der Erkenntnis, Das Forum Biodiversität Schweiz fördert den Wissens- dass Biodiversität essenziell ist für unser Wohlbefinden und für viele austausch zwischen Biodiversitätsforschung, Verwal tung, Praxis, Politik und Gesellschaft. Die Zeitschrift Ökosystemleistungen. Wo also stehen wir in der Biodiversitätsdebatte? HOTSPOT ist eines der Instrumente für diesen Aus Wie bewegt die biologische Vielfalt die Menschen, und wo sind persön- tausch. Sie wird zweimal jährlich jeweils in einer deut liche Anknüpfungspunkte? schen und einer französischen Ausgabe publiziert. Die Anfang dieses Jahres habe ich das Präsidium des Forums übernommen nächste Ausgabe von HOTSPOT erscheint im Herbst und möchte mich in dieser Rolle für die Biodiversität einsetzen. Zur 2019. Alle Ausgaben von HOTSPOT stehen auf www.biodiversity.ch/hotspot als PDF zur Verfügung. Geburtsstunde des Forums, vor zwei Jahrzehnten, stand ich gerade am Anfang des Biologiestudiums. Dort hatte ich erstmalig direkten Kon- Um das Wissen über Biodiversität allen Interessierten zugänglich zu machen, möchten wir den HOTSPOT takt mit der Biodiversitätsforschung. Mein Bezug zur biologischen gratis abgeben. Wir freuen uns über Unterstützungs- Vielfalt wurde aber schon viel früher angelegt. Es waren Naturerleb- beiträge. HOTSPOT-Spendenkonto: PC 30-204040-6 nisse in der Kindheit, welche mich nachhaltig prägten: Das Beobach- (IBAN CH91 0900 0000 3020 4040 6). ten der regen Aktivitäten bei einem Waldameisenhügel. Das erste Mal einen Frosch in den Händen halten. Das Finden und Aufziehen von Redaktion: Dr. Daniela Pauli, Dr. Gregor Klaus, Dr. Danièle Martinoli Schmetterlingsraupen. Übersetzung ins Deutsche: Irene Bisang, Zürich Ich stimme Edward O. Wilson zu, dass eine positive Einstellung und (Seiten 26, 27) Faszination bezüglich der Vielfalt an Organismen, eine Biophilie, uns Gestaltung/Satz: Esther Schreier, Basel Menschen schon in der Kindheit eigen ist. Diese Faszination bleibt aber Druck: Print Media Works, Schopfheim im Wiesental nur bestehen, wenn es positive Verstärkungen gibt: eine reichhaltige (D). Papier: Circle matt 115 g/m2, 100 % Recycling Auflage: 3600 Ex. deutsch, 1200 Ex. französisch und vielfältige Umwelt, in welcher Biodiversität beobachtet werden kann; einen Lehrplan in der Schule, in dem Biodiversität einen hohen © Forum Biodiversität Schweiz, Bern, April 2019 Stellenwert hat; und wohl am wichtigsten: Bezugspersonen, welche Manuskripte unterliegen der redaktionellen Bear- eine positive Haltung zur Biodiversität haben. Dies scheint bei weitem beitung. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren nicht allen vergönnt, und viele Menschen scheinen den Blick und Be- müssen nicht mit der Meinung des Forum Biodiver- sität Schweiz übereinstimmen. Nachdruck nur mit zug zur Biodiversität im Alltag zu verlieren. schriftlicher Erlaubnis der Redaktion gestattet. Wenn uns Kinder und Jugendliche heute die Dringlichkeit zum Han- deln im Kontext von globalen Veränderungen wie dem Klimawandel aufzeigen, so sind es genau sie, die diesen Blick für das Wesentliche Fotos haben: nämlich, dass eine vielfältige Natur nicht nur schön ist, son- Beat Ernst, Basel (Titelseite, Seiten 4, 7, 11, 12, 15, 16, 19, 20). dern dass deren Erhalt auch für uns Menschen essenziell ist. Der Be- Wir bedanken uns herzlich bei: Gärtnerei Dobler, griff «Biodiversität» mag im Alltag angekommen sein, die entsprechen- Muttenz; Schreinerei Warteck, Basel; Press&Books, den Handlungen zum Erhalt der Biodiversität sind aber noch alles Valora Schweiz AG, Bahnhof Basel SBB; Modesa- andere als alltäglich. Die Arbeit geht dem Forum Biodiversität also Stofftrucke, Basel; Coop, Filiale Güterstrasse, Basel; vorläufig noch nicht aus. Familie Glättli-Paterson, Bottmingen; Bahnhof Apo- theke Drogerie, Basel; City Apotheke, Basel. Prof. Dr. Florian Altermatt Präsident des Forum Biodiversität Schweiz 2 HOTSPOT 39 | 2019
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Biodiversität im Alltag Brennpunkt Rubriken Leitartikel Aus dem Forum 05 Biologische Vielfalt im Alltag – meist präsent, oft 21 20 Jahre Forum Biodiversität Schweiz herbeigesehnt, häufig verkannt Von Daniela Pauli Von Gregor Klaus und Daniela Pauli Bundesamt für Umwelt BAFU Biodiversität – vom Fachwort zum Alltagsbegriff 24 Biodiversität bringt’s! Rückblick auf die letztjährige 06 Von Eva Spehn BAFU-Tagung Von Gregor Klaus «Die Menschen haben eine inhärente Vorliebe 08 für Biodiversität» Bundesamt für Landwirtschaft BLW Interview mit Prof. Dr. Petra Lindemann-Matthies von 26 Kulturpflanzen und ihre wilden Verwandten – der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe ein Schatz für unsere Zukunft Von Sibyl Rometsch und Sylvain Aubry Natur im Alltag einst und heute 10 Von Karl Martin Tanner Die Grafik zur Biodiversität 28 Wer kennt den Begriff Biodiversität? Kinder brauchen naturnahe Freiräume Von Michael Buess 13 Von Markus Weissert Die Wahrnehmung der Biodiversität ist werte- 14 abhängig Von Michael Buess Die unerkannte Biodiversität auf Banknoten 17 Von Sascha Ismail Hobbygärtnerinnen und -gärtnern ist Biodiversität 18 wichtig Von Robert Home, Maro Moretti, David Frey und Nicole Bauer Zu den Bildern in diesem HOTSPOT Die Bildstrecke «Biodiversität im Alltag», die sich unab- hängig von den einzelnen Artikeln durch das Heft zieht, weist auf die oftmals verborgene Biodiversität im Alltag hin – mal spielerisch, mal überraschend. Übrigens: Haben Sie das Elefäntchen entdeckt, das sich auf jedem einzelnen Bild versteckt? Biodiversität... … im Badezimmerschrank (Seite 4) … auf Stoffen (Seite 7) … in der Schreinerei (Seite 11) … im Kinderzimmer (Seite 12) … in der Werbung (Seite 15) … im Lebensmittelgeschäft (Seite 16) … in der Gärtnerei (Seite 19) … am Kiosk (Seite 20) Fotos Beat Ernst Basel HOTSPOT 39 | 2019 3
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Leitartikel Biologische Vielfalt im Alltag – meist präsent, oft herbeigesehnt, häufig verkannt Von Gregor Klaus und Daniela Pauli Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der Biodiversität als Grundbedürfnis Dabei wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für ei- moderne, urbane Mensch im Alltag weitge- Immer weniger Menschen haben im Alltag ne mutige Richtungsänderung. In der Bevöl- hend ohne Natur und ohne Biodiversität aus- noch Möglichkeiten für bunte, spannende Er- kerung spriessen seit einigen Jahren zarte kommen könnte. Zum Frühstück gibt es Kaffee lebnisse in einer vielfältigen Natur. Dabei ha- Pflänzchen, die dringend Zuwendung benöti- aus der Kapsel und quadratischen Toast, nichts ben wir eine inhärente Vorliebe für biologi- gen: So ist immer mehr Leuten der Begriff Bio- erinnert an Kaffeeplantagen und Weizenfelder. sche Vielfalt, wie Petra Lindemann-Matthies diversität geläufig (siehe S. 6). Gleichzeitig hat Zum Mittagessen genehmigen wir uns ein Steak von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe das Insektensterben viele Menschen unabhän- oder ein Schnitzel, als ob zuvor nie ein Tierle- im Interview darlegt (siehe S. 8). Irgendwo in gig von ihren Werthaltungen aufgerüttelt ben existiert hätte. Wohnquartier und Arbeits- uns schlummert die Liebe zur Natur – trotz Zi- und für die Anliegen der Biodiversität sensibi- ort sind weitgehend versiegelt, wo es grün ist, vilisation und Digitalisierung. Natur gehört zu lisiert. Im Rahmen einer Aktion der Schweize- dominieren Kirschlorbeer und Einheitsrasen. uns wie der Schlüssel zum Schloss. Kein Wun- rischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG Die Freizeit verbringen wir am Tablet oder in der: Die Geschichte der Menschen ist untrenn- wird 2019 vermehrt über Biodiversität berich- Sporthallen. bar mit derjenigen der restlichen biologischen tet und die Bevölkerung zum Handeln aufge- Vielfalt verbunden. Natur zu schützen und rufen. Aktionen wie die «Stunde der Garten- Allgegenwärtige Biodiversität in den Alltag zu integrieren heisst, unsere vögel» von BirdLife Schweiz, bei der man sich Da stellt sich unweigerlich die Frage: Kommen Geschichte und innersten Bedürfnisse zu ver- vor das Fenster oder in den Garten setzt und wir im Alltag ganz ohne Biodiversität aus? Mit- teidigen. Arten zählt, haben regen Zulauf. Haus- und nichten, wie die Bilder in diesem HOTSPOT ein- Und es gibt weitere gute Nachrichten: Men- Familiengärtnerinnen und -gärtner geben in drücklich zeigen. Sie lenken unseren Alltags- schen können sehr wohl zwischen artenarmen einer aktuellen Umfrage an, dass die «Förde- blick direkt auf echte oder vermeintliche Biodi- und artenreichen Wiesenflächen unterschei- rung der biologischen Vielfalt» ein wichtigstes versität. Diese steckt in den Töpfchen, Fläsch- den und bevorzugen ganz klar die artenrei- Kriterium ihrer Arbeit ist (siehe S. 18). Hat viel- chen und Tuben im Badezimmerschrank, in chen, wie verschiedene Umfragen gezeigt ha- leicht eine stille Revolution begonnen? den Lebensmitteln, Kleidern und Möbeln. In- ben. Die Wahrnehmung von Biodiversität Vieles ist im Gange, auch wenn noch nicht nen und aussen sind wir besiedelt von Myria- durch die Menschen unterscheidet sich dabei alles Gold ist, was glänzt. So ist Natur zwar den von Kleinstlebewesen, die uns schützen, je nach Werthaltung (siehe S. 14), Geschlecht auch auf den neuen Schweizer Banknoten prä- bei der Verdauung helfen und hin und wieder und Nationalität (siehe S. 8). sent: Auf dem 50-Franken-Schein aber wurde auch mal krank machen. Allen gemein sind allerdings die mittlerweile unter dem Motto «Die vielseitige Schweiz» ein Unser Alltagsbezug zur Biodiversität blüht im erschreckend geringen Artenkenntnisse. Das Löwenzahn abgebildet – ein Sinnbild für Mono- Verborgenen – ist aber allgegenwärtig. Die Pa- dürfte vor 100 Jahren, als die meisten Men- tonie und im Stickstoff erstickte Biodiversität lette reicht bis zum Benzin an der Tankstelle, schen in der Schweiz noch einen engen Natur- (siehe S. 17). das uns heute nur deshalb zur Verfügung steht, bezug hatten, anders gewesen sein (siehe S. 10). weil vor Millionen von Jahren Ökosysteme ge- Mit der einsetzenden Entfremdung von der Na- Lebensqualität zurückgewinnen nug Biomasse in bestimmten Gebieten der tur brach das Wissen um das Artenspektrum Es gilt, die Naturvielfalt bewusster in den ganz Weltmeere produzieren konnten. Etwas von massiv ein und beschränkt sich heute vielfach normalen Alltag zurückzuholen. Tun wir es dieser Vielfalt oder deren Abbild holen wir aber nur noch auf «herzige» oder gefährliche Arten nicht, verzichten wir gedankenlos auf Lebens- auch bewusst in die Wohnung, und seien es wie Koala, Tiger oder Brennnessel. qualität. Es geht nicht darum, zwischen dem nur ein paar Orchideen am Fenster, Plüschtiere Schutz der Wirtschaft und dem Schutz der Na- im Kinderzimmer oder Computerspiele in fan- Die Verantwortung der Politik tur zu wählen. Es ist kein entweder-oder, son- tastisch modellierten Naturlandschaften. Weil Sensibilisierungskampagnen Biodiversi- dern ein sowohl-als-auch! Oder anders gesagt: Der Bezug ist aber auch ganz handfest: Natur tät nur in kleinen Schritten in den Alltag zu- Wer sich für die Biodiversität engagiert, setzt und Wildnis faszinieren uns Menschen. Out rückbringen können, braucht es unbedingt sich auch für das Wohlergehen der heutigen door-Sportarten waren noch nie so beliebt wie auch grosse Schritte, die nur die Politik einläu- und zukünftiger Generationen ein. heute, Tendenz steigend. Biodiversität ist das ten kann. Der Aktionsplan Biodiversität des zentrale Element von Erholungsgebieten und Bundes geht in die richtige Richtung (siehe bedeutend für die kindliche Entwicklung (sie- S. 24), ist aber aufgrund der heutigen politi- Die Autoren he S. 13). Umso bedenklicher ist es, dass natür- schen Realitäten bis jetzt noch nicht der ganz Dr. Gregor Klaus ist freier Wissenschaftsjournalist und liche und naturnahe Gebiete von guter ökologi- grosse Wurf, den es braucht, um die Biodiversi- Redaktor von Hotspot. Dr. Daniela Pauli ist Leiterin scher Qualität in den letzten 100 Jahren stetig tätsverluste zu stoppen. des Forum Biodiversität Schweiz und Redaktorin von seltener geworden sind. HOTSPOT. HOTSPOT 39 | 2019 5
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Biodiversität – vom Fachwort zum Alltagsbegriff Biodiversität ist ein Begriff an der Biodiversität als Grenzobjekt tische Biologie dar, bei der der Mensch Biodi- Grenze zwischen Wissenschaft, Po- Letztendlich ist Biodiversität ein schwer greif- versität sogar selbst herstellt durch die Syn- bares, weit gefasstes Konzept für alles, was these neuer Organismen. litik und Gesellschaft. Er schafft mit der belebten Natur zu tun hat. Biodiversi- Im Welt-Biodiversitätsrat (IPBES), der 2019 sei- Raum, der es ermöglicht, sich trotz tät wird denn auch gerne dazu verwendet, nen ersten globalen Zustandsbericht veröf- Differenzen in der Werthaltung eine globale, regionale oder lokale Aussage fentlicht hat, werden diese unterschiedlichen zur Natur und manchmal schier über den Zustand der Natur zu machen, um Werthaltungen gegenüber der Natur explizit ein Werturteil zu fällen und um die Notwen- mitgedacht, und zwar schon im konzeptio unvereinbarer Interessen auf einen digkeit einer Anpassung unserer Wirtschafts- nellen Rahmen. Der Einbezug unterschiedli- Kompromiss zur Erhaltung und weise und unserer Zivilisation aufzuzeigen. cher Wissensarten (z.B. das Wissen indigener Förderung der Biodiversität zu ei- Eine sinkende Biodiversität deutet bei dieser oder traditioneller Gruppen) und ein pluralis- nigen. Ein Blick hinter die Kulissen Sichtweise auf eine nicht nachhaltige Situati- tischer Bewertungsansatz sind dabei zentral on oder gar eine Gefährdung des Lebens auf (Díaz et al. 2015, 2018). Dabei wird Biodiversi- des neuen Alltagsbegriffs lohnt sich der Erde insgesamt hin. tät zusammen mit den Menschen gedacht, da deshalb. Von Eva Spehn In vielen Diskussionen wird selbstverständ- es immer stärker in unser Bewusstsein rückt, lich angenommen, dass alle das Gleiche mei- dass sie nicht nur für den Lebensunterhalt, Biodiversität ist eine relativ junge Wortschöp- nen, wenn sie von Biodiversität reden. Biodi- sondern auch aus soziokulturellen, ethischen fung. Die Wurzeln reichen in die späten versität ist zwar ein Begriff, der seine Wurzeln und spirituellen Gründen wichtig ist (Redford 1950er-Jahre zurück. In den 1970er-Jahren in der Wissenschaft hat. Doch im Grunde ist und Mansour 1996). Bis 2021 wird dement- wurde Artenreichtum zum ersten Mal «natu- er politisch aufgeladen. Oft wird er als neues sprechend ein thematischer Bericht zur Be- ral diversity» genannt, 1980 tauchte «biolo Wort für «Natur» gebraucht oder ist mit ei- wertung der Natur und Biodiversität erarbei- gical diversity» mit dem Konzept von geneti- nem Appell des Schützens verbunden: ein tet. Dabei werden auch die Naturbeziehung scher Vielfalt und Artenvielfalt auf. Mitte der «epistemisch-moralischer Hybrid» und ein und die damit verknüpfte Werthaltung der 1980er-Jahre entwickelten Forschende wei «Grenzobjekt» (Potthast 2005), das sich zwi- einzelnen Akteure analysiert, die sich hinter tere und umfangreichere Definitionen. Mit schen Wissenschaft, Naturschutz und Politik ihrem jeweiligen Gebrauch des Begriffs Biodi- dem Buch «Biodiversity» von Edward O. Wilson aufspannt. versität verbergen. (1988) wurde der Begriff erstmals breit ge- Die Dehnbarkeit des Wortes Biodiversität streut. führt dazu, dass sich jede und jeder darin wie- Der gemeinsame Nenner derfinden kann, was ihn für ein sehr breites Die unterschiedlichen Werthaltungen, hinter Siegeszug eines Zungenbrechers Spektrum von Interessengruppen relevant denen sich ein unterschiedliches Verhältnis Heute kennt der Grossteil der Schweizer Be macht. Er ist daher geeignet, auch unverein- zur Natur verbirgt, führen zu einer jeweils an- völkerung den Begriff Biodiversität. 74 % ga- bare Positionen unter einen Hut zu bringen – deren Motivation, Biodiversität zu schützen ben 2016 in einer Umfrage an, «Biodiversität» aber meist nur scheinbar. Denn der gemeinsa- oder zu fördern. Agrarforschende, die sich schon einmal gehört oder gelesen zu haben me Begriff überdeckt wie eine Haut die unter- um den Verlust von Nutzpflanzen und Nutz- (Forschungsinstitut gfs-zürich 2016). 2009 lag schiedlichen Werthaltungen der verschiede- tierrassen sorgen, oder Ethnobiologinnen und dieser Anteil erst bei 48 %. Diese Erfolgsge- nen Stakeholder (Redford und Mace 2018). -biologen, die mit Landwirten zusammenarbei- schichte ist erstaunlich angesichts der Tatsa- ten, die traditionelle Landrassen anbauen, che, dass der Begriff den meisten Menschen Werthaltungen aufdecken sind beispielsweise wichtige Partner bei der nur schwer über die Lippen kommt. Forschende haben erst kürzlich eine Typolo- Erhaltung und Förderung der Biodiversität Biodiversität richtig definieren können im- gie von Mensch-Naturbeziehungsmodellen er- (Jackson et al. 2007, Nazarea 2006), ebenso merhin zwei von drei Personen, die das Fach- stellt, die helfen kann, bei Konflikten zwi- wie Pharmaunternehmen, die nach neuen wort kennen (Forschungsinstitut gfs-zürich schen Interessensgruppen Klarheit zu gewin- Medikamenten in Wildarten suchen. 2016). Am häufigsten nannten die Befragten nen (Muradian und Pascual 2018). Sie reichen Insgesamt ist man sich einig, dass Biodiversi- «Vielfalt bei Natur, Pflanzen und Tieren», was von «Natur am liebsten ohne Mensch» (Wild- tät etwas Gutes bedeutet – dies stellt somit ei- der offiziellen Definition der Biodiversitäts- nis als Ideal), zu «Mensch ohne Kontakt zur nen gemeinsamen Nenner aller Interessens- konvention (CBD 1992) schon recht nahe Natur» (Urbanität, Technologie als Ideal), «Na- gruppen dar. Der Sache «Biodiversitätsschutz» kommt. tur nutzen» (Grüne Ökonomie, Ökosystem- kommt man näher, wenn die unterschiedli- Diese wissenschaftliche Definition ist eigent- leistungen), «Stewardship der Natur» (d.h. ver- chen Werthaltungen hinter dem Begriff Biodi- lich wertneutral. Und doch ist allgemein klar: nünftiges Verwalten der Natur durch den versität geklärt werden. Das bedeutet, dass Biodiversität ist etwas Gutes, und ihr Schutz Menschen im Bewusstsein seiner eigenen Ab- die Konflikte aufgedeckt und ausgetragen ist daher erwünscht. Biodiversität wird im All- hängigkeit) bis hin zur Dominanz des Men- werden müssen. tag oft als ein Gegenentwurf gedacht zur vom schen über die Natur (z.B. das Abholzen der Menschen dominierten Welt mit ihren ausge- Wälder im Mittelalter bei uns oder das Anle- Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot dehnten Monokulturen, verbauten Agglome- gen von Palmölplantagen im Regenwald in rationen und Shoppingcentern. Südostasien). Eine neue Herausforderung für das Mensch-Naturverhältnis stellt die synthe- 6 HOTSPOT 39 | 2019
Die Autorin Dr. Eva Spehn arbeitet als wissenschaftliche Mitarbei- terin beim Forum Biodiversität und ist dort für Internati- onales (IPBES, CBD) zuständig. Sie hat in Pflanzenöko- logie zu Biodiversität und Ökosystemleistungen an der Universität Basel promoviert und arbeitet seit vielen Jahren auch als Koordinatorin im Internationalen For- schungsnetzwerk «Global Mountain Biodiversity As- sessment». Kontakt: eva.spehn@scnat.ch HOTSPOT 39 | 2019 7
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag «Die Menschen haben eine inhärente Vorliebe für Biodiversität» Wie nehmen verschiedene Bevöl- HOTSPOT: Auf dem Weg vom Hauptbahnhof Menschen in Europa und den USA kommen kerungsgruppen Biodiversität im Karlsruhe zur Pädagogischen Hochschule heutzutage in ihrem Alltagsleben auch oh- haben wir nach Biodiversität Ausschau ge- ne Kenntnis der sie umgebenden wildleben- Alltag wahr? Und wie kann Bildung halten. Viel haben wir nicht gefunden. den Tiere und Pflanzen gut zurecht. Hat dies diese Wahrnehmung schärfen? Petra Lindemann-Matthies: Auf der Strecke Auswirkungen auf die Einstellung zur Biodi- Ein Gespräch mit Prof. Dr. Petra gibt es tatsächlich kaum biologische Vielfalt: versität? Lindemann-Matthies von der Päda- Ein paar Bäume, kurz gehaltene Rasenflächen, Das ist ein sehr interessanter Punkt: Denn un- struppige Ligusterhecken. An vielen anderen sere Studien haben klar gezeigt, dass Schwei- gogischen Hochschule Karlsruhe. Orten in Karlsruhe sind in den letzten Jahren zerinnen und Schweizer eine Vorliebe für Bio- aber artenreiche Grünflächen entstanden. diversität haben, auch wenn sie die realen Ar- Dank des Biodiversitätskonzepts der Stadt tenzahlen nur vage wahrnehmen. Wenn sie nimmt die Artenvielfalt wieder zu. Das Bau- zwischen artenarmen und artenreichen Wie- amt legt biodiverse Wiesen in grossem Stil an. sen und Gärten wählen müssen, entscheiden Auch Restflächen an den Tramlinien werden sie sich für artenreiche Systeme. Foto Gregor Klaus zunehmend ökologisch aufgewertet. Gilt das für alle Bevölkerungsgruppen? Erkennen Menschen diese Biodiversität? In einer aktuellen Untersuchung haben wir Nein, nicht unbedingt. Unsere Umfragen und dazu Menschen aus 43 Staaten befragt, die Experimente haben gezeigt, dass Menschen seit mindestens zwei Jahren im Kanton Zü- zwar durchaus in der Lage sind, zwischen ar- rich leben. Während Menschen aus reichen tenarmen- und artenreichen Wiesenflächen Ländern artenreiche Wiesen bevorzugten, zu unterscheiden, dass sie aber die Artenzahl zeigten Menschen aus ärmeren Ländern keine in Wiesen mit geringem Artenreichtum über- klare Präferenz. Viele fanden Monokulturen schätzen und die Artenzahl in Wiesen mit ei- toll. Ich vermute, dass sie den Ernteertrag hö- nem hohen Artenreichtum zunehmend unter- her gewichten als die anderen Leistungen der schätzen. Interessant ist aber, dass in allen Un- Ökosysteme. Diejenigen, die eher die artenrei- tersuchungen die ästhetische Bewertung der chen Systeme bevorzugten, hatten ein gewis- Flächen mit zunehmender Artenzahl anstieg, ses Hintergrundwissen über ökologische Zu- das heisst, die artenreichsten Flächen immer sammenhänge. am besten gefielen. Dies deutet darauf hin, dass Menschen eine inhärente Vorliebe für bio- Womit wir bei der Bildung wären. logische Vielfalt haben. Artenreiche Wiesen Genau. Die kann nicht hoch genug einge- hatten dabei nicht nur positive Effekte auf das schätzt werden. Massnahmen müssen dabei ästhetische, sondern auch auf das tatsächlich langfristig gedacht werden. Eine ehemalige messbare körperliche Wohlbefinden. Je arten- Doktorandin von mir hat in Argentinien reicher unsere Testwiesen waren, desto besser Schülerinnen und Schüler befragt, mit denen erholten sich Menschen von Stress. «Vielfalt» eine Naturschutzorganisation Workshops zur ist also besser als «Einfalt». Artenvielfalt durchgeführt hatte. Das Wissen der Kinder und Jugendlichen über die lokale Gibt es gesellschaftliche Unterschiede in Be- Artenvielfalt war kurz nach den Workshops Prof. Dr. Petra Lindemann-Matthies hat Biologie, zug auf das Wissen über Biodiversität? deutlich besser. Doch bereits nach einem Jahr Geographie und Physik für das Lehramt an der Sekun- Sehr starke sogar. Um diese Frage zu beant- war es fast wieder vollständig verschwunden. darstufe II studiert und anschliessend mehrere Jahre worten, sind Forschende um die ganze Welt Das heisst: Wir benötigen bei der Umweltbil- als Lehrerin gearbeitet. Für ihre Doktorarbeit am Insti- gereist und haben die Artenkenntnis der je- dung länger andauernde oder wiederholte In- tut für Umweltwissenschaften der Universität Zürich weiligen Bevölkerung untersucht. Die Resulta- terventionen. Ganz umsonst waren die Work- bearbeitete sie das Thema «Children’s perception of te sind eindeutig: Je höher der Lebensstandard shops in Argentinien allerdings nicht: Bei biodiversity in everyday life and their preferences for in einem Land ist, desto geringer ist das ökolo- Schülerinnen und Schülern, die bereits etwas species». Nach einigen Jahren als wissenschaftliche gische Wissen. Selbst innerhalb von Ländern Wissen über lokale Arten und ihren Nutzen Mitarbeiterin habilitierte sie zum Thema «Biodiversity mit niedrigem Lebensstandard findet sich die- hatten, blieb mehr vom Gelernten hängen. perception, awareness and education» am Institut für ser Zusammenhang: Je reicher ein Haushalt Das zeigt: Man lernt das am Besten, was man Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der ist, desto geringer sind die Artenkenntnisse. schon ein bisschen kennt. Auf Vorwissen Universität Zürich. Seit 2010 ist Petra Lindemann-Mat- kann Bildung am besten aufbauen. thies Professorin für Biologie und ihre Didaktik an der Gilt diese Heterogenität auch für Länder Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Sie ist unter an- wie die Schweiz und Deutschland? Unterscheiden sich Männer und Frauen in derem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zur Aus- Nein, hier ist niemand so arm, dass er sein Es- ihrer Artenkenntnis und -wahrnehmung? stellung im Nationalparkzentrum Ruhestein (National- sen in der Natur suchen muss. Und hat man Alle unsere Studien haben gezeigt: Frauen ken- park Schwarzwald) und Nachhaltigkeitsbeauftragte sich erst einmal von der Natur entkoppelt, nen mehr Arten und finden artenreiche bunte des Rektorats der PH Karlsruhe. muss man auch die Arten nicht mehr kennen. Wiesen noch schöner, als dies Männer tun. 8 HOTSPOT 39 | 2019
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Woran könnte das liegen? Sie bilden an der Pädagogischen Hochschule gartenerfahrung stark profitieren: Durch per- Kleine Kinder beiden Geschlechts lieben es zukünftige Lehrpersonen aus und sind An- sönlich bedeutsame Erfahrungen im Schul- gleichermassen, draussen zu sein. Aber was laufstelle für Lehrerinnen und Lehrer. Das garten verbessern sie unter anderem ihre machen sie in der Natur? Beobachtungen zei- sind wahre Multiplikatoren für Nachhaltig- Wahrnehmung für pflanzliche Vielfalt und gen, dass viele Buben den erstbesten Stock keit. Was geben Sie ihnen mit auf den Weg? für Zusammenhänge zwischen Organismen, nehmen und damit durch die Gegend rennen, Eine ganze Menge! Biodiversität ist zunächst was der Naturentfremdung entgegengewirkt wohingegen Mädchen eher Blumen pflücken einmal ein wichtiges Thema in unseren lehr- und auf diese Weise einen Beitrag zum Erhalt und arrangieren. So wird möglicherweise die amtsbezogenen Bachelor- und Masterstudien- der Artenvielfalt im Sinne der Bildung für unterschiedliche Artenkenntnis und -wahr- gängen. Wir stellen zudem Unterrichtsmate- nachhaltige Entwicklung leistet. nehmung generiert. rialien zur Verfügung und unterhalten ein Nachhaltigkeitslabor für Schulen. Lehrkräfte Profitieren Studierende von einer aufgewer- Hat das Elternhaus einen Einfluss auf die Ar- können sich dort aus zahlreichen Boxen zu teten Umgebung der Hochschule? tenkenntnisse? verschiedenen Umweltthemen bedienen und Sehr sogar! Die Aufwertungen finden im Rah- Ja. Eine unserer Untersuchungen hat gezeigt, einen anschaulichen Unterricht gestalten. Ei- men unseres Projektes «Die Kunst der Biodi- dass nicht die Schule der Haupteinflussfaktor nige dieser Boxen sind von Studierenden zu- versität» statt. Wie der Name sagt, sind auch auf die Artenkenntnis und -wahrnehmung ist, sammengestellt und getestet worden. Für Kunststudierende beteiligt. Alle hatten wenig sondern das Elternhaus. Wenn die Eltern mich ist es wichtig, dass die Studierenden und Artenkenntnis. Im Rahmen des Pflanzenin- nichts wissen, wissen auch die Kinder nichts. die Lehrpersonen ganz praktisch an die Um- ventars zur Erhebung des Ist-Zustands und Umso schlimmer ist es, wenn die ganze Gesell- weltthemen und vor allem an die Biodiversi- der Planungen haben sie sehr viel über Biodi- schaft sich immer weiter von der Natur ent- tät herangehen. Handlungskompetenzen wer- versität gelernt. Sie mussten auch via Sponso- fremdet. Eine unserer Schlussfolgerungen aus den immer noch unterschätzt. Wissen ist ring einen Teil der finanziellen Mittel für die der Studie war: Die Schulen müssten theore- wichtig, Handeln eingeübt zu haben ist aber Aufwertungen zusammentragen. In den kom- tisch auch die Eltern einbeziehen. wichtiger. menden Jahren wird es Hochbeete, Blumen- wiesen und Sitzgelegenheiten geben. Wichtig Das dürfte schwierig werden. Gibt es andere Vermitteln Sie den Studierenden solche ist ein gemähter Bereich entlang der Wege, Möglichkeiten, Kinder und Erwachsene zu Kompetenzen? der sogenannte Freundschaftsstreifen. Denn sensibilisieren? Ja, in verschiedenen Projekten. Das Projekt Menschen dürfen nicht das Gefühl haben, Das Potenzial von Schutzgebieten und Zoos «Einfach mal etwas verändern», Projekte im dass etwas chaotisch aussieht; tun sie es, dann wird in Europa viel zu wenig genutzt. Da könn- Hochschulgarten und die Aufwertung der lehnen sie es ab. Der Freundschaftsstreifen ist te man viel von den USA lernen. Dort gibt es Grünflächen rund um die Hochschule sind wichtig, weil er die Akzeptanz solcher Mass- zum Beispiel sogenannte Zoomobile, an denen nur drei Beispiele. Beim ersten Projekt ver- nahmen stark fördert. Die naturnahen Räu- Besucherinnen und Besucher mit Hilfe von pflichten sich unsere Studierenden, eine Wo- me sind aber nicht nur Keimzellen für zu- Rangerinnen und Rangern interaktiv auf be- che oder länger in Bezug auf ein bestimmtes künftige Aufwertungen, sondern zugleich drohte Arten aufmerksam gemacht werden. Thema nachhaltig zu leben. Sie können zum auch Klassenzimmer. Hier können Studieren- Der Tierpark Goldau hatte versuchsweise beim Beispiel Plastik vermeiden, vegan leben, Müll de biologische Zusammenhänge und Vielfalt Bartgeiergehege ein entsprechendes Zoomobil sammeln, Energie sparen, sich nur mit dem erleben und untersuchen. aufgestellt. Man konnte dort beispielsweise Fe- Fahrrad fortbewegen und vieles mehr. Die Er- dern in Eisenoxid färben und damit das simu- fahrungen werden regelmässig im Plenum Manche der Tiere auf den Flächen erzeugen lieren, was ältere Bartgeier in der Natur in diskutiert, so dass man voneinander lernen Ekel. Schnecken zum Beispiel. Wie gehen Sie Pfützen machen, um auffälliger zu werden. kann. Die Studierenden machen das gerne damit um? Ranger standen für Fragen bereit und konnten und halten es auch fast immer durch. Wir tes- Mit der richtigen Herangehensweise kann der die Zoobesucher auf jenem Wissensstand ab- ten das auch in den Schulen. Mehrere meiner Ekel gemindert oder sogar abgestellt werden. holen, auf dem die jeweiligen Besucherinnen Masterstudierenden haben bereits die Wir- Bringt man zum Beispiel Nacktschnecken mit und Besucher waren. Unsere begleitenden Un- kungen solcher Selbstverpflichtungseinheiten in den Unterricht, rufen zunächst alle Schüle- tersuchungen haben gezeigt, dass diese Art untersucht und festgestellt, dass die Teilneh- rinnen und Schülern iiih, aber am Ende der der Wissensvermittlung deutlich besser ist als menden noch Monate später vieles im Alltag Unterrichtseinheit hat jede und jeder ihre bzw. die normalen Informationsschilder, die kaum umsetzen, und dass sie andere motiviert ha- seine Schnecke auf der Hand und ihr einen Na- gelesen werden. Leider sind die Zoomobile ben, es ihnen gleich zu tun. Nachhaltigkeit men gegeben. Dann sind das nicht einfach sehr teuer, vor allem aufgrund der hohen Per- muss im Kleinen beginnen. Man kann das Schnecken, sondern Lisa, Egon, Fritz und Lilli. sonalkosten. nicht überstülpen. Ich habe begonnen, diesen Ansatz zu publizieren, um auch etablierte Ist die Bildung der Schlüssel zur Erhaltung Die sind in den USA auch sehr hoch. Lehrkräfte dafür zu gewinnen. der Biodiversität? Dort löst man dieses Problem mit Freiwilli- Es ist ein wichtiger Hebel. Die Sensibilisie- genarbeit durch Rentnerinnen und Rentner. Gärtnern die Studierenden gerne? rung der Bevölkerung kann aber nur in ganz Das ist durchaus beliebt, weil diese Menschen Nicht nur die Studierenden, auch die Schüle- vielen kleinen Schritten erfolgen. Das braucht sehr viel Anerkennung bekommen. Ich verste- rinnen und Schüler! Allerdings sind viele Zeit. Das reicht sicher nicht, um die Biodiver- he nicht, wieso in Deutschland oder der Lehrkräfte mit einem Schulgarten überfor- sität zu erhalten. Es ist an der Politik, grosse Schweiz kaum jemand die Initiative ergreift, dert. In unserem Hochschulgarten werden Schritte einzuläuten. mobile Stände in Zoos, botanischen Gärten deshalb Lehramtsstudierende darauf vorberei- oder Schutzgebieten aufzubauen. Ich würde tet, einen Schulgarten selbst anzulegen oder Interview: Gregor Klaus und Danièle Martinoli, mich nach der Pensionierung sofort freiwillig mitzugestalten und Schülerinnen und Schü- Redaktion HOTSPOT dafür melden. ler für die Gartenarbeit zu begeistern. Unter- suchungen zeigen, dass Kinder von der Schul- HOTSPOT 39 | 2019 9
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Natur im Alltag einst und heute Obwohl schon längst keine Bäue- schaft 1964). Dies legt den Schluss nahe, dass hend korrigiert werden, dass praktisch aus- rinnen und Bauern mehr, baute ein bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- nahmslos die ganze Dorfbevölkerung sehr derts ein namhafter Teil der Dorfbevölkerung häufig mit vielfältiger Natur in nahen Kon- Grossteil der ländlichen Bevölke- nicht tagtäglich (beim Ausüben der Erwerbs- takt gekommen ist. Da der Grad der Mechani- rung in der Schweiz bis ins 20. Jahr- tätigkeit) mit der Natur in Kontakt gekom- sierung gering war, gab es für Alt und Jung hundert hinein landwirtschaftliche men ist. Ein Irrtum, wie sich im Folgenden viel Handarbeit zu verrichten. Es lässt sich Produkte zur Selbstversorgung an. zeigen wird. nicht sicher sagen, von welcher Art die Natur- kenntnisse waren, aber es liegt auf der Hand, Damit blieb ein gewisser Natur- Verbreitete Selbstversorgung dass den Kindern von den Eltern laufend Wis- bezug erhalten. Erst im Laufe des Der Urgrossvater des Autors war in den sen, welches Relevanz für die Landbewirt- letzten Jahrhunderts setzte eine 1880er- und 1890er-Jahren Lehrer in Buus. Es schaftung hatte, insbesondere über Nützlinge Entfremdung ein. ist ein Glücksfall, dass seine Tochter, Emme- und Schädlinge sowie Kulturpflanzen, vermit- line Tanner, später Aufzeichnungen über das telt wurde. Von Karl Martin Tanner Leben im Dorf gemacht hat. Sie schreibt (Tan- 2003, gut hundert Jahre später, hatte Buus ner, ohne Jahrgang): «(...) wer kaufte Milch? Ein 980 Einwohnerinnen und Einwohner. Viele Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind in der paar arme und alte Leute, die keine Kuh oder Geiss Berufsleute pendelten zum Arbeiten in ande- Schweiz die Arten- und Nischenvielfalt sowie besassen und eben noch der Schulmeister. (...) Da reif- re Gemeinden. Es gab noch immer die stattli- die Individuenzahlen zahlreicher Lebewesen te der Entschluss selber eine Geiss oder Kuh zu haben. che Zahl von 24 landwirtschaftlichen Haupt- drastisch zurückgegangen (Lachat et al. 2010). Zum zweiten kaufte die Lehrersfrau das Mehl. Sol- und Nebenbetrieben (Basellandschaftliche Ge- Folglich darf man davon ausgehen, dass frü- ches war in der Mühle zu haben. Wer kaufte Mehl? bäudeversicherung 2004). Aber durch gross- here Bewirtschafterinnen und Bewirtschafter Arme und alte Leute und eben der Schulmeister. Ja flächige Meliorationseingriffe und den inten- von Kulturlandflächen in der Schweiz – quasi und für diese gab der Müller nicht sein schönes Mehl. siven Einsatz von Dünger und Pestiziden war «en passant» – mit einer deutlich grösseren Da tat es geringes und mit Roggen gemischt. (...) Das die Artenvielfalt insbesondere seit der Mitte biologischen Vielfalt in Berührung gekom- Fleisch: das verkaufte der Wirt und Metzger im Dorf. des 20. Jahrhunderts erheblich zurückgegan- men sind als heutige. (...) Einmal hatten die jungen Leutli ein Gelüsten gen. Die Landwirtschaftsflächen wurden nur nach etwas geräuchertem, und der Lehrer machte noch von wenigen Leuten bearbeitet, und die Naturentfremdende Handwerksberufe sich selber auf die Beine, um etwas rechtes zu holen. Mechanisierung hatte auch diese immer mehr Wenn man wissen möchte, wie viele Menschen In der School [Schlachtlokal] erklärte er dem Wirt, er vom «handfesten» Kontakt mit der artenar- vor 1900 sehr häufig nah mit der Natur in Kon- hätte gern ein Schüfeli. (...) Unser Wirt und Metzger men Scholle weggebracht. takt kamen, also «etwas» von Biodiversität sah darauf unseren Lehrer verwundert an, so dass Auch heute, 16 Jahre danach, sind die Men- mitbekommen haben, sollte man rekonstruie- dieser glaubte, er hätte ihn nicht verstanden, und schen bei der Ausübung ihrer Berufstätigkeit ren, wer welcher Arbeit nachgegangen ist. In sein Begehren wiederholte. Doch da sagte der Gewal- noch immer weit entfernt von regelmässigen dieser Absicht wollen wir exemplarisch das ba- tige hinter seinem Haubank: ‹Jä – das essen wir sel- Begegnungen mit vielfältiger Natur. Und doch sellandschaftliche Dorf Buus, eine heute noch ber.› Was konnte man da machen? Sich vornehmen, könnte zumindest in Buus die Talsohle der ländliche Gemeinde im Tafeljura, näher be- selber ein Säuli zu kaufen. Die Eier: nicht einmal ihre Biodiversitätsverluste einerseits und der trachten. 1850 hatte es 613 Einwohnerinnen Eier verkauften die Bauernfrauen gerne. (...) Drum Wahrnehmung von Artenvielfalt andererseits und Einwohner, 1900 waren es 611 (Direktion also Hühner kaufen und selber Eier haben.» schon bald durchschritten sein. Denn es gibt des Innern Basel-Landschaft 1944). In einer Die Schilderung klärt zweifelsfrei, dass auch im Dorf eine zunehmende Zahl von Personen, handschriftlichen Heimatkunde wird 1863 ei- die Handwerker und die Gewerbetreibenden die in ihrer Freizeit bewusst Nähe zur Natur ne erstaunlich grosse Zahl von Handwerkern und eben sogar der Lehrer in kleinerem oder suchen und sich aktiv für das Schaffen von aufgeführt: 2 Schneider, 3 Schuster, 2 Wagner, grösserem Umfang Land bewirtschaftet ha- mehr Diversität einsetzen: Rund um den 1 Hufschmied, 1 Küfer, 4 Zimmerleute, 2 Mau- ben. Bei sehr vielen Dorfbewohnern floss also Farnsberg, zum Teil auf Buusner Boden, läuft rer, 1 Metzger, 3 Leinenweber, 1 Nagelschmied. die Arbeitsenergie in mindestens zwei Stand- seit 2004 unter dem Namen «Obstgarten Dazu kamen als Gewerbe 1 Getreidemühle, 2 beine. Das Standbein «Landbewirtschaftung» Farnsberg» ein grossflächiges Projekt zur öko- Ölmühlen, 2 Sägen und 1 Hanfreibe, ferner 2 war eine Selbstverständlichkeit, da es die Er- logischen Aufwertung des Kulturlandes (www. Wirtschaften (Schaub 1863). Als «Handelsleu- nährung garantieren musste; es ging um obstgarten-farnsberg.ch). Zudem hat der Na- te» gab es 2 Boten und 2 Krämer. nichts weniger als um Selbstversorgung. Nur tur- und Vogelschutzverein Buus die stattli- Zu diesen Handwerkern und Gewerbetreiben- die armen und alten Leute hatten kein Land che Zahl von mehr als 300 Mitgliedern. Diese den dürften rund 30 Haushaltungen gehört bzw. nicht die Kraft dazu, Boden zu bearbei- pflegen Hecken, säen Blumenwiesen an, be- haben. Ausserdem gab es 1862 in den Häusern ten. Der Grad der Armut dürfte sogar direkt treuen rund 400 Nistkästen und vieles mehr. 45 Seidenband-Webstühle (Graf 1972). Man mit dem Grad der Selbstversorgung korreliert Es gibt auch eine aktive Jugendgruppe (www. kann also annehmen, dass in einer beträchtli- gewesen sein. nvb-buus.ch). Viele Lichtblicke also! chen Anzahl der für 1870 und 1900 bezeugten 124 Haushalte Einkommen aus handwerkli- Naturschutz als Lichtblick Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot cher oder gewerblicher Betätigung erarbeitet Die oben geäusserte Folgerung bezüglich Na- wurde (Statistisches Amt Kanton Basel-Land- turnähe der Menschen muss somit dahinge- 10 HOTSPOT 39 | 2019
Der Autor Dr. Karl Martin Tanner hat Zoologie, Botanik, Geo- grafie und Geologie studiert. Er war 12 Jahre lang Ober- assistent an der Professur für Natur- und Landschafts- schutz der ETH Zürich. Daneben arbeitete er als Dozent für Sachunterricht an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Seit 2014 ist Karl Martin Tanner freischaffend in den Bereichen Natur- und Landschaftsgeschichte sowie Didaktik des Sachunterrichts tätig. Kontakt: km.tanner@bluewin.ch HOTSPOT 39 | 2019 11
Der Autor Dr. med. Markus Weissert ist Kinderneurologe FMH und ehemaliger Leiter der neuropädiatrischen Abtei- lung im Ostschweizer Kinderspital St. Gallen. Er ist Ex perte für Ursache-Wirkungsbeziehungen im Bereich Entwicklungsneurologie, Natur und Pädago gik und setzt sich für die Verbreitung der Waldkinderpädagogik ein. Kontakt: m_weissert@bluewin.ch 12 HOTSPOT 39 | 2019
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Kinder brauchen naturnahe Freiräume Kinder verbringen heute weniger Höfflin 2016). Als Ursache wird einerseits das > Mütter, die in grünen Wohnsiedlungen le- Zeit mit Spielen im Freien als Häft- Fehlen von attraktiv gestalteten Freiräumen ben, haben schwerere Neugeborene – auch un- aufgeführt, anderseits beansprucht die Indoor- ter Berücksichtigung anderer Variablen wie linge auf ihrem täglichen Freigang. Nutzung elektronischer Medien zeitlich bereits den Sozialstatus (Markevych et al. 2013, Dad- Es fehlt an gestaltbaren attraktiven ein Vielfaches des Outdoor-Aufenthalts. vand et al. 2012). Freiräumen im Wohnumfeld. Dabei Umso wichtiger sind Bemühungen, Kinder wie- > Bei Kindern erhöht die mangelhafte Out bieten naturnahe biodiverse Frei- der in die freie Wildbahn zu entlassen. In ei- door-Tageslichtexposition gepaart mit lang- nem Waldkindergarten führen Klettern, Verste- dauernder Bildschirmarbeit das Risiko für eine räume ideale Voraussetzungen für cken, Schnitzen, Feuern und Kochen zu einer kindliche Kurzsichtigkeit (Sankaridurg 2015, eine altersgemässe kindliche Ent- vielfältigeren Bewegungsentwicklung im Ver- Dadvand et al. 2017). Eingeschränkte Sonnen- wicklung. Sie schaffen die Grundla- gleich zu Kindern in einem konventionellen lichtexposition führt zu verbreitetem kindli- ge für die körperliche und psychi- Kindergarten ohne besondere pädagogische chen Vitamin-D-Mangel, ein Risikofaktor für Konzeption (Regelkindergarten). Im Rahmen ei- eine gestörte Skelettentwicklung. sche Gesundheit der Kinder und ihre ner Dissertation konnte festgestellt werden, > Wer als Kind von vielen Grünflächen umge- Persönlichkeitsentwicklung. dass Kinder aus Waldkindergärten im Vergleich ben ist, läuft später weniger Gefahr, psychisch Von Markus Weissert zu jenen aus konventionellen Einrichtungen ei- zu erkranken (Engemann et al. 2019). ne höhere Schulreife in Bezug auf Motivation, > Dem Mikrobiom der Umwelt kommt eine Für die Entwicklung des kindlichen Nervensys- Ausdauer und Konzentrationsvermögen haben grosse Bedeutung für das Mikrobiom in unse- tems sind Myelinisierung (Bemarkung der Ner- (Häfner 2002). Wo Waldkindergärten fehlen, rem Körper zu. Bei Neugeborenen erfolgt bei- venfasern) und Synaptogenese (Bildung von könnte auch die Umgestaltung eines versiegel- spielsweise nach natürlicher Geburt eine Nervenzell-Verbindungen) von ausschlagge- ten Schulhofs zu einem strukturierten naturna- Keimbesiedelung durch die Mutter; bei einem bender Bedeutung. Die Myelinisierung ermög- hen Pausenplatz Anreize für gesteigerte Bewe- Kaiserschnitt fällt diese Reaktion schwächer licht eine schnelle Informationsübertragung, gungsaktivitäten schaffen (Fjørtoft 2004, Her- aus, was ein höheres Risiko für Allergien und die Synapsen gewährleisten die Informations- rington und Brussoni 2015). entzündliche Erkrankungen beinhaltet (Wam- vernetzung im Nervensystem. Es gilt, das Ent- Die Defizite in differenzierten Bewegungser- pach et al. 2018). wicklungsfenster für die sensomotorische Syn- fahrungen haben heute vermehrt Therapiever- > Der weltweite fortschreitende Biodiversitäts- aptogenese bis zum Schulalter optimal zu nut- ordnungen wie Physiotherapie, Psychomoto- verlust beim Mikrobiom geht einher mit einer zen – und zwar mit Hilfe der Biodiversität. rik oder Ergotherapie zur Folge. Dazu kom- Zunahme von Allergien (Heuschnupfen, Asth- men Übergewicht durch Inaktivität und sit- ma) und nicht entzündlichen Krankheiten Vielfalt wirkt zende Haltung sowie Beschwerden im Bewe- (z.B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) (Haahtela Eine naturnahe, biodiverse Umgebung ermög- gungsapparat. Auch exekutive Funktionen wie et al. 2013). licht den Kindern, mit variablen taktil-kinäs- Gedächtnis und Konzentrationsvermögen pro- > Eine reiche Biodiversität des Bodenlebens thetischen Reizen auf unterschiedlichen Bö- fitieren von einem Outdoor-Unterricht (Hill- stärkt die menschliche Immunabwehr und den mit wechselhafter Topographie reiche Be- man et al. 2014, Torquati et al. 2017). Aus ver- bietet Schutz vor infektiösen und parasitären wegungserfahrungen zu sammeln. Balancie- schiedenen Beobachtungen geht die positive Erkrankungen (Liddicoat et al. 2018). ren und Klettern fördern Bewegungsdosierung Wirkung naturnaher Räume auf das Aufmerk- > Ebenso begünstigt die Biodiversität die und Gleichgewicht und verhelfen zu Selbstsi- samkeitsvermögen hervor. Ein Parkspazier- Gesundheit der Atemwege über die Einat- cherheit. Gleichzeitig machen die Kinder in na- gang von 20 Minuten verbessert die Konzen mung des Umweltmikrobioms (Liddicoat et al. turnahen Lebensräumen nachhaltig vernetzte tration bei Kindern mit einer schweren Auf- 2018). multimodale Sinneserfahrungen. merksamkeitsstörung (ADHS) genauso wie ei- Diese Erkenntnisse beunruhigen im Hinblick Der regelmässige Aufenthalt in der Natur för- ne Dosis Ritalin® (Taylor 2009). auf den Biodiversitätsverlust, vor allem im dert zudem die Artenkenntnis von Pflanzen Landwirtschaftsland und im Siedlungsraum. und Tieren, eine Voraussetzung für den Arten- Zahlreiche Vorteile Zusammenfassend zeigt sich eine klare wis- schutz und den Erhalt der Biodiversität. Aktu- Die kindliche Gesundheit ist eng verknüpft mit senschaftliche Evidenz zur Bedeutung natur- ell können 2000 bayrische Gymnasiasten der Biodiversität der Umgebung. In den letzten naher, biodiverser Freiräume für die Entwick- durchschnittlich nur noch 5 der 15 häufigsten Jahren konnten wissenschaftliche Untersu- lung und die Gesundheit der Kinder. Leena Singvögel benennen (Gerl et al. 2018). Ein re- chungen die Zusammenhänge näher klären. von Hertzen vom Zentralkrankenhaus der gelmässiger Aufenthalt in der Natur fördert > Qing Li von der Nippon Medical School in To- Universität Helsinki schrieb in ihrem lesens- aber nicht nur das Umweltwissen, sondern ist kio hat den inhalativen Effekt von Terpenen werten Bericht «Helsinki alert of biodiversity auch die Basis für späteres Umwelthandeln. (flüchtige ätherische Öle aus dem Holz) nach and health»: «Reconnection to nature should einem Waldspaziergang auf die Immunab- be built in early life to get the greatest bene- Raus in die Natur! wehr untersucht und einen stimulierenden Ef- fits, e.g. we need more outdoor kindergartens Laut einer Pro Juventute-Studie verbrachten fekt auf die lymphatischen T-Zellen nachge- and family/school nature clubs» (von Hertzen fünf- bis neunjährige Kinder an drei unter- wiesen (Li et al. 2006). Damit hat er die Voraus- et al. 2015). suchten Werktagen lediglich 29 Minuten ohne setzung für die in Südostasien mittlerweile Aufsicht zum Spielen im Freien (Blinkert und verbreitete «Waldbadtherapie» geschaffen. Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot HOTSPOT 39 | 2019 13
Brennpunkt – Biodiversität im Alltag Die Wahrnehmung der Biodiversität ist werteabhängig Verschiedene Werthaltungen in Entsprechend stellten wir im Rahmen der Un- re Erfolgsbeweise. Zudem wird intellektuelle der Bevölkerung führen dazu, dass tersuchung nicht nur inhaltliche Fragen rund Kompetenz höher gewichtet als Zurschaustel- um die Thematik Biodiversität, sondern frag- lung von Reichtum; der Glaube an Ideale (u.a. Biodiversität unterschiedlich wahr- ten zusätzlich auch die für die Charakterisie- Schutz des Schwächeren) ist diesen Menschen genommen wird. Dies zeigt eine für rung nötigen psychografischen Items ab (vgl. wichtig. das BAFU durchgeführte Studie. Die Box). Dies ermöglichte es anschliessend, das Generell scheinen Personen in den Aussen- neuen psychografischen Erkenntnis- entsprechende Antwortverhalten verglei- feldern den Zustand der Biodiversität in der chend für verschiedene psychografische Ty- Schweiz eher positiver einzuschätzen und se können als Basis für zukünftige pen/Felder auszuwerten und daraus Ansatz- entsprechend auch weniger Handlungsdruck Kommunikationskonzepte dienen. punkte für eine zielgruppenspezifische Kom- zu sehen. Im Gegensatz dazu sind Personen Von Michael Buess munikation abzuleiten. mit einer stärkeren Innenorientierung kriti- scher, was den aktuellen Zustand der Biodi- Warum interessieren sich die einen Menschen versität angeht. Diese Trends haben vermut- mehr für Kreuzfahrtferien und andere mehr lich auch mit der Bekanntheit der Begrifflich- für Adventure-Trekkings? Aus dem Konsum- Die Radar-Psychografie kurz erklärt keit Biodiversität sowie insbesondere auch güter- und Dienstleistungsmarketing ist gut Die Radar-Psychografie bietet die Möglichkeit der dem entsprechenden Interesse für das Thema belegt, dass unterschiedliche Werthaltungen Zielgruppensegmentierung ausserhalb der klas- zu tun, welches bei den Innenorientierten zu unterschiedlichen Präferenzen und damit sischen soziodemografischen Dimensionen (wie grösser ist als bei den Aussenorientierten. Zu- auch zu unterschiedlichem Informations- und Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, etc.). Im dem ist bei den Aussenorientierten die Vor- Vordergrund stehen dabei Wertvorstellungen Einkaufsverhalten führen. Entsprechend wer- stellung, dass das eigene Verhalten einen Ef- der Zielpersonen, welche eine adäquate Positio- den in der Konsumgüter- und Marketingfor- fekt auf den Zustand der Biodiversität hat, nierung im psychografischen Raum und eine ge- schung seit Jahren erfolgreich psychografi- vergleichsweise unterdurchschnittlich vertre- zielte Ansprache ermöglichen (siehe Grafik S. 28). sche Modelle verwendet, um Konsumenten- Basis für die Radar-Psychografie ist ein geeichter ten – was auch zu einer tieferen Handlungs- und Kundengruppen psychografisch zu cha- und standardisierter Psychografie-Test, bei wel- bereitschaft führt. rakterisieren, so besser zu verstehen und ent- chem die Zielpersonen Stellung zu 26 Aussagen sprechende Produktgestaltungs-, Werbe- und nehmen. Aufgrund des Antwortmusters wird für Der Mehrwert der Psychografie Marketingmassnahmen zielgruppenspezifisch jede einzelne Person ein Werteprofil mit Werte- Die generellen Ergebnisse (v.a. die erneute auszurichten. Aber lässt sich ein solcher psy- haltungen erkennbar. Dies wiederum ermöglicht Feststellung des Wahrnehmungs-Gaps) sind chografischer Ansatz auch auf den Umwelt beispielsweise eine gezielte Ansprache (Kommu- grundsätzlich wenig überraschend. Durch die bereich und dabei konkret auf das Thema Bio- nikation) oder Positionierung von Produkten und / zusätzliche psychografische Auswertung und diversität anwenden? oder Dienstleistungen. Typologisierung ist es nun aber möglich, Handlungs- und Kommunikationsmassnah- Positionierung im psychografischen Raum men zielgruppenspezifisch zu entwickeln. Im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt Insbesondere scheint es anhand der Ergebnis- (BAFU) hat das Forschungsinstitut DemoSCOPE Wahrnehmungs-Gap bestätigt se angezeigt, die Innen- und Aussentypen un- genau diesen Versuch unternommen. Auslö- Generell zeigen die Umfrageergebnisse, dass terschiedlich zu adressieren. ser für die Studie war der bereits durch frü der Begriff Biodiversität und die damit ver- Erste Analysen zeigen, dass es zielführend er- here Untersuchungen festgestellte «Wahrneh- bundenen Aspekte in der Schweizer Bevölke- scheint, die eher Innengerichteten, welche be- mungs-Gap» im Themenbereich Biodiversität. rung relativ gut bekannt sind. Allerdings zeig- reits über einen besseren Informationsstand Damit ist gemeint, dass gemäss Umfragen die te sich auch wieder der erwartete Wahrneh- und auch eine höhere Handlungsbereitschaft Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer mungs-Gap. Einen Mehrwert bzw. eine neue verfügen, darin zu bestärken, ihr Engagement der Meinung ist, um die Artenvielfalt in unse- Perspektive auf die Thematik ergibt sich nun im Bereich Biodiversität zum Wohle der gan- rem Land sei es gut oder sogar sehr gut be- aber durch die zusätzlichen psychografischen zen Gesellschaft weiterzuführen bzw. noch zu stellt und der Zustand der Biodiversität hätte Auswertungen der Umfrageergebnisse an- verstärken. Bei den Aussengerichteten muss sich in den letzten 10 Jahren zudem verbes- hand der 11 psychografischen Felder. So kann dagegen zunächst «Basisarbeit» geleistet wer- sert. Die wissenschaftlichen Fakten zeigen bei einer Mehrheit der Fragen bzw. Antworten den, um das nötige Wissen zu vermitteln und aber exakt das Gegenteil. Die Schweizer Bevöl- eine mehr oder weniger deutliche West / Ost- so auch die entsprechende Handlungsbereit- kerung schätzt den Zustand von Flora und bzw. Aussen- / Innen-Tendenz festgestellt wer- schaft überhaupt hervorrufen zu können. Da- Fauna entsprechend also viel zu gut ein. den (siehe Grafik S. 28). Aussengerichtete bei muss bei den Aussentypen stärker auf die Um diesen Wahrnehmungs-Gap genauer zu Menschen zeichnen sich dabei vor allem Ich-Orientierung abgezielt werden, es muss untersuchen, wurde eine Umfrage geplant durch Charaktereigenschaften wie Kontakt- also versucht werden zu vermitteln, weshalb und durchgeführt. Anstatt uns wie sonst oft freude, offenes Erfolgsstreben, Wichtigkeit es im persönlichen Interesse dieser Personen geläufig auf eine Charakterisierung von ver- des eigenen Auftretens sowie einer stark mate- sein sollte, etwas für die Biodiversität zu tun. schiedenen Zielgruppen anhand von soziode- rialistisch geprägten Werthaltung aus. Innen- Mehrwert bietet die Psychografie aber nicht mographischen Merkmalen zu fokussieren, gerichtete zeigen genau ein gegenteiliges Pro- nur in Bezug auf mögliche Inhalte von Kom- wählten wir einen psychografischen Ansatz. fil. Hier zählen innere Werte mehr als sichtba- munikationsmassnahmen, sondern v.a. auch 14 HOTSPOT 39 | 2019
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