In Deutschland neu denken - Bewegte Mitte - bewegte Gesellschaft Zwischen Stabilität

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In Deutschland neu denken - Bewegte Mitte - bewegte Gesellschaft Zwischen Stabilität
Bewegte Mitte –
bewegte Gesellschaft
            In
Zwischen Stabilität
und Flexibilität
   Deutschland
    neu denken
Beiträge von
Holger Lengfeld und Jessica Ordemann
Judith Niehues und Theresa Eyerund
Stefan Hradil

                                   Diskussion
Inhalt

Randolf Rodenstock
Vorwort                                                                    2

1
Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland     3
1.1 Was ist mit der Mitte los?                                             3
1.2 Was ist Schichtung und wie lässt sie sich bestimmen?                   4
1.3 Schichtung in Deutschland 1991 bis 2018                                5
1.4 Statusverunsicherung in Deutschland 1991 bis 2018                      7
1.5 Diskussion                                                            11
Das Wichtigste in Kürze                                                   13
Literatur                                                                 14

2
Judith Niehues / Theresa Eyerund
Gespaltene Mitte – gespaltene Gesellschaft?                               16
Eine empirische Clusteranalyse auf Basis des SOEP
2.1 Einleitung                                                            16
2.1.1 Die Mittelschicht als zentraler Ankerpunkt der Gesellschaft?        16
2.1.2 Gesellschaftliche Differenzierungen in Sorgen, Einstellungen         16
       und Empfindungen
2.2 Gespaltene Gesellschaft: eine Clusteranalyse der Gesamtgesellschaft   17
2.2.1 Daten und Konzepte                                                  17
2.2.2 Sorgen, Einstellungen und Empfindungen in der Gesellschaft:          19
       Zuversichtliche, Besorgte und Beunruhigte
2.3 Gespaltene Schichten: eine Clusteranalyse der Einkommensschichten     21
2.3.1 Konzept der Einkommensschichten                                     21
2.3.2 Gespaltene Gesellschaftsschichten                                   23
2.4 Fazit: Besorgt ist nicht gleich besorgt                               26
Das Wichtigste in Kürze                                                   29
Literatur                                                                 30

3
Stefan Hradil
Sind die Mittelschichten ein Unruheherd?                                  31
3.1 Einleitung                                                            31
3.2 Der Aufstieg der Mittelschichten in der Nachkriegszeit                31
3.3 Das zeitweilige Schrumpfen der mittleren Schichten                    33
3.4 Hochkonjunktur und das Wiedererstarken der Mittelschichten            34
3.5 Zwei neuere Befunde                                                   35
3.5.1 Die Gegensätzlichkeit der Befunde                                   37
3.5.2 Die Vereinbarkeit der Befunde                                       39
3.6 Fazit und Ausblick                                                    43
Das Wichtigste in Kürze                                                   45
Literatur                                                                 46

Autorinnen und Autoren                                                    47

                                                                                1
Vorwort
                                                             die seit Jahren kontinuierlich abgenommen hat,
                                                             könnte im Jahr 2020 sprunghaft zunehmen.

                                                             Dass die Krise die Mittelschicht hart treffen
                                                             wird, befürchten auch die Ökonominnen Judith
                                                             Niehues und Theresa Eyerund. Darüber hinaus
                                                             könne die Pandemie auch Auswirkungen auf
                                                             das Sorgenniveau in der Gesamtgesellschaft
                                                             haben. Grundsätzlich treten gesellschaftlich-
                                                             kulturelle Sorgen eher unabhängig vom Einkom-
                                                             men und in allen Schichten auf, so die Ergeb-
                                                             nisse ihrer empirischen Untersuchung. Hinzu
                                                             kommen vor allem in den unteren Schichten
                                                             finanzielle Sorgen und das Gefühl sozialer Aus-
                                                             gegrenztheit.

                                                             Vor allem die untere Mittelschicht beurteilt ihre
                                                             Lage kritisch und stellt politisch wie gesellschaft-
                                                             lich einen Unruheherd dar, lautet die Schluss-
                                                             folgerung des Soziologen Stefan Hradil. Diese
    Corona stellt zurzeit alles auf den Kopf. Täglich        Tendenz könne sogar noch weiter zunehmen,
    müssen wir uns an eine veränderte Normalität             denn durch die Pandemie sieht sich die untere
    gewöhnen, zweifeln bisherige Gewissheiten an             Mitte in ihrer grundsätzlich eher ablehnenden
    und bewerten Entwicklungen neu.                          Haltung gegenüber der Globalisierung bestätigt.

    Bevor die Pandemie uns alle in den Krisen-               Die Mitte ist in Bewegung – aber nicht in Auf­
    modus versetzt hat, beschäftigten wir uns am             lösung. Nicht nur die Ergebnisse der vorlie-
    Roman Herzog Institut mit dem Thema, wie                 genden Publikation, sondern auch aktuelle
    sich der gesellschaftliche Wandel auf die Mittel-        Beobachtungen bestärken mich in der Über-
    schicht auswirkt. Sie gilt traditionell als krisenfest   zeugung, dass unsere Gesellschaft an den
    und stabil und hat in der Vergangenheit politi-          gegenwärtigen Herausforderungen wachsen
    sche und wirtschaftliche Umbrüche – wie die              kann: Die Menschen gestalten ihren Alltag trotz
    Wiedervereinigung oder die Wirtschafts- und              vieler Einschränkungen kreativ und einfallsreich
    Finanzkrise – gut gemeistert. In jüngster Zeit hat       und sie verhalten sich solidarisch. Sie beweisen
    das Image der Mittelschicht jedoch arg gelitten:         Zuversicht und Zusammenhalt – genau darauf
    Es heißt, sie sei verunsichert, abstiegsgefährdet        kommt es jetzt an.
    und anfällig gegenüber extremen politischen
    Strömungen. Wie tickt die Mitte wirklich? Was            Die Corona-Krise wird unser Leben nachhaltig
    bewegt die Gesellschaft? Diesen Fragen sind wir          verändern. Die Diskussion über die Auswirkun-
    in der vorliegenden Publikation nachgegangen.            gen der Pandemie auf Politik, Wirtschaft und
                                                             Gesellschaft steht jedoch erst ganz am Anfang.
    Schon vor der Pandemie war die Mitte in Be-              Die aktuellen Entwicklungen wollen wir am Ro-
    wegung geraten – doch haben Veränderungen                man Herzog Institut weiterhin aufmerksam ver-
    vor allem innerhalb der Mittelschicht stattgefun-        folgen und dazu fundierte Denkanstöße liefern.
    den. Zu diesem Ergebnis kommen die Sozio-
    logen Holger Lengfeld und Jessica Ordemann:
    Von 1991 bis 2018 ist die Aufwärtsmobilität
    in der Mittelschicht gestiegen – hin zu mehr
    akademisch Qualifizierten. Infolge der Krise             Professor Randolf Rodenstock
    könnte jedoch ein Teil der mittleren Mitte sozial        Vorstandsvorsitzender
    absteigen. Und auch die Statusverunsicherung,            Roman Herzog Institut e. V.

2
1
Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
Geschrumpft und verängstigt?
Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

1.1 Was ist mit der Mitte los?                            –– Die Mittelschicht sei geschrumpft, weil es
Ist die deutsche Mittelschicht vom Abstieg                   aufgrund der Zunahme an erwerbswirt-
bedroht oder fürchtet sich davor?1 Seit Mitte                schaftlichen Risiken vermehrt zu Abstiegen
der 2000er Jahre wird diese Frage in den deut-               in die untere Schicht gekommen sei.
schen Massenmedien und der sozialwissen-                  –– Angehörige der Mittelschicht, die vom
schaftlichen Gemeinde diskutiert, wenn auch                  Abstieg bislang nicht betroffen sind, könn-
in den letzten Jahren erkennbar weniger. Einige              ten vermehrt Abstiegsängste zeigen, weil
Schlagworte aus der Debatte: Die Mittelschicht               ihre bislang stabilen, langfristig planbaren
schrumpfe oder erodiere, ihre Mitglieder seien               Karriere­verläufe nun erodiert wären.
von Wohlstandsverlusten gekennzeichnet, wür-
den von der öffentlichen Abgabenlast erdrückt
und von den staatlichen Sozialsystemen allein-
gelassen. Auch in der politischen Sphäre war
die Mittelschicht ein viel diskutiertes Thema.                              Als Hauptursache für die
So proklamierte der Spitzenkandidat der SPD
im Bundeswahlkampf 2017, Martin Schulz:                                    zunehmenden Ängste der
Die Abstiegsängste nähmen zu und die Politik
müsse sich der Sorgen der Menschen wieder                                 Mittelschicht gilt in vielen
mehr annehmen (Der Tagesspiegel, 2017, 22).
                                                                         Debatten die Globalisierung
Als Hauptursache für die angenommene
Zunahme der Ängste in der Mittelschicht                                           und deren Folgen.
werden in vielen Debatten die wirtschaftliche
Globalisierung und ihre Konsequenzen iden-
tifiziert. Galt die Mittelschicht in der früheren
Bundesrepublik noch als wohlsituierte soziale
Gruppe, die von der wirtschaftlichen Pros-                Vor dem Hintergrund dieser Thesen möchten
perität der deutschen Wirtschaft profitierte,             wir diese zwei Fragen zur Lage der Mittel-
ist es seit Ende der 1990er Jahre auf dem                 schicht beantworten:
Arbeitsmarkt vermehrt zur Flexibilisierung der
Arbeitsverhältnisse gekommen. Diese flexib-               –– Wie hat sich die Mittelschicht im Zeitver-
len Jobs gehen mit höheren Unsicherheiten                    lauf entwickelt: Ist sie in den letzten knapp
für Arbeitnehmer durch befristete Verträge,                  30 Jahren überwiegend geschrumpft, kon-
unfreiwillige Teilzeitarbeit und erzwungene                  stant geblieben oder hat es gegenläufige
Selbstständigkeit einher. Gleichzeitig deckt der             Entwicklungen gegeben?
Sozialstaat aus Sicht vieler diese Risiken nach           –– Welchen Verlauf hat die Sorge vor Verlust
den Hartz-Reformen der Jahre 2003 bis 2006                   des derzeitigen sozialen Status (umgangs-
nicht oder nicht mehr adäquat ab. Damit, so                  sprachlich: Abstiegsangst) der Mittelschicht
die These, seien nun auch die Mittelschichten                im selben Zeitraum genommen: Ist sie
diesen Arbeits­markt­risiken ausgesetzt. Dies                stetig gestiegen oder folgt sie dem Zyklus
könne zwei miteinander verbundene Folgen                     des konjunkturellen Auf und Ab der letzten
haben (Grabka et al., 2016; Mau, 2013; Groh-                 knapp 30 Jahre?
Samberg/Hertel, 2010):
                                                          Um beide Fragen zu beantworten, stellen wir
                                                          in diesem Kapitel eigene empirische Analysen
                                                          vor. Dabei vergleichen wir zum einen die Größe
1 In diesem Aufsatz greifen wir auf Ausführungen          der Mittelschicht und deren Statusverunsiche-
zurück, die in den letzten Jahren in unterschiedlichen    rung mit der Größe und Statusverunsicherung
Beiträgen publiziert wurden. Die Kapitel 1.2 und 1.3
                                                          der anderen Schichten. In Kapitel 1.2 legen wir
enthalten stellenweise wörtliche Passagen aus Lengfeld/
Ordemann (im Erscheinen). Kapitel 1.4 nimmt Bezug auf     zunächst dar, was der Großteil der vorliegen-
Lengfeld (2019).                                          den Studien zum Schrumpfen der Mittelschicht

                                                                                                             3
1
            Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
            Geschrumpft und verängstigt?
            Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

            bisher herausgefunden hat. Weil diese Studien      Wahrnehmungswelt von Menschen verankert
            einen entscheidenden konzeptionellen Nach-         ist. Mittels der Idee der Schichtung sortieren
            teil aufweisen, schlagen wir eine veränderte       Menschen ihre Mitmenschen entsprechend de-
            Bestimmung von Schichtung vor. In Kapitel 1.3      ren sozialen Status. Dieser Status ist Ausdruck
            erläutern wir Befunde aus einer deskriptiven       der ungleichen Verteilung von Lebenschancen
            Zeitreihenanalyse, aus der man die Änderung        in modernen Gesellschaften. Doch was ist
            der Schichtgröße im Zeitverlauf erkennen           Status genau?
            kann. In Kapitel 1.4 zeigen wir den Verlauf der
            Status­verun­siche­rung der Schichten.             In der Forschung zur Schichtung wird sozialer
                                                               Status häufig anhand des verfügbaren Einkom-
            Alle vorgestellten Analysen basieren auf Um-       mens eines Haushalts bestimmt. Es ist in vielen
            fragedaten des Sozio-oekonomischen Panels          Studien üblich, die Gesellschaft in drei Schich-
            (SOEP) für die Jahre 1991 bis 2018, dem            ten einzuteilen. Zur Einkommensunterschicht
            letzten Jahr, für das gegenwärtig Daten zur        zählt meist, wer weniger als 75 Prozent des
            Verfügung stehen. Das bedeutet aber auch,          durchschnittlichen Einkommens in Deutschland
            dass wir in diesem Beitrag keine Aussagen          zur Verfügung hat, zur Mittelschicht zählen Per-
            machen können, wie sich die wirtschaftlichen       sonen zwischen 75 und unter 150 Prozent des
            Folgen der Corona-Pandemie des Jahres 2020         Durchschnittseinkommens und die Oberschicht
            auf die Mittelschicht auswirken. Wir diskutieren   hat mehr als diese 150 Prozent zur Verfügung.
            diese Frage gegen Ende des Beitrags.
                                                               Sieht man die Studien zur Einkommensschich-
            1.2 Was ist Schichtung und wie lässt sie           tung durch, so kommt man zu folgendem Re-
            sich bestimmen?                                    sultat: Die meisten der Studien für Deutschland
            Die soziale Schichtung der Gesellschaft ist ein    zeigen auf Basis von Umfragedaten, dass die
            zentraler Gegenstand der Soziologie. Den-          Einkommensmittelschicht zwischen Ende der
            noch gibt es in der Wissenschaft keine ein-        1980er und Ende der 2010er Jahre kleiner ge-
            deutige Festlegung darüber, was genau eine         worden ist (vgl. Burckhardt et al., 2013, 17 ff.;
            Schicht ausmacht und wodurch sie sich von          Grabka et al., 2016; Fritsch/Verwiebe, 2016).
            anderen Schichten abgrenzt. Der wesentliche        Allerdings gibt es auch Befunde, wonach die
            Grund dafür ist, dass Schichtung kein objek-       Größe der Mittelschicht seit Ende der 2000er
            tiv bestimmbares Faktum ist, anders als eine       Jahre stabil geblieben (Niehues, 2018) oder
            physikalische Erscheinung. Schichtung ist ein      sogar gewachsen ist (Burckhardt et al., 2013,
            gedankliches Ordnungsschema, das in der            47 ff.; Niehues, 2017). Die Forschung ist sich
                                                               zudem uneinig darüber, ob es in dem genann-
                                                               ten Untersuchungszeitraum mehr Abstiege in
                                                               die untere Schicht oder Aufstiege in die obere
                                                               Schicht gegeben hat (Burckhardt et al., 2013;
Schichtung ist nicht objektiv                                  Fritsch/Verwiebe, 2016; Niehues, 2015; 2018;
                                                               Grabka/Frick, 2008).
bestimmbar, sondern ein
                                                               Wie bereits gesagt, verwenden die meisten
gedankliches Konstrukt,                                        Studien das Einkommen als Kriterium zur Be-
                                                               stimmung der Schichten und der Abgrenzung
mit dem Menschen ihre                                          zwischen ihnen. Diese Vorgehensweise ist aber
                                                               mit Nachteilen verbunden. Der wichtigste ist:
Mitmenschen nach dem                                           Einkommen ist keine soziale Kategorie, die
                                                               darüber ursächlich bestimmt, welche Position
sozialen Status einsortieren.                                  Menschen in der Gesellschaft einnehmen. Ein-
                                                               kommen ist eine Folge der Position des Einzel-
                                                               nen beziehungsweise des Haushalts auf dem
                                                               Arbeitsmarkt (Goldthorpe, 2010). Diese Tat-

        4
sache führt in der Forschung dazu, dass man
kein Argument hat, ab welchen Einkommens-                      Der Beruf eines Menschen ist
schwellenwerten eine Schicht beginnt und eine
andere aufhört. Zudem geben die meisten Stu-                  wesentlich für die Herstellung
dien keinen eindeutigen Aufschluss darüber, ob
Personen, die aus der Mittelschicht im Zeitver-               und den Erhalt seines sozialen
lauf absteigen, auch tatsächlich an Einkommen
verloren haben. Aus Gründen der statistischen                   Status. Daher ist es sinnvoll,
Berechnungsweise ist es nämlich auch mög-
lich, dass Absteiger aus einer Schicht in eine                     die Schichtzugehörigkeit
andere im Zeitverlauf durchaus an Einkommen
hinzugewonnen haben, aber eben weniger als                       über den ausgeübten Beruf
jene Personen oder Haushalte, die über ein
höheres Einkommen verfügen.                                                   zu bestimmen.
Um die Nachteile der Bestimmung von Schich-
tung mittels Einkommen zu umgehen, bestim-
men wir die Zugehörigkeit zu einer Schicht über
den ausgeübten Beruf (vgl. ausführlich dazu         –– Die mittlere Mitte besteht aus beruflich
Lengfeld/Ordemann, 2017). Die Begründung               qualifizierten Personen in Angestellten­
dafür ist, dass der Beruf die zentrale Ressource       berufen sowie aus Kleingewerbetreiben­-
der Menschen zur Herstellung und Aufrechter-           den mit geringer Zahl an Beschäftigten.
haltung ihres sozialen Status ist. Aus dem Beruf    –– Zur unteren Mitte gehören beruflich
erzielen sie Einkommen, aber auch gesellschaft-        ­qualifizierte Arbeiter und Meister sowie
liches Ansehen (Prestige) und einen bestimmten          Techniker, gelernte Handwerker und Klein-
Grad sozialer Integration. Daraus folgt, dass die       gewerbetreibende ohne Beschäftigte.
soziale Schichtung einer Gesellschaft als Hierar-
chie von Berufen abgebildet werden kann.            Die untere Schicht wird in zwei Segmente
                                                    ausdifferenziert, ohne dabei eine Rangordnung
Doch wo liegen die Grenzen zwischen den             der Lebenschancen zu unterstellen: geringqua-
­einzelnen Berufen: Wer gehört zur Mitte, wer       lifizierte Angestellte mit hohem Routineanteil
 zur unteren und wer zur oberen Schicht?            an den Tätigkeiten (untere Schicht I: einfache
 Wir haben dazu eine ausführliche ­Begründung       Dienstleister) und ungelernte sowie angelernte
 für ein berufsklassenbezogenes Schichtungs-        Arbeiter (untere Schicht II).
 schema gegeben (Lengfeld/Ordemann, 2017).
 Der vorliegende Beitrag baut auf dieser Be-        Arbeitslose, Personen im Altersruhestand und
 gründung auf.                                      ehemals erwerbstätige Personen haben wir
                                                    nach ihrem letzten beruflichen Status vor dem
Zur Oberschicht zählt, wer eine akademische         Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt eingeord-
Bildung aufweist und zugleich im Beruf Füh-         net. Das bedeutet, dass auch Hausfrauen/​
rungsverantwortung ausübt, wer Unternehmer          ‑männer und Mütter im Mutterschutz in den
mit größeren Betrieben ist sowie die Angehö-        Analysen enthalten sind. Schüler und Studie-
rigen freier Berufe wie niedergelassene Ärzte       rende werden nicht betrachtet.
und Rechtsanwälte.
                                                    1.3 Schichtung in Deutschland 1991 bis 2018
In der Mittelschicht lassen sich drei Segmente      Im Folgenden stellen wir Ergebnisse zur
ausmachen:                                          Veränderung der Zusammensetzung der
                                                    Schichtung in Deutschland vor. Dazu greifen
–– Die obere Mitte umfasst akademisch               wir auf das oben vorgestellte berufsklassen-
   qualifizierte Personen ohne Personalverant-      bezogene Schichtungsschema zurück. Grund-
   wortung.                                         lage unserer Analyse sind Umfragedaten des

                                                                                                     5
1
            Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
            Geschrumpft und verängstigt?
            Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

                                                               einem der drei Segmente der Mittelschicht,
Wesentliche Änderungen                                         gegen Ende waren es 57,7 Prozent. Die untere
                                                               Schicht zählte von Beginn des Beobachtungs-
gibt es innerhalb der Mitte:                                   zeitraums bis 2011/12 um die 30 Prozent der
                                                               Befragten und ist seitdem ebenfalls geringfügig
ein Schrumpfen der unteren                                     geschrumpft. Die Daten zeigen für 2017/18
                                                               eine Größe von etwas unter 29 Prozent an.
Mitte (gelernte Industrie­
                                                               Wesentliche Änderungen in den Schichtgrö-
arbeiter) und ein Anwachsen                                    ßen waren nur in der ersten Hälfte der 2000er
                                                               Jahre festzustellen. Hier ist zu erkennen, dass
der oberen Mitte (qualifizierte                                die untere Schicht geringfügig größer wurde,
                                                               was auf das Wachstum des Segments der
Angestellte mit akademischer                                   ungelernten Arbeiter zurückgeht. Ab Mitte der
                                                               2000er Jahre verringerte sich dieses Segment
Ausbildung).                                                   wieder bis zum Ende des Beobachtungszeit-
                                                               raums.

                                                               Die entscheidende Änderung der Sozialstruk-
                                                               tur fand innerhalb der Mittelschicht statt. Diese
            Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die das         Veränderung betrifft den Anteil der unteren
            Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung         Mitte, darunter vor allem die qualifizierten
            Berlin (DIW) für Forschungszwecke bereitstellt.    Industriearbeiter. Dieses Schichtsegment
            Jährlich werden dabei durch kontrollierte Zu-      halbierte sich nahezu, von durchschnitt-
            fallsauswahl identifizierte, in deutschen Haus-    lich 28 Prozent (1991/92) auf 15,7 Prozent
            halten lebende Personen zu wirtschaftlichen        (2017/18). Im selben Zeitraum wuchs die
            und sozialen Themen befragt.                       obere Mitte von 18,9 auf 26,5 Prozent an.

            Wir haben für die folgenden Analysen Angaben       Als Ursache hierfür lassen sich zwei miteinan-
            von 28.615 Personen ab 17 Jahren berück-           der verbundene Trends vermuten: der Rück-
            sichtigt, für die insgesamt 358.704 Beobach­       gang der Industrieproduktion in Deutschland
            tungen für den Zeitraum 1991 bis 2018 vor­         und der Prozess der Tertiarisierung, also der
            liegen. Die Daten des Jahres 2018 sind zum         zunehmenden Verbreitung von Dienstleistungs-
            Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags die       tätigkeiten. Beide sind unterschiedliche, aber
            letzten verfügbaren. Alle Analysen wurden mit      zusammenhängende Folgen der wirtschaft-
            sozioökonomischen Korrektur­variablen gewich-      lichen Globalisierung. Durch das massive
            tet. Aus Gründen der einfacheren Darstellung       Wachstum der industriellen Massenproduktion
            fassen wir die Daten von jeweils zwei Jahren       in aufstrebenden Ländern, vor allem in China,
            zu gleitenden Durchschnitten zusammen.             kam es seit den 1980er Jahren zum Abbau
                                                               von Produktionskapazität in der Industrie der
            Abbildung 1 gibt die Verteilung der drei Schich-   wirtschaftlich hoch entwickelten Länder. Dies
            ten und ihrer Segmente für Deutschland im          führte auch in der deutschen Industrie zu
            Zeitverlauf wieder. Zunächst ist zu sehen, dass    einem Rückgang der Beschäftigtenzahl.
            die Oberschicht in diesem Zeitraum gewach-
            sen ist. Gehörten ihr in den Jahren 1991/92        Etwas überraschend ist, dass dies vor allem
            durchschnittlich 9,9 Prozent der in Deutsch-       die Facharbeiter und nicht die ungelernten
            land lebenden Personen ab 17 Jahren an, wa-        Arbeiter betraf. Als Erklärung bietet sich der
            ren es in den Jahren 2017/18 rund 13,5 Pro-        Effekt des technologischen Wandels an, der
            zent. Die Mittelschicht insgesamt ist dagegen      einen Teil der qualifizierten Industriearbeit subs-
            geringfügig geschrumpft. Zu Beginn des             tituierbar machte. Die gleichzeitig stattfindende
            Beobachtungsfensters zählten 60,5 Prozent          Tertiarisierung führte zu einem Anstieg von

        6
Abbildung 1
Schichtung der Gesellschaft
Personen ab 17 Jahren; relative Häufigkeiten in den Jahren 1991 bis 2018, in Prozent

       1991/92     1993/94      1995/96     1997/98     1999/       2001/02       2003/04    2005/06    2007/08     2009/10    2011/12     2013/14     2015/16     2017/18
                                                        2000
100

 90

 80

 70

 60

 50

 40

 30

 20

 10

N = 358.704.                                                                                           ■ Oberschicht          ■ Untere Mitte
Die dargestellten relativen Häufigkeiten basieren auf den Beobachtungen                                ■ Obere Mitte          ■ Untere Schicht II (ungelernte Arbeiter)
für das jeweilige Jahr als gleitender Durchschnitt über jeweils zwei Jahre.                            ■ Mittlere Mitte       ■ Untere Schicht I (einfache Dienstleister)
Quellen: SOEP v35; eigene Berechnungen

akademischen Berufen in den Dienstleistungs-                                  mung der Schichten generell (vgl. Kapitel 1.2)
branchen und bewirkte damit ein Wachstum                                      stellt sich auch hier das Problem der Definition
der oberen Mitte, also der akademisch qualifi-                                und Messung. Zur Messung der Angst vor dem
zierten Angestellten. Das Segment der mittle-                                 sozialen Abstieg (im Folgenden »Statusverun-
ren Mitte, die beruflich qualifizierten Angestell-                            sicherung« genannt) kann man in Umfragen
ten, blieb dagegen mit 14 bis 15 Prozent über                                 nicht direkt nach der »Angst vor dem Abstieg«
die Zeit recht konstant.                                                      fragen. Denn es ist wahrscheinlich, dass die
                                                                              Personen unterschiedliche Vorstellungen darü-
Zusammengenommen haben diese Verschie-                                        ber haben, was Abstieg für sie ist, was wie-
bungen nicht zu einem massiven Schrump-                                       derum die wissenschaftliche Interpretation der
fungsprozess innerhalb der Mitte geführt, wie                                 Daten erschwert, wenn nicht sogar unmöglich
ihn frühere Studien diagnostizieren, die die                                  macht.2
Schichtzugehörigkeit aufgrund der Haushalts-
einkommen konzipieren (etwa Grabka et al.,                                    Stattdessen bietet sich an, die Sorge vor
2016). Vielmehr ist davon auszugehen, dass                                    dem Verlust des Arbeitsplatzes als Indikator
es zu einem größeren Anteil von sozialen                                      zur Messung von Statusverunsicherung zu
Aufstiegen aus unteren Lagen der Mitte in die                                 verwenden. Es ist davon auszugehen, dass
obere Mittelschicht und in die Oberschicht                                    Personen sich vor allem dann vor dem Ver-
gekommen ist.
                                                                              2 In einem noch laufenden Forschungsprojekt haben
1.4 Statusverunsicherung in Deutschland                                       wir eine zweidimensionale Messung von Statusverun­
1991 bis 2018                                                                 sicherung vorgenommen. Erste Ergebnisse aus diesem
                                                                              Projekt sind in der Schriftenreihe des Roman Herzog
Die zweite eingangs gestellte Frage lautet: Wie
                                                                              Instituts publiziert (Lengfeld et al., 2019). Diese Informa-
hat sich die Abstiegsangst der Mittelschicht in                               tionen sind in den Daten für die vorliegende Analyse aber
Deutschland entwickelt? Wie bei der Bestim-                                   nicht verfügbar.

                                                                                                                                                   7
1
                            Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
                            Geschrumpft und verängstigt?
                            Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

                            lust des gegenwärtigen Status sorgen, wenn                      Abbildung 2 zeigt den Verlauf der Statusver-
                            sie in näherer Zukunft fürchten müssen, ihren                   unsicherung in Deutschland und separat für
                            Arbeitsplatz zu verlieren (vgl. zur Begründung                  Ost- und Westdeutschland für alle Erwerbs-
                            ausführlicher Lengfeld/Ordemann, 2017). Als                     tätigen (abhängig und selbstständig Beschäf-
                            wissenschaftlicher Allgemeinplatz gilt, dass                    tigte). In Gesamtdeutschland ist der Anteil der
                            ohne Arbeit der gewohnte Lebensstandard                         Menschen, die sich Sorgen machen über den
                            nicht zu halten ist, soziale Kontakte verloren                  Verlust des Arbeitsplatzes, von Beginn des
                            gehen und viele Betroffene sich schämen, im                     Beobachtungszeitraums 1991 bis Mitte der
                            Beruf versagt zu haben. Statusverunsicherung                    2000er Jahre fast stetig gestiegen. Als Gründe
                            geht daher, so unsere Annahme, zu weiten                        hierfür kann man die bereits beschriebene
                            Teilen auf die Unsicherheit des eigenen Ar-                     Zunahme an weltweiter Konkurrenz und in der
                            beitsplatzes zurück.                                            Folge den Anstieg des Kostendrucks in deut-
                                                                                            schen Unternehmen heranziehen, außerdem
                            Basis für die folgenden Berechnungen sind                       den Rückgang von manuellen Tätigkeiten, die
                            erneut die Umfragedaten des SOEP von 1991                       Zunahme flexibler Arbeitsverhältnisse (befris-
                            bis 2018. Es wurden Angaben von 28.750                          tete Verträge, Teilzeit, Zeitarbeit und Minijobs)
                            Personen analysiert, für die insgesamt 269.249                  sowie die Reformen in der sozialen Sicherung.
                            Beobachtungen vorliegen. Wichtig ist, dass
                            hier nur Angaben von Personen analysiert                        Seit 2006 jedoch hat sich die Zahl der Er-
                            werden, die auch zum Befragungszeitpunkt                        werbstätigen, die sich vor Abstieg sorgen,
                            erwerbstätig waren, nicht also Arbeitslose und                  nahezu halbiert. Von 2005 bis 2016 ist ihr An-
                            Personen, die nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv                  teil von 65 Prozent auf etwas über 33 Prozent
                            waren (Studenten, Personen im Ruhestand                         gesunken. Im letzten Beobachtungsjahr 2018
                            oder Inaktive).                                                 hatte die Sorge vor Arbeitsplatzverlust mit nur

Abbildung 2
Sorge vor Arbeitsplatzverlust in Deutschland
Personen ab 17 Jahren; relative Häufigkeiten in den Jahren 1991 bis 2018, in Prozent

       1991       1993       1995       1997       1999      2001       2003       2005   2007   2009    2011      2013       2015   2017

90

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N = 269.249.                                                                                        ■ Ostdeutschland
Nur Erwerbstätige, ohne Personen in Berufsausbildung und                                            ■ Westdeutschland
ohne kleine Selbstständige in Handel und Gewerbe.                                                   ■ Deutschland insgesamt

Quellen: SOEP v35; eigene Berechnungen

                      8
noch 28 Prozent sogar den niedrigsten Wert        den mehr Vollzeitstellen geschaffen. Lediglich
seit der Wiedervereinigung erreicht.              die Zahl der Beschäftigten in Zeitarbeit ist in
                                                  den letzten Jahren weiter gestiegen (Statisti-
Bemerkenswert ist, dass dieser starke Rück-       sches Bundesamt, 2018).
gang seit Mitte der 2000er Jahre zu einem
erheblichen Teil auf die Entwicklung in Ost-      –– Als zweiten Grund vermuten wir, dass die
deutschland zurückgeht. Mit der Währungs-         Erwerbstätigen möglicherweise Erfahrungen
union zum 1. Juli 1990 begann auf dem             im Umgang mit den neuen Unsicherheiten
Gebiet der damaligen DDR ein historischer         des Arbeitsmarktes gesammelt haben. Die
Prozess der Deindustrialisierung und damit        sozial­psycho­logi­sche Forschung nennt dies
eine massive Freisetzung von Arbeitskräften       »Coping« (Lazarus/Folkman, 1984): Demnach
aus den Kombinaten und Produktionsge-             können Erwerbstätige in der Konfrontation mit
nossenschaften. Die gleichzeitige Einführung      kritischen Erwerbsereignissen neue Routinen
eines neuen marktwirtschaftlichen Systems         entwickeln, also den Umgang mit ihnen lernen.
sowie die Erfahrung der neuen, diesem System      Bei erstmaliger Betroffenheit von Arbeitslosig-
immanenten Risiken haben dazu geführt, dass       keit sammeln sie Erfahrungen bei der Anmel-
sich 82 Prozent der befragten Erwerbstätigen      dung bei der Arbeitsagentur, dem Bezug von
in Ostdeutschland im Jahr 1991 vor dem Ver-
lust ihres Arbeitsplatzes sorgten.

Bis Mitte der 1990er Jahre nahm deren Anteil
aber stark ab und der jährliche Verlauf der                     Die bessere ökonomische
Sorgen passte sich, auf höherem Niveau, dem
in Westdeutschland an. Ab 2010 gingen die                         Lage und ein pragmati­
Sorgen im Ostteil des Landes jedoch ­stärker
als im Westteil zurück. Dies führte dazu, dass                   scherer Umgang mit den
das Niveau der Statusverunsicherung in den
ostdeutschen Ländern sich dem in den west-                    Unsicherheiten des Arbeits­
deutschen Ländern stark annäherte. 2018 lag
der Anteil der Verunsicherten im Osten nur                    marktes können in Ost- wie
noch um knapp 12 Prozentpunkte über dem
westdeutschen Wert. In Westdeutschland lag                 Westdeutschland dazu geführt
der Wert im Jahr 2018 mit 25,3 Prozent eben-
falls auf dem niedrigsten Stand seit 1991.                 haben, dass sich die Menschen
Zwei Gründe lassen sich für die Entwicklung in               weniger um den Verlust ihres
den letzten zehn Jahren vermuten:
                                                                   Arbeitsplatzes sorgen.
–– Der erste Grund liegt in der objektiven öko-
nomischen Lage, wonach Erwerbsunsicherhei-
ten nicht weiter gestiegen und teilweise sogar
rückläufig sind. Seit 2006 ist die deutsche
Wirtschaft trotz des starken zwischenzeitlichen   Arbeitslosengeld oder bei Qualifikationsmaß-
Einbruchs während der Wirtschaftskrise 2009       nahmen. Nach einem unsicheren Beschäfti-
stetig gewachsen, wenn auch zeitweise auf         gungsverhältnis (Befristung, Zeitarbeit) gelingt
niedrigem Niveau. Dieses Wachstum ist auch        es ihnen, in ein sicheres Beschäftigungsver-
auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Seit 2010        hältnis zu wechseln. Aufgrund der Wahrneh-
ist die Zahl zweier verbreiteter atypischer Be-   mung, die Zukunft sei unsicher geworden,
schäftigungsverhältnisse (befristete Verträge,    passen sie ihren Lebensplan an die neuen
Minijobs) fast stetig zurückgegangen; zuvor       Unsicherheiten an, fahren also »auf Sicht«
gab es einen ständigen Anstieg. Parallel wur-     (Schimank, 2015).

                                                                                                     9
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                           Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
                           Geschrumpft und verängstigt?
                           Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

Abbildung 3
Sorge vor Arbeitsplatzverlust nach Schichtung
Personen ab 17 Jahren; relative Häufigkeiten in den Jahren 1991 bis 2018, in Prozent

       1991       1993       1995       1997       1999      2001       2003       2005   2007   2009     2011      2013   2015   2017

90

80

70

60

50

40

30

20

10

N = 261.629.                                                                                        ■ Unterschichten
Nur Erwerbstätige, ohne Personen in Berufsausbildung und                                            ■ Mittelschichten
ohne kleine Selbstständige in Handel und Gewerbe.                                                   ■ Oberschicht

Quellen: SOEP v35; eigene Berechnungen

                                                                                            Zeigt sich der Rückgang der Statusverunsiche-
                                                                                            rung auch in der Mittelschicht? Abbildung 3
                                                                                            stellt den Vergleich der Schichten dar – aus
                                                                                            Gründen der Vereinfachung verwenden wir das
                                                                                            dreistufige Schichtschema aus oberer Schicht
                                                                                            sowie mittleren und unteren Schichten. Zu
Die Abstiegsangst der Mitte                                                                 sehen ist, dass das Sorgenniveau während des
                                                                                            kritischen Zeitraums der 1990er und frühen
basiert weniger auf realen                                                                  2000er Jahre in allen Schichten anstieg.

Erfahrungen, sondern auf                                                                    Wir haben in zwei verschiedenen Studien ge-
                                                                                            prüft, ob Angehörige der Mittelschichten sich
der Befürchtung, die Arbeits­                                                               stärker als die anderer Schichten vor Arbeits-
                                                                                            platzverlust sorgen, wenn sie von einem der
losigkeit könnte sich von den                                                               genannten erwerbswirtschaftlichen Risiken be-
                                                                                            troffen waren oder in einer Branche gearbeitet
unteren Schichten in die Mitte                                                              haben, die im Untersuchungszeitraum bis Mitte
                                                                                            der 2000er Jahre verstärkt von Umstrukturie-
ausbreiten.                                                                                 rungen betroffen war (Lengfeld/Hirschle, 2009;
                                                                                            Lengfeld/Ordemann, 2017). Die Ergebnisse
                                                                                            zeigten, dass dies nicht der Fall war. Als Erklä-
                                                                                            rung dafür haben wir deshalb den sogenann-
                                                                                            ten Spillover-Effekt vermutet (vgl. ­Lengfeld/
                                                                                            Hirschle, 2009): Die Mitte beobachtet die
                                                                                            Ausbreitung von Erwerbsrisiken wie Arbeits­

                     10
losig­keit und unsicheren Beschäftigungsformen
in den unteren Schichten und befürchtet, dass                   Seit der Wiedervereinigung
diese zukünftig zu ihnen überschwappen. Ihre
Verunsicherung basierte also weniger auf rea-                         ist die Mittelschicht in
len Erfahrungen von Angehörigen der gleichen
Schicht, sondern baute auf der Befürchtung                  Deutschland erstaunlich stabil.
auf, Arbeitslosigkeit könnte sich weit in die
Mitte der Gesellschaft ausbreiten.                            Ihr leichtes Schrumpfen liegt
Ab Mitte der 2000er Jahre geht das Sorgen­                   eher an der Aufwärts­mobilität
niveau aller Schichten deutlich zurück. Am
Ende des Beobachtungszeitraums 2018 haben                       der Menschen aus der Mitte
sich in allen drei Schichten so wenig Menschen
verunsichert gefühlt wie seit der Wiederver-                    in die Oberschicht, nicht an
einigung nicht mehr. Auch haben sich die
Abstände in den Sorgenniveaus zwischen den                   Abstiegen in die Unterschicht.
Schichten verringert, ohne sich jedoch voll-
ständig angeglichen zu haben. Dies bedeutet,
dass die Ängste der Erwerbstätigen der Hierar-
chie der Positionen in der Sozialstruktur folgen:
Je komplexer die berufliche Tätigkeit und je        wärtsmobilität in die Unterschicht überwogen
höher das Ausbildungsniveau, desto höher ist        hat, muss man mit methodisch aufwendigeren
die Schichtposition, desto besser sind die Ar-      Längsschnittuntersuchungen prüfen. Die von
beitsmarktchancen und desto weniger Sorgen          uns hier gezeigten Befunde lassen aber auf
berichten die Erwerbstätigen.                       diesen Trend schließen.

1.5 Diskussion                                      –– Der zweite beobachtete Trend betrifft
Ist die Mittelschicht in Deutschland von Ab-        die Segmente der Mitte. Hier hat sich ein
stiegsangst und Schrumpfung bedroht? Die            Schrumpfen der unteren Mitte, der gelern-
Antworten, die wir in diesem Beitrag gefunden       ten Industriearbeiter, und ein Anwachsen der
haben, fallen differenziert aus:                    oberen Mitte, der qualifizierten Angestellten
                                                    mit akademischer Ausbildung, abgezeichnet.
–– Im Hinblick auf die Schichtung haben wir         Insgesamt deuten die Ergebnisse also auf ein
festgestellt, dass die Mittelschicht seit der       Überwiegen der Aufwärtsmobilität auch inner-
deutschen Wiedervereinigung eine erstaun­           halb der Mittelschicht hin.
liche Stabilität aufweist. Gleichwohl kam es zu
einem geringfügigen Schrumpfen um 2,8 Pro-          Beide Trends stehen im Widerspruch zur These
zentpunkte über die gesamte betrachtete             der deutlichen Schrumpfung der Mittelschicht
Zeit – und zwar von 60,5 Prozent (1991/92)          und ihrer Lebenslage, die in einigen Studien
auf 57,7 Prozent der Bevölkerung (2017/18).         der letzten Jahre vertreten wurde. Der we­
Gleichzeitig sind die Segmente der unteren          sentliche Grund für diesen Widerspruch ist,
Schicht im Zeitverlauf nicht größer geworden,       dass wir, anders als die meisten K­ olleginnen
dafür aber die Oberschicht (vgl. Abbildung 1,       und Kollegen, die Sozialstruktur als eine ge­
Kapitel 1.3). Daraus kann man den Schluss           schichtete Gruppierung von (aktuellen oder
ziehen, dass das geringfügige Schrumpfen der        vormaligen) beruflichen Positionen konzipiert
Mittelschicht auf die Aufwärtsmobilität aus der     haben und nicht als eine Schichtung von rein
Mitte in die Oberschicht zurückgeht. Anders         statistischen Einkommensgruppen. Dafür
gesagt, deuten die Befunde an, dass es mehr         ­haben wir theoretische Gründe aufgeführt.
Aufstiege nach oben und weniger Abstiege
nach unten gegeben hat. Ob die Aufwärts­            Folgt man unserer Konzeption von berufsbezo-
mobilität aus der Mitte aber tatsächlich die Ab-    gener Schichtung, so gelangt man offenbar zu

                                                                                                     11
1
            Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
            Geschrumpft und verängstigt?
            Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

                                                               zeitraums, keine allgemeine wirtschaftliche
Ein Teil der mittleren Mitte                                   Verunsicherung herrschte. Das galt besonders
                                                               für die Mittelschicht.
– vor allem die kleinen
                                                               Klar ist aber auch, dass sich dies wieder
Selbstständigen mit wenigen                                    ändern kann und wird. Im März 2020, nach
                                                               Abschluss des Hauptteils dieses Beitrags,
Beschäftigten – könnte infolge                                 wurde deutlich, dass die gegenwärtig gelten-
                                                               den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung
der Corona-Wirtschaftskrise                                    der Corona-Pandemie gravierende Folgen
                                                               für die Weltwirtschaft und auch die deutsche
sozial absteigen.                                              Wirtschaft haben werden. Insbesondere die
                                                               drastische Verringerung der Produktionsmen-
                                                               gen durch die weitgehende Schließung des
                                                               Einzelhandels und durch die Unterbrechung
                                                               der internationalen Wertschöpfungsketten
            weitgehend anderen Befunden als jenen, die         wird nach ersten Prognosen von Wirtschafts-
            als Schrumpfung der Mitte in der Öffentlichkeit    forschern zu einer Rezession und damit auch
            bekannt sind. Es ist jedoch zu bedenken, dass      zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosig-
            die Entscheidung für oder gegen ein bestimm-       keit führen (vgl. Michelsen et al., 2020). Die
            tes Schichtkonzept eine Frage der Abwägung         DIW-Konjunkturforscher vermuten, dass die
            von theoretischen Argumenten und von Vor-          deutsche Wirtschaft im Jahr 2020 schrumpfen
            und Nachteilen der Messung ist. Auch das hier      wird; wie stark, ist derzeit nur mit noch grö-
            präferierte Konzept hat Nachteile, etwa die un-    ßerer Unsicherheit prognostizierbar als unter
            terstellte Annahme, dass die mit den Berufen       normalen Bedingungen – auch weil man nicht
            verbundenen Lebenschancen der Menschen             weiß, wie lang die staatlich verordnete Reduk-
            über den Zeitraum von fast 30 Jahren konstant      tion wirtschaftlicher Tätigkeit anhalten wird.
            geblieben sind.
                                                               Wir vermuten daher, dass die Statusverun-
            Im Hinblick auf die Frage nach der Entwicklung     sicherung in der deutschen Bevölkerung im
            der Statusverunsicherung haben die Ergebnisse      Jahr 2020 sprunghaft ansteigen wird. Weiter
            gleich zwei Trends gezeigt: eine starke Zunahme    nehmen wir an, dass ein Teil der mittleren Mitte
            der Sorgen von der Wiedervereinigung bis Mitte     infolge dieser Krise sozial absteigen könnte,
            der 2000er Jahre und eine noch stärkere Ab-        nämlich die kleinen Selbstständigen mit einer
            nahme in den Jahren danach. Im Jahr 2018 war       geringen Anzahl an Beschäftigten. Diese
            die Sorge vor Verlust des sozia­len Status sogar   Gruppe könnte trotz finanzieller Unterstützung
            auf dem niedrigsten Stand seit 1991.               durch Bund und Länder mit am stärksten vom
                                                               »Shutdown« der Wirtschaft betroffen sein. Ob
            Statusverunsicherung folgt demnach einem           dies wirklich so kommen wird, wissen wir aber
            Zyklus, der parallel zur gesamten wirtschaft-      erst mit einiger zeitlicher Verzögerung. Denn
            lichen Entwicklung verläuft. Davon war die         die Umfragedaten des SOEP, auf die wir uns in
            Mittelschicht nicht ausgenommen: Auch in der       diesem Beitrag gestützt haben, stehen für den
            Mitte nahmen die Sorgen stark zu und gingen        Zeitraum der neuen Krise derzeit noch nicht
            ab dem Jahr 2006 wieder deutlich zurück. Ver-      für die Analyse zur Verfügung.
            tiefende Analysen haben gezeigt, dass insbe-
            sondere das mittlere Segment der Mittelschicht     Diese Ereignisse zeigen einmal mehr: Die wis-
            sensibel auf das Auftreten von neuen erwerbs-      senschaftliche Beobachtung der Lage und der
            wirtschaftlichen Risiken reagiert hat (Lengfeld/   Befindlichkeiten der Mittelschicht ist eine wich-
            Ordemann, 2017). Insgesamt kann man den            tige Daueraufgabe, die sich ein wirtschaftlich
            Schluss ziehen, dass in der Bevölkerung im         und wissenschaftlich hoch entwickeltes Land
            Jahr 2018, dem Ende des Untersuchungs-             wie Deutschland auch dauerhaft leisten sollte.

       12
Das Wichtigste in Kürze
–– Seit Jahren wird in der Öffentlichkeit und    –– Seit dem Jahr 2006 ging die Verunsiche-
der Forschung diskutiert, ob die Mittelschicht   rung deutlich zurück. Im Jahr 2018 war sie so
in Deutschland schrumpft und sich zunehmend      niedrig wie seit Beginn der Untersuchungen
vor dem sozialen Abstieg fürchtet.               nicht. Dieser Rückgang fand auch in der Mittel-
                                                 schicht statt.
–– Dieser Beitrag zeigt auf Basis empirischer
Analysen, dass die Mittelschicht in den Jahren   –– Seit der Wiedervereinigung ist die Status­
2017/18 57,7 Prozent der erwachsenen deut-       verunsicherung in Ostdeutschland stetig
schen Bevölkerung ausmachte.                     zurückgegangen und hat im Jahr 2018 den
                                                 niedrigsten jemals gemessenen Wert erreicht.
–– Seit der Wiedervereinigung ist die Mittel-    Doch fühlen sich in Ostdeutschland nach wie
schicht geringfügig geschrumpft, und zwar um     vor mehr Menschen verunsichert als in West-
2,8 Prozentpunkte. Diese Schrumpfung scheint     deutschland.
auf vermehrte Aufstiege in die Oberschicht und
nicht auf mehr Abstiege in die Unterschicht      –– Den Analysen liegt ein berufsklassenbezo-
zurückzugehen.                                   genes Konzept von Schichtung zugrunde. Die
                                                 empirischen Befunde basieren auf den Um-
–– Innerhalb der Mittelschicht kam es zu         fragedaten des Sozio-oekonomischen Panels
einem Anwachsen des oberen Segments der          (SOEP) der Jahre 1991 bis 2018.
akademisch qualifizierten Angestellten und
einem Schrumpfen des Segments der Indus­          –– Infolge der durch die Corona-Pandemie
trie­fach­arbeiter.                               erzeugten Wirtschaftskrise könnte ein Teil
                                                  der mittleren Mitte – vor allem die kleinen
–– Zwischen 1991 und der Mitte der 2000er         Selbstständigen mit wenigen Beschäftigten –
Jahre kam es in allen Schichten zu einem         ­sozial absteigen.
Anstieg der Sorge, den sozialen Status nicht
halten zu können. Auch in der Mittelschicht
nahm die Verunsicherung stark zu.

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1
     Holger Lengfeld / Jessica Ordemann
     Geschrumpft und verängstigt?
     Die Lage der Mittelschicht in Deutschland

     Literatur
     Burckhardt, Christoph et al., 2013, Mittel-        Lengfeld, Holger, 2019, Abstiegsangst in
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                                                        ­Ergebnisse der Auswertung des Sozio-­
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     SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sagt:             gnose Angstgesellschaft? Was wir wirklich
     Die Sorgen der Menschen nehmen zu. Daten            über die Gefühlslage der Menschen wissen,
     und Fakten widersprechen ihm. Eine Analyse,         Bielefeld, S. 59–76
     in: Der Tagesspiegel, 14.5.2017, S. 22
                                                        Lengfeld, Holger / Hirschle, Jochen, 2009,
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                                                        und Westdeutschland nach 1990, in: Bundes-
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     kommen in den USA und Deutschland,                 lange-wege-der-deutschen-einheit/
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14
Niehues, Judith, 2015, Die Mittelschicht –          Schimank, Uwe, 2015, Lebensplanung!?
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Niehues, Judith, 2017, Die Mittelschicht in         ten der Jahre 1984–2018, Version 35, Berlin
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Niehues, Judith, 2018, Deutschlands Mittel-         destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/
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Nadine M. / Ritter, Sabine (Hrsg.), Die Mitte als
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S. 53–68

                                                                                                       15
2
     Judith Niehues / Theresa Eyerund
     Gespaltene Mitte – gespaltene Gesellschaft?
     Eine empirische Clusteranalyse auf Basis des SOEP ¹

     2.1 Einleitung                                            den Kapitel neben der Mittelschicht und der
                                                               Gesellschaft als Ganzes auch die unteren und
     2.1.1 Die Mittelschicht als zentraler                     oberen Einkommensschichten durchleuchtet.
     ­A nkerpunkt der Gesellschaft?                            Damit wird über die Ränder der Mittelschicht
     Die Mittelschicht steht unter besonderer wis-             hinausgeblickt und die gesamte Gesellschaft
     senschaftlicher und politischer Beobachtung.              darauf untersucht, welche Gruppen ähnliche
     Dieser Fokus begründet sich zum einen da-                 Sorgen, Einstellungen und das Gefühl sozialer
     durch, dass sie den Großteil der Bevölkerung              Eingebundenheit haben und welche Unter-
     Deutschlands umfasst. 47 Prozent der Men-                 gruppen es innerhalb der Schichten gibt.
     schen gehörten im Jahr 2016 zur Mittelschicht
     im engeren Sinne. Zum anderen hat der                     2.1.2 Gesellschaftliche Differenzierungen in
     Zustand der Mittelschicht auch eine Signalwir-            Sorgen, Einstellungen und Empfindungen
     kung, weil von ihrer Größe und Beschaffenheit             Um die Gesellschaft in ihren Unterschieden
     auf den Zustand einer Gesellschaft geschlos-              analysieren und besser abbilden zu können,
     sen wird. Als Bindeglied zwischen Arm und                 gibt es in der ökonomischen wie sozialwis-
     Reich stellt sie auch einen zentralen Indikator           senschaftlichen Forschung verschiedene
     für die Stabilität der Gesellschaft dar. Bezeich-         Schichtungs- und Milieumodelle. Der Fokus
     nungen wie »Seismograf«, »Motor« oder »An-                liegt dabei häufig entweder auf einer alleinigen
     ker« der Gesellschaft betonen die Bedeutung               Abgrenzung nach dem Einkommen oder auf
     der Mittelschicht. Welche Sogwirkung von                  einer Abgrenzung nach soziodemografischen
     der Mittelschicht ausgeht, wird auch dadurch              Kriterien wie Bildung oder Wertevorstellungen.
     deutlich, dass die meisten Menschen sich als
     Mitglieder der Mittelschicht sehen, auch wenn             Die mit den sozialen Schichten oder Klassen
     sie durch ihr Einkommen einer höheren oder                traditionell assoziierten Eigenschaften und Ste-
     tieferen Schicht angehören (Niehues, 2017;                reotype in Bezug auf Einstellungen, Konsum-
     Engelhardt/Wagener, 2018).                                muster oder Verhaltensweisen können heute
                                                               nicht mehr eindeutig aufrechterhalten werden.
     Die Ergebnisse der RHI-Diskussion »Die                    Der steigende Wohlstand – auch der unteren
     gespaltene Mitte. Werte, Einstellungen und                Schichten – führte dazu, dass eine »Verbin-
     Sorgen« (Niehues/Orth, 2018) haben gezeigt,               dung von Klasse oder Schicht und der Lebens-
     dass es sich bei der Mittelschicht keineswegs             führung der Menschen weniger eng wurde«
     um eine homogene Gruppe handelt. Vielmehr                 (Burzan, 2011, 89). In der Folge bildeten sich
     spaltet sich die Mittelschicht in eine eher               vielfältigere Lebensstile und Milieus heraus.
     besorgte und eine weniger besorgte Gruppe.
     An diese Analyse der Mittelschicht schließt sich          Durch die Kombination von sozialem Status
     unmittelbar folgende Frage an: Nimmt die Mit-             und Grundorientierungen lassen sich jedoch
     telschicht mit diesem Befund eine Sonderrolle             relativ homogene soziale Gruppen definieren,
     in der Gesellschaft ein? Oder finden sich diese           die jeweils ähnliche lebensweltliche Vorstellun-
     Spaltungstendenzen auch in der gesamten                   gen und eine gemeinsame Identität aufweisen.
     Gesellschaft und in anderen gesellschaftlichen            Da sich die Gesellschaft im Lauf der Zeit wan-
     Schichten?                                                delt, verändern sich auch die sozialen Milieus
                                                               und sie werden zunehmend komplexer, um der
     Mit derselben Methodik der Clusteranalyse,                steigenden Individualisierung und Heteroge-
     mit der die Autorinnen die Ergebnisse der ge-             nität der Gesellschaft gerecht zu werden. Die
     nannten RHI-Diskussion (Niehues/Orth, 2018)               einzelnen Gruppen vereinen hierdurch nur je-
     herausgearbeitet hatten, werden im vorliegen-             weils kleine Teile der Bevölkerung. In der »bür-
                                                               gerlichen Mitte« der bekannten Sinus-Milieus
                                                               befanden sich im Jahr 2018 beispielsweise nur
     1 Die Autorinnen danken Anja Katrin Orth für ihre
                                                               knapp 13 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jah-
     konzeptionelle Unterstützung in der Vorbereitung dieser
     Studie und Lennart Bolwin für seine wertvolle Zuarbeit    ren (Sinus, 2018; vgl. für Werte von 2017 auch
     bei der Auswertung der Clusteranalysen.                   Kapitel 3, S. 37).

16
In der sozialwissenschaftlichen Theorie und
Forschung wird davon ausgegangen, dass                                 Die traditionell mit den
die Zugehörigkeit zu einer Schicht Einfluss auf
Einstellungen und Verhalten der ihr zugehöri-                      sozialen Schichten assozi­
gen Personen hat (Burzan, 2011, 65). Angehö-
rige einer Klasse oder Schicht haben ähnliche                        ierten Eigenschaften und
ökonomische Bedingungen und Lebenslagen,
welche dazu führen, dass homogene Inte-                          Stereotype zu Einstellungen,
ressen und Wertorientierungen ausgeprägt
werden, die sich von denen anderer Klassen                             Konsum oder Verhalten
unterscheiden (Lepsius, 1990). Die Tatsache,
einer bestimmten Schicht anzugehören, erhöht                     lassen sich heute nicht mehr
also die Wahrscheinlichkeit, mit bestimmten
Problemen stärker oder schwächer konfrontiert                                aufrechterhalten.
zu werden und entsprechend korrespondie-
rende Haltungen und bestimmte Verhaltens-
muster anzunehmen.

Die Sorgen und Einstellungen von Angehörigen        muster innerhalb der Gesellschaft bilden.
bestimmter Gesellschaftsschichten werden            Darüber hinaus wird verglichen, wie sich die
insbesondere im Zusammenhang mit sich wan-          Ergebnisse der Mittelschicht von der gesamten
delnden Rahmenbedingungen thematisiert. Es          Gesellschaft unterscheiden. Deswegen wird
besteht die Annahme, dass unterschiedliche          auch hier die Methodik der Clusteranalyse ver-
soziale Schichten mit den Belastungen durch         wendet. Damit lassen sich Ähnlichkeiten und
Veränderungen auch unterschiedlich umgehen.         Unterschiede innerhalb einer Gruppe erkennen,
So habe jede Milieugruppe gemäß ihrer Tradi-        mittels derer sich die Gruppe möglicherweise
tion eine spezifische Strategie dafür entwickelt    in verschiedene Untergruppierungen (Cluster)
(Vester, 2003, 253 f.).                             einteilen lässt. Das Ergebnis gibt einen Hinweis
                                                    darauf, ob sich die deutliche Zweiteilung der
Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass         Mittelschicht in ein eher besorgtes und ein un-
sich die verschiedenen Schichten hinsichtlich       besorgtes Cluster (Niehues/Orth, 2018) auch in
ihrer Sorgen, Einstellungen und Empfindungen        der Gesellschaft als Ganzes oder den weiteren
unterscheiden und aktuelle Herausforderun-          Einkommensschichten findet.
gen die Schichten in unterschiedlichem Maße
verunsichern. Eine Schichtzugehörigkeit führt       2.2.1 Daten und Konzepte
nicht zwangsläufig auch zur Zugehörigkeit zu        Theorie und Analysemethode dieser Studie
einer bestimmten Interessengruppe oder zur          bauen auf der Publikation »Die gespaltene
Ausprägung bestimmter Merkmale. Zudem               Mitte. Werte, Einstellungen und Sorgen«
kann die Abgrenzung der Gruppen insbeson-           (Niehues/Orth, 2018) auf. Als Datengrundlage
dere an den Übergängen unscharf werden              dient wieder das Sozio-oekonomische Panel
(Burzan, 2011, 65; Geißler, 1994, 26). Daher        (SOEP). Im Auftrag des Deutschen Instituts
wird zunächst die Gesamtgesellschaft auf Ähn-       für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) werden
lichkeiten in Sorgen, Einstellungen und Empfin-     in der jährlichen Wiederholungsbefragung seit
dungen analysiert.                                  1984 repräsentative Daten zu Einkommen,
                                                    Erwerbstätigkeit und Bildung sowie subjektive
2.2 Gespaltene Gesellschaft: eine Cluster­          Einschätzungen erhoben. Zurzeit werden mehr
analyse der Gesamtgesellschaft                      als 35.000 Personen in knapp 15.000 Haus-
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, ein Abbild   halten erfasst. Daten zu Sorgen und Einstel-
der Stimmung in der gesamten Gesellschaft           lungen fließen nur von Befragten ab 17 Jahren
zu gewinnen und auszumachen, inwiefern              ein, die einen eigenen Personenfragebogen
sich unterschiedliche Einstellungs- und Werte­      ausfüllen.

                                                                                                       17
2
     Judith Niehues / Theresa Eyerund
     Gespaltene Mitte – gespaltene Gesellschaft?
     Eine empirische Clusteranalyse auf Basis des SOEP

     In der vorliegenden Analyse werden die Daten
     der SOEP-Welle aus dem Jahr 2017 verwen-            Exkurs: Die Methodik der Clusteranalyse
     det (Version 34 – v34). Da in den Befragungs-        Zur Untersuchung der Homogenität oder
     wellen teilweise unterschiedliche Variablen          Heterogenität von Sorgen, Einstellungen und
     erhoben werden, können viele Variablen, die          sozialer Eingebundenheit in der Gesellschaft
     in die Mittelschichtsanalyse von Niehues/Orth        wird die Methode der Clusteranalyse angewen-
     (2018) eingeflossen sind, im Folgenden nicht         det. In einem hierarchischen Verfahren wer-
     berücksichtigt werden. Diese Einschränkung           den möglichst homogene Gruppen (Cluster)
     bezieht sich insbesondere auf das Variablen­         gebildet, die die Streuung der berücksichtigten
     set zu den politischen Prioritäten und den           Variablen innerhalb der Gruppe minimieren.
     Einstellungen. Aus der Aktualisierung ergibt         Das heißt, es wird nach Personen gesucht, die
     sich hingegen die Möglichkeit, neue Variablen        eine ähnliche Ausprägung von Werten, Einstel-
     zu betrachten, die in der Diskussion um die          lungen und Sorgen haben. Als Ähnlichkeits-
     Stabilität des gesellschaftlichen Gesamtgefü-        maß wird die quadrierte Euklidische Distanz
     ges eine Rolle spielen.                              verwendet. Da dieses Maß stark auf Ausreißer
                                                          reagiert, basiert die Analyse auf standardisier-
     Die folgenden Einstellungs-Variablen werden          ten Variablen. Hierfür wird von jeder Variab-
     hier einbezogen und waren auch Bestandteil           lenausprägung der arithmetische Mittelwert
     der Studie von Niehues/Orth (2018):                  abgezogen und die resultierende Differenz
                                                          durch die Standardabweichung geteilt. Eine
     –– Gefühl, etwas Wertvolles zu tun,                  Standardisierung ermöglicht zudem, dass der
     –– Risikobereitschaft,                               Einfluss von Variablen mit unterschiedlichen
     –– Politikinteresse.                                 Skalenniveaus vergleichbar wird (für weitere
                                                          Informationen vgl. RHI-Diskussion Nr. 30:
     Ebenso können alle Variablen zu den Sorgen,         ­Niehues/Orth, 2018).
     die in der Mittelschichtsstudie von Niehues/
     Orth (2018) genutzt wurden, auch in dieser
     Analyse zur Gesamtbevölkerung verwendet
     werden. Das betrifft die Sorgen um                  Im Mittelpunkt der Debatten um soziale
                                                         Ungleichheit und damit verbundener Gesell-
     ––   die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung,    schaftsdiagnosen stehen häufig Fragen um die
     ––   die eigene wirtschaftliche Situation,          Bedeutung und Spannweite sozialer Ausgren-
     ––   die Entwicklung der Kriminalität,              zung (Böhnke, 2005). Soziale Ausgrenzung
     ––   die Zuwanderung nach Deutschland,              kann verstanden werden als Mangel der Mög-
     ––   den sozialen Zusammenhalt,                     lichkeit der Menschen, in das gesellschaftliche
     ––   die eigene Altersversorgung,                   Leben integriert zu sein – sowohl mit Blick auf
     ––   den Schutz der Umwelt,                         Lebensstandards als auch auf die Einbindung
     ––   den Erhalt des Friedens,                       in soziale Netzwerke und gesellschaftliche
     ––   die eigene Gesundheit.                         Partizipation (Böhnke, 2005, 32).

     Die folgenden Betrachtungen zielen darauf           Die Angaben über das Gefühl der sozialen
     ab, ein tieferes Verständnis der Substruktu-        Ausgrenzung geben somit Hinweise darauf,
     ren innerhalb der Gesellschaftsschichten zu         wie stark sich Angehörige der jeweiligen
     erhalten. Damit sollen auch Rückschlüsse auf        Schichten als integrierter Bestandteil der
     Parallelen und Unterschiede möglich werden,         Gesellschaft sehen. Diese Informationen sind
     die das gesamte gesellschaftliche Gefüge be-        insofern besonders relevant, als Menschen,
     treffen. Deshalb werden Variablen zum Gefühl        die sich ausgegrenzt oder einsam fühlen, auch
     der sozialen Eingebundenheit beziehungsweise        weniger Halt durch das demokratische Sys-
     Ausgegrenztheit einbezogen, die im SOEP im          tem und weniger Bezug zur Politik insgesamt
     Jahr 2017 abgefragt wurden.                         empfinden (Krause/Gagné, 2019). Darüber
                                                         hinaus stellt sich in Gesellschaftsdebatten

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