In Deutschland neu denken - Bewegte Mitte - bewegte Gesellschaft Zwischen Stabilität
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Bewegte Mitte – bewegte Gesellschaft In Zwischen Stabilität und Flexibilität Deutschland neu denken Beiträge von Holger Lengfeld und Jessica Ordemann Judith Niehues und Theresa Eyerund Stefan Hradil Diskussion
Inhalt Randolf Rodenstock Vorwort 2 1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland 3 1.1 Was ist mit der Mitte los? 3 1.2 Was ist Schichtung und wie lässt sie sich bestimmen? 4 1.3 Schichtung in Deutschland 1991 bis 2018 5 1.4 Statusverunsicherung in Deutschland 1991 bis 2018 7 1.5 Diskussion 11 Das Wichtigste in Kürze 13 Literatur 14 2 Judith Niehues / Theresa Eyerund Gespaltene Mitte – gespaltene Gesellschaft? 16 Eine empirische Clusteranalyse auf Basis des SOEP 2.1 Einleitung 16 2.1.1 Die Mittelschicht als zentraler Ankerpunkt der Gesellschaft? 16 2.1.2 Gesellschaftliche Differenzierungen in Sorgen, Einstellungen 16 und Empfindungen 2.2 Gespaltene Gesellschaft: eine Clusteranalyse der Gesamtgesellschaft 17 2.2.1 Daten und Konzepte 17 2.2.2 Sorgen, Einstellungen und Empfindungen in der Gesellschaft: 19 Zuversichtliche, Besorgte und Beunruhigte 2.3 Gespaltene Schichten: eine Clusteranalyse der Einkommensschichten 21 2.3.1 Konzept der Einkommensschichten 21 2.3.2 Gespaltene Gesellschaftsschichten 23 2.4 Fazit: Besorgt ist nicht gleich besorgt 26 Das Wichtigste in Kürze 29 Literatur 30 3 Stefan Hradil Sind die Mittelschichten ein Unruheherd? 31 3.1 Einleitung 31 3.2 Der Aufstieg der Mittelschichten in der Nachkriegszeit 31 3.3 Das zeitweilige Schrumpfen der mittleren Schichten 33 3.4 Hochkonjunktur und das Wiedererstarken der Mittelschichten 34 3.5 Zwei neuere Befunde 35 3.5.1 Die Gegensätzlichkeit der Befunde 37 3.5.2 Die Vereinbarkeit der Befunde 39 3.6 Fazit und Ausblick 43 Das Wichtigste in Kürze 45 Literatur 46 Autorinnen und Autoren 47 1
Vorwort die seit Jahren kontinuierlich abgenommen hat, könnte im Jahr 2020 sprunghaft zunehmen. Dass die Krise die Mittelschicht hart treffen wird, befürchten auch die Ökonominnen Judith Niehues und Theresa Eyerund. Darüber hinaus könne die Pandemie auch Auswirkungen auf das Sorgenniveau in der Gesamtgesellschaft haben. Grundsätzlich treten gesellschaftlich- kulturelle Sorgen eher unabhängig vom Einkom- men und in allen Schichten auf, so die Ergeb- nisse ihrer empirischen Untersuchung. Hinzu kommen vor allem in den unteren Schichten finanzielle Sorgen und das Gefühl sozialer Aus- gegrenztheit. Vor allem die untere Mittelschicht beurteilt ihre Lage kritisch und stellt politisch wie gesellschaft- lich einen Unruheherd dar, lautet die Schluss- folgerung des Soziologen Stefan Hradil. Diese Corona stellt zurzeit alles auf den Kopf. Täglich Tendenz könne sogar noch weiter zunehmen, müssen wir uns an eine veränderte Normalität denn durch die Pandemie sieht sich die untere gewöhnen, zweifeln bisherige Gewissheiten an Mitte in ihrer grundsätzlich eher ablehnenden und bewerten Entwicklungen neu. Haltung gegenüber der Globalisierung bestätigt. Bevor die Pandemie uns alle in den Krisen- Die Mitte ist in Bewegung – aber nicht in Auf modus versetzt hat, beschäftigten wir uns am lösung. Nicht nur die Ergebnisse der vorlie- Roman Herzog Institut mit dem Thema, wie genden Publikation, sondern auch aktuelle sich der gesellschaftliche Wandel auf die Mittel- Beobachtungen bestärken mich in der Über- schicht auswirkt. Sie gilt traditionell als krisenfest zeugung, dass unsere Gesellschaft an den und stabil und hat in der Vergangenheit politi- gegenwärtigen Herausforderungen wachsen sche und wirtschaftliche Umbrüche – wie die kann: Die Menschen gestalten ihren Alltag trotz Wiedervereinigung oder die Wirtschafts- und vieler Einschränkungen kreativ und einfallsreich Finanzkrise – gut gemeistert. In jüngster Zeit hat und sie verhalten sich solidarisch. Sie beweisen das Image der Mittelschicht jedoch arg gelitten: Zuversicht und Zusammenhalt – genau darauf Es heißt, sie sei verunsichert, abstiegsgefährdet kommt es jetzt an. und anfällig gegenüber extremen politischen Strömungen. Wie tickt die Mitte wirklich? Was Die Corona-Krise wird unser Leben nachhaltig bewegt die Gesellschaft? Diesen Fragen sind wir verändern. Die Diskussion über die Auswirkun- in der vorliegenden Publikation nachgegangen. gen der Pandemie auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft steht jedoch erst ganz am Anfang. Schon vor der Pandemie war die Mitte in Be- Die aktuellen Entwicklungen wollen wir am Ro- wegung geraten – doch haben Veränderungen man Herzog Institut weiterhin aufmerksam ver- vor allem innerhalb der Mittelschicht stattgefun- folgen und dazu fundierte Denkanstöße liefern. den. Zu diesem Ergebnis kommen die Sozio- logen Holger Lengfeld und Jessica Ordemann: Von 1991 bis 2018 ist die Aufwärtsmobilität in der Mittelschicht gestiegen – hin zu mehr akademisch Qualifizierten. Infolge der Krise Professor Randolf Rodenstock könnte jedoch ein Teil der mittleren Mitte sozial Vorstandsvorsitzender absteigen. Und auch die Statusverunsicherung, Roman Herzog Institut e. V. 2
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland 1.1 Was ist mit der Mitte los? –– Die Mittelschicht sei geschrumpft, weil es Ist die deutsche Mittelschicht vom Abstieg aufgrund der Zunahme an erwerbswirt- bedroht oder fürchtet sich davor?1 Seit Mitte schaftlichen Risiken vermehrt zu Abstiegen der 2000er Jahre wird diese Frage in den deut- in die untere Schicht gekommen sei. schen Massenmedien und der sozialwissen- –– Angehörige der Mittelschicht, die vom schaftlichen Gemeinde diskutiert, wenn auch Abstieg bislang nicht betroffen sind, könn- in den letzten Jahren erkennbar weniger. Einige ten vermehrt Abstiegsängste zeigen, weil Schlagworte aus der Debatte: Die Mittelschicht ihre bislang stabilen, langfristig planbaren schrumpfe oder erodiere, ihre Mitglieder seien Karriereverläufe nun erodiert wären. von Wohlstandsverlusten gekennzeichnet, wür- den von der öffentlichen Abgabenlast erdrückt und von den staatlichen Sozialsystemen allein- gelassen. Auch in der politischen Sphäre war die Mittelschicht ein viel diskutiertes Thema. Als Hauptursache für die So proklamierte der Spitzenkandidat der SPD im Bundeswahlkampf 2017, Martin Schulz: zunehmenden Ängste der Die Abstiegsängste nähmen zu und die Politik müsse sich der Sorgen der Menschen wieder Mittelschicht gilt in vielen mehr annehmen (Der Tagesspiegel, 2017, 22). Debatten die Globalisierung Als Hauptursache für die angenommene Zunahme der Ängste in der Mittelschicht und deren Folgen. werden in vielen Debatten die wirtschaftliche Globalisierung und ihre Konsequenzen iden- tifiziert. Galt die Mittelschicht in der früheren Bundesrepublik noch als wohlsituierte soziale Gruppe, die von der wirtschaftlichen Pros- Vor dem Hintergrund dieser Thesen möchten perität der deutschen Wirtschaft profitierte, wir diese zwei Fragen zur Lage der Mittel- ist es seit Ende der 1990er Jahre auf dem schicht beantworten: Arbeitsmarkt vermehrt zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse gekommen. Diese flexib- –– Wie hat sich die Mittelschicht im Zeitver- len Jobs gehen mit höheren Unsicherheiten lauf entwickelt: Ist sie in den letzten knapp für Arbeitnehmer durch befristete Verträge, 30 Jahren überwiegend geschrumpft, kon- unfreiwillige Teilzeitarbeit und erzwungene stant geblieben oder hat es gegenläufige Selbstständigkeit einher. Gleichzeitig deckt der Entwicklungen gegeben? Sozialstaat aus Sicht vieler diese Risiken nach –– Welchen Verlauf hat die Sorge vor Verlust den Hartz-Reformen der Jahre 2003 bis 2006 des derzeitigen sozialen Status (umgangs- nicht oder nicht mehr adäquat ab. Damit, so sprachlich: Abstiegsangst) der Mittelschicht die These, seien nun auch die Mittelschichten im selben Zeitraum genommen: Ist sie diesen Arbeitsmarktrisiken ausgesetzt. Dies stetig gestiegen oder folgt sie dem Zyklus könne zwei miteinander verbundene Folgen des konjunkturellen Auf und Ab der letzten haben (Grabka et al., 2016; Mau, 2013; Groh- knapp 30 Jahre? Samberg/Hertel, 2010): Um beide Fragen zu beantworten, stellen wir in diesem Kapitel eigene empirische Analysen vor. Dabei vergleichen wir zum einen die Größe 1 In diesem Aufsatz greifen wir auf Ausführungen der Mittelschicht und deren Statusverunsiche- zurück, die in den letzten Jahren in unterschiedlichen rung mit der Größe und Statusverunsicherung Beiträgen publiziert wurden. Die Kapitel 1.2 und 1.3 der anderen Schichten. In Kapitel 1.2 legen wir enthalten stellenweise wörtliche Passagen aus Lengfeld/ Ordemann (im Erscheinen). Kapitel 1.4 nimmt Bezug auf zunächst dar, was der Großteil der vorliegen- Lengfeld (2019). den Studien zum Schrumpfen der Mittelschicht 3
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland bisher herausgefunden hat. Weil diese Studien Wahrnehmungswelt von Menschen verankert einen entscheidenden konzeptionellen Nach- ist. Mittels der Idee der Schichtung sortieren teil aufweisen, schlagen wir eine veränderte Menschen ihre Mitmenschen entsprechend de- Bestimmung von Schichtung vor. In Kapitel 1.3 ren sozialen Status. Dieser Status ist Ausdruck erläutern wir Befunde aus einer deskriptiven der ungleichen Verteilung von Lebenschancen Zeitreihenanalyse, aus der man die Änderung in modernen Gesellschaften. Doch was ist der Schichtgröße im Zeitverlauf erkennen Status genau? kann. In Kapitel 1.4 zeigen wir den Verlauf der Statusverunsicherung der Schichten. In der Forschung zur Schichtung wird sozialer Status häufig anhand des verfügbaren Einkom- Alle vorgestellten Analysen basieren auf Um- mens eines Haushalts bestimmt. Es ist in vielen fragedaten des Sozio-oekonomischen Panels Studien üblich, die Gesellschaft in drei Schich- (SOEP) für die Jahre 1991 bis 2018, dem ten einzuteilen. Zur Einkommensunterschicht letzten Jahr, für das gegenwärtig Daten zur zählt meist, wer weniger als 75 Prozent des Verfügung stehen. Das bedeutet aber auch, durchschnittlichen Einkommens in Deutschland dass wir in diesem Beitrag keine Aussagen zur Verfügung hat, zur Mittelschicht zählen Per- machen können, wie sich die wirtschaftlichen sonen zwischen 75 und unter 150 Prozent des Folgen der Corona-Pandemie des Jahres 2020 Durchschnittseinkommens und die Oberschicht auf die Mittelschicht auswirken. Wir diskutieren hat mehr als diese 150 Prozent zur Verfügung. diese Frage gegen Ende des Beitrags. Sieht man die Studien zur Einkommensschich- 1.2 Was ist Schichtung und wie lässt sie tung durch, so kommt man zu folgendem Re- sich bestimmen? sultat: Die meisten der Studien für Deutschland Die soziale Schichtung der Gesellschaft ist ein zeigen auf Basis von Umfragedaten, dass die zentraler Gegenstand der Soziologie. Den- Einkommensmittelschicht zwischen Ende der noch gibt es in der Wissenschaft keine ein- 1980er und Ende der 2010er Jahre kleiner ge- deutige Festlegung darüber, was genau eine worden ist (vgl. Burckhardt et al., 2013, 17 ff.; Schicht ausmacht und wodurch sie sich von Grabka et al., 2016; Fritsch/Verwiebe, 2016). anderen Schichten abgrenzt. Der wesentliche Allerdings gibt es auch Befunde, wonach die Grund dafür ist, dass Schichtung kein objek- Größe der Mittelschicht seit Ende der 2000er tiv bestimmbares Faktum ist, anders als eine Jahre stabil geblieben (Niehues, 2018) oder physikalische Erscheinung. Schichtung ist ein sogar gewachsen ist (Burckhardt et al., 2013, gedankliches Ordnungsschema, das in der 47 ff.; Niehues, 2017). Die Forschung ist sich zudem uneinig darüber, ob es in dem genann- ten Untersuchungszeitraum mehr Abstiege in die untere Schicht oder Aufstiege in die obere Schicht gegeben hat (Burckhardt et al., 2013; Schichtung ist nicht objektiv Fritsch/Verwiebe, 2016; Niehues, 2015; 2018; Grabka/Frick, 2008). bestimmbar, sondern ein Wie bereits gesagt, verwenden die meisten gedankliches Konstrukt, Studien das Einkommen als Kriterium zur Be- stimmung der Schichten und der Abgrenzung mit dem Menschen ihre zwischen ihnen. Diese Vorgehensweise ist aber mit Nachteilen verbunden. Der wichtigste ist: Mitmenschen nach dem Einkommen ist keine soziale Kategorie, die darüber ursächlich bestimmt, welche Position sozialen Status einsortieren. Menschen in der Gesellschaft einnehmen. Ein- kommen ist eine Folge der Position des Einzel- nen beziehungsweise des Haushalts auf dem Arbeitsmarkt (Goldthorpe, 2010). Diese Tat- 4
sache führt in der Forschung dazu, dass man kein Argument hat, ab welchen Einkommens- Der Beruf eines Menschen ist schwellenwerten eine Schicht beginnt und eine andere aufhört. Zudem geben die meisten Stu- wesentlich für die Herstellung dien keinen eindeutigen Aufschluss darüber, ob Personen, die aus der Mittelschicht im Zeitver- und den Erhalt seines sozialen lauf absteigen, auch tatsächlich an Einkommen verloren haben. Aus Gründen der statistischen Status. Daher ist es sinnvoll, Berechnungsweise ist es nämlich auch mög- lich, dass Absteiger aus einer Schicht in eine die Schichtzugehörigkeit andere im Zeitverlauf durchaus an Einkommen hinzugewonnen haben, aber eben weniger als über den ausgeübten Beruf jene Personen oder Haushalte, die über ein höheres Einkommen verfügen. zu bestimmen. Um die Nachteile der Bestimmung von Schich- tung mittels Einkommen zu umgehen, bestim- men wir die Zugehörigkeit zu einer Schicht über den ausgeübten Beruf (vgl. ausführlich dazu –– Die mittlere Mitte besteht aus beruflich Lengfeld/Ordemann, 2017). Die Begründung qualifizierten Personen in Angestellten dafür ist, dass der Beruf die zentrale Ressource berufen sowie aus Kleingewerbetreiben- der Menschen zur Herstellung und Aufrechter- den mit geringer Zahl an Beschäftigten. haltung ihres sozialen Status ist. Aus dem Beruf –– Zur unteren Mitte gehören beruflich erzielen sie Einkommen, aber auch gesellschaft- qualifizierte Arbeiter und Meister sowie liches Ansehen (Prestige) und einen bestimmten Techniker, gelernte Handwerker und Klein- Grad sozialer Integration. Daraus folgt, dass die gewerbetreibende ohne Beschäftigte. soziale Schichtung einer Gesellschaft als Hierar- chie von Berufen abgebildet werden kann. Die untere Schicht wird in zwei Segmente ausdifferenziert, ohne dabei eine Rangordnung Doch wo liegen die Grenzen zwischen den der Lebenschancen zu unterstellen: geringqua- einzelnen Berufen: Wer gehört zur Mitte, wer lifizierte Angestellte mit hohem Routineanteil zur unteren und wer zur oberen Schicht? an den Tätigkeiten (untere Schicht I: einfache Wir haben dazu eine ausführliche Begründung Dienstleister) und ungelernte sowie angelernte für ein berufsklassenbezogenes Schichtungs- Arbeiter (untere Schicht II). schema gegeben (Lengfeld/Ordemann, 2017). Der vorliegende Beitrag baut auf dieser Be- Arbeitslose, Personen im Altersruhestand und gründung auf. ehemals erwerbstätige Personen haben wir nach ihrem letzten beruflichen Status vor dem Zur Oberschicht zählt, wer eine akademische Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt eingeord- Bildung aufweist und zugleich im Beruf Füh- net. Das bedeutet, dass auch Hausfrauen/ rungsverantwortung ausübt, wer Unternehmer ‑männer und Mütter im Mutterschutz in den mit größeren Betrieben ist sowie die Angehö- Analysen enthalten sind. Schüler und Studie- rigen freier Berufe wie niedergelassene Ärzte rende werden nicht betrachtet. und Rechtsanwälte. 1.3 Schichtung in Deutschland 1991 bis 2018 In der Mittelschicht lassen sich drei Segmente Im Folgenden stellen wir Ergebnisse zur ausmachen: Veränderung der Zusammensetzung der Schichtung in Deutschland vor. Dazu greifen –– Die obere Mitte umfasst akademisch wir auf das oben vorgestellte berufsklassen- qualifizierte Personen ohne Personalverant- bezogene Schichtungsschema zurück. Grund- wortung. lage unserer Analyse sind Umfragedaten des 5
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland einem der drei Segmente der Mittelschicht, Wesentliche Änderungen gegen Ende waren es 57,7 Prozent. Die untere Schicht zählte von Beginn des Beobachtungs- gibt es innerhalb der Mitte: zeitraums bis 2011/12 um die 30 Prozent der Befragten und ist seitdem ebenfalls geringfügig ein Schrumpfen der unteren geschrumpft. Die Daten zeigen für 2017/18 eine Größe von etwas unter 29 Prozent an. Mitte (gelernte Industrie Wesentliche Änderungen in den Schichtgrö- arbeiter) und ein Anwachsen ßen waren nur in der ersten Hälfte der 2000er Jahre festzustellen. Hier ist zu erkennen, dass der oberen Mitte (qualifizierte die untere Schicht geringfügig größer wurde, was auf das Wachstum des Segments der Angestellte mit akademischer ungelernten Arbeiter zurückgeht. Ab Mitte der 2000er Jahre verringerte sich dieses Segment Ausbildung). wieder bis zum Ende des Beobachtungszeit- raums. Die entscheidende Änderung der Sozialstruk- tur fand innerhalb der Mittelschicht statt. Diese Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die das Veränderung betrifft den Anteil der unteren Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Mitte, darunter vor allem die qualifizierten Berlin (DIW) für Forschungszwecke bereitstellt. Industriearbeiter. Dieses Schichtsegment Jährlich werden dabei durch kontrollierte Zu- halbierte sich nahezu, von durchschnitt- fallsauswahl identifizierte, in deutschen Haus- lich 28 Prozent (1991/92) auf 15,7 Prozent halten lebende Personen zu wirtschaftlichen (2017/18). Im selben Zeitraum wuchs die und sozialen Themen befragt. obere Mitte von 18,9 auf 26,5 Prozent an. Wir haben für die folgenden Analysen Angaben Als Ursache hierfür lassen sich zwei miteinan- von 28.615 Personen ab 17 Jahren berück- der verbundene Trends vermuten: der Rück- sichtigt, für die insgesamt 358.704 Beobach gang der Industrieproduktion in Deutschland tungen für den Zeitraum 1991 bis 2018 vor und der Prozess der Tertiarisierung, also der liegen. Die Daten des Jahres 2018 sind zum zunehmenden Verbreitung von Dienstleistungs- Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags die tätigkeiten. Beide sind unterschiedliche, aber letzten verfügbaren. Alle Analysen wurden mit zusammenhängende Folgen der wirtschaft- sozioökonomischen Korrekturvariablen gewich- lichen Globalisierung. Durch das massive tet. Aus Gründen der einfacheren Darstellung Wachstum der industriellen Massenproduktion fassen wir die Daten von jeweils zwei Jahren in aufstrebenden Ländern, vor allem in China, zu gleitenden Durchschnitten zusammen. kam es seit den 1980er Jahren zum Abbau von Produktionskapazität in der Industrie der Abbildung 1 gibt die Verteilung der drei Schich- wirtschaftlich hoch entwickelten Länder. Dies ten und ihrer Segmente für Deutschland im führte auch in der deutschen Industrie zu Zeitverlauf wieder. Zunächst ist zu sehen, dass einem Rückgang der Beschäftigtenzahl. die Oberschicht in diesem Zeitraum gewach- sen ist. Gehörten ihr in den Jahren 1991/92 Etwas überraschend ist, dass dies vor allem durchschnittlich 9,9 Prozent der in Deutsch- die Facharbeiter und nicht die ungelernten land lebenden Personen ab 17 Jahren an, wa- Arbeiter betraf. Als Erklärung bietet sich der ren es in den Jahren 2017/18 rund 13,5 Pro- Effekt des technologischen Wandels an, der zent. Die Mittelschicht insgesamt ist dagegen einen Teil der qualifizierten Industriearbeit subs- geringfügig geschrumpft. Zu Beginn des tituierbar machte. Die gleichzeitig stattfindende Beobachtungsfensters zählten 60,5 Prozent Tertiarisierung führte zu einem Anstieg von 6
Abbildung 1 Schichtung der Gesellschaft Personen ab 17 Jahren; relative Häufigkeiten in den Jahren 1991 bis 2018, in Prozent 1991/92 1993/94 1995/96 1997/98 1999/ 2001/02 2003/04 2005/06 2007/08 2009/10 2011/12 2013/14 2015/16 2017/18 2000 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 N = 358.704. ■ Oberschicht ■ Untere Mitte Die dargestellten relativen Häufigkeiten basieren auf den Beobachtungen ■ Obere Mitte ■ Untere Schicht II (ungelernte Arbeiter) für das jeweilige Jahr als gleitender Durchschnitt über jeweils zwei Jahre. ■ Mittlere Mitte ■ Untere Schicht I (einfache Dienstleister) Quellen: SOEP v35; eigene Berechnungen akademischen Berufen in den Dienstleistungs- mung der Schichten generell (vgl. Kapitel 1.2) branchen und bewirkte damit ein Wachstum stellt sich auch hier das Problem der Definition der oberen Mitte, also der akademisch qualifi- und Messung. Zur Messung der Angst vor dem zierten Angestellten. Das Segment der mittle- sozialen Abstieg (im Folgenden »Statusverun- ren Mitte, die beruflich qualifizierten Angestell- sicherung« genannt) kann man in Umfragen ten, blieb dagegen mit 14 bis 15 Prozent über nicht direkt nach der »Angst vor dem Abstieg« die Zeit recht konstant. fragen. Denn es ist wahrscheinlich, dass die Personen unterschiedliche Vorstellungen darü- Zusammengenommen haben diese Verschie- ber haben, was Abstieg für sie ist, was wie- bungen nicht zu einem massiven Schrump- derum die wissenschaftliche Interpretation der fungsprozess innerhalb der Mitte geführt, wie Daten erschwert, wenn nicht sogar unmöglich ihn frühere Studien diagnostizieren, die die macht.2 Schichtzugehörigkeit aufgrund der Haushalts- einkommen konzipieren (etwa Grabka et al., Stattdessen bietet sich an, die Sorge vor 2016). Vielmehr ist davon auszugehen, dass dem Verlust des Arbeitsplatzes als Indikator es zu einem größeren Anteil von sozialen zur Messung von Statusverunsicherung zu Aufstiegen aus unteren Lagen der Mitte in die verwenden. Es ist davon auszugehen, dass obere Mittelschicht und in die Oberschicht Personen sich vor allem dann vor dem Ver- gekommen ist. 2 In einem noch laufenden Forschungsprojekt haben 1.4 Statusverunsicherung in Deutschland wir eine zweidimensionale Messung von Statusverun 1991 bis 2018 sicherung vorgenommen. Erste Ergebnisse aus diesem Projekt sind in der Schriftenreihe des Roman Herzog Die zweite eingangs gestellte Frage lautet: Wie Instituts publiziert (Lengfeld et al., 2019). Diese Informa- hat sich die Abstiegsangst der Mittelschicht in tionen sind in den Daten für die vorliegende Analyse aber Deutschland entwickelt? Wie bei der Bestim- nicht verfügbar. 7
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland lust des gegenwärtigen Status sorgen, wenn Abbildung 2 zeigt den Verlauf der Statusver- sie in näherer Zukunft fürchten müssen, ihren unsicherung in Deutschland und separat für Arbeitsplatz zu verlieren (vgl. zur Begründung Ost- und Westdeutschland für alle Erwerbs- ausführlicher Lengfeld/Ordemann, 2017). Als tätigen (abhängig und selbstständig Beschäf- wissenschaftlicher Allgemeinplatz gilt, dass tigte). In Gesamtdeutschland ist der Anteil der ohne Arbeit der gewohnte Lebensstandard Menschen, die sich Sorgen machen über den nicht zu halten ist, soziale Kontakte verloren Verlust des Arbeitsplatzes, von Beginn des gehen und viele Betroffene sich schämen, im Beobachtungszeitraums 1991 bis Mitte der Beruf versagt zu haben. Statusverunsicherung 2000er Jahre fast stetig gestiegen. Als Gründe geht daher, so unsere Annahme, zu weiten hierfür kann man die bereits beschriebene Teilen auf die Unsicherheit des eigenen Ar- Zunahme an weltweiter Konkurrenz und in der beitsplatzes zurück. Folge den Anstieg des Kostendrucks in deut- schen Unternehmen heranziehen, außerdem Basis für die folgenden Berechnungen sind den Rückgang von manuellen Tätigkeiten, die erneut die Umfragedaten des SOEP von 1991 Zunahme flexibler Arbeitsverhältnisse (befris- bis 2018. Es wurden Angaben von 28.750 tete Verträge, Teilzeit, Zeitarbeit und Minijobs) Personen analysiert, für die insgesamt 269.249 sowie die Reformen in der sozialen Sicherung. Beobachtungen vorliegen. Wichtig ist, dass hier nur Angaben von Personen analysiert Seit 2006 jedoch hat sich die Zahl der Er- werden, die auch zum Befragungszeitpunkt werbstätigen, die sich vor Abstieg sorgen, erwerbstätig waren, nicht also Arbeitslose und nahezu halbiert. Von 2005 bis 2016 ist ihr An- Personen, die nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv teil von 65 Prozent auf etwas über 33 Prozent waren (Studenten, Personen im Ruhestand gesunken. Im letzten Beobachtungsjahr 2018 oder Inaktive). hatte die Sorge vor Arbeitsplatzverlust mit nur Abbildung 2 Sorge vor Arbeitsplatzverlust in Deutschland Personen ab 17 Jahren; relative Häufigkeiten in den Jahren 1991 bis 2018, in Prozent 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 90 80 70 60 50 40 30 20 10 N = 269.249. ■ Ostdeutschland Nur Erwerbstätige, ohne Personen in Berufsausbildung und ■ Westdeutschland ohne kleine Selbstständige in Handel und Gewerbe. ■ Deutschland insgesamt Quellen: SOEP v35; eigene Berechnungen 8
noch 28 Prozent sogar den niedrigsten Wert den mehr Vollzeitstellen geschaffen. Lediglich seit der Wiedervereinigung erreicht. die Zahl der Beschäftigten in Zeitarbeit ist in den letzten Jahren weiter gestiegen (Statisti- Bemerkenswert ist, dass dieser starke Rück- sches Bundesamt, 2018). gang seit Mitte der 2000er Jahre zu einem erheblichen Teil auf die Entwicklung in Ost- –– Als zweiten Grund vermuten wir, dass die deutschland zurückgeht. Mit der Währungs- Erwerbstätigen möglicherweise Erfahrungen union zum 1. Juli 1990 begann auf dem im Umgang mit den neuen Unsicherheiten Gebiet der damaligen DDR ein historischer des Arbeitsmarktes gesammelt haben. Die Prozess der Deindustrialisierung und damit sozialpsychologische Forschung nennt dies eine massive Freisetzung von Arbeitskräften »Coping« (Lazarus/Folkman, 1984): Demnach aus den Kombinaten und Produktionsge- können Erwerbstätige in der Konfrontation mit nossenschaften. Die gleichzeitige Einführung kritischen Erwerbsereignissen neue Routinen eines neuen marktwirtschaftlichen Systems entwickeln, also den Umgang mit ihnen lernen. sowie die Erfahrung der neuen, diesem System Bei erstmaliger Betroffenheit von Arbeitslosig- immanenten Risiken haben dazu geführt, dass keit sammeln sie Erfahrungen bei der Anmel- sich 82 Prozent der befragten Erwerbstätigen dung bei der Arbeitsagentur, dem Bezug von in Ostdeutschland im Jahr 1991 vor dem Ver- lust ihres Arbeitsplatzes sorgten. Bis Mitte der 1990er Jahre nahm deren Anteil aber stark ab und der jährliche Verlauf der Die bessere ökonomische Sorgen passte sich, auf höherem Niveau, dem in Westdeutschland an. Ab 2010 gingen die Lage und ein pragmati Sorgen im Ostteil des Landes jedoch stärker als im Westteil zurück. Dies führte dazu, dass scherer Umgang mit den das Niveau der Statusverunsicherung in den ostdeutschen Ländern sich dem in den west- Unsicherheiten des Arbeits deutschen Ländern stark annäherte. 2018 lag der Anteil der Verunsicherten im Osten nur marktes können in Ost- wie noch um knapp 12 Prozentpunkte über dem westdeutschen Wert. In Westdeutschland lag Westdeutschland dazu geführt der Wert im Jahr 2018 mit 25,3 Prozent eben- falls auf dem niedrigsten Stand seit 1991. haben, dass sich die Menschen Zwei Gründe lassen sich für die Entwicklung in weniger um den Verlust ihres den letzten zehn Jahren vermuten: Arbeitsplatzes sorgen. –– Der erste Grund liegt in der objektiven öko- nomischen Lage, wonach Erwerbsunsicherhei- ten nicht weiter gestiegen und teilweise sogar rückläufig sind. Seit 2006 ist die deutsche Wirtschaft trotz des starken zwischenzeitlichen Arbeitslosengeld oder bei Qualifikationsmaß- Einbruchs während der Wirtschaftskrise 2009 nahmen. Nach einem unsicheren Beschäfti- stetig gewachsen, wenn auch zeitweise auf gungsverhältnis (Befristung, Zeitarbeit) gelingt niedrigem Niveau. Dieses Wachstum ist auch es ihnen, in ein sicheres Beschäftigungsver- auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Seit 2010 hältnis zu wechseln. Aufgrund der Wahrneh- ist die Zahl zweier verbreiteter atypischer Be- mung, die Zukunft sei unsicher geworden, schäftigungsverhältnisse (befristete Verträge, passen sie ihren Lebensplan an die neuen Minijobs) fast stetig zurückgegangen; zuvor Unsicherheiten an, fahren also »auf Sicht« gab es einen ständigen Anstieg. Parallel wur- (Schimank, 2015). 9
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland Abbildung 3 Sorge vor Arbeitsplatzverlust nach Schichtung Personen ab 17 Jahren; relative Häufigkeiten in den Jahren 1991 bis 2018, in Prozent 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 90 80 70 60 50 40 30 20 10 N = 261.629. ■ Unterschichten Nur Erwerbstätige, ohne Personen in Berufsausbildung und ■ Mittelschichten ohne kleine Selbstständige in Handel und Gewerbe. ■ Oberschicht Quellen: SOEP v35; eigene Berechnungen Zeigt sich der Rückgang der Statusverunsiche- rung auch in der Mittelschicht? Abbildung 3 stellt den Vergleich der Schichten dar – aus Gründen der Vereinfachung verwenden wir das dreistufige Schichtschema aus oberer Schicht sowie mittleren und unteren Schichten. Zu Die Abstiegsangst der Mitte sehen ist, dass das Sorgenniveau während des kritischen Zeitraums der 1990er und frühen basiert weniger auf realen 2000er Jahre in allen Schichten anstieg. Erfahrungen, sondern auf Wir haben in zwei verschiedenen Studien ge- prüft, ob Angehörige der Mittelschichten sich der Befürchtung, die Arbeits stärker als die anderer Schichten vor Arbeits- platzverlust sorgen, wenn sie von einem der losigkeit könnte sich von den genannten erwerbswirtschaftlichen Risiken be- troffen waren oder in einer Branche gearbeitet unteren Schichten in die Mitte haben, die im Untersuchungszeitraum bis Mitte der 2000er Jahre verstärkt von Umstrukturie- ausbreiten. rungen betroffen war (Lengfeld/Hirschle, 2009; Lengfeld/Ordemann, 2017). Die Ergebnisse zeigten, dass dies nicht der Fall war. Als Erklä- rung dafür haben wir deshalb den sogenann- ten Spillover-Effekt vermutet (vgl. Lengfeld/ Hirschle, 2009): Die Mitte beobachtet die Ausbreitung von Erwerbsrisiken wie Arbeits 10
losigkeit und unsicheren Beschäftigungsformen in den unteren Schichten und befürchtet, dass Seit der Wiedervereinigung diese zukünftig zu ihnen überschwappen. Ihre Verunsicherung basierte also weniger auf rea- ist die Mittelschicht in len Erfahrungen von Angehörigen der gleichen Schicht, sondern baute auf der Befürchtung Deutschland erstaunlich stabil. auf, Arbeitslosigkeit könnte sich weit in die Mitte der Gesellschaft ausbreiten. Ihr leichtes Schrumpfen liegt Ab Mitte der 2000er Jahre geht das Sorgen eher an der Aufwärtsmobilität niveau aller Schichten deutlich zurück. Am Ende des Beobachtungszeitraums 2018 haben der Menschen aus der Mitte sich in allen drei Schichten so wenig Menschen verunsichert gefühlt wie seit der Wiederver- in die Oberschicht, nicht an einigung nicht mehr. Auch haben sich die Abstände in den Sorgenniveaus zwischen den Abstiegen in die Unterschicht. Schichten verringert, ohne sich jedoch voll- ständig angeglichen zu haben. Dies bedeutet, dass die Ängste der Erwerbstätigen der Hierar- chie der Positionen in der Sozialstruktur folgen: Je komplexer die berufliche Tätigkeit und je wärtsmobilität in die Unterschicht überwogen höher das Ausbildungsniveau, desto höher ist hat, muss man mit methodisch aufwendigeren die Schichtposition, desto besser sind die Ar- Längsschnittuntersuchungen prüfen. Die von beitsmarktchancen und desto weniger Sorgen uns hier gezeigten Befunde lassen aber auf berichten die Erwerbstätigen. diesen Trend schließen. 1.5 Diskussion –– Der zweite beobachtete Trend betrifft Ist die Mittelschicht in Deutschland von Ab- die Segmente der Mitte. Hier hat sich ein stiegsangst und Schrumpfung bedroht? Die Schrumpfen der unteren Mitte, der gelern- Antworten, die wir in diesem Beitrag gefunden ten Industriearbeiter, und ein Anwachsen der haben, fallen differenziert aus: oberen Mitte, der qualifizierten Angestellten mit akademischer Ausbildung, abgezeichnet. –– Im Hinblick auf die Schichtung haben wir Insgesamt deuten die Ergebnisse also auf ein festgestellt, dass die Mittelschicht seit der Überwiegen der Aufwärtsmobilität auch inner- deutschen Wiedervereinigung eine erstaun halb der Mittelschicht hin. liche Stabilität aufweist. Gleichwohl kam es zu einem geringfügigen Schrumpfen um 2,8 Pro- Beide Trends stehen im Widerspruch zur These zentpunkte über die gesamte betrachtete der deutlichen Schrumpfung der Mittelschicht Zeit – und zwar von 60,5 Prozent (1991/92) und ihrer Lebenslage, die in einigen Studien auf 57,7 Prozent der Bevölkerung (2017/18). der letzten Jahre vertreten wurde. Der we Gleichzeitig sind die Segmente der unteren sentliche Grund für diesen Widerspruch ist, Schicht im Zeitverlauf nicht größer geworden, dass wir, anders als die meisten K olleginnen dafür aber die Oberschicht (vgl. Abbildung 1, und Kollegen, die Sozialstruktur als eine ge Kapitel 1.3). Daraus kann man den Schluss schichtete Gruppierung von (aktuellen oder ziehen, dass das geringfügige Schrumpfen der vormaligen) beruflichen Positionen konzipiert Mittelschicht auf die Aufwärtsmobilität aus der haben und nicht als eine Schichtung von rein Mitte in die Oberschicht zurückgeht. Anders statistischen Einkommensgruppen. Dafür gesagt, deuten die Befunde an, dass es mehr haben wir theoretische Gründe aufgeführt. Aufstiege nach oben und weniger Abstiege nach unten gegeben hat. Ob die Aufwärts Folgt man unserer Konzeption von berufsbezo- mobilität aus der Mitte aber tatsächlich die Ab- gener Schichtung, so gelangt man offenbar zu 11
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland zeitraums, keine allgemeine wirtschaftliche Ein Teil der mittleren Mitte Verunsicherung herrschte. Das galt besonders für die Mittelschicht. – vor allem die kleinen Klar ist aber auch, dass sich dies wieder Selbstständigen mit wenigen ändern kann und wird. Im März 2020, nach Abschluss des Hauptteils dieses Beitrags, Beschäftigten – könnte infolge wurde deutlich, dass die gegenwärtig gelten- den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Wirtschaftskrise der Corona-Pandemie gravierende Folgen für die Weltwirtschaft und auch die deutsche sozial absteigen. Wirtschaft haben werden. Insbesondere die drastische Verringerung der Produktionsmen- gen durch die weitgehende Schließung des Einzelhandels und durch die Unterbrechung der internationalen Wertschöpfungsketten weitgehend anderen Befunden als jenen, die wird nach ersten Prognosen von Wirtschafts- als Schrumpfung der Mitte in der Öffentlichkeit forschern zu einer Rezession und damit auch bekannt sind. Es ist jedoch zu bedenken, dass zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosig- die Entscheidung für oder gegen ein bestimm- keit führen (vgl. Michelsen et al., 2020). Die tes Schichtkonzept eine Frage der Abwägung DIW-Konjunkturforscher vermuten, dass die von theoretischen Argumenten und von Vor- deutsche Wirtschaft im Jahr 2020 schrumpfen und Nachteilen der Messung ist. Auch das hier wird; wie stark, ist derzeit nur mit noch grö- präferierte Konzept hat Nachteile, etwa die un- ßerer Unsicherheit prognostizierbar als unter terstellte Annahme, dass die mit den Berufen normalen Bedingungen – auch weil man nicht verbundenen Lebenschancen der Menschen weiß, wie lang die staatlich verordnete Reduk- über den Zeitraum von fast 30 Jahren konstant tion wirtschaftlicher Tätigkeit anhalten wird. geblieben sind. Wir vermuten daher, dass die Statusverun- Im Hinblick auf die Frage nach der Entwicklung sicherung in der deutschen Bevölkerung im der Statusverunsicherung haben die Ergebnisse Jahr 2020 sprunghaft ansteigen wird. Weiter gleich zwei Trends gezeigt: eine starke Zunahme nehmen wir an, dass ein Teil der mittleren Mitte der Sorgen von der Wiedervereinigung bis Mitte infolge dieser Krise sozial absteigen könnte, der 2000er Jahre und eine noch stärkere Ab- nämlich die kleinen Selbstständigen mit einer nahme in den Jahren danach. Im Jahr 2018 war geringen Anzahl an Beschäftigten. Diese die Sorge vor Verlust des sozialen Status sogar Gruppe könnte trotz finanzieller Unterstützung auf dem niedrigsten Stand seit 1991. durch Bund und Länder mit am stärksten vom »Shutdown« der Wirtschaft betroffen sein. Ob Statusverunsicherung folgt demnach einem dies wirklich so kommen wird, wissen wir aber Zyklus, der parallel zur gesamten wirtschaft- erst mit einiger zeitlicher Verzögerung. Denn lichen Entwicklung verläuft. Davon war die die Umfragedaten des SOEP, auf die wir uns in Mittelschicht nicht ausgenommen: Auch in der diesem Beitrag gestützt haben, stehen für den Mitte nahmen die Sorgen stark zu und gingen Zeitraum der neuen Krise derzeit noch nicht ab dem Jahr 2006 wieder deutlich zurück. Ver- für die Analyse zur Verfügung. tiefende Analysen haben gezeigt, dass insbe- sondere das mittlere Segment der Mittelschicht Diese Ereignisse zeigen einmal mehr: Die wis- sensibel auf das Auftreten von neuen erwerbs- senschaftliche Beobachtung der Lage und der wirtschaftlichen Risiken reagiert hat (Lengfeld/ Befindlichkeiten der Mittelschicht ist eine wich- Ordemann, 2017). Insgesamt kann man den tige Daueraufgabe, die sich ein wirtschaftlich Schluss ziehen, dass in der Bevölkerung im und wissenschaftlich hoch entwickeltes Land Jahr 2018, dem Ende des Untersuchungs- wie Deutschland auch dauerhaft leisten sollte. 12
Das Wichtigste in Kürze –– Seit Jahren wird in der Öffentlichkeit und –– Seit dem Jahr 2006 ging die Verunsiche- der Forschung diskutiert, ob die Mittelschicht rung deutlich zurück. Im Jahr 2018 war sie so in Deutschland schrumpft und sich zunehmend niedrig wie seit Beginn der Untersuchungen vor dem sozialen Abstieg fürchtet. nicht. Dieser Rückgang fand auch in der Mittel- schicht statt. –– Dieser Beitrag zeigt auf Basis empirischer Analysen, dass die Mittelschicht in den Jahren –– Seit der Wiedervereinigung ist die Status 2017/18 57,7 Prozent der erwachsenen deut- verunsicherung in Ostdeutschland stetig schen Bevölkerung ausmachte. zurückgegangen und hat im Jahr 2018 den niedrigsten jemals gemessenen Wert erreicht. –– Seit der Wiedervereinigung ist die Mittel- Doch fühlen sich in Ostdeutschland nach wie schicht geringfügig geschrumpft, und zwar um vor mehr Menschen verunsichert als in West- 2,8 Prozentpunkte. Diese Schrumpfung scheint deutschland. auf vermehrte Aufstiege in die Oberschicht und nicht auf mehr Abstiege in die Unterschicht –– Den Analysen liegt ein berufsklassenbezo- zurückzugehen. genes Konzept von Schichtung zugrunde. Die empirischen Befunde basieren auf den Um- –– Innerhalb der Mittelschicht kam es zu fragedaten des Sozio-oekonomischen Panels einem Anwachsen des oberen Segments der (SOEP) der Jahre 1991 bis 2018. akademisch qualifizierten Angestellten und einem Schrumpfen des Segments der Indus –– Infolge der durch die Corona-Pandemie triefacharbeiter. erzeugten Wirtschaftskrise könnte ein Teil der mittleren Mitte – vor allem die kleinen –– Zwischen 1991 und der Mitte der 2000er Selbstständigen mit wenigen Beschäftigten – Jahre kam es in allen Schichten zu einem sozial absteigen. Anstieg der Sorge, den sozialen Status nicht halten zu können. Auch in der Mittelschicht nahm die Verunsicherung stark zu. 13
1 Holger Lengfeld / Jessica Ordemann Geschrumpft und verängstigt? Die Lage der Mittelschicht in Deutschland Literatur Burckhardt, Christoph et al., 2013, Mittel- Lengfeld, Holger, 2019, Abstiegsangst in schicht unter Druck?, Gütersloh Deutschland auf historischem Tiefstand. Ergebnisse der Auswertung des Sozio- Der Tagesspiegel, 2017, Gefühlte Wahr- oekonomischen Panels 1991–2016, in: heit. Die Angst vor dem sozialen Abstieg. Lübke, Christiane / Delhey, Jan (Hrsg.), Dia- SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sagt: gnose Angstgesellschaft? Was wir wirklich Die Sorgen der Menschen nehmen zu. Daten über die Gefühlslage der Menschen wissen, und Fakten widersprechen ihm. Eine Analyse, Bielefeld, S. 59–76 in: Der Tagesspiegel, 14.5.2017, S. 22 Lengfeld, Holger / Hirschle, Jochen, 2009, Fritsch, Nina-Sophie / Verwiebe, Roland, Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen 2016, Schrumpfende Mittelschicht in Öster- Abstieg. Eine Längsschnittanalyse 1984–2007, reich? Hintergründe und empirische Befunde in: Zeitschrift für Soziologie, 38. Jg., Nr. 5, im Kontext europaweiter Trends, in: Fritz, S. 379–398 Judith / Tomaschek, Nino (Hrsg.), Gesellschaft im Wandel. Gesellschaftliche, wirtschaftliche Lengfeld, Holger / Müller, Katharina / und ökologische Perspektiven, Münster, Pravem ann, Stephanie, 2019, Mittelschicht S. 107–116 in Deutschland: Verunsichert und ratlos?, RHI-Diskussion, Nr. 33, München Goldthorpe, John, 2010, Analysing social inequality. A critique of two recent contribu- Lengfeld, Holger / Ordemann, Jessica, 2017, tions from economics and epidemiology, in: Der Fall der Abstiegsangst, oder: Die mitt- European Sociological Review, 26. Jg., Nr. 6, lere Mittelschicht als sensibles Zentrum der S. 731–744 Gesellschaft. Eine Trendanalyse 1984–2014, in: Zeitschrift für Soziologie, 46. Jg., Nr. 3, Grabka, Markus / Frick, Joachim, 2008, S. 167–184 Schrumpfende Mittelschicht: Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Lengfeld, Holger / Ordemann, Jessica, im Einkommen?, in: DIW Wochenbericht, 75. Jg., Erscheinen, Soziale Schichtung und die Ent- Nr. 10, S. 101–108 wicklung der gesellschaftlichen Mitte in Ost- und Westdeutschland nach 1990, in: Bundes- Grabka, Markus / Goebel, Jan / Schröder, zentrale für politische Bildung (Hrsg.), Dossier Carsten / Schupp, Jürgen, 2016, Schrump- Lange Wege der Deutschen Einheit, https:// fender Anteil an BezieherInnen mittlerer Ein- www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/ kommen in den USA und Deutschland, lange-wege-der-deutschen-einheit/ in: DIW Wochenbericht, 83. Jg., Nr. 18, S. 391–402 Mau, Steffen, 2013, Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?, Bundeszentrale für Groh-Samberg, Olaf / Hertel, Florian, 2010, politische Bildung, Schriftenreihe, Nr. 1303, Abstieg der Mitte? Zur langfristigen Mobilität Bonn von Armut und Wohlstand, in: Burzan, Nicole / Berger, Peter A. (Hrsg.), Dynamiken (in) der ge- Michelsen, Claus et al., 2020, Deutsche Wirt- sellschaftlichen Mitte, Wiesbaden, S. 137–157 schaft: Corona-Virus stürzt deutsche Wirtschaft in eine Rezession, in: DIW-Wochenbericht, Lazarus, Richard / Folkman, Susan, 1984, 87. Jg., Nr. 12, S. 206–229 Stress, appraisal, and coping, New York 14
Niehues, Judith, 2015, Die Mittelschicht – Schimank, Uwe, 2015, Lebensplanung!? stabiler als gedacht, in: Bundeszentrale für Biografische Entscheidungspraktiken irritierter politische Bildung (Hrsg.), Oben – Mitte – Mittelschichten, in: Berliner Journal für Sozio- Unten. Zur Vermessung der Gesellschaft, logie, 25. Jg., Nr. 1–2, S. 7–31 Bonn, S. 139–150 SOEP v35, Sozio-oekonomisches Panel, Da- Niehues, Judith, 2017, Die Mittelschicht in ten der Jahre 1984–2018, Version 35, Berlin Deutschland. Vielschichtig und stabil, in: Vier- teljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsfor- Statistisches Bundesamt, 2018, Kern schung, 44. Jg., Nr. 1, S. 3–20 erwerbstätige nach einzelnen Erwerbsformen, Ergebnisse des Mikrozensus, https://www. Niehues, Judith, 2018, Deutschlands Mittel- destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/ schicht in Abstiegsangst? Eine Betrachtung Erwerbstaetigkeit/Tabellen/atyp-kernerwerb- aus ökonomischer Perspektive, in: Schöneck, erwerbsform-zr.html [13.2.2020] Nadine M. / Ritter, Sabine (Hrsg.), Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgren- zungspraktiken der Mittelschichten, Bielefeld, S. 53–68 15
2 Judith Niehues / Theresa Eyerund Gespaltene Mitte – gespaltene Gesellschaft? Eine empirische Clusteranalyse auf Basis des SOEP ¹ 2.1 Einleitung den Kapitel neben der Mittelschicht und der Gesellschaft als Ganzes auch die unteren und 2.1.1 Die Mittelschicht als zentraler oberen Einkommensschichten durchleuchtet. A nkerpunkt der Gesellschaft? Damit wird über die Ränder der Mittelschicht Die Mittelschicht steht unter besonderer wis- hinausgeblickt und die gesamte Gesellschaft senschaftlicher und politischer Beobachtung. darauf untersucht, welche Gruppen ähnliche Dieser Fokus begründet sich zum einen da- Sorgen, Einstellungen und das Gefühl sozialer durch, dass sie den Großteil der Bevölkerung Eingebundenheit haben und welche Unter- Deutschlands umfasst. 47 Prozent der Men- gruppen es innerhalb der Schichten gibt. schen gehörten im Jahr 2016 zur Mittelschicht im engeren Sinne. Zum anderen hat der 2.1.2 Gesellschaftliche Differenzierungen in Zustand der Mittelschicht auch eine Signalwir- Sorgen, Einstellungen und Empfindungen kung, weil von ihrer Größe und Beschaffenheit Um die Gesellschaft in ihren Unterschieden auf den Zustand einer Gesellschaft geschlos- analysieren und besser abbilden zu können, sen wird. Als Bindeglied zwischen Arm und gibt es in der ökonomischen wie sozialwis- Reich stellt sie auch einen zentralen Indikator senschaftlichen Forschung verschiedene für die Stabilität der Gesellschaft dar. Bezeich- Schichtungs- und Milieumodelle. Der Fokus nungen wie »Seismograf«, »Motor« oder »An- liegt dabei häufig entweder auf einer alleinigen ker« der Gesellschaft betonen die Bedeutung Abgrenzung nach dem Einkommen oder auf der Mittelschicht. Welche Sogwirkung von einer Abgrenzung nach soziodemografischen der Mittelschicht ausgeht, wird auch dadurch Kriterien wie Bildung oder Wertevorstellungen. deutlich, dass die meisten Menschen sich als Mitglieder der Mittelschicht sehen, auch wenn Die mit den sozialen Schichten oder Klassen sie durch ihr Einkommen einer höheren oder traditionell assoziierten Eigenschaften und Ste- tieferen Schicht angehören (Niehues, 2017; reotype in Bezug auf Einstellungen, Konsum- Engelhardt/Wagener, 2018). muster oder Verhaltensweisen können heute nicht mehr eindeutig aufrechterhalten werden. Die Ergebnisse der RHI-Diskussion »Die Der steigende Wohlstand – auch der unteren gespaltene Mitte. Werte, Einstellungen und Schichten – führte dazu, dass eine »Verbin- Sorgen« (Niehues/Orth, 2018) haben gezeigt, dung von Klasse oder Schicht und der Lebens- dass es sich bei der Mittelschicht keineswegs führung der Menschen weniger eng wurde« um eine homogene Gruppe handelt. Vielmehr (Burzan, 2011, 89). In der Folge bildeten sich spaltet sich die Mittelschicht in eine eher vielfältigere Lebensstile und Milieus heraus. besorgte und eine weniger besorgte Gruppe. An diese Analyse der Mittelschicht schließt sich Durch die Kombination von sozialem Status unmittelbar folgende Frage an: Nimmt die Mit- und Grundorientierungen lassen sich jedoch telschicht mit diesem Befund eine Sonderrolle relativ homogene soziale Gruppen definieren, in der Gesellschaft ein? Oder finden sich diese die jeweils ähnliche lebensweltliche Vorstellun- Spaltungstendenzen auch in der gesamten gen und eine gemeinsame Identität aufweisen. Gesellschaft und in anderen gesellschaftlichen Da sich die Gesellschaft im Lauf der Zeit wan- Schichten? delt, verändern sich auch die sozialen Milieus und sie werden zunehmend komplexer, um der Mit derselben Methodik der Clusteranalyse, steigenden Individualisierung und Heteroge- mit der die Autorinnen die Ergebnisse der ge- nität der Gesellschaft gerecht zu werden. Die nannten RHI-Diskussion (Niehues/Orth, 2018) einzelnen Gruppen vereinen hierdurch nur je- herausgearbeitet hatten, werden im vorliegen- weils kleine Teile der Bevölkerung. In der »bür- gerlichen Mitte« der bekannten Sinus-Milieus befanden sich im Jahr 2018 beispielsweise nur 1 Die Autorinnen danken Anja Katrin Orth für ihre knapp 13 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jah- konzeptionelle Unterstützung in der Vorbereitung dieser Studie und Lennart Bolwin für seine wertvolle Zuarbeit ren (Sinus, 2018; vgl. für Werte von 2017 auch bei der Auswertung der Clusteranalysen. Kapitel 3, S. 37). 16
In der sozialwissenschaftlichen Theorie und Forschung wird davon ausgegangen, dass Die traditionell mit den die Zugehörigkeit zu einer Schicht Einfluss auf Einstellungen und Verhalten der ihr zugehöri- sozialen Schichten assozi gen Personen hat (Burzan, 2011, 65). Angehö- rige einer Klasse oder Schicht haben ähnliche ierten Eigenschaften und ökonomische Bedingungen und Lebenslagen, welche dazu führen, dass homogene Inte- Stereotype zu Einstellungen, ressen und Wertorientierungen ausgeprägt werden, die sich von denen anderer Klassen Konsum oder Verhalten unterscheiden (Lepsius, 1990). Die Tatsache, einer bestimmten Schicht anzugehören, erhöht lassen sich heute nicht mehr also die Wahrscheinlichkeit, mit bestimmten Problemen stärker oder schwächer konfrontiert aufrechterhalten. zu werden und entsprechend korrespondie- rende Haltungen und bestimmte Verhaltens- muster anzunehmen. Die Sorgen und Einstellungen von Angehörigen muster innerhalb der Gesellschaft bilden. bestimmter Gesellschaftsschichten werden Darüber hinaus wird verglichen, wie sich die insbesondere im Zusammenhang mit sich wan- Ergebnisse der Mittelschicht von der gesamten delnden Rahmenbedingungen thematisiert. Es Gesellschaft unterscheiden. Deswegen wird besteht die Annahme, dass unterschiedliche auch hier die Methodik der Clusteranalyse ver- soziale Schichten mit den Belastungen durch wendet. Damit lassen sich Ähnlichkeiten und Veränderungen auch unterschiedlich umgehen. Unterschiede innerhalb einer Gruppe erkennen, So habe jede Milieugruppe gemäß ihrer Tradi- mittels derer sich die Gruppe möglicherweise tion eine spezifische Strategie dafür entwickelt in verschiedene Untergruppierungen (Cluster) (Vester, 2003, 253 f.). einteilen lässt. Das Ergebnis gibt einen Hinweis darauf, ob sich die deutliche Zweiteilung der Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass Mittelschicht in ein eher besorgtes und ein un- sich die verschiedenen Schichten hinsichtlich besorgtes Cluster (Niehues/Orth, 2018) auch in ihrer Sorgen, Einstellungen und Empfindungen der Gesellschaft als Ganzes oder den weiteren unterscheiden und aktuelle Herausforderun- Einkommensschichten findet. gen die Schichten in unterschiedlichem Maße verunsichern. Eine Schichtzugehörigkeit führt 2.2.1 Daten und Konzepte nicht zwangsläufig auch zur Zugehörigkeit zu Theorie und Analysemethode dieser Studie einer bestimmten Interessengruppe oder zur bauen auf der Publikation »Die gespaltene Ausprägung bestimmter Merkmale. Zudem Mitte. Werte, Einstellungen und Sorgen« kann die Abgrenzung der Gruppen insbeson- (Niehues/Orth, 2018) auf. Als Datengrundlage dere an den Übergängen unscharf werden dient wieder das Sozio-oekonomische Panel (Burzan, 2011, 65; Geißler, 1994, 26). Daher (SOEP). Im Auftrag des Deutschen Instituts wird zunächst die Gesamtgesellschaft auf Ähn- für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) werden lichkeiten in Sorgen, Einstellungen und Empfin- in der jährlichen Wiederholungsbefragung seit dungen analysiert. 1984 repräsentative Daten zu Einkommen, Erwerbstätigkeit und Bildung sowie subjektive 2.2 Gespaltene Gesellschaft: eine Cluster Einschätzungen erhoben. Zurzeit werden mehr analyse der Gesamtgesellschaft als 35.000 Personen in knapp 15.000 Haus- Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, ein Abbild halten erfasst. Daten zu Sorgen und Einstel- der Stimmung in der gesamten Gesellschaft lungen fließen nur von Befragten ab 17 Jahren zu gewinnen und auszumachen, inwiefern ein, die einen eigenen Personenfragebogen sich unterschiedliche Einstellungs- und Werte ausfüllen. 17
2 Judith Niehues / Theresa Eyerund Gespaltene Mitte – gespaltene Gesellschaft? Eine empirische Clusteranalyse auf Basis des SOEP In der vorliegenden Analyse werden die Daten der SOEP-Welle aus dem Jahr 2017 verwen- Exkurs: Die Methodik der Clusteranalyse det (Version 34 – v34). Da in den Befragungs- Zur Untersuchung der Homogenität oder wellen teilweise unterschiedliche Variablen Heterogenität von Sorgen, Einstellungen und erhoben werden, können viele Variablen, die sozialer Eingebundenheit in der Gesellschaft in die Mittelschichtsanalyse von Niehues/Orth wird die Methode der Clusteranalyse angewen- (2018) eingeflossen sind, im Folgenden nicht det. In einem hierarchischen Verfahren wer- berücksichtigt werden. Diese Einschränkung den möglichst homogene Gruppen (Cluster) bezieht sich insbesondere auf das Variablen gebildet, die die Streuung der berücksichtigten set zu den politischen Prioritäten und den Variablen innerhalb der Gruppe minimieren. Einstellungen. Aus der Aktualisierung ergibt Das heißt, es wird nach Personen gesucht, die sich hingegen die Möglichkeit, neue Variablen eine ähnliche Ausprägung von Werten, Einstel- zu betrachten, die in der Diskussion um die lungen und Sorgen haben. Als Ähnlichkeits- Stabilität des gesellschaftlichen Gesamtgefü- maß wird die quadrierte Euklidische Distanz ges eine Rolle spielen. verwendet. Da dieses Maß stark auf Ausreißer reagiert, basiert die Analyse auf standardisier- Die folgenden Einstellungs-Variablen werden ten Variablen. Hierfür wird von jeder Variab- hier einbezogen und waren auch Bestandteil lenausprägung der arithmetische Mittelwert der Studie von Niehues/Orth (2018): abgezogen und die resultierende Differenz durch die Standardabweichung geteilt. Eine –– Gefühl, etwas Wertvolles zu tun, Standardisierung ermöglicht zudem, dass der –– Risikobereitschaft, Einfluss von Variablen mit unterschiedlichen –– Politikinteresse. Skalenniveaus vergleichbar wird (für weitere Informationen vgl. RHI-Diskussion Nr. 30: Ebenso können alle Variablen zu den Sorgen, Niehues/Orth, 2018). die in der Mittelschichtsstudie von Niehues/ Orth (2018) genutzt wurden, auch in dieser Analyse zur Gesamtbevölkerung verwendet werden. Das betrifft die Sorgen um Im Mittelpunkt der Debatten um soziale Ungleichheit und damit verbundener Gesell- –– die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung, schaftsdiagnosen stehen häufig Fragen um die –– die eigene wirtschaftliche Situation, Bedeutung und Spannweite sozialer Ausgren- –– die Entwicklung der Kriminalität, zung (Böhnke, 2005). Soziale Ausgrenzung –– die Zuwanderung nach Deutschland, kann verstanden werden als Mangel der Mög- –– den sozialen Zusammenhalt, lichkeit der Menschen, in das gesellschaftliche –– die eigene Altersversorgung, Leben integriert zu sein – sowohl mit Blick auf –– den Schutz der Umwelt, Lebensstandards als auch auf die Einbindung –– den Erhalt des Friedens, in soziale Netzwerke und gesellschaftliche –– die eigene Gesundheit. Partizipation (Böhnke, 2005, 32). Die folgenden Betrachtungen zielen darauf Die Angaben über das Gefühl der sozialen ab, ein tieferes Verständnis der Substruktu- Ausgrenzung geben somit Hinweise darauf, ren innerhalb der Gesellschaftsschichten zu wie stark sich Angehörige der jeweiligen erhalten. Damit sollen auch Rückschlüsse auf Schichten als integrierter Bestandteil der Parallelen und Unterschiede möglich werden, Gesellschaft sehen. Diese Informationen sind die das gesamte gesellschaftliche Gefüge be- insofern besonders relevant, als Menschen, treffen. Deshalb werden Variablen zum Gefühl die sich ausgegrenzt oder einsam fühlen, auch der sozialen Eingebundenheit beziehungsweise weniger Halt durch das demokratische Sys- Ausgegrenztheit einbezogen, die im SOEP im tem und weniger Bezug zur Politik insgesamt Jahr 2017 abgefragt wurden. empfinden (Krause/Gagné, 2019). Darüber hinaus stellt sich in Gesellschaftsdebatten 18
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