Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...

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Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
Institutsbericht 2018
Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
Inhalt

    03 Vorbemerkung

    05 Vorwort

    07 Sozialgeschichte der Medizin

    07 Migration und Gesundheit

    09 Männergesundheits- und Patientengeschichte

    21 Prävention

    24 Geschichte der Gesundheitsberufe

    30 Pflegegeschichte

    35 Forschungsprojekte und Tagungen außerhalb der Schwerpunkte

    38 Geschichte der Homöopathie und des Pluralismus in der Medizin

    54 Institutsbibliothek

    56 Vortragsreihe

    57 Institutskolloquium

    57 Stuttgarter Fortbildungsseminar

    59 Lehr- und Prüfungstätigkeit

    62 Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

    63 Vorträge

    74   Veröffentlichungen

    84 Personalia

    87 Bildnachweis

    87 Impressum

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Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
Vorbemerkung

Das Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung (im Folgenden:
IGM) ist das einzige außeruniversitäre
medizinhistorische Forschungsinstitut in
der Bundesrepublik Deutschland. Es wur-
de 1980 eingerichtet. Ursprünglich dem
Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart als
medizinhistorische Forschungsstelle zuge-
ordnet, verdankte die damalige Abteilung
ihre Entstehung dem starken Interesse des
Stifters Robert Bosch an der Geschichte
des Gesundheitswesens im Allgemeinen
und der Homöopathie im Besonderen. Das
IGM ist heute hinsichtlich Ausstattung und
Aufgabenstellung den medizinhistorischen
Einrichtungen an deutschen Hochschulen
ähnlich. Die Forschungsschwerpunkte sind
die Sozialgeschichte der Medizin sowie die
Geschichte der Homöopathie und des Plura-
lismus in der Medizin.

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Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
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Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
Prof. Dr. Dr. h. c.
Vorwort                                                                                         Robert Jütte

2018 konnten zwei große Drittmittelprojek-
te, die das IGM eingeworben hatte, begon-
nen bzw. abgeschlossen werden. Der Auf-
trag der Niedersächsischen Landesregierung
zur Erforschung der Arzneimittelstudien
an Heimkindern aus Niedersachsen in der
Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
sowie zu Impfversuchen an Säuglingen und
Kindern in Kliniken dieses Bundeslandes
konnte im Berichtszeitraum fristgemäß ab-
geschlossen und der Endbericht vorgelegt
werden. Die bisherigen Forschungsergeb-
nisse trugen dazu bei, dass das zuständige
Ministerium beschloss, für 2019 noch wei-       zum Teil mit großem Seltenheitswert, erwer-
tere Finanzmittel zur Verfügung zu stellen,     ben. Über den Handel kam die umfangreiche
um einige zusätzliche Aspekte abschließend      homöopathiegeschichtliche Sammlung des
zu untersuchen.                                 Schweizer Laienpraktikers Lukas Bruhin
                                                zu uns. Als ein großer Glücksfall ist zu be-
Nachdem Anfang 2018 der Vertrag mit der         zeichnen, dass wir für das Archiv und die
Landesärztekammer Baden-Württemberg             Bibliothek die Sammlung von Hartwig Egger
zur Erforschung der Geschichte der verfass-     zur Geschichte der sogenannten Biochemie
ten Ärzteschaft in (Baden-)Württemberg im       bzw. „Schüßler-Salze“ übernehmen konnten.
Zeitraum 1920 bis 1960 geschlossen worden       Sie spiegelt Entstehung und Verbreitung
war, konnte mit der Archiv- und Literatur-      dieser Therapierichtung, die sich aus der
recherche begonnen werden.                      Homöopathie entwickelt hat, exemplarisch
Vor allem haben wir uns im Berichtsjahr         wider. Damit besitzt das IGM einen für die
auch über hochrangigen Besuch aus dem           Erforschung der Heilweise nach Schüßler,
Ausland gefreut. Im Dezember suchte uns         der biochemischen Laienvereinsbewegung
eine Delegation des indischen Gesundheits-      sowie der Produzenten biochemischer Arz-
ministeriums auf, die zuvor im Bundesminis-     neimittel nahezu einmaligen und reichen
terium für Gesundheit in Berlin über Koope-     Quellenfundus.
rationsperspektiven in den Bereichen Ayur-
veda, Yoga und Homöopathie gesprochen           Auch in personeller Hinsicht lässt sich Er-
hatte. Im Juni stattete uns der Chemienobel-    freuliches berichten. Das gilt nicht nur im
preisträger Professor Walter Gilbert, der auf   Hinblick auf die akademischen Anerkennun-
dem Weg zum Nobelpreisträgertreffen auf         gen und Auszeichnungen, die Mitarbeiterin-
der Insel Mainau war, einen Besuch ab und       nen und Mitarbeiter des IGM im Berichtsjahr
ließ sich unter anderem über die Geschichte     erfahren haben. Wir durften 2018 auch
der Homöopathie informieren.                    eine neue Kollegin im Archiv begrüßen: Dr.
                                                Marion Baschin, die bereits früher am IGM
Ein besonders ertragreiches Jahr war es         mehrere Forschungsprojekte durchgeführt
diesmal sowohl für das Archiv als auch für      hat, ist nun nach Abschluss ihrer Ausbildung
die Bibliothek. Wir konnten zahlreiche Bü-      an der Archivschule in Marburg bei uns tätig;
                                                                                                                      5
cher und Dokumente, aber auch Objekte,
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Vorwort   sie wird 2019 die Nachfolge von Prof. Dr.
              Martin Dinges, der dann in den Ruhestand
              geht, antreten.
              Mein Dank geht wie in jedem Jahr an die
              Förderer sowie an die Mitarbeiterinnen und
              Mitarbeiter, die mit großem Engagement
              und durch ihre hervorragende Arbeit das
              IGM weiterhin auf Erfolgskurs gehalten ha-
              ben.

              Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte
              Institutsleiter

              P. S. Nach Redaktionsschluss erreichte uns
              die traurige Nachricht, dass unsere langjäh-
              rige wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Syl-
              velyn Hähner-Rombach nach kurzer, schwe-
              rer Krankheit am 6. Januar 2019 verstorben
              ist. Ein Nachruf erscheint im nächsten Insti-
              tutsbericht.

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German Dispensary
                                                                                                (1868), Foto: US
                                                                                                National Library of
                                                                                                Health, New York

Sozialgeschichte         der   Medizin                                                          Sozialgeschichte
                                                                                                der Medizin

Gemeinsamer Arbeitsschwerpunkt der For-
schungsbereiche Sozialgeschichte der Medi-
zin sowie Geschichte der Homöopathie und
des Pluralismus in der Medizin ist seit 1998
                                                 Migration und Gesundheit                       Migration und
die Patientengeschichte. Dabei sollen so-
                                                                                                Gesundheit
wohl soziale und ökonomische als auch kul-       (Ansprechpartner:
turelle Aspekte berücksichtigt werden. Die-
                                                 Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte)
se Thematik ist nicht nur für die Neuorientie-
rung der Medizingeschichte in der Bundes-
republik weiterhin von zentraler Bedeutung,      Die Erforschung der Gesundheit von Mi-
sondern auch im internationalen Vergleich        granten und Menschen mit Migrations-
ist hier noch ein großer Forschungsbedarf zu     hintergrund hat in den letzten Jahren in
verzeichnen. Außerdem bietet gerade dieser       Medizin und Medizinsoziologie zunehmend
Schwerpunkt den Vorteil, die inhaltliche         an Bedeutung gewonnen, während histori-
Erschließung und Auswertung der im Institut      sche Studien noch weitgehend fehlen. Im
vorhandenen Quellen zur Homöopathiege-           Themenschwerpunkt ‚Migration und Ge-
schichte (z. B. Patientenbriefe, Kranken-        sundheit‘ laufen zurzeit noch zwei Projekte,
journale und Schriftgut von Laienvereinen)       in denen in sozialhistorischer Perspektive
einzubeziehen und so Querverbindungen            Dimensionen der Gesundheitserfahrungen
zwischen beiden Forschungsbereichen zu           verschiedener Gruppen von Migranten und
stärken. Das passt in die langjährigen Be-       Flüchtlingen im 19. und 20. Jahrhundert
mühungen des IGM, die sozialgeschichtliche       untersucht werden.
Relevanz der Homöopathiegeschichte für
eine Geschichte des Pluralismus in der Me-
dizin durch entsprechende Forschungen und
Publikationen hervorzuheben. Weitere sozial-
geschichtlich relevante Arbeitsfelder, die
zurzeit erforscht oder entwickelt werden,
sind die Gesundheitsgeschichte von Migran-
ten, die Männergesundheitsgeschichte, die
Geschichte der Prävention, die Pflegege-
schichte sowie die Geschichte der Gesund-
heitsberufe.                                                                                                          7
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Sozialgeschichte     Forschungsprojekte                            im Prozess des ‚Heimischwerdens‘ dienen.
    der Medizin                                                        Zweitens erlaubt der Vergleich auch, Verän-
                                                                       derungen des Gesundheitsverhaltens und
                         „Gott sei Dank sind wir noch alle ge-
    Forschungsprojekte                                                 -wissens in Deutschland zu beobachten.
                         sund.“ Gesundheit und Migration in
                                                                       Einige zentrale Ergebnisse der Untersuchung
                         Selbstzeugnissen deutscher Auswan-
                                                                       können hier bereits angedeutet werden: die
                         derer 1830-1930 (Bearbeiter:
                                                                       große Rolle von familiären, konfessionellen,
                         Dr. Jens Gründler)
                                                                       „ethnischen“ oder freundschaftlichen Un-
                                                                       terstützungsnetzwerken im Krankheitsfall;
                         Gesundheit hatte und hat im Migrationspro-
                                                                       das Anwachsen der Inanspruchnahme von
                         zess eine zentrale Bedeutung. Für deutsche
                                                                       medizinischen Angeboten außerhalb der
                         Amerika-Auswanderer, die zwischen 1830
                                                                       eigenen Ethnie ab der zweiten Generation;
                         und 1930 in die USA kamen, hingen Erfolg
                                                                       parallel aber auch die Aufrechterhaltung von
                         und Misserfolg häufig direkt mit dem eige-
                                                                       landsmannschaftlichen Angeboten auf dem
                         nen Gesundheitszustand sowie Praktiken
                                                                       Gesundheitsmarkt innerhalb von Stadtvier-
                         und Netzwerken der Gesundheitsvorsorge
                                                                       teln oder ländlichen Regionen, in denen eine
                         und Krankheitsfürsorge zusammen. Das
                                                                       hohe Konzentration von deutschen Einwan-
                         gilt sowohl für häufig entlegene, ländliche
                                                                       derern lebte.
                         Räume als auch für industrielle und urbane
                         Zentren der rasant wachsenden amerika-
                                                                       Gesundheit und Krankheit jüdischer
                         nischen Nation. Die Auswertung von Ego-
                                                                       Migrantinnen und Migranten aus Ost-
                         Dokumenten wie Tagebüchern, Briefen und
                                                                       europa in Deutschland (Bearbeiterin:
                         autobiographischen Berichten zeigt zum
                                                                       Aline Braun, M. A.)
                         einen, wie die Migranten für ihre Gesund-
                         heit vorsorgten und welche Möglichkeiten
                                                                       Im vorliegenden, mikrohistorisch ausge-
                         zur Fürsorge ihnen im Krankheitsfall zur
                                                                       richteten Projekt wird die Lebenswirklich-
                         Verfügung standen. Aufgrund der langen
                                                                       keit ostjüdischer Transmigrierender im
                         Untersuchungsdauer geraten auch Verände-
                                                                       Deutschen Reich, besonders im Berlin der
                         rungsphänomene und Anpassungsprozesse
                                                                       1920er Jahre, rekonstruiert und analysiert.
                         des Gesundheitsverhaltens in den Blick,
                                                                       Der Fokus liegt auf den Themen Krankheits-
                         insbesondere durch Quellen von Migranten
                                                                       bewältigung und Gesundheitsfürsorge.
                         der zweiten und dritten Generation. Durch
                                                                       Berlin war meist nicht eigentliches Ziel der
                         die Vergleichsperspektive werden zwei Din-
                                                                       ostjüdischen Zuwanderer, sondern sollte in
                         ge erreicht: Erstens kann das Projekt als
                                                                       der Regel nur als Zwischenstation auf dem
                         Sonde für allgemeine Veränderungen und
                                                                       Weg in die Vereinigten Staaten dienen. Da-
8                        Anpassungsprozesse von Migrantengruppen
                                                                       her bilden das Thema ‚Scheitern‘ und der
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Jüdische Auswande-
                                                                                                rer auf der Durch-
                                                                                                fahrt, Schlesischer
                                                                                                Bahnhof, Berlin (um
                                                                                                1920), Foto: Hilfsver-
                                                                                                ein der Deutschen
                                                                                                Juden (1930)

                                               um ihre Gesundheit. Dabei sind Sozialisa-        Sozialgeschichte
                                               tion, Leitbilder, Praktiken und gesellschaft-    der Medizin
Umgang mit der ungewollten Unterbrechung       liche Verhältnisse in ihren Auswirkungen auf
im Migrationsverlauf sowie die daraus resul-   Kompetenzerwerb und geschlechterspezi-
tierenden, notwendigen Bewältigungsstrate-     fisches Wissen und Handeln in historischer
gien einen Schwerpunkt der Untersuchung.       Perspektive neu zu bewerten. Wahrneh-
Die Wohnsituationen und der Alltag dieser      mungsdefizite des Gesundheitswesens müs-
eingewanderten Jüdinnen und Juden sind         sen stärker in den Blick genommen werden.
ebenfalls zentraler Bestandteil der Studie.    Dazu kann auch und gerade die historische
Ebenso bedeutsam sind die Wahrnehmun-          Perspektive beitragen.
gen gesundheitspolitischer Regelungen und      Prof. Dr. Martin Dinges leitete im Berichts-
der Praktiken der Medizinalverwaltungen        jahr die 12. Tagung des Arbeitskreises
durch die Migrantinnen und Migranten. Mit-     AIM Gender zu „Männlichkeiten und Care.
tels eines Vergleichs mit der autochthonen     Selbstsorge, Familiensorge, Gesellschafts-
Bevölkerung und anderen Migrantengruppen       sorge“ an der Akademie der Diözese Rot-
sowie unter Einbeziehung der Perspektive       tenburg-Stuttgart in Stuttgart-Hohenheim.
der Gesundheitsbehörden kann zudem die         Mehrere Vorträge betrafen historische
zeitgenössisch als homogen wahrgenom-          Aspekte der Gesundheitssorge von Män-
mene und konstruierte Gruppe der ,Ostju-       nern für sich selbst und für Dritte, z. B. für
den‘ differenzierter betrachtet werden. Die    die Familie, aber auch als Krankenpfleger
Analyse der Expertendiskurse in Bezug auf      seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegen-
migrantische Gesundheitspraktiken und          wart (zum Programm siehe http://www.
Hygiene erlaubt zudem, traditionelle (west-)   uni-bielefeld.de/soz/personen/lengersdorf/
europäische Stereotype und Vorurteile zu       aim_gender.html sowie https://www.akade-
dekonstruieren.                                mie-rs.de/vakt_22168). Außerdem referierte
                                               der stellvertretende Institutsleiter in Wien
                                               bei der Konferenz der Verantwortlichen
Männergesundheits- und Patien-                                                                  Männergesund-
                                               für die „Männerpolitik“ in den zuständigen
                                                                                                heits- und
tengeschichte (Ansprechpartner:                Ministerien der deutschsprachigen Länder,        Patienten-
                                               die sich dort mit Vertretern von Forschung       geschichte
Prof. Dr. Martin Dinges)
                                               und Zivilgesellschaft trafen. Das Gesund-
                                               heitsdepartement des Kantons Basel-Stadt
Ziel einer Zeitgeschichte des männlichen Ge-   lud ihn zu einer Tagung mit Akteuren der
sundheitshabitus ist eine bessere systemati-   Migrationspolitik ein, die für das gleiche
sche und historische Kontextualisierung der    Thema, nämlich die psychische Gesundheit,
                                                                                                                         9
als defizitär geltenden Sorge von Männern      sensibilisiert werden sollten. Außerdem trug
Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
Männliche und weib-
     liche Skulpturen zur
     Erkennung von De-
     pressionen, Foto: US
     National Library of
     Health, New York

     (v. l.) Prof. Dr. Marcel
     Sieberer, Dr. des.
     Christine Hartig,
     Sylvia Wagner, Dr.
     Klaus Schepker, Foto:
     KRH Klinikum Region
     Hannover

     Sozialgeschichte                                                           schenden Ergebnissen dieser Studie gehört,
     der Medizin                                                                egal ob in Bezug auf Therapiebereitschaft,
                                                                                Selbstheilung oder die Beziehung zum sozia-
                                                                                len Umfeld: Entgegen dem geläufigen Bild
                                Professor Dinges zu aktuellen und histori-      vom gefühlsfernen Patriarchen hätten zahl-
                                schen Aspekten der Männergesundheit bei         reiche Männer schon seit den 1950er Jahren
                                der Fachtagung „MÄNNER: Fokus Gesund-           gerne auf die vermeintlichen männlichen
                                heit“ der Stadt Stuttgart sowie dem eben-       Privilegien verzichtet, die ihnen den Zugang
                                falls von der Stadtverwaltung organisierten     zu Hilfe erschwerten – und sie auf diese
                                „Stuttgarter Diversity-Kongress ,Frauen*        Weise sogar erst krank machen konnten.
                                und Männer* in ihrer Vielfalt‘“ vor. In einer   Diese Wünsche wurden jedoch in großen
                                Reihe anderer Veranstaltungen für Fachleute     Teilen durch Eltern, Partner und Arbeitgeber
                                sowie für das allgemeine Publikum konnten       konterkariert, deren Interessen durch eine
                                weitere historische Aspekte der Männerge-       repressive Psychiatrie gestützt wurden. Die
                                sundheit in den öffentlichen Diskurs einge-     Ergebnisse werfen auch ein neues Licht
                                bracht werden.                                  auf die gegenwärtige Diskussion um die
                                                                                Schädlichkeit männlichen Gesundheitsver-
                                                                                haltens („Toxic Masculinity“). Die mittler-
     Forschungsprojekte         Forschungsprojekte
                                                                                weile abgeschlossene und an der Universität
                                                                                Mannheim verteidigte Dissertation ist im
                                Geschichte psychischer Erkrankun-               Berichtsjahr in der Beiheftreihe zu „Medizin,
                                gen von Männern in der Bundesrepu-              Gesellschaft und Geschichte“ erschienen.
                                blik Deutschland 1948-1993 (Bear-
                                beiter: Dr. Christoph Schwamm)                  Medikamentenversuche an Kindern
                                                                                und Jugendlichen im Rahmen der
                                Wie erfuhren psychisch kranke Männer, ihre      Heimerziehung in Niedersachsen
                                Angehörigen und Ärzte seelisches Leiden         zwischen 1945 und 1979 (Bearbeite-
                                im Kontext von Männlichkeit? Dieser Frage       rinnen: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach
                                geht die inzwischen abgeschlossene und im       und Dr. des. Christine Hartig)
                                Druck vorliegende Dissertation nach. Dafür
                                wurden für die Jahre 1948 bis 1993 zeitge-      Das Forschungsprojekt im Auftrag der Nie-
                                nössische medizinische Fachliteratur und        dersächsischen Landesregierung hat zum
                                knapp 700 Patientenakten aus den psychia-       Ziel, in der Nachkriegszeit in Niedersachsen
                                trischen Universitätskliniken Heidelberg        erfolgte Arzneimittelstudien, Impfungen
                                und Gießen ausgewertet. Zu den überra-          bzw. Impfversuche an Minderjährigen in
10
Poster aus Eric
                                                                                                  Winter u. a.: „Schick-
                                                                                                  sal Abhängigkeit?“
                                                                                                  (1988)

(kinder-)psychiatrischen Einrichtungen und                                                        Sozialgeschichte
Heimen wissenschaftlich aufzuarbeiten.                                                            der Medizin
Dabei sollte das Augenmerk erstens auf
die Einhaltung rechtlicher, ethischer und
fachlicher Standards bei der Durchführung
der Studien gerichtet werden. Zweitens galt
es zu fragen, ob staatliche Institutionen
eine (Mit-)Verantwortung an eventuellen
Missständen trugen. Des Weiteren sollte
untersucht werden, ob psychochirurgische
Eingriffe an Minderjährigen vorgenommen
                                                 „Deine Gesundheit, unser Staat“.
wurden und ob die Durchführung von soge-
                                                 Erfahrungen von Patienten mit Al-
nannten Pneumenzephalographien an (kin-
                                                 koholabhängigkeit, Diabetes oder
der-)psychiatrischen Einrichtungen gemäß
                                                 Geschlechtskrankheiten im Gesund-
zeitgenössischen Normen erfolgte. Die ein-
                                                 heitswesen der Deutschen Demokra-
zelnen Untersuchungsschritte betrafen den
                                                 tischen Republik (Bearbeiter:
Ort, Umfang und die Durchführung sowie
                                                 Dr. Markus Wahl)
die Initiatoren solcher Studien und medizini-
schen Eingriffe, zudem die zum Einsatz ge-
                                                 In Publikationen und Ausstellungen des
kommenen Präparate und die Folgen für die
                                                 Deutschen Hygiene-Museums in Dresden
Kinder und Jugendlichen. Für das im August
                                                 wurde häufig der Slogan „Im Mittelpunkt
2017 begonnene Projekt wurden einschlägi-
                                                 steht der Mensch“ propagiert. Damit wurde
ge Fachzeitschriften gesichtet und in staatli-
                                                 beschrieben, dass sich das staatliche Ge-
chen sowie in Firmenarchiven recherchiert.
                                                 sundheitswesen vollkommen dem Menschen
Darüber hinaus erfolgte eine Suche nach
                                                 widmet und ihn damit in den Mittelpunkt
Einzelfallakten aus (kinder-)psychiatrischen
                                                 stellt. Dieses Postulat unterstrich den An-
Einrichtungen und Heimen. Dem Land Nie-
                                                 spruch eines humanistischen Charakters
dersachsen wurde im Juni 2018 ein Zwi-
                                                 des sozialistischen Staates in Abgrenzung
schenbericht sowie im Dezember 2018 der
                                                 zur kapitalistischen Weltordnung. Das Habi-
Endbericht übergeben.
                                                 litationsprojekt hat sich zum Ziel gesetzt, in
                                                 einer differenzierten Form die Erfahrungen
                                                 von Patienten mit Alkoholabhängigkeit, Dia-
                                                 betes oder Geschlechtskrankheiten nachzu-
                                                 zeichnen und somit das Postulat der DDR zu
                                                 überprüfen. Für dieses Unterfangen erfolgt                                11
„Hämophilie-Blätter“
     (2011)

     Sozialgeschichte       eine stichprobenartige, quantitative und
     der Medizin            qualitative Auswertung von Patientenakten,
                            Eingaben sowie Ego-Dokumenten (Tagebü-
                            cher, Briefe etc.) im Kontext der nationalen
                            und internationalen Entwicklungen. Dabei
                            soll zum Beispiel der Frage nachgegangen
                            werden, wie Betroffene ihre Krankheit erleb-
                            ten, wie sie diese in ihre Lebensgeschichte
                                                                             Patientenbewegungen in Deutsch-
                            einbauten, welche Erfahrungen die Patien-
                                                                             land 1945-1985 (Bearbeiterin:
                            ten innerhalb und außerhalb von medizini-
                                                                             Dr. Ylva Söderfeldt)
                            schen Einrichtungen machten und wie sich
                            diese auf ihren Lebensalltag auswirkten.
                                                                             Im Rahmen dieses Projektes soll der Auf-
                            Im Jahr 2018 lag der Fokus auf der Recher-
                                                                             schwung von Patientenvereinen im Kontext
                            che zu den Erfahrungen von Alkoholabhän-
                                                                             der deutschen Nachkriegsgesellschaft(en)
                            gigen in der ehemaligen DDR. Dafür wurden
                                                                             eingeordnet werden. Damit wird, auf einer
                            das Bundesarchiv, das BStU-Archiv und das
                                                                             am IGM durchgeführten Pilotstudie von
                            Hauptstaatsarchiv in Dresden aufgesucht
                                                                             Kristina Matron aufbauend, angestrebt, ei-
                            sowie Zeitzeugen ausgemacht und Material
                                                                             nen Beitrag zu der noch kaum erforschten
                            zu den verschiedenen Patientengruppen
                                                                             Geschichte der Patientenvereine zu liefern.
                            gesammelt. Es zeigte sich, dass die Behand-
                                                                             Drei Fallbeispiele werden untersucht: die
                            lung von Patienten oftmals von der Haltung
                                                                             Deutsche Hämophiliegesellschaft, der Deut-
                            und Mentalität des in einer medizinischen
                                                                             sche Diabetiker Bund und der Deutsche
                            Einrichtung tätigen Personals abhing und
                                                                             Allergikerbund. Im Fokus stehen ihre Orga-
                            eine generelle Aussage nur im Hinblick auf
                                                                             nisationsstruktur und Beziehungen zu Ärz-
                            die staatliche Narrative zur Alkoholabhängig-
                                                                             ten, Behörden und Industrie. Archivquellen,
                            keit getroffen werden kann. Des Weiteren
                                                                             Zeitschriften und Gespräche mit Zeitzeugen
                            wurde deutlich, dass eine Verbesserung
                                                                             wurden nun analysiert. Die Ergebnisse sol-
                            vor allem der Nachbetreuung von stationär
                                                                             len 2019 in Buchform publiziert werden.
                            entzogenen Alkoholikern durch lokale Initia-
                            tiven von Ärzten, Psychologen und abstinent
                            lebenden Alkoholkranken geschah. Dieses
                            vorläufige Ergebnis der Arbeit stellt die The-
                            se einer strikten Zentralisation des Gesund-
                            heitswesens der DDR für diesen Bereich in
                            Frage.
12
Arthur Geissler: „Die
                                                                                                 Sterblichkeit und
                                                                                                 Lebensdauer der
                                                                                                 Sächsischen Aerzte“
                                                                                                 (1887)

Gesundheit und Krankheit in der                                                                  Sozialgeschichte
Korrespondenz Hans Fuggers (1531-                                                                der Medizin
1598) (Bearbeiterin: Anne Phieler,
M. A.)

Der umfangreich überlieferte Briefwechsel
des Augsburger Kaufmanns Hans Fugger
liefert Einblicke in die individuelle Erfahrung
von Krankheit in der Frühen Neuzeit. Thema-
tisiert werden in der Korrespondenz unter
anderem Entstehung und Behandlung von
Krankheit sowie die richtige Lebensführung.       Arzt – ein krank machender Beruf?
Beispielsweise wird immer wieder das rich-        Leitbilder – Selbstbilder – Fremdbil-
tige Maß beim Weingenuss diskutiert. Ande-        der 1870-1990 (Bearbeiter: Sebasti-
re Therapiemaßnahmen wie die Badefahrt            an Wenger, M. A.)
lassen sich als regelmäßige Unternehmung
bei Fuggers Familie, den Briefpartnern und        Bereits in der Frühen Neuzeit erregten die
dritten Personen aus Adel und Patriziat           Arbeitsbedingungen von Ärzten und deren
nachweisen. Ergänzend herangezogene               Auswirkungen auf die Gesundheit dieser
Quellen wie Kaufmannsbriefwechsel und             Personengruppe Aufmerksamkeit. Anfäng-
-tagebücher bestätigen diese Eindrücke.           lich von einem guten Gesundheitszustand
Neben solchen aufwendigen und kosten-             der Ärzte ausgehend, wurde in der Folgezeit
intensiven Behandlungen finden sich in den        immer wieder die krank machende Kompo-
Quellen auch Hinweise auf ‚kleine‘ Praktiken      nente des Berufes betont und der Arzt als
wie die Nutzung von Zahnstochern im Rah-          „Opfer“ seiner Profession dargestellt. Die
men der Hygiene. Waren alle Bemühungen            Ärzteschaft sah sich im Zuge der eigenen
um den Erhalt der Gesundheit umsonst und          Professionalisierung und der Medikalisie-
es kam zum Todesfall, erlosch das Interesse       rung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert
an der Krankheitsursache keineswegs. Ange-        mit weitreichenden Veränderungen konfron-
hörige konnten Arzt und Bader oder Chirurg        tiert. Durch die Einführung der gesetzlichen
mit der Privatsektion beauftragen, was in         Krankenversicherung 1883 stieg nicht nur
der Forschung bislang kaum Interesse fand.        die Zahl der zu versorgenden Patienten.
                                                  Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis wandel-
                                                  te sich durch das Hinzutreten einer dritten
                                                  Instanz, der Krankenkasse. Im Zuge der
                                                                                                                         13
Blutzuckermessgerä-
     te, Foto: Aaron Pfaff

     Sozialgeschichte
     der Medizin

                             Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzie-      Die Entwicklung der Medizintechnik
                             rung der Medizin wuchs zudem die Zahl der       zur medizinischen Selbsthilfe bei
                             ärztlichen Fachdisziplinen und damit auch       Diabetes mellitus (Bearbeiter:
                             die Rivalität innerhalb des Berufsstandes.      Aaron Pfaff, M. A.)
                             Der Konkurrenzkampf mit nichtärztlichen
                             Heilberufen um Patienten, Prestige und Deu-     Im Mittelpunkt des Dissertationsprojektes
                             tungshoheit im medizinischen Diskurs setzte     steht die Entwicklung medizintechnischer
                             sich ebenfalls fort. In diesem Zusammen-        Instrumente zur Diagnose und Therapie im
                             hang manifestierten sich innerhalb des Ärz-     Bereich der Volkskrankheit Diabetes melli-
                             testandes im ausgehenden 19. Jahrhundert        tus von 1950 bis 1990. Zentrales Erkennt-
                             Leitbilder von Leistungsfähigkeit und Aufop-    nisinteresse sind dabei die Verlagerung von
                             ferungsbereitschaft, die zentrale Elemente      Kompetenzen und Verantwortung von der
                             des ärztlichen Habitus darstellten. Letzterer   Arzt- zur Patientenseite sowie die damit
                             erweist sich innerhalb des Untersuchungs-       einhergehenden Veränderungen in den Ak-
                             zeitraums als außerordentlich stabil und        teursbeziehungen. Dies betrifft insbesonde-
                             wirkt sich bis heute auf das Gesundheits-       re die zunehmende Messung verschiedener
                             und Krankheitsverhalten der Ärzte aus. Das      Stoffwechselparameter (Harn- und Blut-
                             für dieses Dissertationsvorhaben verwende-      zucker, Ketone) und die Interpretation der
                             te Quellenmaterial setzt sich aus ärztlichen    gewonnenen Ergebnisse. Für die im Untersu-
                             Selbstzeugnissen, gedruckten Morbiditäts-       chungszeitraum stattfindende nutzerorien-
                             und Mortalitätsstatistiken von Ärzten sowie     tierte Technisierung spielen die komplexen
                             Artikeln aus Standeszeitschriften, wie etwa     Aushandlungsprozesse zwischen den betei-
                             dem „Deutschen Ärzteblatt“, zusammen.           ligten Akteuren (Fach- und Laienverbände,
                             Hinzu kommen Protokolle der Vorstandssit-       Pharma- und Medizintechnikunternehmen,
                             zungen der Landesärztekammern Hamburg,          staatliche Institutionen) eine tragende Rol-
                             Hessen und Westfalen-Lippe sowie Unter-         le. So muss von der ersten Projektstudie
                             lagen zu Studienplänen, Arbeitszeiten und       bis zur Einführung eines Produkts bzw.
                             Arbeitsbedingungen aus den Bundesarchi-         Verfahrens eine ganze Reihe von sozialen,
                             ven Koblenz und Berlin-Lichterfelde, dem        politischen und ökonomischen Fragen ver-
                             Landesarchiv Baden-Württemberg und dem          handelt werden. Am Ende dieser Prozesse
                             Stadtarchiv Stuttgart.                          stehen leichter handhabbare Geräte, welche
14
dem Patienten eine eigenverantwortlichere       und Sprache unter semantischen (Zeichen +       Sozialgeschichte
Rolle bei der Behandlung seiner Krankheit       Bedeutung) und pragmatischen (Zeichen +         der Medizin
ermöglichen, ohne dabei jedoch das Primat       Benutzer) Gesichtspunkten anhand von his-
ärztlicher Expertise zu bestreiten. In den      torischen, größtenteils ungedruckten Quel-
Fokus der Therapie geraten zunehmend            len ein wenig zu beleuchten.
ökonomische Fragestellungen. So geht eine       Im Gegensatz zum Fachmann drückt der
erhöhte Messfrequenz unmittelbar mit ei-        medizinische Laie seine Krankheitserfahrung
nem steigenden Verbrauch der notwendigen        ganz allgemein aus, was nicht ausschließt,
Einwegmaterialien (v. a. Teststreifen, Stech-   dass ein gewisses Differenzierungsvermö-
hilfen, Spritzen) einher, woraus zusätzliche    gen durchaus vorhanden ist und eine be-
finanzielle Belastungen für Patienten und       stimmte Tiefenschärfe zweifellos erreicht
Gesundheitssystem folgen.                       werden kann. Dass lebensweltliches Wissen
                                                und seine volkssprachliche Vermittlung nicht
Sprache und Patientenwissen in der              in jedem Fall durch die Existenz eines akade-
Frühen Neuzeit (Bearbeiter:                     misch tradierten Fachwissens disqualifiziert
Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte)               werden, belegen die diversen Versuche des
                                                Rücktransfers wissenschaftlichen Wissens
Medizinhistoriker und Germanisten ha-           in die Praxiszusammenhänge der Lebens-
ben sich bislang fast ausschließlich unter      welt. Am Beispiel eines in lateinischer
philologischen Aspekten mit der deutsch-        Sprache geschriebenen Vademecums des
sprachigen medizinischen Fachprosa des          niederrheinischen Arztes Hubertus Holtze-
späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit      mius aus den Jahren 1578/79 soll gezeigt
beschäftigt. Was über die Beziehung zwi-        werden, wie sich ein praktischer Arzt im 16.
schen Wörtern und Sachen hinausgeht, ist        Jahrhundert bemüht, die Sprache seiner
dagegen so gut wie nicht erforscht worden.      Patienten zu sprechen.
Dazu gehören die verschiedenen Bereiche
der Lehre vom Zeichen (Semiotik), nämlich       Körpererfahrung von jüdischen Sol-
Syntax, Semantik und Pragmatik. Außer der       daten im Deutschen Reich, in der
anregenden Studie von Dietlinde Goltz und       Habsburgermonarchie und in Russ-
einigen wenigen neueren Arbeiten gibt es        land ca. 1815-1918 (Bearbeiter:
kaum methodologisch richtungsweisende           Oleksiy Salivon, M. A.)
Beiträge zur sprachlichen Interpretation all-
täglicher Krankheitserfahrung in der Vormo-     Im Mittelpunkt des Dissertationsprojekts
derne. Es soll daher der Versuch unternom-      stehen die Körpererfahrungen jüdischer
men werden, das Verhältnis von Krankheit        Soldaten aus Zentral- und Osteuropa im 19.
                                                                                                                   15
                                                und im frühen 20. Jahrhundert. Mit der Ein-
Israel Meir Kagan:
     „Machaneh, Israel“
     (1881)

     Sozialgeschichte                                     führung des       chaneh Israel“ von Chafetz Chajim etc.) her-
     der Medizin                                          Militärdiensts    angezogen, die Aufschluss über Körperer-
                                                          für die jüdi-     fahrungen der strenggläubigen jüdischen
                                                          sche Bevölke-     Soldaten und Rekruten geben.
                                                          rung im Deut-
                                                          schen Reich,
     Tagungen                                                               Tagungen
                          in Österreich-Ungarn und dem Zarenreich
                          wandelte sich nicht nur die gesellschaftli-
                          che Lage der jüdischen Männer in der vor-         Sektion auf dem Historikertag in
                          wiegend christlichen Umgebung, sondern            Münster
                          auch die zeitgenössischen Vorstellungen
                          über den männlichen Körper entwickelten           Es ist seit Jahren ein Anliegen des IGM, den
                          sich, indem neue Männlichkeitsnormen und          Austausch zwischen Geschichtswissenschaf-
                          -ideale geschaffen wurden. Der überlieferte       ten und Medizingeschichte zu verstärken.
                          Briefwechsel von jüdischen Soldaten mit           Dazu sind die Historikertage ein besonders
                          ihren Familien und Freunden, Kriegstagebü-        geeignetes Forum. Bei diesem größten geis-
                          cher, zeitgenössische jüdische Presse und         teswissenschaftlichen Kongress Europas
                          Literatur liefern Einblicke in die individuelle   treffen Fachhistoriker und Geschichtslehrer
                          Erfahrung jüdischer Männer in diesem Zeit-        in großer Zahl zusammen, so dass auch die
                          raum. Die herangezogenen Quellen präsen-          Hoffnung besteht, dass die Themen nicht
                          tieren nicht nur die Entwicklung von neuen        nur von den Lehrenden selbst, sondern auch
                          Normen, sondern auch die Tradierung von           von den Verantwortlichen für die Lehrerbil-
                          Stereotypen und Vorurteilen. Die Idee, dass       dung wahrgenommen werden.
                          die jüdischen Körper fremde Körper oder im        Prof. Dr. Martin Dinges organisierte bei
                          Extremfall die Körper einer anderen Rasse         der Veranstaltung im September 2018 in
                          seien, wurde sowohl von der jüdischen als         Münster eine Sektion unter dem Thema „Un-
                          auch von der nichtjüdischen Wissenschaft          gleiche Gesundheitschancen – trotz offener
                          und Gesellschaft geteilt bzw. bestritten. Im      Gesellschaften? (1949-2018)“.
                          Laufe des 19. Jahrhunderts entstand der           Der gesellschaftliche Zusammenhalt west-
                          Rassendiskurs in Europa parallel zur jüdi-        europäischer (Industrie-)Gesellschaften war
                          schen Emanzipation und erzwang eine Dis-          seit dem 19. Jahrhundert auch auf das Ver-
                          kussion über mögliche Anpassungen an die          sprechen gegründet, die Armutsrisiken abzu-
                          europäischen bürgerlichen Körpernormen.           federn, die v. a. durch Krankheiten, Arbeits-
                          Ergänzend werden ausgewählte religiöse            unfälle oder Behinderungen verursacht wa-
                          jüdische Quellen (Rabbinerpredigten, „Ma-         ren. Insbesondere während der Wachstums-
16
phase der 1960er und 1970er Jahre wurden      tung verlagerte. Jenseits der ideologischen     Sozialgeschichte
immer mehr gesundheitliche Risiken durch      Vorgaben wurden in der Gesundheitsauf-          der Medizin
Kranken- und Sozialversicherung aufgefan-     klärung der DDR und der BRD vielfach sehr
gen. Spätestens seit dem Regierungswech-      ähnliche Wege beschritten. Dabei wirkte
sel 1982 und noch einmal verstärkt durch      sich das gemeinsame historische Erbe der
die Reformen der „Agenda 2010“ schwand        beiden deutschen Staaten noch lange nach
jedoch der gesellschaftliche Konsens über     dem Ende des Weltkriegs aus. Martin Din-
die Aufgaben und Reichweite des Sozialstaa-   ges ging der unterschiedlichen Lebenser-
tes. Insofern ist gesundheitliche Ungleich-   wartung von Männern und Frauen während
heit, so Martin Dinges (Mannheim/Stuttgart)   der letzten vier Jahrzehnte nach. In diesem
in seiner Einführung, eine grundlegende       Zeitraum gewann das Verhalten einen immer
Dimension gesellschaftlicher Spaltungen.      größeren Einfluss auf die Entwicklung des
Anhand der Kategorien Staatsangehörigkeit,    Gendergaps. Seit den 1980er Jahren wurde
Geschlecht, „Klasse“, Migration und „Behin-   der damals noch über sechsjährige „Vor-
derung“ wurden die spezifischen Wirkungen     sprung“ der Frauen immer kleiner. In histori-
gesundheitlicher Ungleichheit auf fünf so-    scher Perspektive und bis in die Gegenwart
zialpolitisch adressierte Gruppen aus dem     hinein, so seine These, seien die sozialen
deutschsprachigen Raum in den Vorträgen       Lagen bedeutsamer für die Lebenserwar-
analysiert. Pierre Pfütsch (Stuttgart) und    tungsunterschiede als die Kategorie Gender.
Stefan Offermann (Leipzig) untersuchten die   Trotzdem sei ein Wandel des Gesundheits-
Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen     verhaltens eines großen Teils der Männer
Staaten zwischen 1949 und 1990. Innerhalb     aus den Gesundheitssurveys ablesbar. Nina
der Systemkonkurrenz von BRD und DDR          Kleinöder (Marburg) griff die gesundheitli-
verfolgten die Gesundheitsaufklärer ähnli-    chen Ungleichheiten zwischen Arbeiter- und
che Leitvorstellungen vom „guten Bürger“.     Angestelltenmilieus auf. Fragen nach den
Der ausgewählte Themenkomplex Ernährung       Zusammenhängen von Gesundheit und
und Fitness ermöglichte den Referenten        Erwerbstätigkeit sind allerdings hochkom-
zufolge, die am Körper selbst gut ablesbare   plex: Unfälle wirken sich anders aus als
Fähigkeit zur Selbstführung zu verfolgen.     dauerhafte Belastungen, werden ebenso
Pfütsch und Offermann verdeutlichten, dass    wie psychische und physische Erkrankungen
die gesundheitsaufklärerische Ansprache       unterschiedlich bewertet, und außerdem
der Zielgruppen sich sowohl in der BRD als    lassen sich direkte oder indirekte Folgen
auch in der DDR in den 1960er und 1970er      der Tätigkeiten oft schwer entwirren. Für
Jahren weg von autoritären Drohkulissen hin   die 1950er und 1960er Jahre zeigte Klein-
zur Selbstaktivierung und Eigenverantwor-     öder zu Berufskrankheiten, wie massiv sich
                                                                                                                 17
Sozialgeschichte   leichtere (Neu-)Anerkennungen von Krank-        selbst versicherten Personen umfangreich
     der Medizin        heiten wie etwa der Silikose und umgekehrt      geholfen wurde.
                        später effektivere Schutzmaßnahmen gegen        Insgesamt diente die Sektion dazu, die Be-
                        Arbeitsunfälle und viele Berufskrankheiten      deutung einzelner Kategorien bei der Entste-
                        auswirken konnten. Andreas Weigl (Wien)         hung gesundheitlicher Ungleichheit stärker
                        analysierte die gesundheitlichen Auswir-        herauszuarbeiten, ohne sie allerdings als
                        kungen von Migration auf Gesundheit und         isolierte Faktoren zu betrachten. Eine aus-
                        Lebenserwartung von „Gastarbeitern“ in          führlichere Version der Vorträge wird 2020
                        Österreich seit ca. 1970 bis zum Jahr 2000.     in der Zeitschrift „Medizin, Gesellschaft und
                        Anhand von aktuellen Befragungen zeigte         Geschichte“ veröffentlicht. Ein Bericht von
                        Weigl, dass psychosoziale Erkrankungen auf-     Jens Gründler erschien am 14.12.2018 auf
                        grund komplexer Unsicherheitsverhältnisse       H-Soz-Kult: http://www.hsozkult.de/confe-
                        in der Gruppe der Arbeitsmigranten wesent-      rencereport/id/tagungsberichte-8026.
                        lich häufiger vorkamen als in der autochtho-
                        nen Bevölkerung. Zum anderen fanden sich        Sozialgeschichte des Gesundheits-
                        in den Untersuchungen hohe Korrelationen        wesens der DDR: Reflexionen über
                        zwischen Bildung und Einkommen und dem          Organisation, Politik und Akteure in
                        daraus resultierenden Gesundheitsverhalten      der sozialistischen Gesundheitsver-
                        bzw. höheren Belastungen durch körperlich       sorgung
                        stärker belastende Arbeitsverhältnisse.
                        Gabriele Lingelbach (Kiel) griff die Entwick-   Vom 9. bis 10. Juli 2018 fand im IGM eine
                        lung der Gesundheitsfürsorge für Menschen       Tagung zur „Sozialgeschichte des Gesund-
                        mit Behinderung auf. Sie unterstrich die        heitswesens der DDR“ statt. Bewusst
                        gruppeninternen Ausdifferenzierungen. In        wurden viele Nachwuchswissenschaftler
                        der Frühphase der BRD gab es nur eine rudi-     eingeladen, welche in der Diskussion mit
                        mentäre Basisversorgung, die den „behinde-      den zwei anwesenden Experten, Winfried
                        rungsbedingten Mehraufwand“ der Betroffe-       Süß und Wolfgang U. Eckart, neue Wege in
                        nen lediglich im Fall von Arbeitsunfallopfern   der Sozial- und Medizingeschichte zum Ge-
                        berücksichtigte. In der zweiten Phase, die      sundheitswesen in der ehemaligen DDR er-
                        Lingelbach mit dem 1957 verabschiedeten         kundeten. Es war das Ziel, Ostdeutschland
                        Körperbehindertengesetz beginnen lässt,         nicht als singuläres Phänomen zu untersu-
                        beschleunigte sich der Ausbau der Fürsorge.     chen, sondern als Produkt von Traditionen,
                        Erst in den folgenden Jahren fand eine Ab-      Kontinuitäten, Brüchen und Entwicklungen
                        kehr vom Primat der Erwerbsarbeit und dem       zu betrachten, die sich oftmals bis ins 19.
                        „Kausalprinzip“ statt, so dass auch nicht       Jahrhundert zurückdatieren lassen. Für die
18
Teilnehmer der
                                                                                               Tagung „Sozialge-
                                                                                               schichte des Gesund-
                                                                                               heitswesens der
                                                                                               DDR“

                                                                          Zum Abschluss hat    Sozialgeschichte
                                                                          Pierre Pfütsch die   der Medizin
                                                                          Professionalisie-
Medizingeschichte der DDR bedeutet dies,
                                                rung der Krankentransporteure in der DDR
dass Mentalitäten, Konzepte, Gesetze und
                                                auch im Vergleich zur Entwicklung in der
(medizinische als auch soziale) Behandlungs-
                                                BRD analysiert.
praktiken nicht nur Erfindungen des sozialis-
                                                In der dritten Sektion befassten sich Chris-
tischen Staates nach 1945 waren, sondern
                                                tian Sammer und Stefan Offermann mit
im Gegenteil einen oftmals bewussten Rück-
                                                dem Thema der gesundheitlichen Erziehung
griff auf mehr oder weniger bewährte Ansät-
                                                und Aufklärung. Als Beispiel diskutierte
ze der Vergangenheit darstellten. Dies gilt
                                                Sammer die Ausstellungskonzeptionen des
nicht nur für die staatliche Ebene, sondern
                                                Deutschen Hygiene-Museums in Dresden als
findet sich auch im Lokalen wieder.
                                                tragende Institution bei der Herstellung von
Daher war es nur konsequent, dass die erste
                                                Aufklärungsmaterial. Offermann widmete
Sektion sich mit einem oftmals in der For-
                                                sich konkret der Prävention von Herz-Kreis-
schung unterrepräsentierten Akteur befass-
                                                lauf-Erkrankungen durch Warnungen vor zu
te: dem Patienten. Neben der Präsentation
                                                langem Sitzen vor dem Fernsehbildschirm.
von Erfahrungen von Alkoholkranken im
                                                Er zeigte auf, wie die DDR mit kurzen Video-
Betrieb durch Markus Wahl diskutierte Anja
                                                clips versuchte, die Bürger zu gesundem
Werner in ihrem Vortrag den Umgang mit
                                                Fernsehkonsum und möglichst viel Bewe-
hörgeschädigten Patienten in der DDR. Eine
                                                gung zu animieren.
weitere Perspektive hat Florian Bruns mit
                                                Die letzte Sektion widmete sich dem spe-
der Analyse von Eingaben an die staatlichen
                                                ziellen Thema der Therapie und Betreuung
Stellen in Bezug auf das Gesundheitswesen
                                                von psychischen Erkrankungen in der DDR.
beleuchtet und ist der Frage nach den Ein-
                                                Christine Hartig erläuterte im Hinblick auf
flussmöglichkeiten einzelner Bürger auf die
                                                die Studien zu den pharmazeutischen Tests
medizinische Behandlung nachgegangen.
                                                westlicher Firmen in der DDR den speziellen
Die zweite Sektion widmete sich verschie-
                                                Fall der Erprobung eines Antidepressivums
denen anderen Akteuren im Gesundheitswe-
                                                an der Universitätsklinik Jena in den 1980er
sen, wie zum Beispiel den medizinisch-wis-
                                                Jahren. Danach stellte Livia Bremmel erste
senschaftlichen Gesellschaften in der DDR,
                                                Ergebnisse ihrer Dissertation zu den psy-
deren Grad an Autonomie Steffen Dörre
                                                chischen Erkrankungen bei Soldaten und
diskutierte. Christian König ging in seinem
                                                Heimkehrern nach dem Zweiten Weltkrieg
Vortrag auf die unterschiedlichen Akteure
                                                und dem Umgang damit in der SBZ und DDR
ein, welche die „Wunschkindpille“ und deren
                                                vor. Annette Baum schloss an dieses Thema
Einführung in der DDR ermöglicht haben.                                                                               19
Teilnehmer des
     Workshops „Juden-
     tum und Krankheit“
     in Zürich

     Sozialgeschichte     mit ihrem Vortrag an und berichtete über         dem Judentum in Verbindung gebracht wird:
     der Medizin          die Unterstützung von Wehrdienstpflichtigen      die bereits in der Bibel mehrfach erwähnte
                          beim Berliner Jungmännerwerk durch psy-          Lepra. Die Erforschung der sogenannten
                          chosoziale Beratung.                             ,Judenkrankheit‘ hatte vor allem im 19.
                          Allein die besprochenen Beiträge und die         Jahrhundert Konjunktur, als sich Rassenbio-
                          Diskussionen auf dieser Tagung beweisen,         logen dieses Themas annahmen, wie Klaus
                          dass es für die Sozialgeschichte der Medizin     Hödl (Graz) am Beispiel der Tuberkulose
                          in der DDR viele wichtige Themenfelder gibt,     aufzeigte. Eine weitere Krankheit, die man
                          deren Aufarbeitung noch aussteht.                häufig Juden zuschrieb, war der Diabetes,
                                                                           wie Robert Jütte (Stuttgart) in seinem medi-
                          Workshop „Judentum und Krank-                    zin- und sozialhistorischen Referat ausführ-
                          heit“ in Zürich                                  te. Christina Vanja (Kassel) referierte über
                                                                           Juden und psychiatrische Erkrankungen
                          Im Rahmen seiner Gastprofessur „Wissen-          und machte deutlich, wie gerade bestimmte
                          schaft und Judentum“ an der ETH Zürich           Formen psychiatrischer Erkrankungen mit
                          organisierte Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte    der jüdischen Lebensweise assoziiert wur-
                          zusammen mit Prof. Dr. Andreas Kilcher,          den. Ylva Söderfeldt (Uppsala) lenkte den
                          Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissen-       Blick auf die Geschichte einer doppelten
                          schaft an der ETH, eine Tagung zu „Juden-        Minderheit, nämlich den jüdischen Gehörlo-
                          tum und Krankheit“, die von Dr. Christiane       sen in Deutschland im Zeitraum 1800-1933.
                          und Dr. Nicolaus-Jürgen Weickart sowie der       Florian Mildenberger (Frankfurt/Oder)
                          Adolf und Mary Mil-Stiftung finanziert wur-      sprach über „Homosexualität, Krankheit und
                          de. Das Thema ist durchaus aktuell, nicht        Judentum“ und ging dabei vor allem auf die
                          nur im Hinblick auf einige genetische Erkran-    Pionierarbeiten von Magnus Hirschfeld ein.
                          kungen, von denen Juden besonders häufig         Andreas Kilcher (Zürich) zeigte in seinem
                          betroffen sind. Bis heute hält sich zudem        Vortrag („Der kranke Mann der Diaspora.
                          hartnäckig die Vorstellung, dass Juden häu-      Zionistische Pathologie der Galuth“) auf, wie
                          figer an bestimmten Krankheiten leiden und       Krankheit auch als literarisch-politische Me-
                          damit zu deren Verbreitung beitragen, wenn       tapher im zionistischen Diskurs verwendet
                          diese infektiös sind. Eberhard Wolff (Basel/     werden konnte. Anat Feinberg (Heidelberg)
                          Zürich) beleuchtete in seinem Beitrag „,Ju-      präsentierte eine hebräischsprachige Idylle
                          denkrankheit‘ – eine systematische Begriffs-     des Dichters und Arztes Saul Tschernikows-
                          geschichte“ die Semantik dieses Begriffs         ky, die zahlreiche Bezüge zur jüdisch-christ-
                          aus dem Blickwinkel der empirischen Kultur-      lichen Volksmedizin enthält.
                          wissenschaft. Kay Peter Jankrift (Münster)
20
                          stellte die Krankheit vor, die am längsten mit
„Rote Fahne“ vom
                                                                                              8.9.1925, Foto:
                                                                                              Bundesarchiv

Prävention (Ansprechpartner:                                                                  Sozialgeschichte
                                                                                              der Medizin
Dr. Pierre Pfütsch)
                                                                                              Prävention
Prävention ist weiterhin ein wichtiges In-
strument, um den steigenden Gesundheits-
kosten und den Folgen der Alterung der
Bevölkerung gegenzusteuern. Das heute
den meisten gesundheitspolitischen Maß-
nahmen zugrundeliegende Konzept der
Gesundheitsförderung wurde 1986 von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf          einhergehenden tiefgreifenden sozialen
der ersten internationalen Konferenz zur       Strukturveränderungen wandelte sich die
Gesundheitsförderung in Ottawa entwickelt      Frauenerwerbstätigkeit zu Beginn des 20.
und in der sogenannten Ottawa-Charta zu-       Jahrhunderts in Deutschland grundlegend;
sammengefasst. Gesundheitsfördernde und        so betrug die Frauenerwerbsquote 1907
auch präventive Maßnahmen haben eine           bereits rund 30 Prozent – ein Anteil, der
lange Vorgeschichte. Die am IGM laufenden      sich mit Ausnahme der Kriegszeiten bis weit
Forschungsprojekte haben nicht nur einen       in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
zeithistorischen Fokus, sondern nehmen         hielt. Frauen mussten ab diesem Zeitpunkt
auch die Frühe Neuzeit mit in den Blick.       als ernstzunehmende Akteure auf dem Ar-
                                               beitsmarkt wahrgenommen werden. Durch
                                               ihre Erwerbstätigkeit war ihre Gesundheit in
Forschungsprojekte                                                                            Forschungsprojekte
                                               einer anderen Art und Weise gefährdet als
                                               zuvor, was zu einer politischen Relevanz des
Gesundheit und Krankheit erwerbs-
                                               Themas führte. Im Zentrum der Analyse ste-
tätiger Frauen in Deutschland in der
                                               hen die Erwerbsfähigkeit bzw. -unfähigkeit
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
                                               aufgrund von (arbeitsbedingter) Krankheit
(Bearbeiterin: Bianca Morlock, M. A.)
                                               sowie die Gesundheitsfürsorge zur Verhü-
                                               tung bzw. Behandlung von Krankheiten.
Ziel des Dissertationsprojekts ist es, einen
                                               Ausgehend von den Arbeitsverhältnissen der
Beitrag zum Verständnis von Gesundheit
                                               erwerbstätigen Frauen werden die Formen
und Krankheit erwerbstätiger Frauen in
                                               und Wirkungen der betrieblichen und staat-
Deutschland im Verlauf der ersten Hälf-
                                               lichen Sozialpolitik/-arbeit sowie ihre Um-
te des 20. Jahrhunderts zu leisten. Be-
                                               setzung im Arbeitsalltag/in der Lebenswirk-
dingt durch die mit der Industrialisierung                                                                         21
Manuskript Knorr,
     Foto: Carlos Watzka

     Sozialgeschichte                                                     heit in der ‚geistlichen Medizin‘ katholischer
     der Medizin                                                          Ausprägung in der Frühen Neuzeit. Der Blick
                                                                          richtet sich dabei insbesondere auf deren
                                                                          Widerspiegelung in der medizinischen Pra-
                                                                          xis. Als Quellen dienen: 1) religiöse Literatur
                                                                          allgemeiner und moraltheologischer Ausrich-
                                                                          tung: Katechismen, Handbücher für Priester,
                                                                          Predigten, Trauerreden, Gebets-, Andachts-
                           lichkeit untersucht. In welchem Umfang die
                                                                          und Hausbücher, geistliche Lieder und
                           Themen Gesundheit und Krankheit von Ar-
                                                                          Schauspiele; 2) spezifisch diätetisch orien-
                           beitgeberseite thematisiert wurden und wel-
                                                                          tierte Literatur: Seelenführer, Seelenspiegel;
                           che präventiven Strategien gegen mögliche
                                                                          Seelsorge- und Seelentrost-Literatur (allge-
                           Risikofaktoren und gesundheitsgefährdende
                                                                          meine und spezielle für die Krankenseelsor-
                           Umstände ausgearbeitet wurden, sind für
                                                                          ge); religiöse Ehe- und Haushaltsratgeber;
                           diese Arbeit maßgebliche Fragen. Im Fokus
                                                                          3) Mirakelliteratur; 4) Andachts- und Wall-
                           stehen Arbeiterinnen im Industriesektor und
                                                                          fahrtsbilder; Gebetszettel; Sachquellen aus
                           im Büro beschäftigte weibliche Angestellte.
                                                                          dem religiös-magischen Übergangsbereich;
                           Da diese Frauengruppen mit ungleichen
                                                                          5) kirchenamtliche Erlässe, Bekanntmachun-
                           physischen und psychischen Belastungen
                                                                          gen und Korrespondenzen von Bischöfen,
                           konfrontiert waren, welche sich verschieden
                                                                          Welt- und Ordensklerus; 6) seelsorge- und
                           auf ihre Gesundheit auswirkten, wird eine
                                                                          gesundheitsbezogene Akten weltlicher
                           Trennung nach Erwerbsarten angestrebt, um
                                                                          Behörden. Im Berichtsjahr wurde das Ma-
                           im Verlauf der Untersuchung mit Hilfe von
                                                                          nuskript weitgehend abgeschlossen. Eine
                           Vergleichen die Aussagekraft der Analyse zu
                                                                          Publikation der Ergebnisse ist als Beiheft
                           erhöhen.
                                                                          zur Zeitschrift „Medizin, Gesellschaft und
                                                                          Geschichte“ im Sommer 2019 vorgesehen.
                           Die Bedeutung diätetischer Affekt-
                           Konzepte in Praktiken der „geist-
                                                                          Eltern, Kinder und Jugendliche als
                           lichen Medizin“ (Bearbeiter:
                                                                          Adressaten von geschlechtsspezifi-
                           PD Dr. Carlos Watzka)
                                                                          scher Gesundheitsaufklärung und
                                                                          Prävention von ca. 1900 bis 2000
                           Im Fokus dieses 2016 begonnenen Postdoc-
                                                                          (Bearbeiterin: Dr. Kristina Matron)
                           Projekts steht die Bedeutung von Emotionen
                           – zeitgenössisch v. a. als „passiones“ bzw.
                                                                          In diesem 2017 begonnenen Projekt steht
                           „affectus“ bezeichnet – für Konzepte der Er-
                                                                          die Auswertung von Ratgeberliteratur, die
22                         haltung und Wiederherstellung von Gesund-
                                                                          sich an Eltern, Kinder und Jugendliche
Anna Fischer-Dückel-
                                                                                                mann: „Die Frau als
                                                                                                Hausärztin“ (1901)

                                                Erste Ergebnisse zeigen, dass es sowohl bei     Sozialgeschichte
                                                der Adressierung als auch bei den Inhalten      der Medizin
                                                eine geschlechtsspezifische Komponente
                                                gab. Mütter oder Mädchen wurden häufiger
                                                angesprochen als Väter oder Jungen. Eine
                                                explizit geschlechtsspezifische Ansprache
                                                erfolgte aber im Bereich Drogen erst in
                                                allerjüngster Vergangenheit. Im Vergleich
                                                der Literatur von BRD und DDR zeigt sich,
                                                dass beide Systeme seit den 1960er Jah-
                                                ren verstärkt auf das „präventive Selbst“
                                                in der Bekämpfung von Gesundheitsrisiken
                                                setzten, dies jedoch mit unterschiedlicher
wandte und auf deren Gesundheitsverhal-
                                                Begründung.
ten zielte, im Mittelpunkt. Zunächst wur-
den über 250 Ratgeber in eine Datenbank
eingegeben, um sie nach Autorenschaft,          Tagung                                          Tagung
Zielgruppe und Themenfeldern ordnen zu
können. Daraus haben sich zwei Teilprojekte
                                                Gedenkveranstaltung „Ignaz Sem-
ergeben, für die nun ausgewählte Ratgeber
                                                melweis und die Hygiene in der Ge-
genauer analysiert werden. Es sollen dar-
                                                burtshilfe“
aus zwei in sich abgeschlossene Aufsätze
entstehen. Eines der Teilprojekte betrifft
                                                Gemeinsam mit dem Ungarischen Kulturin-
die Ratgeberliteratur für Eltern und umfasst
                                                stitut in Stuttgart veranstaltete das IGM im
einen großen Zeitraum von ca. 1900 bis
                                                Oktober eine Gedenkveranstaltung zum 200.
2000. Das Projekt wird die Themenfelder
                                                Geburtstag von Ignaz Semmelweis (1818-
Suchtgefahren, Ernährung und Bewegung,
                                                1865), dem „Retter der Mütter“ und Pionier
Verhalten und Familienleben genauer in den
                                                auf dem Gebiet der Hygiene in der Geburts-
Blick nehmen. Das zweite Teilprojekt legt
                                                hilfe. Über die Semmelweis-Rezeption in
den Fokus auf Jugendliche als Adressaten
                                                Ungarn referierte Prof. Dr. Benedek Varga,
von geschlechtsspezifischer (Gesundheits-)
                                                Direktor des Ungarischen Nationalmuseums
Aufklärung seit der Nachkriegszeit, bezogen
                                                und früherer Leiter des Semmelweis-Muse-
auf die Themenfelder Sexualität, Entwick-
                                                ums in Budapest. Dr. Lilla Krász von der Eöt-
lung, Drogen, Ernährung und Bewegung. Im
                                                vös-Loránd-Universität in Budapest stellte in
letzteren Teilprojekt soll auch Ratgeberlite-
                                                ihrem Vortrag die Geburtshilfe in Ungarn vor
ratur aus der DDR Berücksichtigung finden.                                                                             23
Bekanntmachung der
     Württembergischen
     Ärztekammer (1932),
     Foto: Aaron Pfaff

     Sozialgeschichte      der Ära Semmelweis dar. Prof. Dr. Jürgen        Hierbei interessiert auch, welche Hindernis-
     der Medizin           Schlumbohm arbeitete in seinem Kurzvor-         se dabei überwunden wurden, mit welchen
                           trag die Medikalisierung der Geburt vor dem     anderen Berufsgruppen es zu Konkurrenz-
                           Hintergrund der hohen Müttersterblichkeit       situationen kam und welchen Einfluss ge-
                           heraus. Dr. Marina Hilber von der Universi-     sellschaftliche Rahmenbedingungen auf die
                           tät Innsbruck berichtete, wie Semmelweis’       Ausübung der Berufe hatten. Auch werden
                           Hygiene-Konzept im österreichischen Teil        Auswirkungen des Professionalisierungspro-
                           der k. u. k. Monarchie rezipiert und in die     zesses auf die Ärzteschaft untersucht, ohne
                           Praxis übernommen wurde. Die Einführung         deren traditionelle Standesgeschichte zu
                           und Moderation lag in den Händen von Prof.      bedienen.
                           Dr. Dr. h. c. Robert Jütte.

                                                                           Forschungsprojekte
     Geschichte der        Geschichte der Gesundheits-
     Gesundheits-
     berufe                berufe (Ansprechpartner:                        Geschichte der Ärzteschaft auf dem
                                                                           Gebiet des heutigen Bundeslandes
                           Dr. Pierre Pfütsch)
                                                                           Baden-Württemberg von 1920 bis
                                                                           1960 (Bearbeiter: Aaron Pfaff, M. A.)
     Forschungsprojekte    Nachdem sich am Institut seit vielen Jahren
                           die Pflegegeschichte als fester Bestandteil     Ziel des im März 2018 begonnenen Projekts
                           etabliert hat, wird seit einiger Zeit daneben   ist es, die Geschichte der Ärzteschaft auf
                           auch zur Entwicklung weiterer Gesundheits-      dem Gebiet des heutigen Bundeslandes
                           berufe geforscht. Dies liegt auch im Interes-   Baden-Württemberg von 1920 bis 1960 auf-
                           se solcher Berufsgruppen, denn die in vielen    zuarbeiten. Der Schwerpunkt der Untersu-
                           nichtärztlichen Gesundheitsberufen derzeit      chung liegt dabei auf der NS-Zeit und der In-
                           beginnende Akademisierung bringt einen          tegration der Ärzteschaft in den Parteiappa-
                           Wandel des beruflichen Selbstverständnis-       rat und die NS-Gesundheitspolitik. Zentral
                           ses mit sich, in dem die Auseinandersetzung     ist hier der Themenkomplex Eugenik, wel-
                           mit der eigenen Berufsgeschichte zuneh-         cher sowohl in der Ärzteschaft als auch in
                           mend wichtiger wird. Daher können die am        der bürgerlichen Gesellschaft schon in der
                           IGM durchgeführten Projekte einen Beitrag       Weimarer Republik zunehmendes Interesse
                           zur Herausbildung von Berufsidentitäten         erfuhr. Dies war zunächst kein spezifisch
                           leisten.                                        nationalsozialistisches Thema, sondern wur-
                           Im Zentrum stehen Fragen nach der Entste-       de von allen Parteien des politischen Spek-
                           hung und Weiterentwicklung der Berufe.          trums behandelt. Ebenso wird der Umgang
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der ärztlichen Standesorganisationen mit        Ärztliche Selbstverwaltung in der              Sozialgeschichte
jüdischen bzw. nichtarischen Kollegen ana-      Kaiserzeit 1871-1918 (Sachsen) (Be-            der Medizin
lysiert und auch hinsichtlich der Formen des    arbeiter: Dr. Markus Wahl)
Widerstands betrachtet werden. Der Unter-
suchungszeitraum erstreckt sich dabei über      Im Rahmen des Projektes der Sächsischen
die Zäsur des Zweiten Weltkriegs hinaus, um     Landesärztekammer zur „Entwicklung der
auch die Reorganisation der Ärzteschaft in      ärztlichen Selbstverwaltung in Sachsen“
der Nachkriegszeit im Hinblick auf Brüche       wurde der Teilbereich über die Zeit des Kai-
und Kontinuitäten beleuchten zu können.         serreichs von 1871 bis 1918 bearbeitet. Mit
Diese zeitliche Ausdehnung ermöglicht es,       der Gründung der Ärztekammer im Jahre
darüber hinausgehend sowohl die Entwick-        1872, maßgeblich initiiert durch den Dresd-
lung der ärztlichen Aus- und Weiterbildung      ner Arzt Dr. Hermann Eberhard Friedrich
als auch den Umgang der etablierten Ärzte       Richter, schloss sich Sachsen dem allgemei-
mit dem medizinischen Nachwuchs und der         nen Trend der sich etablierenden Selbstver-
zunehmenden Bedeutung von Ärztinnen in          waltungsformen für Ärzte in den anderen
einem fast vollständig männlich dominierten     Ländern an. In dem Projekt wurden diese
Feld über unterschiedliche politische Syste-    Anfänge erkundet und im Kontext der Ent-
me hinweg zu betrachten.                        wicklungen im Deutschen Reich nach 1871
Als Quellen werden vor allem die Bestände       beleuchtet. Die Artikulation von Standesin-
der Innenministerien im Hauptstaatsarchiv       teressen war eines der wichtigsten Anliegen
Stuttgart bzw. im Generallandesarchiv Karls-    der Zusammenschlüsse von Ärzten, die sich
ruhe, die Akten der Spruchkammerverfahren       in der Ausübung ihres Berufes nicht zuletzt
im Staatsarchiv Ludwigsburg sowie das           durch die neue Gewerbeordnung von 1869
Reichsarztregister und die Kartei der Reichs-   (z. B. die Aufhebung des „Kurpfuscher“-
ärztekammer des ehemaligen Berlin Docu-         Verbotes) bedroht sahen. Jedoch ent-
ment Center, nun im Bundesarchiv Berlin,        brannte schnell ein Streit innerhalb der
herangezogen. Hinzu kommen die Archive          Ärzteschaft über die angestrebte Funktion
der ärztlichen Selbstverwaltung, also Lan-      der Ehrengerichtsbarkeit durch die Kammer
desärztekammern und Bundesärztekammer           als auch über die Formen der Verteidigung
(Bundesarchiv Koblenz) sowie weitere regio-     und Durchsetzung von Standesinteressen.
nale Archive, medizinische Fachzeitschriften    In diesem Kontext wurde der Leipziger Arzt
und Ego-Dokumente.                              Hermann Hartmann aktiv und gründete im
                                                September 1900 den „Schutzverband der
                                                Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer Stan-
                                                desinteressen“ (später: Hartmannbund),
                                                                                                                  25
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