Institutsbericht 2018 - Institut für Geschichte der Medizin der ...
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Inhalt 03 Vorbemerkung 05 Vorwort 07 Sozialgeschichte der Medizin 07 Migration und Gesundheit 09 Männergesundheits- und Patientengeschichte 21 Prävention 24 Geschichte der Gesundheitsberufe 30 Pflegegeschichte 35 Forschungsprojekte und Tagungen außerhalb der Schwerpunkte 38 Geschichte der Homöopathie und des Pluralismus in der Medizin 54 Institutsbibliothek 56 Vortragsreihe 57 Institutskolloquium 57 Stuttgarter Fortbildungsseminar 59 Lehr- und Prüfungstätigkeit 62 Presse- und Öffentlichkeitsarbeit 63 Vorträge 74 Veröffentlichungen 84 Personalia 87 Bildnachweis 87 Impressum 2
Vorbemerkung Das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (im Folgenden: IGM) ist das einzige außeruniversitäre medizinhistorische Forschungsinstitut in der Bundesrepublik Deutschland. Es wur- de 1980 eingerichtet. Ursprünglich dem Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart als medizinhistorische Forschungsstelle zuge- ordnet, verdankte die damalige Abteilung ihre Entstehung dem starken Interesse des Stifters Robert Bosch an der Geschichte des Gesundheitswesens im Allgemeinen und der Homöopathie im Besonderen. Das IGM ist heute hinsichtlich Ausstattung und Aufgabenstellung den medizinhistorischen Einrichtungen an deutschen Hochschulen ähnlich. Die Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Medizin sowie die Geschichte der Homöopathie und des Plura- lismus in der Medizin. 3
Prof. Dr. Dr. h. c. Vorwort Robert Jütte 2018 konnten zwei große Drittmittelprojek- te, die das IGM eingeworben hatte, begon- nen bzw. abgeschlossen werden. Der Auf- trag der Niedersächsischen Landesregierung zur Erforschung der Arzneimittelstudien an Heimkindern aus Niedersachsen in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie zu Impfversuchen an Säuglingen und Kindern in Kliniken dieses Bundeslandes konnte im Berichtszeitraum fristgemäß ab- geschlossen und der Endbericht vorgelegt werden. Die bisherigen Forschungsergeb- nisse trugen dazu bei, dass das zuständige Ministerium beschloss, für 2019 noch wei- zum Teil mit großem Seltenheitswert, erwer- tere Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, ben. Über den Handel kam die umfangreiche um einige zusätzliche Aspekte abschließend homöopathiegeschichtliche Sammlung des zu untersuchen. Schweizer Laienpraktikers Lukas Bruhin zu uns. Als ein großer Glücksfall ist zu be- Nachdem Anfang 2018 der Vertrag mit der zeichnen, dass wir für das Archiv und die Landesärztekammer Baden-Württemberg Bibliothek die Sammlung von Hartwig Egger zur Erforschung der Geschichte der verfass- zur Geschichte der sogenannten Biochemie ten Ärzteschaft in (Baden-)Württemberg im bzw. „Schüßler-Salze“ übernehmen konnten. Zeitraum 1920 bis 1960 geschlossen worden Sie spiegelt Entstehung und Verbreitung war, konnte mit der Archiv- und Literatur- dieser Therapierichtung, die sich aus der recherche begonnen werden. Homöopathie entwickelt hat, exemplarisch Vor allem haben wir uns im Berichtsjahr wider. Damit besitzt das IGM einen für die auch über hochrangigen Besuch aus dem Erforschung der Heilweise nach Schüßler, Ausland gefreut. Im Dezember suchte uns der biochemischen Laienvereinsbewegung eine Delegation des indischen Gesundheits- sowie der Produzenten biochemischer Arz- ministeriums auf, die zuvor im Bundesminis- neimittel nahezu einmaligen und reichen terium für Gesundheit in Berlin über Koope- Quellenfundus. rationsperspektiven in den Bereichen Ayur- veda, Yoga und Homöopathie gesprochen Auch in personeller Hinsicht lässt sich Er- hatte. Im Juni stattete uns der Chemienobel- freuliches berichten. Das gilt nicht nur im preisträger Professor Walter Gilbert, der auf Hinblick auf die akademischen Anerkennun- dem Weg zum Nobelpreisträgertreffen auf gen und Auszeichnungen, die Mitarbeiterin- der Insel Mainau war, einen Besuch ab und nen und Mitarbeiter des IGM im Berichtsjahr ließ sich unter anderem über die Geschichte erfahren haben. Wir durften 2018 auch der Homöopathie informieren. eine neue Kollegin im Archiv begrüßen: Dr. Marion Baschin, die bereits früher am IGM Ein besonders ertragreiches Jahr war es mehrere Forschungsprojekte durchgeführt diesmal sowohl für das Archiv als auch für hat, ist nun nach Abschluss ihrer Ausbildung die Bibliothek. Wir konnten zahlreiche Bü- an der Archivschule in Marburg bei uns tätig; 5 cher und Dokumente, aber auch Objekte,
Vorwort sie wird 2019 die Nachfolge von Prof. Dr. Martin Dinges, der dann in den Ruhestand geht, antreten. Mein Dank geht wie in jedem Jahr an die Förderer sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit großem Engagement und durch ihre hervorragende Arbeit das IGM weiterhin auf Erfolgskurs gehalten ha- ben. Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte Institutsleiter P. S. Nach Redaktionsschluss erreichte uns die traurige Nachricht, dass unsere langjäh- rige wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Syl- velyn Hähner-Rombach nach kurzer, schwe- rer Krankheit am 6. Januar 2019 verstorben ist. Ein Nachruf erscheint im nächsten Insti- tutsbericht. 6
German Dispensary (1868), Foto: US National Library of Health, New York Sozialgeschichte der Medizin Sozialgeschichte der Medizin Gemeinsamer Arbeitsschwerpunkt der For- schungsbereiche Sozialgeschichte der Medi- zin sowie Geschichte der Homöopathie und des Pluralismus in der Medizin ist seit 1998 Migration und Gesundheit Migration und die Patientengeschichte. Dabei sollen so- Gesundheit wohl soziale und ökonomische als auch kul- (Ansprechpartner: turelle Aspekte berücksichtigt werden. Die- Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte) se Thematik ist nicht nur für die Neuorientie- rung der Medizingeschichte in der Bundes- republik weiterhin von zentraler Bedeutung, Die Erforschung der Gesundheit von Mi- sondern auch im internationalen Vergleich granten und Menschen mit Migrations- ist hier noch ein großer Forschungsbedarf zu hintergrund hat in den letzten Jahren in verzeichnen. Außerdem bietet gerade dieser Medizin und Medizinsoziologie zunehmend Schwerpunkt den Vorteil, die inhaltliche an Bedeutung gewonnen, während histori- Erschließung und Auswertung der im Institut sche Studien noch weitgehend fehlen. Im vorhandenen Quellen zur Homöopathiege- Themenschwerpunkt ‚Migration und Ge- schichte (z. B. Patientenbriefe, Kranken- sundheit‘ laufen zurzeit noch zwei Projekte, journale und Schriftgut von Laienvereinen) in denen in sozialhistorischer Perspektive einzubeziehen und so Querverbindungen Dimensionen der Gesundheitserfahrungen zwischen beiden Forschungsbereichen zu verschiedener Gruppen von Migranten und stärken. Das passt in die langjährigen Be- Flüchtlingen im 19. und 20. Jahrhundert mühungen des IGM, die sozialgeschichtliche untersucht werden. Relevanz der Homöopathiegeschichte für eine Geschichte des Pluralismus in der Me- dizin durch entsprechende Forschungen und Publikationen hervorzuheben. Weitere sozial- geschichtlich relevante Arbeitsfelder, die zurzeit erforscht oder entwickelt werden, sind die Gesundheitsgeschichte von Migran- ten, die Männergesundheitsgeschichte, die Geschichte der Prävention, die Pflegege- schichte sowie die Geschichte der Gesund- heitsberufe. 7
Sozialgeschichte Forschungsprojekte im Prozess des ‚Heimischwerdens‘ dienen. der Medizin Zweitens erlaubt der Vergleich auch, Verän- derungen des Gesundheitsverhaltens und „Gott sei Dank sind wir noch alle ge- Forschungsprojekte -wissens in Deutschland zu beobachten. sund.“ Gesundheit und Migration in Einige zentrale Ergebnisse der Untersuchung Selbstzeugnissen deutscher Auswan- können hier bereits angedeutet werden: die derer 1830-1930 (Bearbeiter: große Rolle von familiären, konfessionellen, Dr. Jens Gründler) „ethnischen“ oder freundschaftlichen Un- terstützungsnetzwerken im Krankheitsfall; Gesundheit hatte und hat im Migrationspro- das Anwachsen der Inanspruchnahme von zess eine zentrale Bedeutung. Für deutsche medizinischen Angeboten außerhalb der Amerika-Auswanderer, die zwischen 1830 eigenen Ethnie ab der zweiten Generation; und 1930 in die USA kamen, hingen Erfolg parallel aber auch die Aufrechterhaltung von und Misserfolg häufig direkt mit dem eige- landsmannschaftlichen Angeboten auf dem nen Gesundheitszustand sowie Praktiken Gesundheitsmarkt innerhalb von Stadtvier- und Netzwerken der Gesundheitsvorsorge teln oder ländlichen Regionen, in denen eine und Krankheitsfürsorge zusammen. Das hohe Konzentration von deutschen Einwan- gilt sowohl für häufig entlegene, ländliche derern lebte. Räume als auch für industrielle und urbane Zentren der rasant wachsenden amerika- Gesundheit und Krankheit jüdischer nischen Nation. Die Auswertung von Ego- Migrantinnen und Migranten aus Ost- Dokumenten wie Tagebüchern, Briefen und europa in Deutschland (Bearbeiterin: autobiographischen Berichten zeigt zum Aline Braun, M. A.) einen, wie die Migranten für ihre Gesund- heit vorsorgten und welche Möglichkeiten Im vorliegenden, mikrohistorisch ausge- zur Fürsorge ihnen im Krankheitsfall zur richteten Projekt wird die Lebenswirklich- Verfügung standen. Aufgrund der langen keit ostjüdischer Transmigrierender im Untersuchungsdauer geraten auch Verände- Deutschen Reich, besonders im Berlin der rungsphänomene und Anpassungsprozesse 1920er Jahre, rekonstruiert und analysiert. des Gesundheitsverhaltens in den Blick, Der Fokus liegt auf den Themen Krankheits- insbesondere durch Quellen von Migranten bewältigung und Gesundheitsfürsorge. der zweiten und dritten Generation. Durch Berlin war meist nicht eigentliches Ziel der die Vergleichsperspektive werden zwei Din- ostjüdischen Zuwanderer, sondern sollte in ge erreicht: Erstens kann das Projekt als der Regel nur als Zwischenstation auf dem Sonde für allgemeine Veränderungen und Weg in die Vereinigten Staaten dienen. Da- 8 Anpassungsprozesse von Migrantengruppen her bilden das Thema ‚Scheitern‘ und der
Jüdische Auswande- rer auf der Durch- fahrt, Schlesischer Bahnhof, Berlin (um 1920), Foto: Hilfsver- ein der Deutschen Juden (1930) um ihre Gesundheit. Dabei sind Sozialisa- Sozialgeschichte tion, Leitbilder, Praktiken und gesellschaft- der Medizin Umgang mit der ungewollten Unterbrechung liche Verhältnisse in ihren Auswirkungen auf im Migrationsverlauf sowie die daraus resul- Kompetenzerwerb und geschlechterspezi- tierenden, notwendigen Bewältigungsstrate- fisches Wissen und Handeln in historischer gien einen Schwerpunkt der Untersuchung. Perspektive neu zu bewerten. Wahrneh- Die Wohnsituationen und der Alltag dieser mungsdefizite des Gesundheitswesens müs- eingewanderten Jüdinnen und Juden sind sen stärker in den Blick genommen werden. ebenfalls zentraler Bestandteil der Studie. Dazu kann auch und gerade die historische Ebenso bedeutsam sind die Wahrnehmun- Perspektive beitragen. gen gesundheitspolitischer Regelungen und Prof. Dr. Martin Dinges leitete im Berichts- der Praktiken der Medizinalverwaltungen jahr die 12. Tagung des Arbeitskreises durch die Migrantinnen und Migranten. Mit- AIM Gender zu „Männlichkeiten und Care. tels eines Vergleichs mit der autochthonen Selbstsorge, Familiensorge, Gesellschafts- Bevölkerung und anderen Migrantengruppen sorge“ an der Akademie der Diözese Rot- sowie unter Einbeziehung der Perspektive tenburg-Stuttgart in Stuttgart-Hohenheim. der Gesundheitsbehörden kann zudem die Mehrere Vorträge betrafen historische zeitgenössisch als homogen wahrgenom- Aspekte der Gesundheitssorge von Män- mene und konstruierte Gruppe der ,Ostju- nern für sich selbst und für Dritte, z. B. für den‘ differenzierter betrachtet werden. Die die Familie, aber auch als Krankenpfleger Analyse der Expertendiskurse in Bezug auf seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegen- migrantische Gesundheitspraktiken und wart (zum Programm siehe http://www. Hygiene erlaubt zudem, traditionelle (west-) uni-bielefeld.de/soz/personen/lengersdorf/ europäische Stereotype und Vorurteile zu aim_gender.html sowie https://www.akade- dekonstruieren. mie-rs.de/vakt_22168). Außerdem referierte der stellvertretende Institutsleiter in Wien bei der Konferenz der Verantwortlichen Männergesundheits- und Patien- Männergesund- für die „Männerpolitik“ in den zuständigen heits- und tengeschichte (Ansprechpartner: Ministerien der deutschsprachigen Länder, Patienten- die sich dort mit Vertretern von Forschung geschichte Prof. Dr. Martin Dinges) und Zivilgesellschaft trafen. Das Gesund- heitsdepartement des Kantons Basel-Stadt Ziel einer Zeitgeschichte des männlichen Ge- lud ihn zu einer Tagung mit Akteuren der sundheitshabitus ist eine bessere systemati- Migrationspolitik ein, die für das gleiche sche und historische Kontextualisierung der Thema, nämlich die psychische Gesundheit, 9 als defizitär geltenden Sorge von Männern sensibilisiert werden sollten. Außerdem trug
Männliche und weib- liche Skulpturen zur Erkennung von De- pressionen, Foto: US National Library of Health, New York (v. l.) Prof. Dr. Marcel Sieberer, Dr. des. Christine Hartig, Sylvia Wagner, Dr. Klaus Schepker, Foto: KRH Klinikum Region Hannover Sozialgeschichte schenden Ergebnissen dieser Studie gehört, der Medizin egal ob in Bezug auf Therapiebereitschaft, Selbstheilung oder die Beziehung zum sozia- len Umfeld: Entgegen dem geläufigen Bild Professor Dinges zu aktuellen und histori- vom gefühlsfernen Patriarchen hätten zahl- schen Aspekten der Männergesundheit bei reiche Männer schon seit den 1950er Jahren der Fachtagung „MÄNNER: Fokus Gesund- gerne auf die vermeintlichen männlichen heit“ der Stadt Stuttgart sowie dem eben- Privilegien verzichtet, die ihnen den Zugang falls von der Stadtverwaltung organisierten zu Hilfe erschwerten – und sie auf diese „Stuttgarter Diversity-Kongress ,Frauen* Weise sogar erst krank machen konnten. und Männer* in ihrer Vielfalt‘“ vor. In einer Diese Wünsche wurden jedoch in großen Reihe anderer Veranstaltungen für Fachleute Teilen durch Eltern, Partner und Arbeitgeber sowie für das allgemeine Publikum konnten konterkariert, deren Interessen durch eine weitere historische Aspekte der Männerge- repressive Psychiatrie gestützt wurden. Die sundheit in den öffentlichen Diskurs einge- Ergebnisse werfen auch ein neues Licht bracht werden. auf die gegenwärtige Diskussion um die Schädlichkeit männlichen Gesundheitsver- haltens („Toxic Masculinity“). Die mittler- Forschungsprojekte Forschungsprojekte weile abgeschlossene und an der Universität Mannheim verteidigte Dissertation ist im Geschichte psychischer Erkrankun- Berichtsjahr in der Beiheftreihe zu „Medizin, gen von Männern in der Bundesrepu- Gesellschaft und Geschichte“ erschienen. blik Deutschland 1948-1993 (Bear- beiter: Dr. Christoph Schwamm) Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Wie erfuhren psychisch kranke Männer, ihre Heimerziehung in Niedersachsen Angehörigen und Ärzte seelisches Leiden zwischen 1945 und 1979 (Bearbeite- im Kontext von Männlichkeit? Dieser Frage rinnen: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach geht die inzwischen abgeschlossene und im und Dr. des. Christine Hartig) Druck vorliegende Dissertation nach. Dafür wurden für die Jahre 1948 bis 1993 zeitge- Das Forschungsprojekt im Auftrag der Nie- nössische medizinische Fachliteratur und dersächsischen Landesregierung hat zum knapp 700 Patientenakten aus den psychia- Ziel, in der Nachkriegszeit in Niedersachsen trischen Universitätskliniken Heidelberg erfolgte Arzneimittelstudien, Impfungen und Gießen ausgewertet. Zu den überra- bzw. Impfversuche an Minderjährigen in 10
Poster aus Eric Winter u. a.: „Schick- sal Abhängigkeit?“ (1988) (kinder-)psychiatrischen Einrichtungen und Sozialgeschichte Heimen wissenschaftlich aufzuarbeiten. der Medizin Dabei sollte das Augenmerk erstens auf die Einhaltung rechtlicher, ethischer und fachlicher Standards bei der Durchführung der Studien gerichtet werden. Zweitens galt es zu fragen, ob staatliche Institutionen eine (Mit-)Verantwortung an eventuellen Missständen trugen. Des Weiteren sollte untersucht werden, ob psychochirurgische Eingriffe an Minderjährigen vorgenommen „Deine Gesundheit, unser Staat“. wurden und ob die Durchführung von soge- Erfahrungen von Patienten mit Al- nannten Pneumenzephalographien an (kin- koholabhängigkeit, Diabetes oder der-)psychiatrischen Einrichtungen gemäß Geschlechtskrankheiten im Gesund- zeitgenössischen Normen erfolgte. Die ein- heitswesen der Deutschen Demokra- zelnen Untersuchungsschritte betrafen den tischen Republik (Bearbeiter: Ort, Umfang und die Durchführung sowie Dr. Markus Wahl) die Initiatoren solcher Studien und medizini- schen Eingriffe, zudem die zum Einsatz ge- In Publikationen und Ausstellungen des kommenen Präparate und die Folgen für die Deutschen Hygiene-Museums in Dresden Kinder und Jugendlichen. Für das im August wurde häufig der Slogan „Im Mittelpunkt 2017 begonnene Projekt wurden einschlägi- steht der Mensch“ propagiert. Damit wurde ge Fachzeitschriften gesichtet und in staatli- beschrieben, dass sich das staatliche Ge- chen sowie in Firmenarchiven recherchiert. sundheitswesen vollkommen dem Menschen Darüber hinaus erfolgte eine Suche nach widmet und ihn damit in den Mittelpunkt Einzelfallakten aus (kinder-)psychiatrischen stellt. Dieses Postulat unterstrich den An- Einrichtungen und Heimen. Dem Land Nie- spruch eines humanistischen Charakters dersachsen wurde im Juni 2018 ein Zwi- des sozialistischen Staates in Abgrenzung schenbericht sowie im Dezember 2018 der zur kapitalistischen Weltordnung. Das Habi- Endbericht übergeben. litationsprojekt hat sich zum Ziel gesetzt, in einer differenzierten Form die Erfahrungen von Patienten mit Alkoholabhängigkeit, Dia- betes oder Geschlechtskrankheiten nachzu- zeichnen und somit das Postulat der DDR zu überprüfen. Für dieses Unterfangen erfolgt 11
„Hämophilie-Blätter“ (2011) Sozialgeschichte eine stichprobenartige, quantitative und der Medizin qualitative Auswertung von Patientenakten, Eingaben sowie Ego-Dokumenten (Tagebü- cher, Briefe etc.) im Kontext der nationalen und internationalen Entwicklungen. Dabei soll zum Beispiel der Frage nachgegangen werden, wie Betroffene ihre Krankheit erleb- ten, wie sie diese in ihre Lebensgeschichte Patientenbewegungen in Deutsch- einbauten, welche Erfahrungen die Patien- land 1945-1985 (Bearbeiterin: ten innerhalb und außerhalb von medizini- Dr. Ylva Söderfeldt) schen Einrichtungen machten und wie sich diese auf ihren Lebensalltag auswirkten. Im Rahmen dieses Projektes soll der Auf- Im Jahr 2018 lag der Fokus auf der Recher- schwung von Patientenvereinen im Kontext che zu den Erfahrungen von Alkoholabhän- der deutschen Nachkriegsgesellschaft(en) gigen in der ehemaligen DDR. Dafür wurden eingeordnet werden. Damit wird, auf einer das Bundesarchiv, das BStU-Archiv und das am IGM durchgeführten Pilotstudie von Hauptstaatsarchiv in Dresden aufgesucht Kristina Matron aufbauend, angestrebt, ei- sowie Zeitzeugen ausgemacht und Material nen Beitrag zu der noch kaum erforschten zu den verschiedenen Patientengruppen Geschichte der Patientenvereine zu liefern. gesammelt. Es zeigte sich, dass die Behand- Drei Fallbeispiele werden untersucht: die lung von Patienten oftmals von der Haltung Deutsche Hämophiliegesellschaft, der Deut- und Mentalität des in einer medizinischen sche Diabetiker Bund und der Deutsche Einrichtung tätigen Personals abhing und Allergikerbund. Im Fokus stehen ihre Orga- eine generelle Aussage nur im Hinblick auf nisationsstruktur und Beziehungen zu Ärz- die staatliche Narrative zur Alkoholabhängig- ten, Behörden und Industrie. Archivquellen, keit getroffen werden kann. Des Weiteren Zeitschriften und Gespräche mit Zeitzeugen wurde deutlich, dass eine Verbesserung wurden nun analysiert. Die Ergebnisse sol- vor allem der Nachbetreuung von stationär len 2019 in Buchform publiziert werden. entzogenen Alkoholikern durch lokale Initia- tiven von Ärzten, Psychologen und abstinent lebenden Alkoholkranken geschah. Dieses vorläufige Ergebnis der Arbeit stellt die The- se einer strikten Zentralisation des Gesund- heitswesens der DDR für diesen Bereich in Frage. 12
Arthur Geissler: „Die Sterblichkeit und Lebensdauer der Sächsischen Aerzte“ (1887) Gesundheit und Krankheit in der Sozialgeschichte Korrespondenz Hans Fuggers (1531- der Medizin 1598) (Bearbeiterin: Anne Phieler, M. A.) Der umfangreich überlieferte Briefwechsel des Augsburger Kaufmanns Hans Fugger liefert Einblicke in die individuelle Erfahrung von Krankheit in der Frühen Neuzeit. Thema- tisiert werden in der Korrespondenz unter anderem Entstehung und Behandlung von Krankheit sowie die richtige Lebensführung. Arzt – ein krank machender Beruf? Beispielsweise wird immer wieder das rich- Leitbilder – Selbstbilder – Fremdbil- tige Maß beim Weingenuss diskutiert. Ande- der 1870-1990 (Bearbeiter: Sebasti- re Therapiemaßnahmen wie die Badefahrt an Wenger, M. A.) lassen sich als regelmäßige Unternehmung bei Fuggers Familie, den Briefpartnern und Bereits in der Frühen Neuzeit erregten die dritten Personen aus Adel und Patriziat Arbeitsbedingungen von Ärzten und deren nachweisen. Ergänzend herangezogene Auswirkungen auf die Gesundheit dieser Quellen wie Kaufmannsbriefwechsel und Personengruppe Aufmerksamkeit. Anfäng- -tagebücher bestätigen diese Eindrücke. lich von einem guten Gesundheitszustand Neben solchen aufwendigen und kosten- der Ärzte ausgehend, wurde in der Folgezeit intensiven Behandlungen finden sich in den immer wieder die krank machende Kompo- Quellen auch Hinweise auf ‚kleine‘ Praktiken nente des Berufes betont und der Arzt als wie die Nutzung von Zahnstochern im Rah- „Opfer“ seiner Profession dargestellt. Die men der Hygiene. Waren alle Bemühungen Ärzteschaft sah sich im Zuge der eigenen um den Erhalt der Gesundheit umsonst und Professionalisierung und der Medikalisie- es kam zum Todesfall, erlosch das Interesse rung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert an der Krankheitsursache keineswegs. Ange- mit weitreichenden Veränderungen konfron- hörige konnten Arzt und Bader oder Chirurg tiert. Durch die Einführung der gesetzlichen mit der Privatsektion beauftragen, was in Krankenversicherung 1883 stieg nicht nur der Forschung bislang kaum Interesse fand. die Zahl der zu versorgenden Patienten. Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis wandel- te sich durch das Hinzutreten einer dritten Instanz, der Krankenkasse. Im Zuge der 13
Blutzuckermessgerä- te, Foto: Aaron Pfaff Sozialgeschichte der Medizin Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzie- Die Entwicklung der Medizintechnik rung der Medizin wuchs zudem die Zahl der zur medizinischen Selbsthilfe bei ärztlichen Fachdisziplinen und damit auch Diabetes mellitus (Bearbeiter: die Rivalität innerhalb des Berufsstandes. Aaron Pfaff, M. A.) Der Konkurrenzkampf mit nichtärztlichen Heilberufen um Patienten, Prestige und Deu- Im Mittelpunkt des Dissertationsprojektes tungshoheit im medizinischen Diskurs setzte steht die Entwicklung medizintechnischer sich ebenfalls fort. In diesem Zusammen- Instrumente zur Diagnose und Therapie im hang manifestierten sich innerhalb des Ärz- Bereich der Volkskrankheit Diabetes melli- testandes im ausgehenden 19. Jahrhundert tus von 1950 bis 1990. Zentrales Erkennt- Leitbilder von Leistungsfähigkeit und Aufop- nisinteresse sind dabei die Verlagerung von ferungsbereitschaft, die zentrale Elemente Kompetenzen und Verantwortung von der des ärztlichen Habitus darstellten. Letzterer Arzt- zur Patientenseite sowie die damit erweist sich innerhalb des Untersuchungs- einhergehenden Veränderungen in den Ak- zeitraums als außerordentlich stabil und teursbeziehungen. Dies betrifft insbesonde- wirkt sich bis heute auf das Gesundheits- re die zunehmende Messung verschiedener und Krankheitsverhalten der Ärzte aus. Das Stoffwechselparameter (Harn- und Blut- für dieses Dissertationsvorhaben verwende- zucker, Ketone) und die Interpretation der te Quellenmaterial setzt sich aus ärztlichen gewonnenen Ergebnisse. Für die im Untersu- Selbstzeugnissen, gedruckten Morbiditäts- chungszeitraum stattfindende nutzerorien- und Mortalitätsstatistiken von Ärzten sowie tierte Technisierung spielen die komplexen Artikeln aus Standeszeitschriften, wie etwa Aushandlungsprozesse zwischen den betei- dem „Deutschen Ärzteblatt“, zusammen. ligten Akteuren (Fach- und Laienverbände, Hinzu kommen Protokolle der Vorstandssit- Pharma- und Medizintechnikunternehmen, zungen der Landesärztekammern Hamburg, staatliche Institutionen) eine tragende Rol- Hessen und Westfalen-Lippe sowie Unter- le. So muss von der ersten Projektstudie lagen zu Studienplänen, Arbeitszeiten und bis zur Einführung eines Produkts bzw. Arbeitsbedingungen aus den Bundesarchi- Verfahrens eine ganze Reihe von sozialen, ven Koblenz und Berlin-Lichterfelde, dem politischen und ökonomischen Fragen ver- Landesarchiv Baden-Württemberg und dem handelt werden. Am Ende dieser Prozesse Stadtarchiv Stuttgart. stehen leichter handhabbare Geräte, welche 14
dem Patienten eine eigenverantwortlichere und Sprache unter semantischen (Zeichen + Sozialgeschichte Rolle bei der Behandlung seiner Krankheit Bedeutung) und pragmatischen (Zeichen + der Medizin ermöglichen, ohne dabei jedoch das Primat Benutzer) Gesichtspunkten anhand von his- ärztlicher Expertise zu bestreiten. In den torischen, größtenteils ungedruckten Quel- Fokus der Therapie geraten zunehmend len ein wenig zu beleuchten. ökonomische Fragestellungen. So geht eine Im Gegensatz zum Fachmann drückt der erhöhte Messfrequenz unmittelbar mit ei- medizinische Laie seine Krankheitserfahrung nem steigenden Verbrauch der notwendigen ganz allgemein aus, was nicht ausschließt, Einwegmaterialien (v. a. Teststreifen, Stech- dass ein gewisses Differenzierungsvermö- hilfen, Spritzen) einher, woraus zusätzliche gen durchaus vorhanden ist und eine be- finanzielle Belastungen für Patienten und stimmte Tiefenschärfe zweifellos erreicht Gesundheitssystem folgen. werden kann. Dass lebensweltliches Wissen und seine volkssprachliche Vermittlung nicht Sprache und Patientenwissen in der in jedem Fall durch die Existenz eines akade- Frühen Neuzeit (Bearbeiter: misch tradierten Fachwissens disqualifiziert Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte) werden, belegen die diversen Versuche des Rücktransfers wissenschaftlichen Wissens Medizinhistoriker und Germanisten ha- in die Praxiszusammenhänge der Lebens- ben sich bislang fast ausschließlich unter welt. Am Beispiel eines in lateinischer philologischen Aspekten mit der deutsch- Sprache geschriebenen Vademecums des sprachigen medizinischen Fachprosa des niederrheinischen Arztes Hubertus Holtze- späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit mius aus den Jahren 1578/79 soll gezeigt beschäftigt. Was über die Beziehung zwi- werden, wie sich ein praktischer Arzt im 16. schen Wörtern und Sachen hinausgeht, ist Jahrhundert bemüht, die Sprache seiner dagegen so gut wie nicht erforscht worden. Patienten zu sprechen. Dazu gehören die verschiedenen Bereiche der Lehre vom Zeichen (Semiotik), nämlich Körpererfahrung von jüdischen Sol- Syntax, Semantik und Pragmatik. Außer der daten im Deutschen Reich, in der anregenden Studie von Dietlinde Goltz und Habsburgermonarchie und in Russ- einigen wenigen neueren Arbeiten gibt es land ca. 1815-1918 (Bearbeiter: kaum methodologisch richtungsweisende Oleksiy Salivon, M. A.) Beiträge zur sprachlichen Interpretation all- täglicher Krankheitserfahrung in der Vormo- Im Mittelpunkt des Dissertationsprojekts derne. Es soll daher der Versuch unternom- stehen die Körpererfahrungen jüdischer men werden, das Verhältnis von Krankheit Soldaten aus Zentral- und Osteuropa im 19. 15 und im frühen 20. Jahrhundert. Mit der Ein-
Israel Meir Kagan: „Machaneh, Israel“ (1881) Sozialgeschichte führung des chaneh Israel“ von Chafetz Chajim etc.) her- der Medizin Militärdiensts angezogen, die Aufschluss über Körperer- für die jüdi- fahrungen der strenggläubigen jüdischen sche Bevölke- Soldaten und Rekruten geben. rung im Deut- schen Reich, Tagungen Tagungen in Österreich-Ungarn und dem Zarenreich wandelte sich nicht nur die gesellschaftli- che Lage der jüdischen Männer in der vor- Sektion auf dem Historikertag in wiegend christlichen Umgebung, sondern Münster auch die zeitgenössischen Vorstellungen über den männlichen Körper entwickelten Es ist seit Jahren ein Anliegen des IGM, den sich, indem neue Männlichkeitsnormen und Austausch zwischen Geschichtswissenschaf- -ideale geschaffen wurden. Der überlieferte ten und Medizingeschichte zu verstärken. Briefwechsel von jüdischen Soldaten mit Dazu sind die Historikertage ein besonders ihren Familien und Freunden, Kriegstagebü- geeignetes Forum. Bei diesem größten geis- cher, zeitgenössische jüdische Presse und teswissenschaftlichen Kongress Europas Literatur liefern Einblicke in die individuelle treffen Fachhistoriker und Geschichtslehrer Erfahrung jüdischer Männer in diesem Zeit- in großer Zahl zusammen, so dass auch die raum. Die herangezogenen Quellen präsen- Hoffnung besteht, dass die Themen nicht tieren nicht nur die Entwicklung von neuen nur von den Lehrenden selbst, sondern auch Normen, sondern auch die Tradierung von von den Verantwortlichen für die Lehrerbil- Stereotypen und Vorurteilen. Die Idee, dass dung wahrgenommen werden. die jüdischen Körper fremde Körper oder im Prof. Dr. Martin Dinges organisierte bei Extremfall die Körper einer anderen Rasse der Veranstaltung im September 2018 in seien, wurde sowohl von der jüdischen als Münster eine Sektion unter dem Thema „Un- auch von der nichtjüdischen Wissenschaft gleiche Gesundheitschancen – trotz offener und Gesellschaft geteilt bzw. bestritten. Im Gesellschaften? (1949-2018)“. Laufe des 19. Jahrhunderts entstand der Der gesellschaftliche Zusammenhalt west- Rassendiskurs in Europa parallel zur jüdi- europäischer (Industrie-)Gesellschaften war schen Emanzipation und erzwang eine Dis- seit dem 19. Jahrhundert auch auf das Ver- kussion über mögliche Anpassungen an die sprechen gegründet, die Armutsrisiken abzu- europäischen bürgerlichen Körpernormen. federn, die v. a. durch Krankheiten, Arbeits- Ergänzend werden ausgewählte religiöse unfälle oder Behinderungen verursacht wa- jüdische Quellen (Rabbinerpredigten, „Ma- ren. Insbesondere während der Wachstums- 16
phase der 1960er und 1970er Jahre wurden tung verlagerte. Jenseits der ideologischen Sozialgeschichte immer mehr gesundheitliche Risiken durch Vorgaben wurden in der Gesundheitsauf- der Medizin Kranken- und Sozialversicherung aufgefan- klärung der DDR und der BRD vielfach sehr gen. Spätestens seit dem Regierungswech- ähnliche Wege beschritten. Dabei wirkte sel 1982 und noch einmal verstärkt durch sich das gemeinsame historische Erbe der die Reformen der „Agenda 2010“ schwand beiden deutschen Staaten noch lange nach jedoch der gesellschaftliche Konsens über dem Ende des Weltkriegs aus. Martin Din- die Aufgaben und Reichweite des Sozialstaa- ges ging der unterschiedlichen Lebenser- tes. Insofern ist gesundheitliche Ungleich- wartung von Männern und Frauen während heit, so Martin Dinges (Mannheim/Stuttgart) der letzten vier Jahrzehnte nach. In diesem in seiner Einführung, eine grundlegende Zeitraum gewann das Verhalten einen immer Dimension gesellschaftlicher Spaltungen. größeren Einfluss auf die Entwicklung des Anhand der Kategorien Staatsangehörigkeit, Gendergaps. Seit den 1980er Jahren wurde Geschlecht, „Klasse“, Migration und „Behin- der damals noch über sechsjährige „Vor- derung“ wurden die spezifischen Wirkungen sprung“ der Frauen immer kleiner. In histori- gesundheitlicher Ungleichheit auf fünf so- scher Perspektive und bis in die Gegenwart zialpolitisch adressierte Gruppen aus dem hinein, so seine These, seien die sozialen deutschsprachigen Raum in den Vorträgen Lagen bedeutsamer für die Lebenserwar- analysiert. Pierre Pfütsch (Stuttgart) und tungsunterschiede als die Kategorie Gender. Stefan Offermann (Leipzig) untersuchten die Trotzdem sei ein Wandel des Gesundheits- Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen verhaltens eines großen Teils der Männer Staaten zwischen 1949 und 1990. Innerhalb aus den Gesundheitssurveys ablesbar. Nina der Systemkonkurrenz von BRD und DDR Kleinöder (Marburg) griff die gesundheitli- verfolgten die Gesundheitsaufklärer ähnli- chen Ungleichheiten zwischen Arbeiter- und che Leitvorstellungen vom „guten Bürger“. Angestelltenmilieus auf. Fragen nach den Der ausgewählte Themenkomplex Ernährung Zusammenhängen von Gesundheit und und Fitness ermöglichte den Referenten Erwerbstätigkeit sind allerdings hochkom- zufolge, die am Körper selbst gut ablesbare plex: Unfälle wirken sich anders aus als Fähigkeit zur Selbstführung zu verfolgen. dauerhafte Belastungen, werden ebenso Pfütsch und Offermann verdeutlichten, dass wie psychische und physische Erkrankungen die gesundheitsaufklärerische Ansprache unterschiedlich bewertet, und außerdem der Zielgruppen sich sowohl in der BRD als lassen sich direkte oder indirekte Folgen auch in der DDR in den 1960er und 1970er der Tätigkeiten oft schwer entwirren. Für Jahren weg von autoritären Drohkulissen hin die 1950er und 1960er Jahre zeigte Klein- zur Selbstaktivierung und Eigenverantwor- öder zu Berufskrankheiten, wie massiv sich 17
Sozialgeschichte leichtere (Neu-)Anerkennungen von Krank- selbst versicherten Personen umfangreich der Medizin heiten wie etwa der Silikose und umgekehrt geholfen wurde. später effektivere Schutzmaßnahmen gegen Insgesamt diente die Sektion dazu, die Be- Arbeitsunfälle und viele Berufskrankheiten deutung einzelner Kategorien bei der Entste- auswirken konnten. Andreas Weigl (Wien) hung gesundheitlicher Ungleichheit stärker analysierte die gesundheitlichen Auswir- herauszuarbeiten, ohne sie allerdings als kungen von Migration auf Gesundheit und isolierte Faktoren zu betrachten. Eine aus- Lebenserwartung von „Gastarbeitern“ in führlichere Version der Vorträge wird 2020 Österreich seit ca. 1970 bis zum Jahr 2000. in der Zeitschrift „Medizin, Gesellschaft und Anhand von aktuellen Befragungen zeigte Geschichte“ veröffentlicht. Ein Bericht von Weigl, dass psychosoziale Erkrankungen auf- Jens Gründler erschien am 14.12.2018 auf grund komplexer Unsicherheitsverhältnisse H-Soz-Kult: http://www.hsozkult.de/confe- in der Gruppe der Arbeitsmigranten wesent- rencereport/id/tagungsberichte-8026. lich häufiger vorkamen als in der autochtho- nen Bevölkerung. Zum anderen fanden sich Sozialgeschichte des Gesundheits- in den Untersuchungen hohe Korrelationen wesens der DDR: Reflexionen über zwischen Bildung und Einkommen und dem Organisation, Politik und Akteure in daraus resultierenden Gesundheitsverhalten der sozialistischen Gesundheitsver- bzw. höheren Belastungen durch körperlich sorgung stärker belastende Arbeitsverhältnisse. Gabriele Lingelbach (Kiel) griff die Entwick- Vom 9. bis 10. Juli 2018 fand im IGM eine lung der Gesundheitsfürsorge für Menschen Tagung zur „Sozialgeschichte des Gesund- mit Behinderung auf. Sie unterstrich die heitswesens der DDR“ statt. Bewusst gruppeninternen Ausdifferenzierungen. In wurden viele Nachwuchswissenschaftler der Frühphase der BRD gab es nur eine rudi- eingeladen, welche in der Diskussion mit mentäre Basisversorgung, die den „behinde- den zwei anwesenden Experten, Winfried rungsbedingten Mehraufwand“ der Betroffe- Süß und Wolfgang U. Eckart, neue Wege in nen lediglich im Fall von Arbeitsunfallopfern der Sozial- und Medizingeschichte zum Ge- berücksichtigte. In der zweiten Phase, die sundheitswesen in der ehemaligen DDR er- Lingelbach mit dem 1957 verabschiedeten kundeten. Es war das Ziel, Ostdeutschland Körperbehindertengesetz beginnen lässt, nicht als singuläres Phänomen zu untersu- beschleunigte sich der Ausbau der Fürsorge. chen, sondern als Produkt von Traditionen, Erst in den folgenden Jahren fand eine Ab- Kontinuitäten, Brüchen und Entwicklungen kehr vom Primat der Erwerbsarbeit und dem zu betrachten, die sich oftmals bis ins 19. „Kausalprinzip“ statt, so dass auch nicht Jahrhundert zurückdatieren lassen. Für die 18
Teilnehmer der Tagung „Sozialge- schichte des Gesund- heitswesens der DDR“ Zum Abschluss hat Sozialgeschichte Pierre Pfütsch die der Medizin Professionalisie- Medizingeschichte der DDR bedeutet dies, rung der Krankentransporteure in der DDR dass Mentalitäten, Konzepte, Gesetze und auch im Vergleich zur Entwicklung in der (medizinische als auch soziale) Behandlungs- BRD analysiert. praktiken nicht nur Erfindungen des sozialis- In der dritten Sektion befassten sich Chris- tischen Staates nach 1945 waren, sondern tian Sammer und Stefan Offermann mit im Gegenteil einen oftmals bewussten Rück- dem Thema der gesundheitlichen Erziehung griff auf mehr oder weniger bewährte Ansät- und Aufklärung. Als Beispiel diskutierte ze der Vergangenheit darstellten. Dies gilt Sammer die Ausstellungskonzeptionen des nicht nur für die staatliche Ebene, sondern Deutschen Hygiene-Museums in Dresden als findet sich auch im Lokalen wieder. tragende Institution bei der Herstellung von Daher war es nur konsequent, dass die erste Aufklärungsmaterial. Offermann widmete Sektion sich mit einem oftmals in der For- sich konkret der Prävention von Herz-Kreis- schung unterrepräsentierten Akteur befass- lauf-Erkrankungen durch Warnungen vor zu te: dem Patienten. Neben der Präsentation langem Sitzen vor dem Fernsehbildschirm. von Erfahrungen von Alkoholkranken im Er zeigte auf, wie die DDR mit kurzen Video- Betrieb durch Markus Wahl diskutierte Anja clips versuchte, die Bürger zu gesundem Werner in ihrem Vortrag den Umgang mit Fernsehkonsum und möglichst viel Bewe- hörgeschädigten Patienten in der DDR. Eine gung zu animieren. weitere Perspektive hat Florian Bruns mit Die letzte Sektion widmete sich dem spe- der Analyse von Eingaben an die staatlichen ziellen Thema der Therapie und Betreuung Stellen in Bezug auf das Gesundheitswesen von psychischen Erkrankungen in der DDR. beleuchtet und ist der Frage nach den Ein- Christine Hartig erläuterte im Hinblick auf flussmöglichkeiten einzelner Bürger auf die die Studien zu den pharmazeutischen Tests medizinische Behandlung nachgegangen. westlicher Firmen in der DDR den speziellen Die zweite Sektion widmete sich verschie- Fall der Erprobung eines Antidepressivums denen anderen Akteuren im Gesundheitswe- an der Universitätsklinik Jena in den 1980er sen, wie zum Beispiel den medizinisch-wis- Jahren. Danach stellte Livia Bremmel erste senschaftlichen Gesellschaften in der DDR, Ergebnisse ihrer Dissertation zu den psy- deren Grad an Autonomie Steffen Dörre chischen Erkrankungen bei Soldaten und diskutierte. Christian König ging in seinem Heimkehrern nach dem Zweiten Weltkrieg Vortrag auf die unterschiedlichen Akteure und dem Umgang damit in der SBZ und DDR ein, welche die „Wunschkindpille“ und deren vor. Annette Baum schloss an dieses Thema Einführung in der DDR ermöglicht haben. 19
Teilnehmer des Workshops „Juden- tum und Krankheit“ in Zürich Sozialgeschichte mit ihrem Vortrag an und berichtete über dem Judentum in Verbindung gebracht wird: der Medizin die Unterstützung von Wehrdienstpflichtigen die bereits in der Bibel mehrfach erwähnte beim Berliner Jungmännerwerk durch psy- Lepra. Die Erforschung der sogenannten chosoziale Beratung. ,Judenkrankheit‘ hatte vor allem im 19. Allein die besprochenen Beiträge und die Jahrhundert Konjunktur, als sich Rassenbio- Diskussionen auf dieser Tagung beweisen, logen dieses Themas annahmen, wie Klaus dass es für die Sozialgeschichte der Medizin Hödl (Graz) am Beispiel der Tuberkulose in der DDR viele wichtige Themenfelder gibt, aufzeigte. Eine weitere Krankheit, die man deren Aufarbeitung noch aussteht. häufig Juden zuschrieb, war der Diabetes, wie Robert Jütte (Stuttgart) in seinem medi- Workshop „Judentum und Krank- zin- und sozialhistorischen Referat ausführ- heit“ in Zürich te. Christina Vanja (Kassel) referierte über Juden und psychiatrische Erkrankungen Im Rahmen seiner Gastprofessur „Wissen- und machte deutlich, wie gerade bestimmte schaft und Judentum“ an der ETH Zürich Formen psychiatrischer Erkrankungen mit organisierte Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte der jüdischen Lebensweise assoziiert wur- zusammen mit Prof. Dr. Andreas Kilcher, den. Ylva Söderfeldt (Uppsala) lenkte den Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissen- Blick auf die Geschichte einer doppelten schaft an der ETH, eine Tagung zu „Juden- Minderheit, nämlich den jüdischen Gehörlo- tum und Krankheit“, die von Dr. Christiane sen in Deutschland im Zeitraum 1800-1933. und Dr. Nicolaus-Jürgen Weickart sowie der Florian Mildenberger (Frankfurt/Oder) Adolf und Mary Mil-Stiftung finanziert wur- sprach über „Homosexualität, Krankheit und de. Das Thema ist durchaus aktuell, nicht Judentum“ und ging dabei vor allem auf die nur im Hinblick auf einige genetische Erkran- Pionierarbeiten von Magnus Hirschfeld ein. kungen, von denen Juden besonders häufig Andreas Kilcher (Zürich) zeigte in seinem betroffen sind. Bis heute hält sich zudem Vortrag („Der kranke Mann der Diaspora. hartnäckig die Vorstellung, dass Juden häu- Zionistische Pathologie der Galuth“) auf, wie figer an bestimmten Krankheiten leiden und Krankheit auch als literarisch-politische Me- damit zu deren Verbreitung beitragen, wenn tapher im zionistischen Diskurs verwendet diese infektiös sind. Eberhard Wolff (Basel/ werden konnte. Anat Feinberg (Heidelberg) Zürich) beleuchtete in seinem Beitrag „,Ju- präsentierte eine hebräischsprachige Idylle denkrankheit‘ – eine systematische Begriffs- des Dichters und Arztes Saul Tschernikows- geschichte“ die Semantik dieses Begriffs ky, die zahlreiche Bezüge zur jüdisch-christ- aus dem Blickwinkel der empirischen Kultur- lichen Volksmedizin enthält. wissenschaft. Kay Peter Jankrift (Münster) 20 stellte die Krankheit vor, die am längsten mit
„Rote Fahne“ vom 8.9.1925, Foto: Bundesarchiv Prävention (Ansprechpartner: Sozialgeschichte der Medizin Dr. Pierre Pfütsch) Prävention Prävention ist weiterhin ein wichtiges In- strument, um den steigenden Gesundheits- kosten und den Folgen der Alterung der Bevölkerung gegenzusteuern. Das heute den meisten gesundheitspolitischen Maß- nahmen zugrundeliegende Konzept der Gesundheitsförderung wurde 1986 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf einhergehenden tiefgreifenden sozialen der ersten internationalen Konferenz zur Strukturveränderungen wandelte sich die Gesundheitsförderung in Ottawa entwickelt Frauenerwerbstätigkeit zu Beginn des 20. und in der sogenannten Ottawa-Charta zu- Jahrhunderts in Deutschland grundlegend; sammengefasst. Gesundheitsfördernde und so betrug die Frauenerwerbsquote 1907 auch präventive Maßnahmen haben eine bereits rund 30 Prozent – ein Anteil, der lange Vorgeschichte. Die am IGM laufenden sich mit Ausnahme der Kriegszeiten bis weit Forschungsprojekte haben nicht nur einen in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeithistorischen Fokus, sondern nehmen hielt. Frauen mussten ab diesem Zeitpunkt auch die Frühe Neuzeit mit in den Blick. als ernstzunehmende Akteure auf dem Ar- beitsmarkt wahrgenommen werden. Durch ihre Erwerbstätigkeit war ihre Gesundheit in Forschungsprojekte Forschungsprojekte einer anderen Art und Weise gefährdet als zuvor, was zu einer politischen Relevanz des Gesundheit und Krankheit erwerbs- Themas führte. Im Zentrum der Analyse ste- tätiger Frauen in Deutschland in der hen die Erwerbsfähigkeit bzw. -unfähigkeit ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund von (arbeitsbedingter) Krankheit (Bearbeiterin: Bianca Morlock, M. A.) sowie die Gesundheitsfürsorge zur Verhü- tung bzw. Behandlung von Krankheiten. Ziel des Dissertationsprojekts ist es, einen Ausgehend von den Arbeitsverhältnissen der Beitrag zum Verständnis von Gesundheit erwerbstätigen Frauen werden die Formen und Krankheit erwerbstätiger Frauen in und Wirkungen der betrieblichen und staat- Deutschland im Verlauf der ersten Hälf- lichen Sozialpolitik/-arbeit sowie ihre Um- te des 20. Jahrhunderts zu leisten. Be- setzung im Arbeitsalltag/in der Lebenswirk- dingt durch die mit der Industrialisierung 21
Manuskript Knorr, Foto: Carlos Watzka Sozialgeschichte heit in der ‚geistlichen Medizin‘ katholischer der Medizin Ausprägung in der Frühen Neuzeit. Der Blick richtet sich dabei insbesondere auf deren Widerspiegelung in der medizinischen Pra- xis. Als Quellen dienen: 1) religiöse Literatur allgemeiner und moraltheologischer Ausrich- tung: Katechismen, Handbücher für Priester, Predigten, Trauerreden, Gebets-, Andachts- lichkeit untersucht. In welchem Umfang die und Hausbücher, geistliche Lieder und Themen Gesundheit und Krankheit von Ar- Schauspiele; 2) spezifisch diätetisch orien- beitgeberseite thematisiert wurden und wel- tierte Literatur: Seelenführer, Seelenspiegel; che präventiven Strategien gegen mögliche Seelsorge- und Seelentrost-Literatur (allge- Risikofaktoren und gesundheitsgefährdende meine und spezielle für die Krankenseelsor- Umstände ausgearbeitet wurden, sind für ge); religiöse Ehe- und Haushaltsratgeber; diese Arbeit maßgebliche Fragen. Im Fokus 3) Mirakelliteratur; 4) Andachts- und Wall- stehen Arbeiterinnen im Industriesektor und fahrtsbilder; Gebetszettel; Sachquellen aus im Büro beschäftigte weibliche Angestellte. dem religiös-magischen Übergangsbereich; Da diese Frauengruppen mit ungleichen 5) kirchenamtliche Erlässe, Bekanntmachun- physischen und psychischen Belastungen gen und Korrespondenzen von Bischöfen, konfrontiert waren, welche sich verschieden Welt- und Ordensklerus; 6) seelsorge- und auf ihre Gesundheit auswirkten, wird eine gesundheitsbezogene Akten weltlicher Trennung nach Erwerbsarten angestrebt, um Behörden. Im Berichtsjahr wurde das Ma- im Verlauf der Untersuchung mit Hilfe von nuskript weitgehend abgeschlossen. Eine Vergleichen die Aussagekraft der Analyse zu Publikation der Ergebnisse ist als Beiheft erhöhen. zur Zeitschrift „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ im Sommer 2019 vorgesehen. Die Bedeutung diätetischer Affekt- Konzepte in Praktiken der „geist- Eltern, Kinder und Jugendliche als lichen Medizin“ (Bearbeiter: Adressaten von geschlechtsspezifi- PD Dr. Carlos Watzka) scher Gesundheitsaufklärung und Prävention von ca. 1900 bis 2000 Im Fokus dieses 2016 begonnenen Postdoc- (Bearbeiterin: Dr. Kristina Matron) Projekts steht die Bedeutung von Emotionen – zeitgenössisch v. a. als „passiones“ bzw. In diesem 2017 begonnenen Projekt steht „affectus“ bezeichnet – für Konzepte der Er- die Auswertung von Ratgeberliteratur, die 22 haltung und Wiederherstellung von Gesund- sich an Eltern, Kinder und Jugendliche
Anna Fischer-Dückel- mann: „Die Frau als Hausärztin“ (1901) Erste Ergebnisse zeigen, dass es sowohl bei Sozialgeschichte der Adressierung als auch bei den Inhalten der Medizin eine geschlechtsspezifische Komponente gab. Mütter oder Mädchen wurden häufiger angesprochen als Väter oder Jungen. Eine explizit geschlechtsspezifische Ansprache erfolgte aber im Bereich Drogen erst in allerjüngster Vergangenheit. Im Vergleich der Literatur von BRD und DDR zeigt sich, dass beide Systeme seit den 1960er Jah- ren verstärkt auf das „präventive Selbst“ in der Bekämpfung von Gesundheitsrisiken setzten, dies jedoch mit unterschiedlicher wandte und auf deren Gesundheitsverhal- Begründung. ten zielte, im Mittelpunkt. Zunächst wur- den über 250 Ratgeber in eine Datenbank eingegeben, um sie nach Autorenschaft, Tagung Tagung Zielgruppe und Themenfeldern ordnen zu können. Daraus haben sich zwei Teilprojekte Gedenkveranstaltung „Ignaz Sem- ergeben, für die nun ausgewählte Ratgeber melweis und die Hygiene in der Ge- genauer analysiert werden. Es sollen dar- burtshilfe“ aus zwei in sich abgeschlossene Aufsätze entstehen. Eines der Teilprojekte betrifft Gemeinsam mit dem Ungarischen Kulturin- die Ratgeberliteratur für Eltern und umfasst stitut in Stuttgart veranstaltete das IGM im einen großen Zeitraum von ca. 1900 bis Oktober eine Gedenkveranstaltung zum 200. 2000. Das Projekt wird die Themenfelder Geburtstag von Ignaz Semmelweis (1818- Suchtgefahren, Ernährung und Bewegung, 1865), dem „Retter der Mütter“ und Pionier Verhalten und Familienleben genauer in den auf dem Gebiet der Hygiene in der Geburts- Blick nehmen. Das zweite Teilprojekt legt hilfe. Über die Semmelweis-Rezeption in den Fokus auf Jugendliche als Adressaten Ungarn referierte Prof. Dr. Benedek Varga, von geschlechtsspezifischer (Gesundheits-) Direktor des Ungarischen Nationalmuseums Aufklärung seit der Nachkriegszeit, bezogen und früherer Leiter des Semmelweis-Muse- auf die Themenfelder Sexualität, Entwick- ums in Budapest. Dr. Lilla Krász von der Eöt- lung, Drogen, Ernährung und Bewegung. Im vös-Loránd-Universität in Budapest stellte in letzteren Teilprojekt soll auch Ratgeberlite- ihrem Vortrag die Geburtshilfe in Ungarn vor ratur aus der DDR Berücksichtigung finden. 23
Bekanntmachung der Württembergischen Ärztekammer (1932), Foto: Aaron Pfaff Sozialgeschichte der Ära Semmelweis dar. Prof. Dr. Jürgen Hierbei interessiert auch, welche Hindernis- der Medizin Schlumbohm arbeitete in seinem Kurzvor- se dabei überwunden wurden, mit welchen trag die Medikalisierung der Geburt vor dem anderen Berufsgruppen es zu Konkurrenz- Hintergrund der hohen Müttersterblichkeit situationen kam und welchen Einfluss ge- heraus. Dr. Marina Hilber von der Universi- sellschaftliche Rahmenbedingungen auf die tät Innsbruck berichtete, wie Semmelweis’ Ausübung der Berufe hatten. Auch werden Hygiene-Konzept im österreichischen Teil Auswirkungen des Professionalisierungspro- der k. u. k. Monarchie rezipiert und in die zesses auf die Ärzteschaft untersucht, ohne Praxis übernommen wurde. Die Einführung deren traditionelle Standesgeschichte zu und Moderation lag in den Händen von Prof. bedienen. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte. Forschungsprojekte Geschichte der Geschichte der Gesundheits- Gesundheits- berufe berufe (Ansprechpartner: Geschichte der Ärzteschaft auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Dr. Pierre Pfütsch) Baden-Württemberg von 1920 bis 1960 (Bearbeiter: Aaron Pfaff, M. A.) Forschungsprojekte Nachdem sich am Institut seit vielen Jahren die Pflegegeschichte als fester Bestandteil Ziel des im März 2018 begonnenen Projekts etabliert hat, wird seit einiger Zeit daneben ist es, die Geschichte der Ärzteschaft auf auch zur Entwicklung weiterer Gesundheits- dem Gebiet des heutigen Bundeslandes berufe geforscht. Dies liegt auch im Interes- Baden-Württemberg von 1920 bis 1960 auf- se solcher Berufsgruppen, denn die in vielen zuarbeiten. Der Schwerpunkt der Untersu- nichtärztlichen Gesundheitsberufen derzeit chung liegt dabei auf der NS-Zeit und der In- beginnende Akademisierung bringt einen tegration der Ärzteschaft in den Parteiappa- Wandel des beruflichen Selbstverständnis- rat und die NS-Gesundheitspolitik. Zentral ses mit sich, in dem die Auseinandersetzung ist hier der Themenkomplex Eugenik, wel- mit der eigenen Berufsgeschichte zuneh- cher sowohl in der Ärzteschaft als auch in mend wichtiger wird. Daher können die am der bürgerlichen Gesellschaft schon in der IGM durchgeführten Projekte einen Beitrag Weimarer Republik zunehmendes Interesse zur Herausbildung von Berufsidentitäten erfuhr. Dies war zunächst kein spezifisch leisten. nationalsozialistisches Thema, sondern wur- Im Zentrum stehen Fragen nach der Entste- de von allen Parteien des politischen Spek- hung und Weiterentwicklung der Berufe. trums behandelt. Ebenso wird der Umgang 24
der ärztlichen Standesorganisationen mit Ärztliche Selbstverwaltung in der Sozialgeschichte jüdischen bzw. nichtarischen Kollegen ana- Kaiserzeit 1871-1918 (Sachsen) (Be- der Medizin lysiert und auch hinsichtlich der Formen des arbeiter: Dr. Markus Wahl) Widerstands betrachtet werden. Der Unter- suchungszeitraum erstreckt sich dabei über Im Rahmen des Projektes der Sächsischen die Zäsur des Zweiten Weltkriegs hinaus, um Landesärztekammer zur „Entwicklung der auch die Reorganisation der Ärzteschaft in ärztlichen Selbstverwaltung in Sachsen“ der Nachkriegszeit im Hinblick auf Brüche wurde der Teilbereich über die Zeit des Kai- und Kontinuitäten beleuchten zu können. serreichs von 1871 bis 1918 bearbeitet. Mit Diese zeitliche Ausdehnung ermöglicht es, der Gründung der Ärztekammer im Jahre darüber hinausgehend sowohl die Entwick- 1872, maßgeblich initiiert durch den Dresd- lung der ärztlichen Aus- und Weiterbildung ner Arzt Dr. Hermann Eberhard Friedrich als auch den Umgang der etablierten Ärzte Richter, schloss sich Sachsen dem allgemei- mit dem medizinischen Nachwuchs und der nen Trend der sich etablierenden Selbstver- zunehmenden Bedeutung von Ärztinnen in waltungsformen für Ärzte in den anderen einem fast vollständig männlich dominierten Ländern an. In dem Projekt wurden diese Feld über unterschiedliche politische Syste- Anfänge erkundet und im Kontext der Ent- me hinweg zu betrachten. wicklungen im Deutschen Reich nach 1871 Als Quellen werden vor allem die Bestände beleuchtet. Die Artikulation von Standesin- der Innenministerien im Hauptstaatsarchiv teressen war eines der wichtigsten Anliegen Stuttgart bzw. im Generallandesarchiv Karls- der Zusammenschlüsse von Ärzten, die sich ruhe, die Akten der Spruchkammerverfahren in der Ausübung ihres Berufes nicht zuletzt im Staatsarchiv Ludwigsburg sowie das durch die neue Gewerbeordnung von 1869 Reichsarztregister und die Kartei der Reichs- (z. B. die Aufhebung des „Kurpfuscher“- ärztekammer des ehemaligen Berlin Docu- Verbotes) bedroht sahen. Jedoch ent- ment Center, nun im Bundesarchiv Berlin, brannte schnell ein Streit innerhalb der herangezogen. Hinzu kommen die Archive Ärzteschaft über die angestrebte Funktion der ärztlichen Selbstverwaltung, also Lan- der Ehrengerichtsbarkeit durch die Kammer desärztekammern und Bundesärztekammer als auch über die Formen der Verteidigung (Bundesarchiv Koblenz) sowie weitere regio- und Durchsetzung von Standesinteressen. nale Archive, medizinische Fachzeitschriften In diesem Kontext wurde der Leipziger Arzt und Ego-Dokumente. Hermann Hartmann aktiv und gründete im September 1900 den „Schutzverband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer Stan- desinteressen“ (später: Hartmannbund), 25
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