Tätigkeitsbericht 2019 - Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Wissen schafft Akzeptanz - BUNDESSTIFTUNG MAGNUS ...
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2 INHALT INHALT 3 Inhalt 4 Geleitwort 6 Einführung 10 Referat Kultur, 42 Wissenschaftliche 56 Förderung von Geschichte und Bestandsaufnahme externen Bildungs- Erinnerung über Konversions- und Forschungs- behandlungen projekten 11 Veranstaltungsreihe Lesbische Sichtbarkeit 46 Zentrale Erkenntnisse 70 Das Stiftungsjahr im Überblick 13 Archiv der anderen Erinnerungen der beiden Fachgutachten 75 Veröffentlichungen der 16 Hirschfeld-Jubiläumsjahre 48 Die 45 Kommissionsmitglieder Bundesstiftung Magnus 2018/2019 in alphabetischer Reihenfolge Hirschfeld und ihrer 22 14. Hirschfeld Lecture 51 Erfahrungen von Betroffenen Mitarbeiter_innen 25 Forschungsprojekte 53 Interview mit Bundesgesund- 29 Veröffentlichung heitsminister Jens Spahn 76 Kommunikations- und Medienarbeit 30 Referat Gesellschaft, Teilhabe und 82 Vermögensanlage Antidiskriminierung 94 Gewinn- und 31 Refugees & Queers Verlustrechnung 36 Fußball für Vielfalt 40 Buchveröffentlichungen 96 Drittmittelförderungen des Referats und Spenden 97 Kuratorium und Fachbeirat 102 Personalien 104 Ausblick 2020 106 Impressum
4 GELEITWORT GELEITWORT 5 Aus den vielfältigen Aktivitäten der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld besonders hervorheben möchte ich die Hirschfeld Lectures in Rostock. Die queere Perspektive auf die Geschichte des Holocaust wurde in einem Vortrag Geleitwort der zur Homophobie in der Lagergesellschaft mit erschüt- in historischen und aktuellen Zusammenhängen – ein ternden, sehr berührenden Lebensgeschichten vorge- Verdienst des Vorstandes und seiner Mitarbeiterinnen stellt. Queere Schicksale in der Vernichtungsmaschinerie und Mitarbeiter sowie des wissenschaftlich breit aufge- Kuratoriums- des Nationalsozialismus sind wenig erforscht. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass diese wissenschaftliche Analyse stellten und hochqualifizierten Fachbeirats. Und auch die richtungsweisenden, konstruktiven Beiträge des Kurato- vorsitzenden in der Schriftenreihe der Hirschfeld Lectures erscheinen wird. riums und seine verantwortungsbewussten Entscheidun- gen leisten ihren Teil zur Erfolgsgeschichte der Stiftung. Ganz gegenwartsbezogen beschäftigt sich die Bun- Die vielfältigen Herausforderungen, vor denen unsere desstiftung mit modernen, vielgestaltigen Familienkon- Gesellschaft wegen der Corona-Krise derzeit steht, ver- Der Schutz verletzlicher Minder- stellationen. Zurückgehend auf einen gemeinsam mit deutlichen uns: Solidarität ist eine notwendige Haltung. heiten und der Kampf gegen ihre Akteurinnen und Akteuren der Evangelischen Kirche im Seien wir deshalb auch solidarisch mit der Bundesstif- Jahr 2017 veranstalteten Fachtag betrachtet die von der tung, ihrem Vorstand und dessen Team. Sie treiben die Diskriminierung sind und bleiben Bundesstiftung mitherausgegebene Publikation „Familie Projektarbeit der Stiftung unbeirrt, sehr engagiert und so wichtig wie aktuell. von morgen“ zentrale familienpolitische Entwicklungen gegenwärtig nicht zuletzt unter erschwerten Bedingun- aus vielfältigen Perspektiven. Dabei widmet sie sich un- gen voran. Dafür spreche ich meinen aufrichtigen und ter anderem der wichtigen Frage, wie ein gutes Zusam- herzlichen Dank aus! © Thomas Köhler / photothek Mit dem vorliegenden Tätigkeitsbericht dokumentiert menleben der unterschiedlichen Familienformen weiter die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld abermals ihren gestärkt werden kann. Das ist gerade in Zeiten von Be- entschlossenen Einsatz für die Interessen von LSBTIQ*- deutung, in denen rechtspopulistische und religiös fun- Ich wünsche uns allen Gesundheit und die Stärke, die Menschen. Der Schutz verletzlicher Minderheiten und der damentalistische Gruppen die in diesem Bereich erzielten Herausforderungen, die auf uns zukommen, zu meistern. Kampf gegen ihre Diskriminierung sind und bleiben so Fortschritte ungeschehen machen wollen. wichtig wie aktuell. Deshalb danke ich der Bundesstiftung nachdrücklich für ihr breitgefächertes und beeindrucken- Lesbische Lebensweisen sichtbarer zu machen, ist Christine Lambrecht des Engagement. ein weiteres wichtiges Anliegen, das die Bundesstiftung Bundesministerin der Justiz und Magnus Hirschfeld beständig verfolgt. Welche Bedeu- für Verbraucherschutz, MdB Die Bilanz für das zurückliegende Jahr zeigt, dass die tung haben die sexuelle Orientierung und das Geschlecht Christine Lambrecht Bundesstiftung wieder einmal außerordentlich aktiv ge- etwa für Beruf und Karriere? Mit der größten Einzelför- wesen ist. Der gelungene Abschluss der Hirschfeldjubilä- derung in ihrer Geschichte hat die Bundesstiftung eine umsjahre 2018/2019 anlässlich des 150. Geburtstags von wissenschaftliche Studie finanziert, die diesen Themen Magnus Hirschfeld und des 100. Gründungstags seines nachgeht. Rechtsgeschichtliches Neuland betritt die For- Instituts für Sexualwissenschaft wird mit glanzvollen Ver- schung zum Sorgerechtsentzug lesbischer Mütter durch anstaltungen in Erinnerung bleiben. Für eine dauerhafte bundesdeutsche Gerichte, die die Bundesstiftung ge- Präsenz Hirschfelds auch über das Doppeljubiläum hinaus meinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte München- wird die Bundesstiftung mit einer Buchveröffentlichung Berlin betreut. Sorge tragen. Ein Sonderband in der Reihe der Hirschfeld Lectures wird die Persönlichkeit und das Wirken Hirsch- Wie der Tätigkeitsbericht dokumentiert, ist die Bun- felds würdigen und seine bis in die Gegenwart reichende desstiftung Magnus Hirschfeld mehr als nur eine Impuls- kulturelle und wissenschaftliche Bedeutung aufzeigen. geberin und Ansprechpartnerin innerhalb der Lebens- welten von LSBTIQ*-Menschen in Deutschland. Sie ist Wegbereiterin, um Antworten zu finden auf relevante, wenn auch mitunter kaum untersuchte Fragestelllungen
6 EINFÜHRUNG EINFÜHRUNG 7 2019 konnten wir zudem zentrale Projekte unserer Stiftung ausbauen und verstetigen: So wurden etwa im Rahmen des Projektes „Fußball für Vielfalt“ weitere Bil- dungsworkshops zusammen mit unserem Kooperations- Einführung des partner Prof. Dr. Martin Schweer von der Universität Vech- ta bei Vereinen oder z. B. anlässlich der erstmalig von der res „Archivs der anderen Erinnerungen“, unsere Veranstal- tungsreihe „Ein anderer Blick. Lesbische Lebenswelten in Vorstandes Antidiskriminierungsstelle des Bundes ausgerichteten Berlin“ oder die weitere Kooperation im Forschungspro- „Deutschen Antidiskriminierungstage“ durchgeführt. Mit jekt mit dem IfZ bei der vom Land Rheinland-Pfalz initi- RB Leipzig hat ein weiterer Fußballclub der 1. Bundesliga ierten und geförderten Studie „Juristische Diskriminie- mit uns kooperiert. Weitere Vereine haben die „Berliner rung lesbischer Frauen. Der Entzug des Sorgerechts bzw. Erklärung“ unserer Stiftung unterzeichnet. Damit ver- der elterlichen Gewalt in Rheinland-Pfalz“ und durch die Liebe Leser_innen, pflichten sie sich, aktiv gegen Homosexuellenfeindlich- eigene Fördertätigkeit unserer Stiftung: 2019 unterstütz- keit und gegen Sexismus vorzugehen und Forschung in ten wir mit 45.000 Euro das Forschungsprojekt „Lesbische die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) hatte in diesen Bereichen zu unterstützen. Frauen in der Arbeitswelt – The L-Word in Business. Fol- den beiden zurückliegenden Jahren zweifachen Anlass, gestudie II” der Frankfurt University of Applied Sciences in besonderem Maße ihren Namensgeber zu würdigen: Das „Archiv der anderen Erinnerungen“ konnte um (Projektleitung: Prof. Dr. Regine Graml u. a.). Unsere Stif- Am 14. Mai 2018 erinnerten wir an den 150. Geburtstag sechs Video-Interviews auf nunmehr 53 erweitert wer- tung hatte bereits die „Vorstudie I: Literaturanalyse“ im des Arztes Dr. Magnus Hirschfeld – diesen feierten wir mit den. In Kooperation mit der Stiftung Denkmal für die er- Jahr 2017 finanziert. Es ist damit insgesamt die höchste einem großen Festakt mit über 800 Gästen im Haus der mordeten Juden Europas wurde eine Testphase für eine Fördersumme, die unsere Stiftung seit ihrem Bestehen Kulturen der Welt in Berlin. 2019 jährte sich zum 100. Mal digitale Erschließung unserer Interviews begonnen. Wir insgesamt für ein Projekt vergeben hat. die Gründung seines Instituts für Sexualwissenschaft (6. arbeiten darauf hin, dass künftig alle Interviews besser © Martin Kirchner Juli 1919 bis 6. Mai 1933), das in kurzer Zeit Weltruhm er- und einfacher – etwa für Forschung und Bildung – digital Ich danke unserem wissenschaftlichen Referenten Dr. langte, jedoch von den Nationalsozialisten am 6. Mai 1933 zu recherchieren und zu nutzen sein werden. Daniel Baranowski und der studentischen Hilfskraft Liam geplündert und geschlossen wurde. Bley für die Arbeit des Referates Kultur, Geschichte und In unserer langjährigen Kooperation mit dem Institut Erinnerung, zu dem das Archivprojekt, die Hirschfeld-For- Wir haben die historische Chance dieses Doppeljubilä- für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) und seit nun be- schung, die Erforschung von Verfolgung und Repression Jörg Litwinschuh-Barthel ums genutzt, um Leben und Werk des jüdischen Sexual- reits fünf Jahren auch mit der Universität Stuttgart konnte sowie in Kooperation mit weiteren Partnerinnen auch das Geschäftsführender Vorstand wissenschaftlers und Vorkämpfers der ersten deutschen im Oktober 2019 das erste von drei geplanten Modulen Themenfeld „Lesbische Sichtbarkeit“ gehören. Homosexuellenbewegung, Magnus Hirschfeld, stärker „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexuel- im gesellschaftlichen Gedächtnis der Bundesrepublik ler Männer in Baden und Württemberg 1919 bis 1969“ als Durch die Vorarbeiten in unserem Referat Gesell- Deutschland, aber auch darüber hinaus zu verankern. Teilmodul des größeren Forschungsprojektes „LSBTTIQ in schaft, Teilhabe und Antidiskriminierung in vorherigen Nicht zuletzt durch den Festakt 2018 und durch die Ge- Baden und Württemberg. Lebenswelten, Repression und Jahren konnten wir 2019 erstmals zwei grundlegende denkfeier anlässlich des Jubiläums der Institutsgründung Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesre- Fachbücher zu den Themenfeldern „Queere Geflüchtete“ im Beisein von Berlins Senatorin für Gleichstellung Dilek publik Deutschland“ unter der Leitung von Prof. Wolfram und „Neue Familien-Politik(en)“ herausgeben: Deren wis- Kalayci am 6. Juli 2019 am ehemaligen Standort des Insti- Pyta, Historisches Institut, Abteilung Neuere Geschichte, senschaftliche Ergebnisse basieren auf Fachtagen unserer tuts an der Spree im Berliner Tiergarten, aber auch durch abgeschlossen werden. Dr. Julia Noah Munier oblag als Stiftung, die von dem o. g. Referat konzipiert und durch- zahlreiche weitere Veranstaltungen konnte die Lebens- akademische Mitarbeiterin die wissenschaftliche Erfor- geführt wurden. Ich wünsche mir, dass diese beiden Fach- leistung Hirschfelds gesellschaftlich breiter als bisher the- schung der genannten Thematik: Die Studie erscheint bücher zu wichtigen Impulsgebern in Wissenschaft und matisiert werden. Die Resonanz auf die Jubiläumsprojek- 2020 in der neuen Reihe „Geschichte in Wissenschaft und Bildung werden und danke unserer Mitherausgeberin te ist abschließend betrachtet in jeder Hinsicht erfreulich Forschung“ im Kohlhammer Verlag. Carolin Küppers – wissenschaftliche Referentin des Refe- und zeigt uns mehr denn je, wie lebendig und bedeutsam rates – sowie Kristina Hens, die als studentische Hilfskraft Hirschfelds wissenschaftliches und kulturelles Erbe gera- Die Förderung der Sichtbarkeit vielfältiger lesbischer und danach als freiberufliche Mitarbeiterin mehr als zwei de in Zeiten wachsenden Rechtspopulismus, von Funda- Lebensweisen durch Bildung und Forschung und die mentalismus und der daraus resultierenden Notwendig- Dokumentation von Diskriminierungserfahrungen und keit einer beharrlichen Demokratieförderung ist. -strukturen sind seit Jahren ein wichtiges Anliegen unse- rer Stiftung: sei es durch die bereits erwähnte Arbeit unse-
8 EINFÜHRUNG EINFÜHRUNG 9 hervorgegangen. Ich freue mich sehr, die Sachkenntnis unserer Stiftung und unserer Netzwerke erstmals für ein geplantes Gesetzgebungsverfahren einbringen und da- „Wir engagieren uns auch im mit die Bundesregierung konkret bei einem die LSBTIQ*- Jahr 2020 für die Gleichstellung Jahre an der Vorbereitung und Vollendung der aufwendi- Community in besonderem Maße betreffenden Thema stelle) ist in unserer Stiftung für das externe Projektförde- gen Publikationen bis zum Sommer 2019 maßgeblich mit- wissenschaftlich begleiten zu können. Wesentliche Hand- rungsmanagement verantwortlich; zudem ist sie die As- sowie Sichtbarkeit und gegen gewirkt hat. Carolin Küppers schied im Mai 2019 aus unse- lungsempfehlungen, welche wir in einer eigenen Zehn- sistenz der Geschäftsführung. Sie unterstützte mich auch die Diskriminierung von rer Stiftung aus. Für ihre wissenschaftliche Arbeit danke Punkte-Empfehlung im Abschlussbericht formulierten, 2019 in organisatorischen und administrativen Aufgaben, ich ihr im Namen des gesamten Teams. fanden letztlich auch Eingang in den Referentenentwurf begleitete mich zu parlamentarischen und Kooperations- LSBTIQ*-Personen auf viel- des BMG für das geplante Gesetz. gesprächen und ist die erste Ansprechpartnerin der Stif- fältige Art und Weise durch Unser von der Bundeszentrale für politische Bildung tung bei allen administrativen Fragen zur IT. Allen haupt- (BpB) seit 2016 gefördertes Modellprojekt „Refugees Genau in der Zeit dieser wissenschaftlichen Bestands- amtlichen und studentischen Mitarbeiter_innen der BMH Bildungs- und Forschungs- & Queers – LSBTTIQ und Flucht/Migration/Asyl“ ist im aufnahme begann unser neuer Mitarbeiter Dr. Matti möchte ich an dieser Stelle für die geleistete Arbeit ein tätigkeit.“ Sommer 2019 ebenfalls zu einem Abschluss gelangt. Ich Seithe seine Tätigkeit (50 % Teilzeitstelle) in dem neu ge- ganz herzliches Dankeschön sagen. danke dem seit 2019 zuständigen Projekt-Referenten Ri- gründeten Referat Medienarbeit und Veranstaltungsma- Jörg Litwinschuh-Barthel chard Ernest Badih und seinem Team – Konstantin Shers- nagement. Mit seiner Arbeit, z. B. bei der Vermittlung der Der Förderkreis der Bundesstiftung Magnus Hirsch- tyuk (Assistenz der Projektleitung) und Mohammad Dalla Ergebnisse der Kommissionsarbeit, trug Dr. Matti Seithe feld e. V. hat seit Februar 2019 Bernd Schachtsiek als neu- (studentische Hilfskraft) für ihre abschließende Arbeit in zu dem großen Erfolg der medialen Berichterstattung bei. en Vorsitzenden. Er ist unserer Stiftung sowie dem Verein diesem Leuchtturmprojekt. Das so wichtige Themenfeld Gemessen an der Medienrezeption war das vom BMG ge- seit Jahren eng verbunden. Ich danke der scheidenden „LSBTIQ*-Geflüchtete“ wird unsere Stiftung selbstver- förderte Projekt dasjenige unserer Stiftung mit der höchs- Vorsitzenden unseres Fördervereins, Bundesjustizminis- ständlich auch in Zukunft weiter aktiv bearbeiten: Mo- ten öffentlichen Aufmerksamkeit seit ihrer Gründung terin a. D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, für ihre vor. Unser Fachbeiratsvorsitz Prof. Dr. Michael Schwartz hammad Dalla hat das Forschungsfeld im Herbst 2019 im Jahr 2011. 2019 baute Dr. Matti Seithe die Angebote langjährige Arbeit als Vorstandsvorsitzende des Vereins. und Lucie Veith leiteten auch im Jahr 2019 das Gremium weiter verstetigt und an der Vorbereitung der Konferenz unserer Social-Media-Kanäle aus und professionalisierte Wir freuen uns, dass sie dem Förderkreis als Mitglied des mit großem Geschick, mit Leidenschaft und Sachkenntnis. „Under the European Asylum Rainbow: Intersectional die Stiftungskommunikation mit unseren Stakeholdern in Vorstands erhalten bleibt und weiterhin aktiv im Verein Queer Challenges 2020“maßgeblich mitgewirkt. Medien, Politik und Gesellschaft. mitwirkt. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wird sich auch im Jahr 2020 mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräf- Eine ganz besondere Herausforderung und Chance „Ohne Moos nix los“ ist ein einfaches, aber richtiges Last but not least geht mein Dank an die Mitglieder ten und Möglichkeiten für die Gleichstellung sowie Sicht- zugleich war im zurückliegenden Geschäftsjahr unsere Sprichwort. Auch eine Bundesstiftung kann ihre ambi- des Kuratoriums und des Fachbeirates für ihr hohes Enga- barkeit und gegen die Diskriminierung von LSBTIQ*-Per- „Wissenschaftliche Bestandsaufnahme von Erkenntnissen tionierten Zwecke nicht nur durch gutes Personal allein gement zum Wohle unserer Stiftung. Bundesministerin a. sonen auf vielfältige Art und Weise durch Bildungs- und über sog. ‚Konversionstherapien‘“, die das Bundesministe- erfüllen: Es braucht mittel- bis langfristig planbare finan- D. Dr. Katarina Barley gebührt mein Dank für die vertrau- Forschungstätigkeit engagieren. rium für Gesundheit (BMG) finanziert hat: Im April konnten zielle Mittel für die eigenen operativen und zu fördernden ensvolle Arbeit als Kuratoriumsvorsitzende. Im August wir dem BMG im Rahmen unserer Forschung bereits zwei Projekte. Dank der institutionellen Förderung des Bundes, 2019 übernahm Bundesministerin der Justiz und für Ver- In diesem Sinne: Fordern und fördern Sie uns bitte auch wissenschaftliche Gutachten übergeben, die wir bei Prof. durch die unsere Arbeit nun bereits seit drei Jahren er- braucherschutz Christine Lambrecht, MdB, die schon bei weiterhin, und bleiben oder werden Sie gesund! Dr. iur. Martin Burgi von der Ludwig-Maximilians-Universi- heblich verbessert werden konnte, sowie durch unsere er- der Gründung unserer Stiftung im Deutschen Bundestag tät in München (LMU) sowie bei Prof. Dr. med. Peer Briken folgreiche Vermögensanlage und Drittmitteleinwerbung eine entscheidende Rolle gespielt hat, nahtlos den Kura- vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in konnte der Haushalt unserer Stiftung auch 2019 mit den toriumsvorsitz. Sie hat unsere Arbeit bereits in vielfacher Berlin, 27. April 2020 Auftrag gaben. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn stetig wachsenden Aufgaben und Anforderungen wach- Hinsicht tatkräftig unterstützt. Zudem stellte sie bereits war zuvor unserer Empfehlung und unserem Besetzungs- sen. 2018 – damals noch in ihrer Funktion als Parlamentarische vorschlag für die Einrichtung einer 45-köpfigen Fach- Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen – die kommission, die am 8. Mai und am 5. Juni 2019 in Berlin Christine Welack war auch im Jahr 2019 mit ihren viel- Sonderbriefmarke „150. Geburtstag Magnus Hirschfeld“ tagte, gefolgt. Aus dieser Arbeit ist ein umfangreicher, in fältigen und umfangreichen Aufgaben als Sachbearbeite- im Centrum Judaicum in Berlin mit großem Engagement der Öffentlichkeit sehr stark rezipierter Abschlussbericht rin Allgemeine Verwaltung, Buchhaltung, Haushalt und Jörg Litwinschuh-Barthel Finanzen das Rückgrat im Sekretariat unserer Stiftung. Sie arbeitet eng mit den Referaten zusammen und mit mir als Vorstand z. B. bei Verwaltungsberichterstellungen und Haushalts-Evaluationen. Franziska Kohse (Dreiviertel-
10 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 11 Referat Kultur, Veranstaltungsreihe Lesbische Sichtbarkeit Geschichte und Erinnerung Angela Steidele hat sich mit dem Leben und Lieben von Lesben insbesondere in der Zeit vor 1850 auseinander- gesetzt. Die Literaturwissenschaftlerin und Autorin re- Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750–1850“ (2003) über die Biografie „In Männerkleidern. Das verwe- gene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Lagranti- cherchierte zu unbekannten, unbeachteten und unent- nus Rosenstengel, hingerichtet 1721“ (2004) bis zu ihren deckten Frauen und veröffentlichte in den vergangenen literarischen Werken „Geschichte einer Liebe: Adele Scho- Jahren hochgelobte Romane und Essays, die sich den Le- penhauer und Sibylle Mertens“ (2011), „Rosenstengel. Ein ben der lesbischen Protagonistinnen auf poetische Weise Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.“ (2015), „Anne annähern. Lister. Eine erotische Biographie“ (2017), dem Reisebericht „Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg“ In einer Kooperationsveranstaltung mit der Zeitschrift (2018) und ihrer jüngst erschienenen „Poetik der Biogra- L.MAG und Spinnboden Lesbenarchiv und -bibliothek las phie“ (2019). Angela Steidele am 22. November 2019 im Haus für Poe- sie vor dem zahlreich erschienenen Publikum aus unter- schiedlichen Texten: Von ihrer Dissertation „Als wenn Du mein Geliebter wärest. Liebe und Begehren zwischen © BMH © BMH Dr. Daniel Baranowski Liam Bley Die Autorin Angela Steidele las Wissenschaftlicher Referent Kultur, Studentische Hilfskraft aus ihrem Werk vor etwa 100 Geschichte und Erinnerung Zuschauer_innen © BMH
12 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 13 Diese Werkschau lieferte einen beeindruckenden derer Blick. Lesbische Lebenswelten in Berlin“ durch. Die Überblick über Angela Steideles Schaffen, das sich auf der Kooperation soll verstetigt und in den kommenden Jah- Grenze von Fiktion, Dichtung und Literatur auf der einen, ren fester Bestandteil des Stiftungskalenders werden. Die sowie Bericht, Wahrheit und Dokumentation auf der an- BMH will dadurch dem Thema „Lesbische Sichtbarkeit“, deren Seite bewegt. das sie als Querschnittsthema in allen Projekten begreift, ein deutlicheres Profil geben. Archiv der anderen Erinnerungen Im Gespräch mit der L.MAG-Verlegerin Gudrun Fertig gab Angela Steidele Einblicke in ihre Schreib- und Ideen- werkstatt und machte deutlich, wie schwierig es zuweilen ist, lesbische Lebenswelten und lesbische Frauen in den Archiven aufzuspüren. Die Veranstaltung war bereits die zweite Kooperation mit L.MAG. Schon 2018 führten die Durch die finanzielle Unterstützung der Landesstelle für BMH und L.MAG gemeinsam mit weiteren Kooperations- Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS) in partnerinnen die dreiteilige Veranstaltungsreihe „Ein an- Berlin konnten 2019 sechs weitere Interviews mit lesbi- schen Frauen für das Interviewprojekt „Archiv der ande- ren Erinnerungen“ durchgeführt werden. Angela Steidele las aus ihren Wer- Das „Archiv der anderen Erinnerungen“ hat zum Ziel, ken, die sie anschließend mit den die Lebenswelten von LSBTIQ* in Videozeugnissen zu er- fast 100 Gästen in einem Werkge- heben, diese später umfangreich zu erschließen und für spräch diskutierte Forschung, Bildung und Lehre zur Verfügung zu stellen. Das Projekt hatte Ende 2013 mit einem Interview mit Klaus Born seinen Anfang genommen und erlebt mittler- weile einen so großen Zuspruch, dass 2019 erstmals keine Recherchen für neue Interviewte vorgenommen werden mussten, da es bereits genügend Interessierte gab, die Zeitzeugin Mahide Lein (3. v. l.) mit einem Interviewteam der BMH (v. l.: Katrin Ebell, Liam Bley, Andreas Pretzel) © BMH © BMH
14 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 15 ihre Lebensgeschichten der BMH anvertrauen wollten. Parallel zur Erhebung wurde durch eine Koopera- Die BMH ist allen Interviewten zu großem Dank für ihr tion mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Vertrauen und ihre Bereitschaft, über ihr Leben zu spre- Europas ein Testlauf zur Erschließung der Interviews be- chen, verpflichtet. gonnen. In einer von der Stiftung Denkmal entwickelten Datenbank zur Auswertung lebensgeschichtlicher Video- Die 53, im Durchschnitt mehr als dreieinhalb Stunden interviews werden zunächst drei Interviews der BMH langen lebensgeschichtlichen Videointerviews, sind fast umfangreich erschlossen: Neben den Wort-für-Wort- vollständig transkribiert und setzen sich aus 26 Lesben-, Transkriptionen werden zu jedem Interview Sequenzie- 23 Schwulen- und vier Trans*-Interviews zusammen. Auch rungen, Verlaufsprotokolle, Verschlagwortungen, kon- 2020 werden durch die Unterstützung der LADS mindes- textualisierende Zusammenfassungen, Kurzübersichten tens vier weitere Interviews mit lesbischen Frauen hinzu- und Kontextbeschreibungen sowie Lebensläufe der Inter- kommen. Im Rahmen einer Kooperation mit dem Projekt viewten erstellt. „Queer durch Tübingen“ des Stadtarchivs Tübingen konn- te 2019 ein zusätzliches Interview durchgeführt werden, dem 2020 bis zu drei weitere folgen werden. Auch Astrid Osterland gab 2019 dem Archiv der anderen Erinnerungen ein Interview © Privat Unterstützen Sie das Archiv der anderen Erinnerungen! Wir freuen uns über Ihre Spende. Bitte geben Sie bei Ihrer Überweisung im Feld Verwendungszweck folgende Zweckbindung an: Archiv der anderen Erinnerungen Kontoinhaberin: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Kreditinstitut: GLS Bank IBAN: DE29 4306 0967 1219 0024 00 BIC: GENODEM1GLS
16 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 17 Forschungseinrichtung und Zufluchtsort Vor 100 Jahren gründete Magnus Hirschfeld sein nach Sexual- oder Paarberatung. Die weltweit einmalige Berliner Institut für Sexualwissenschaft Einrichtung wird Anziehungspunkt namhafter Gäste wie dem KPD-Politiker Willy Münzenberg, dem dänischen Ma- Im Jahre 1919 erfüllt sich der Arzt und Sexualreformer ler Einar Wegener (später Lili Elbe) und vielen Schriftstel- Magnus Hirschfeld einen lang gehegten Wunsch. Mit ler_innen, darunter Christopher Isherwood, Alfred Döblin, seinem Privatvermögen erwirbt er das Hatzfeldsche Pa- André Gide, Herman Bang und Robert Hichens, die ihre lais in Berlin-Tiergarten und eröffnet dort am 6. Juli das Eindrücke zum Teil auch literarisch verarbeiteten. weltweit erste „Institut für Sexualwissenschaft“. Es ist Hirschfeld- gleichermaßen wissenschaftliche Forschungs-, Lehr- und Schulungsstätte, Archiv sowie eine Bibliothek, die mit 10.000 Büchern weltweit als die größte sexualwissen- Als jüdisch, sozialdemokratisch und sittenwidrig de- nunziert, ist das Institut immer wieder auch Hassobjekt, nicht nur bei Nationalsozialisten. Am 6. Mai 1933 dringen Jubiläumsjahre schaftliche Sammlung gilt. Die Einrichtung ist aber auch SA-Studenten in das Institut ein, verwüsten die Räume Ausgangspunkt für sexualreformerische Bestrebungen. und plündern die große Bibliothek. Magnus Hirschfeld Die 115-Zimmer-Villa nahe dem Reichstag mit mehreren muss im französischen Exil erfahren, dass bei der Bücher- 2018/2019 Arztpraxen, Gästezimmern und Vortragssälen entwickelt verbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz seine sich zudem auch als Zufluchtsort für homosexuelle und Sammlung in die Flammen geworfen wurde. 1943 wird transidente Menschen. das Gebäude zerbombt. An dessen Stelle steht heute das Haus der Kulturen der Welt. Über 40 Personen arbeiten am Institut für Sexualwis- senschaft auf sehr verschiedenen Gebieten, etwa in der Forschung, der Sexualberatung, der Behandlung von Ge- © Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft schlechtskrankheiten und der sexuellen Aufklärung der Bevölkerung. Auch hatten das Wissenschaftlich-humani- täre Komitee, die weltweit erste Homosexuellenorganisa- tion, sowie die Weltliga für Sexualreform dort ihren Sitz. In kurzer Zeit wird das Institut zu einer bekannten Ad- resse für Wissenschaftler_innen und Politiker_innen aus dem In- und Ausland. Die Berliner Bevölkerung schätzt e. V., Berlin es als beratende und behandelnde Einrichtung für „kör- 100 JAHRE GRÜNDUNG perliche und seelische Sexualleiden” und insbesondere INSTITUT FÜR für „sexuelle Zwischenstufen“. Allein im ersten Jahr be- SEXUALWISSENSCHAFT suchen rund 3.500 Patient_innen das Institut, etwa ein (1919-1933) Drittel davon homosexuell, trans- oder intergeschlecht- Historische Postkartenansicht des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin (1919-1933) lich. Heterosexuelle Personen sind meist auf der Suche
18 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 19 Gedenkveranstaltung am Haus der Kulturen der Welt Zum Ende des Festprogramms ließen die Gäste gemeinsam 100 bunte Luftballons steigen © BMH Mit einer gemeinsamen Veranstaltung erinnerten die Ein weiteres Grußwort kam von Daniel Neugebauer, Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, das Queere Kulturhaus dem stellvertretenden HKW-Intendanten, dessen Ein- (E2H) und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) richtung die Veranstaltung unterstützte. Die Chansonet- am 5. Juli 2019 an die Gründung des Instituts für Sexual- te Sigrid Grajek lieferte mit dem „Lila Lied“ die passende wissenschaft von Magnus Hirschfeld vor 100 Jahren. An musikalische Umrahmung. Anlässlich der Jubiläumsjahre © BMH der Gedenkstunde auf dem Gelände des Hauses der Kul- wurde auch der BMH-Kurzfilm „Magnus Hirschfeld. Ein turen der Welt (HKW), also in unmittelbarer Nähe des eins- Jahrhundertreformer“ überarbeitet und wird seit Juni tigen Institutsstandortes, haben rund 100 Menschen, da- 2019 dauerhaft und öffentlich im Bereich der Hirschfeld- Sängerin Sigrid Grajek, Ralf Dose (Magnus Hirschfeld Gesellschaft), Senatorin Dilek Kalayci, Jan runter zahlreiche offizielle Vertreter_innen aus der Politik Bar des Hauses der Kulturen der Welt in Endlosschleife Feddersen (Initiative Queer Nations), Jörg Litwinschuh-Barthel, Franziska Kohse (v. l.) und der queeren Community teilgenommen. Neben dem gezeigt. Historiker Ralf Dose als Vertreter der Magnus-Hirschfeld- Gesellschaft und Christiane Härdel vom Queeren Kultur- haus (E2H) sprach auch die Senatorin für Gesundheit, Pfle- ge und Gleichstellung, Dilek Kalayci.
20 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 21 Bilanz der Ralf Dose: Das ist meines Erachtens eine kontinuierliche Entwicklung. Wenn wir uns erinnern, wie schwer sich die Schwulenbewegung der 1970er und auch Jubiläumsjahre noch in den frühen 1980er Jahren mit Hirschfeld getan hat! Zwar wurde Hirsch- felds Rolle in der Emanzipationsgeschichte und sein Engagement im Kampf gegen den Paragrafen 175 gewürdigt. Seine als biologistisch wahrgenomme- nen Thesen machten ihn aber auch suspekt und zu einer eher randständigen Interview mit Ralf Dose Figur. Das hat sich sehr deutlich verändert, vor allem, weil nun viel deutlicher erkannt wird, wie er die Vielfalt der heute als queer bezeichneten Community beschrieben hat. Er wird dadurch in weitaus umfassenderen Maßen als wichti- © Andreas Pretzel In den Hirschfeld-Jubiläumsjahren 2018 und 2019 erinnerte die Bundesstif- ger Vorläufer der LSBTIQ*-Bewegung betrachtet. tung Magnus Hirschfeld zusammen mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft an Leben und Werk ihres Namensgebers. Am 14. Mai 2018 wäre der schwule, Das sehe ich auch an den vielen Anfragen, die wir in der Magnus-Hirschfeld- jüdische und sozialdemokratische Arzt Dr. Magnus Hirschfeld 150 Jahre alt ge- Gesellschaft verstärkt aus dem Ausland bekommen. Die Auseinandersetzung worden. Im Jahr 2019 jährte sich zum 100. Mal die Gründung seines Instituts für mit Hirschfeld ist komplexer geworden, gerade auch was seine humane Vor- Sexualwissenschaft in Berlin. stellung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt angeht. Ralf Dose Historiker Der Historiker Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft bilanziert im Interview die vielfältigen Aktivitäten und Gedenkveranstaltungen anlässlich Das heißt, Magnus Hirschfeld wird insbesondere im wissenschaftlichen der beiden Jubiläen. Kontext neu entdeckt? Ralf Dose: Das lässt sich definitiv so sagen. Hirschfeld wird innerhalb der Queer In den vergangenen zwei Jahren wurde Magnus Hirschfeld nicht nur mit einer Theory und in jüngerer Zeit auch zunehmend in der Transgender-Forschung Sonderbriefmarke geehrt, sondern ihm wurde auch mit Festakten, Kongres- auffallend intensiv rezipiert. Das gilt insbesondere auch für sein Institut und sen und anderen Veranstaltungen gedacht. Welches Resümee ziehen Sie aus die dort angestellten Bemühungen, trans* Personen eine Lebensperspektive diesen Jubiläumsfeierlichkeiten? zu bieten. Ralf Dose: Ich denke, dass es gelungen ist, Magnus Hirschfeld wieder im öf- fentlichen Bewusstsein zu verankern. Das war lange nicht der Fall. Zu seinem Gab es für Sie ein ganz persönliches Highlight oder einen besonders be- 100. Geburtstag 1968 gab es, wenn überhaupt, bestenfalls einen kleinen Arti- wegenden Moment in diesen beiden Hirschfeld-Jubiläumsjahren? kel in einer medizinischen Zeitschrift. Ralf Dose: Ich denke da an zwei Dinge. Zum einen an den Festakt zum 150. Die Festivitäten und die mediale Aufmerksamkeit anlässlich des 150. Geburts- Geburtstag in Berlin, zu dem wir alle lebenden Familienangehörigen Hirsch- tages zeigten uns, dass die kontinuierliche Arbeit, etwa der Magnus-Hirsch- felds zusammenbringen konnten. Es war so schön zu erleben, wie über die- feld-Gesellschaft in den letzten vier Jahrzehnten und seit 2011 auch der Bun- ses Zusammentreffen der – im doppelten Wortsinne – entfernten Verwandten desstiftung Magnus Hirschfeld, Früchte trägt. Freundschaften entstanden. Und auch als Hirschfeld-Gesellschaft haben wir enge Kontakte knüpfen können. Wie weit sich die Bedeutung und das Wirken Hirschfelds über die LSBTIQ*- Community und Fachkreise hinaus auch nachhaltig ins kollektive Gedächtnis Das andere Highlight ist der immense Erfolg der ALMS-Konferenz „Queering festschreiben konnte, lässt sich aber nur vermuten. Memory“ mit fast 500 Leuten aus wirklich allen Teilen der Welt – aus Moskau, Peking über Pakistan bis Brasilien. Gerechnet hatten wir mit 200 Teilnehmen- den. Dieses große internationale Interesse habe ich auch als Bestätigung unse- Die Jubiläen waren Anlass nicht nur für zahlreiche Veranstaltungen, sondern rer Arbeit betrachtet. haben auch in den Medien große Resonanz gefunden. Hat sich durch die breite Beschäftigung mit Hirschfelds Leben und Werk auch dessen öf- fentliches Bild verändert?
22 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 23 Nach der Befreiung wurde die schwererkrankte Mar- sich jedes Jahr und als Ditha im Sterben lag, war Margot got nach Schweden gebracht und so verloren sich die bei- an ihrer Seite. Heute muss sich Margot nicht mehr verste- den zeitweilig aus den Augen. Später emigrierte Margot cken. Mit 88 hatte sie ihr verspätetes Coming-out – und in die USA. Um ihren Kinderwunsch zu erfüllen, heiratete niemand von ihrer Familie war erstaunt. 14. Hirschfeld Lecture sie später. Dithas Weg führte über England nach Kanada. Doch die beiden Frauen hielten engen Kontakt, sahen Homophobie in der Lagergesellschaft. Dr. Anna Hájková © BMH Holocaustüberlebenden, die KZ und Ghettos überlebte. In Theresienstadt traf sie die gleichaltrige Ditha aus Wien, die nur mit ihrer Großmutter und Tante ins Ghetto depor- tiert worden war. „Ich hätte alles für Ditha gemacht”, be- richtete Margot über die Bedeutung ihrer gegenseitigen Zuneigung. 1944 wurde Margot mit ihrer Familie in einen Bereich des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau de- portiert, der als Theresienstädter Familienlager bekannt geworden ist. „Ich fühlte mich schrecklich und sehr ver- loren, als ich sie [Ditha] in Theresienstadt zurücklassen musste“, blickte Margot 1992 zurück. Die queere Geschichte des Holocaust, das heißt, die Frage nach gleichgeschlechtlichem Verlangen unter den Opfern Als sie im Familienlager einige Tage später wieder auf des organisierten Massenmords im Nationalsozialismus, Ditha traf, war dies für Margot eine große Erleichterung, ist weitgehend unerforscht. Diese Lücke wird nun erst „ich war glücklich.“ Anfang Juli wurde das Familienlager durch Dr. Anna Hájková, Associate Professor an der Uni- geschlossen, alle „arbeitsfähigen“ Menschen zur Sklaven- versity of Warwick, geschlossen. Sie hat dazu einerseits arbeit verschleppt, die „nichtarbeitsfähigen“ ermordet. bereits vorhandene Quellen neu und aus einer queeren Margot beschloss, Ditha zu folgen; sie war nun ihre Fami- Perspektive gelesen, aber auch wie im Falle der Ausch- lie. Margots Eltern und die jüngere Schwester Lore blieben witz-Überlebenden Margot H. selbst Interviews geführt. zurück. Die beiden Mädchen wurden in drei Außenlager des KZ Neuengamme überstellt, um dort Zwangsarbeit Mit ihrem Vortrag „Homophobie in der Lagergesell- zu leisten. Ditha und Margot blieben bis Kriegsende zu- schaft: Holocaust, queeres Verlangen und Kontinuitäten sammen. Ihre Odyssee endete am 15. April 1945 mit der der Ausgrenzung“ in der Aula der Universität Rostock, Befreiung des KZ Bergen-Belsen. präsentierte die Historikerin einen Teil ihrer Forschungs- Die Historikerin Dr. Anna Hájková hielt das wissenschaftliche Referat mit dem Titel ergebnisse. In ihrer Hirschfeld Lecture am 9. Dezember „Homophobie in der Lagergesellschaft“ 2020 zeigte Dr. Anna Hájková an konkreten Einzelschick- salen verschiedene Formen der romantischen, erzwunge- nen und abhängigen Beziehungen. Als ein Beispiel schil- derte sie das Schicksal der jüdischen Bielefelderin Margot H., die 1942 im Alter von 14 Jahren mit ihrer Familie in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Hájkovás Inter- view mit Margot ist das allererste Zeugnis einer lesbischen
24 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 25 Forschungsprojekte Forschungsbericht „Aufarbeitung von Diskriminie- „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale rung lesbischer Mütter in Rheinland-Pfalz“ homosexueller Männer in Baden und Württemberg 1919-1969“ Mit der Frage des Sorgerechtsentzugs lesbischer Mütter durch bundesdeutsche Gerichte beschäftigt sich seit zwei Mit dem 2016 gestarteten Forschungsprojekt „Lebenswel- Jahren ein Forschungsprojekt, das die BMH gemeinsam mit ten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin im Auftrag in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus und des Ministeriums für Familie, Frauen, Jugend, Integration in der Bundesrepublik Deutschland“ setzt das Land Ba- und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz durchführt. den-Württemberg nicht nur ein wichtiges gesellschafts- politisches Zeichen, sondern es füllt zudem auch „einen blinden Fleck in der wissenschaftlichen Forschung über Strafverfolgung und gesellschaftliche Ausgrenzung von Homosexuellen“ in der Geschichte des Bundeslandes, wie © BMH BMH es die baden-württembergische Ministerin für Wissen- © schaft, Forschung und Kunst, Theresia Bauer (Bündnis 90/ Die Grünen), formulierte. Mit Mitteln ihres Hauses konnte Dr. Ulrich Baumann (Stiftung Denkmal), Dr. Daniel Baranowski (BMH), das in drei Module aufgeteilte und auf drei Jahre ange- Liam Bley (BMH), Dr. Anna Hájková, Matti Seithe (BMH), Landesrabbiner legte Projekt in Angriff genommen werden. Yuriy Kadnikov, Lotte Hiller (v. l.) Das Teilmodul „Lebenswelten und Verfolgungsschick- sale homosexueller Männer in Baden und Württemberg © Jörg Scheibe im Nationalsozialismus und nach 1945“ lief unter der Lei- Anhand der verschiedenen Beispiele von gleichge- Die 14. Hirschfeld Lecture fand in Kooperation mit der tung von Prof. Wolfram Pyta von August 2016 bis Oktober schlechtlichen Beziehungen und Sexualität unter Häftlin- Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, 2019 an der Universität Stuttgart, Historisches Institut, Ab- gen bzw. mit Lagerpersonal verdeutlichte Dr. Anna Hájko- der Jüdischen Gemeinde Rostock sowie der AG Gender teilung Neuere Geschichte. Dr. Julia Noah Munier oblag vá in ihrem Vortrag, dass nur durch eine Gleichzeitigkeit und Queer Studien der Universität Rostock statt. als als akademischer Mitarbeiterin die wissenschaftliche Dr. Kirsten Plötz von queerer und Heterosexualität das Verhalten der Opfer Erforschung der genannten Thematik. Kooperiert wurde Historikerin verstanden werden könne. Damit müsse vom ausschließ- Eine erweiterte Version des Vortrags wird im ersten innerhalb des ersten Forschungsmoduls mit dem Institut lichen Konzept der sexuellen Identität Abschied genom- Halbjahr 2021 unter dem Titel „Menschen ohne Ge- für Zeitgeschichte München-Berlin (IFZ) in Gestalt von men und von Akten und Praktiken gesprochen werden. schichte sind Staub. Homophobie und Holocaust“ als Prof. Michael Schwartz und mit der Bundesstiftung Mag- Erst dieser Zugang ermögliche ein inklusives Verständnis Band 14 der Reihe Hirschfeld Lectures im Wallstein Ver- Für die Forschung beauftragt wurde die Historikerin nus Hirschfeld (BMH). von menschlichem Verhalten angesichts des Extremen. lag Göttingen erscheinen. Dr. Kirsten Plötz, die bereits die erste Studie über Diskri- minierung lesbischer Liebe in Rheinland-Pfalz 1946-1973 Geforscht wurde insbesondere in den Staats- und erstellte und seit langem zur lesbischen Geschichte in den Landesarchiven im Land Baden-Württemberg, wie dem ersten Jahren der Bundesrepublik arbeitet. Dr. Kirstin Plötz Hauptstaatsarchiv Stuttgart, dem Generallandesarchiv wird den Abschlussbericht ihres Forschungsprojektes im in Karlsruhe, dem Staatsarchiv Ludwigsburg, den Staats- September 2020 in Mainz der Öffentlichkeit vorstellen. archiven Freiburg und Sigmaringen, aber auch in relevan- ten Stadtarchiven. Darüber hinaus wurden auch die Quel- Weitere Informationen zum Projekt: https://sorgerecht- lesbischer-muetter.de/ueber-das-projekt/
26 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 27 len in speziellen Archiven, wie dem Schwulen Museum Verfolgungsgeschichte und -praxis ebenso wie die Doku- nelle Schicksal, das homosexuelle Männer in der Zeit des 1935 sprunghaft anstiegen. Zudem kann innerhalb der Berlin und dem Archiv der anderen Erinnerungen der mentation von Verfolgungsschicksalen. Darüber hinaus nationalsozialistischen Terrors im deutschen Südwesten Forschung ein gravierender qualitativer, das Strafmaß be- Bundesstiftung Magnus Hirschfeld berücksichtigt. Auf galt es die Frage nach dem Entstehen und Fortwirken erleiden mussten, deutlich. Im reichsweiten Vergleich ver- treffender, Anstieg der Verfolgung der nach § 175, § 175a der Grundlage dieser umfangreichen historiografischen subkultureller Lebenswelten homosexueller Männer und lief die Verfolgung auch im Blick auf die Gesamtbevölke- verfolgten Männer verzeichnet werden. Forschungen konnte eine Monografie zu genannter The- ihrer politischen Organisierung zu untersuchen, dieses rung hier überdurchschnittlich. Deutlich wird aus der un- matik erstellt werden. Diese erscheint im Jahr 2020 im W. immer auch in Verschränkung mit der jeweiligen landes- tenstehenden Grafik, dass die Verurteilungen spätestens Kohlhammer Verlag unter dem Titel „Lebenswelten und und bundespezifischen Sexualpolitik. Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg 1919-1969“. Unter Bezugnahme auf umfangreiche Quellenbestän- de, darunter Dokumente der Verfolgungsbehörden und Verurteilungen in Baden und Württemberg 1925-1936 -institutionen, persönliche Aufzeichnungen und Zeit- zeugeninterviews, entfaltet sich die Monografie anhand 450 417 dreier grundlegender politischer Zäsuren: der Zeit der OLG Bezirk Karlsruhe, rechtskräftig Verurteilte Weimarer Republik mit den demokratischen Teilstaaten 400 Verurteilungen gesamt Baden und Württemberg, der NS-Zeit und der Nach- OLG Bezirk Stuttgart, rechtskräftig Verurteilte kriegszeit mit dem 1952 neugegründeten Bundesland 350 Baden-Württemberg. Die Studie schließt ab mit der Li- beralisierung des Paragrafen 175 im Rahmen der Großen 300 Strafrechtsreform im Jahr 1969. Auf diese Weise können Kontinuitäten in den Blick genommen werden, die die 250 224 politischen Zäsuren überschreiten. Nicht zuletzt in me- thodischer Hinsicht möchte diese Studie darstellen, wie 200 gewinnbringend es ist, kulturwissenschaftliche Fragestel- 148 153 184 193 150 139 lungen in historischer Perspektive auf die Untersuchung 133 111 118 111 von sexueller Diversität zu übertragen. Dafür wählt die 99 99 90 85 96 Studie einen praxeologischen Ansatz: Lebenswelten ho- 100 78 79 80 72 64 64 mosexueller Männer werden im Sinne eines doing culture 54 59 48 88 Die Monografie wird 2020 im W. Kohlhammer 50 durch soziale Praxen konstituiert, was es erlaubt, die Ge- 70 59 68 Verlag veröffentlicht 45 54 54 47 schichte homosexueller Männer nicht mehr nur als reine 39 40 42 Opfergeschichte zu erfassen. Homosexuelle Männer wa- 0 ren auch handelnde Subjekte. 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 Das Projekt wurde begleitet durch ein Public-History- In einem ersten Schritt rücken die sich vorsichtig ent- Abb. 1: Grafik der rechtskräftigen Verurteilungen in Baden und Württemberg von 1925-1936. Quelle: Statistik des Deut- Modul, für das der Historiker Karl-Heinz Steinle sowie die faltenden Lebenswelten homosexueller Männer sowie schen Reichs. Kriminalstatistik für das Jahr 1927-1935/1936, d.i. Bd. 370, 384, 389, 429, 433, 448, 478, 507, 577. OLG-Bezirk Historikerinnen Dr. Nina Reusch und Dr. Kirsten Plötz ver- ihre emanzipatorischen Organisierungsbemühungen in Stuttgart u. OLG-Bezirk Karlsruhe, 1925 bis 1934 (§ 175 1 u. 2. Fall, d. h. inkl. Sodomie), ab 1935 §§ 175, 175 a u. 175 b. antwortlich zeichneten. In diesem Rahmen wurde eine den 1920er Jahren in den Fokus der Monografie. In den das Forschungsprojekt begleitende Internetseite (www. Jahren der Weimarer Republik konnte sich das lebens- lsbttiq-bw.de) erstellt, die für eine interessierte Öffentlich- weltliche Gefüge homosexueller Männer im deutschen keit projektbezogene Inhalte entsprechend bürgernah Südwesten verstärkt entfalten. Dies geschah vorwiegend Ein wichtiges Kapitel der Studie zur NS-Zeit stellt die der Verfolgung auch nach 1945 fortsetzte, liegt ein weite- präsentiert. Die wissenschaftliche Studie „Lebenswelten in den urbanen und großstädtischen Zentren wie Stutt- Auswertung eines besonderen Ego-Dokuments dar. Es rer Schwerpunkt auf den Jahren 1949-1969. Gezeigt wird, und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in gart, Mannheim und Karlsruhe, aber auch in größeren handelt sich um Gefängnisarbeiten des homosexuellen wie sich nach 1945 lebensweltliche Gefüge homosexueller Baden und Württemberg 1919-1969“ ist die erste derart Mittelstädten und vereinzelt in der ländlichen Region. Erst Grafikers Markus Behmer, der in den 1930er Jahren im ba- Männer im deutschen Südwesten neu entfaltet haben, umfassende Forschungsarbeit zu lebensweltlichen Ge- auf dem Hintergrund der sich in den Jahren der Weimarer dischen Strafvollzug zahlreiche künstlerische Arbeiten an- aber auch, dass homosexuelle Männer hier mit einer be- fügen homosexueller Männer sowie zu ihrer staatlichen Republik im deutschen Südwesten etablierenden homo- fertigte, die seine Verfolgungserfahrung dokumentieren. sonders scharfen staatlichen Verfolgung rechnen muss- Verfolgung in der Region des heutigen Bundeslandes Ba- sexuellen Lebenswelten wird deren Zurückdrängung und Da der § 175 in der NS-Fassung bis zur Großen Strafrechts- ten. Höhepunkt der Verfolgung markiert hier das Jahr den-Württemberg. Die Studie umfasst die strafrechtliche Zerstörung wie auch die Verfolgung und das exzeptio- reform im Jahr 1969 weiter bestand und sich das Unrecht 1959.
28 REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG REFERAT KULTUR, GESCHICHTE & ERINNERUNG 29 Im Berichtsjahr bekannt gewordene Fälle („Unzucht zwischen Männern“, §175, §175a StGB) Veröffentlichung 2500 1933 2000 13. Hirschfeld Lecture: „Being Bi – Bisexualität 1500 zwischen Unsichtbarkeit und Chic“ 1324 1296 1284 1542 1504 1299 1312 1177 940 Die Vorträge der Doktorandin Kim Ritter und von Prof. 1000 1018 974 Dr. Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft 925 814 875 808 und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg, die sich aus kultur- und sexualwissenschaftlicher bzw. sozio- 500 566 logischer Perspektive diesem Komplex näherten, sind im Juni 2019 als Band 13 der Reihe Hirschfeld Lecture erschienen. 0 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 Kim Ritter, Heinz-Jürgen Voß: Being Bi – Bisexualität © Wallstein Verlag zwischen Unsichtbarkeit und Chic. Reihe: Hirschfeld- Abb. 2: Grafik der im Berichtsjahr bekannt gewordenen Fälle. Kriminalstatistik des Landes Baden- Württemberg „Unzucht zwischen Männern“, § 175 u. 175 a StGB. Lectures; Bd. 13, Wallstein Verlag, Göttingen 2019. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen darüber hin- Dr. Julia Noah Muniers Studie „Lebenswelten und Ver- aus, wie sich die historischen Akteure zunehmend organi- folgungsschicksale homosexueller Männer in Baden sierten, um der Strafverfolgung etwas entgegenzusetzen. und Württemberg im 20. Jahrhundert“ wird voraus- Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Magnus Hirsch- Unterstützt von liberalen Stimmen aus dem deutschen sichtlich im Sommer 2020 im W. Kohlhammer Verlag feld seine zentrale Vorstellung der sexuellen Zwischenstu- Südwesten bildeten sich einzelne Interessengruppen und erscheinen. fen als grundsätzliche Bisexualität eines jeden Menschen. die homosexuelle Bewegung, die gesellschaftliche Teilha- be forderten. Dabei konnten sie an die liberalen Bestre- Wenn Menschen demnach also grundlegend bisexu- bungen der Weimarer Republik und insbesondere an an elle Wesen sind, warum begegnet uns das Thema dann den dortigen Menschenrechtsdiskurs anknüpfen. so selten? Einerseits sind bisexuelle Menschen in der All- tagswelt und in Community-Debatten kaum als solche Die Studie endet mit der Liberalisierung des § 175 StGB sichtbar, andererseits jedoch scheinen sich Prominente im Zuge der bundesrepublikanischen Strafrechtsreform durchaus bereitwillig zu ihrer Bisexualität zu bekennen. unter dem Bundesminister der Justiz Gustav Heinemann Woher rührt dieser eigenartige Widerspruch zwischen (SPD) in der von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger Unsichtbarkeit und Chic? Und: Wo steht eigentlich das B (CDU) geführten Großen Koalition im September 1969. im Verhältnis zu LSTTIQ? Auf diese Fragen versuchte die am 12. Oktober 2018 im Nürnberg gehaltene 13. Hirsch- feld Lecture Antworten zu finden.
30 REFERAT GESELLSCHAFT, TEILHABE & ANTIDISKRIMINIERUNG REFERAT GESELLSCHAFT, TEILHABE & ANTIDISKRIMINIERUNG 31 Referat Gesellschaft, Refugees & Queers Teilhabe und Politische Bildung an der Schnittstelle LSBTIQ* und Flucht / Migration / Asyl Antidiskriminierung Dazu fanden neben zwei Vernetzungstreffen jeweils eine dreitägige Fortbildung zu den Themen „Wie konzipiere ich eine Behördenfortbildung?“ und „Leaving the queer Bubble – PR und Medientraining“ statt. Mit diesen konn- te auf die konkreten Weiterbildungsbedarfe existieren- der Bildungsprojekte und Selbstorganisationen reagiert werden. Darüber hinaus wurden in Kooperation mit der Hochschule Esslingen und deren Projektgruppe des Se- minars „Fluchtgrund Homosexualität oder Transidentität“ Bildungsmaterialien entwickelt. Von Anbeginn des Pro- jekts stießen die Vernetzungstreffen auf großes Interesse und rege Beteiligung, was den Bedarf an Austausch und Das BMH-Modellprojekt „Refugees & Queers“ hat es sich Vernetzung bei den angesprochenen Projekten und Ini- zur Aufgabe gemacht, die bundesweite Vernetzung von tiativen bestätigte. © BMH © BMH Akteur_innen der Bildungsarbeit an der Schnittstelle LSBTIQ* und Flucht/Migration/Asyl zu fördern. Das Pro- Auf dieser Grundlage konnten im Folgejahr 2018 wei- jekt richtet sich sowohl an LSBTIQ*-Personen mit Flucht- tere Bildungsvernetzungstreffen zu den Themen „Menta- Dr. Carolin Küppers Richard Ernest Badih hintergrund und von ihnen gegründete Initiativen und le und sexuelle Gesundheit im Arbeitsbereich LSBTTIQ- Wissenschaftliche Referentin Projektreferent Refugees & Queers Organisationen als auch an Institutionen, die LSBTIQ*- Geflüchtete“ und „Nicht-normative Gender-Identitäten Gesellschaft, Teilhabe und Personen mit Fluchthintergrund informieren, betreuen und Migration/Flucht/Asyl in Deutschland“ sowie Fort- Antidiskriminierung oder begleiten. bildungen zu Medien- und Öffentlichkeitsarbeit durchge- führt werden. Aufgrund der Regularien der Bundeszent- Ziel des Projektes ist es, Synergien herzustellen, neuen rale für politische Bildung endete deren Projektförderung Initiativen den Start in die Bildungsarbeit zu erleichtern im Juni 2019. und Multiplikator_innen zu stärken. Seinen Ursprung hat dieses von der Bundeszentrale für politische Bildung ge- förderte Projekt in dem Vorläufer „LSBTTIQ-Refugees wel- Aktuelle Situation LSBTIQ*-Geflüchteter come! Chancen einer emanzipatorischen Bildungs- und in Deutschland Vernetzungsarbeit“, das die BMH von März bis Dezember 2016 durchführte. Weder kann bislang von einer Stabilisierung der Situation von LSBTIQ*-Geflüchteten in Deutschland gesprochen Im Jahr 2017 konzentrierte sich das Projektteam da- werden, noch von einer allgemeinen Sensibilisierung für © BMH © BMH rauf, die drei Teilprojekte – Bildungsvernetzung, Fort- die Lebensrealitäten und Bedürfnisse dieser spezifischen bildung und Bildungsmaterialien – weiterzuentwickeln. Personengruppe ausgegangen werden. Trotz der hohen Konstantin Sherstyuk Mohammad Dalla Projektmitarbeiter Refugees & Queers Studentische Hilfskraft
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