Jahrbuch 2019 Fachbereich 03 - Sozial- und Kulturwissenschaften - Justus-Liebig-Universität ...
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Erziehungswissenschaft Förderpädagogik und Inklusive Bildung Jahrbuch 2019 Kunstpädagogik Musikwissenschaft und Musikpädagogik Politikwissenschaft Fachbereich 03 Schulpädagogik und Elementarbildung Soziologie Sozial- und Kulturwissenschaften
Inhaltsverzeichnis Vorwort der Dekanin 4 Internationalisierung 6 Andreas Langenohl Beiträge aus Forschung und Lehre im Fachbereich Bildungserträge der Hochschulen im internationalen Spiegel 10 Edith Braun, Kristina Walz Globalisierung der politischen Bildung? 14 Anka Bruns-Junker Extended Education - Made in Gießen 18 Andrea Müller, Ludwig Stecher Trilaterale Partnerschaft Gießen - Tokyo - Seoul 20 Johannes Diesing, Verena Schäfer-Nerlich Stabilisierung von Arbeitskräften in der Textilindustrie: 22 Begleitforschung zu Personalfluktuation und -rekrutierung im Hawassa Industrial Park (HIP), Äthiopien Michaela Fink, Reimer Gronemeyer Educational Borrowing: 100 Jahre Volkshochschulen als 24 Fallbeispiel eines komplexen internationalen Institutionentransfers Bernd Käpplinger, Lydia Nistal 2
Institute des Fachbereichs 03 Institut für Erziehungswissenschaft 28 Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung 30 Institut für Kunstpädagogik 32 Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik 34 Institut für Politikwissenschaft 36 Institut für Schulpädagogik und Elementarbildung 38 Institut für Soziologie 40 Aus dem Fachbereich 42 3
Vorwort Liebe Kollegin, lieber Kollege, sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, das Dekanat möchte Ihnen in nunmehr siebenter Ausgabe das Jahrbuch des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen vorstellen. Wir möchten Ihnen damit Teile der vielfältigen Aktivitäten, Arbeiten und Leistungen des Fachbereichs in einer kurzweiligen und anschaulichen Form zu präsentieren. Das Jahrbuch widmet sich dabei in jeder Ausgabe einem inhaltlichen Schwerpunktthema– einem Thema also, das jeweils für das institutsübergreifende Poten- zial unseres Fachbereichs steht. Diese Ausgabe des Jahrbuchs ist dem Schwerpunkt „Internationalisierung“ gewidmet. Das Jahrbuch ist wie gewohnt in drei Bereiche aufgeteilt. In einem ersten Überblicksartikel führt Andreas Langenohl in die Thematik ein und umreißt deren Bedeutung für den Fachbereich. Auf dieser Grundlage folgen dann Anwendungsbeispiele und aktuelle Verknüpfungen aus der Forschung in verschiedenen sozialen Feldern. Daran anschließend stellen sich die Insti- tute des Fachbereichs in Kurzporträts mit Blick auf ihre aktuellen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte vor. Den Abschluss bilden ausgewählte Highlights des Fachbereichs. Für die inhaltliche und redaktionelle Betreuung möchten wir uns insbesondere bei Angelika Unger bedanken, die ebenfalls für Entwurf und Umsetzung des Layouts verantwortlich ist. Danken möchten wir nicht zuletzt allen Kolleginnen und Kollegen, die Beiträge zum vorliegenden Jahrbuch beigesteuert haben. Wir wünschen Ihnen im Namen des gesamten Dekanats sowohl beim Betrachten wie auch beim Lesen viel Vergnügen! Ingrid Miethe (Dekanin) Andrea Gawrich (Prodekanin) Elmar Schlüter (Studiendekan) 5
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich Internationalisierung Andreas Langenohl Gesellschaften der Gegenwart sind Zugleich ist zu sehen, dass Internationa- große Vorteile, die über den ‚richtigen‘ in vielerlei Hinsicht wesentlich stärker lisierung eine Ressource ist, die überaus Pass und relative ökonomische Satu- international institutionalisiert und ungleich verteilt ist. Die Europasozio- riertheit verfügen. orientiert, als es in der Vergangen- logie hat verschiedene Formen eines Die Wissenschaft selbst ist innerhalb heit der Fall war. Ungeachtet jüngster „sozialen Transnationalismus“ (Steffen dieser internationalen Konstellation, Friktionen in der Europäischen Union Mau) beschrieben, der von innereuro- die die Gesellschaften im globalen ist diese doch nach wie vor als das am päischer Arbeitsmigration über Ehe- Norden und Westen besserstellt als stärksten vom nationalen Ordnungs- schließungen und gemeinsamen Besitz diejenigen im globalen Süden, noch- rahmen Abstand gewinnende politische bis hin zu Freundschaften oder auch nur mals privilegiert. Die Mobilität von Gebilde der Moderne anzusehen. Und der Kenntnisnahme der Presseberichts- WissenschaftlerInnen und Studierenden gegen stark angewachsene politische erstattung in anderen europäischen gehört zu denjenigen internationalen Tendenzen, den nationalen Rahmen Ländern reicht. Natürlich ist hier auch Tätigkeiten, die von der öffentlichen wieder aufzuwerten – sei es in Form der Tourismus zu nennen: „Malle für Hand mit den höchsten Summen ge- wirtschaftspolitischer, sozialer oder alle“, so bewirbt derzeit eine britische fördert werden. Es gibt mittlerweile eine kultureller Abschottungsversuche, die Billigfluggesellschaft ihre Urlaubsflüge kaum noch überschaubare Förderland- derzeit weltweit zu beobachten sind von deutschen Flughäfen auf die Balea- schaft zur Finanzierung internationaler – formieren sich wirtschaftliche, gesell- reninsel. Aber die meisten dieser For- Studien- und Forschungsaufenthalte, schaftliche und politische Widerstän- men eines sozialen Transnationalismus Konferenzbesuche, Sprachkurse, Kon- de. Auch die Wissenschaft stellt sich wären undenkbar, oder zumindest stark taktanbahnungsreisen sowie bei der größtenteils hinter dieses Eintreten für erschwert, ohne die Institutionalisierung Einrichtung internationaler Forschungs- eine, mit Karl Popper gesprochen, of- eines weitgehend ohne Grenzkontrollen zentren und Qualifizierungsprogramme. fene Gesellschaft, die sich eine Selbst- und Mobilitätsbarrieren auskommenden Aus dieser Privilegierung erwächst der beschränkung auf vorgeblich ‚eigene‘ europäischen Binnenraums, dem eine Wissenschaft, und der Universität als Deutungstraditionen, Ressourcen und zunehmende Verhärtung und Polizie- ihrer Kerninstitution, eine besondere Orientierungsrahmen nicht leisten kann. rung der europäischen Außengrenzen Verantwortung. Worin besteht diese Selbst unter Bedingungen ihrer Heraus- gegenübersteht. Dieser Transnationalis- Verantwortung? Und wie könnte eine forderung bleibt Internationalisierung mus ist somit etwas vollkommen ande- wissenschaftliche und universitäre Inter- daher ein Projekt, das sich auf starke res als derjenige der teils verzweifelten nationalisierungsstrategie aussehen, die politische, wirtschaftliche, gesellschaft- Versuche von Geflüchteten, in Europa sie annimmt? liche und natürlich wissenschaftliche Zuflucht zu finden. Und auch jenseits Ein weites Feld – und zugleich eines, Unterstützung gründen kann. der Grenzen Europas haben diejenigen dass sich am Fachbereich 03 Sozial- und 6
Kulturwissenschaften mit besonderer in Rechnung gestellt werden – denn Eine besondere Herausforderung bildet Dringlichkeit stellt. Denn die hier ver- Wissenschaft ist, wie Bildung auch, ein die studentische Mobilität, selbst inner- sammelten Fächer eint ein analytischer international überaus unterschiedlich halb eines zumindest formal harmo- Zugang zur Welt, der diese Welt als im- institutionalisiertes Praxisfeld. nisierten institutionellen Rahmens wie mer schon interpretierte und gedeutete Es ist daher nicht hilfreich, akademische demjenigen der EU („Bologna“). Die Welt ansieht. Es werden Deutungen der Internationalisierung (oder ihr Scheitern) Formel lautet hierbei häufig: Stan- Welt erforscht, weil diese Deutungen es vorschnell mit interkulturellem Lernen dardisierung der internationalen An- sind, die Handeln orientieren, Interes- und Horizonterweiterung (oder umge- erkennung von Studienleistungen + sen informieren und Weltsichten erzeu- kehrt kulturellen Differenzen und Lern- Erfahrung kultureller Andersartigkeit gen. Daraus folgt, dass den Interpreta- blockaden) in Verbindung zu bringen, = internationaler Bildungs- und Qua- tionen und Deutungen anderer – eben ohne die Bedeutung der Unterschiede lifizierungserfolg. Sie greift zu kurz. auch: anderer WissenschaftlerInnen, in den akademischen Institutionen in Wie die zahlreichen Studierenden und Studierender und zunehmend auch ad- Betracht zu ziehen. Ein simples Beispiel: KoordinatorInnen im internationalen ministrativ Tätiger – ein hohes Gewicht Die Mittel, über die eine Universität Austausch unseres Fachbereich wissen, zukommt, das in kunst- und musikwis- verfügen kann, stammen in den USA äußerst sich die Gemengelage, auf die senschaftlichen und -pädagogischen, oftmals aus privaten Stiftungen und Austauschstudierende treffen, in einer politikwissenschaftlichen, erziehungs- privat gezahlten Studiengebühren; in Vielzahl von oft widersprüchlich anmu- wissenschaftlichen und soziologischen Deutschland in der Regel aus Studieren- tenden Begegnungen mit Kommiliton- Analysen Berücksichtigung finden muss. denzahlen, die durch die Bundesländer Innen, Lehrenden, administrativ Tätigen, In einem solchen Kontext stellt sich bei der Mittelvergabe auf Zuflüsse proji- Behörden, Gastfamilien und anderen, Internationalisierung daher in erster ziert werden, sowie aus eingeworbenen in denen häufig alles andere als klar ist, Linie als eine Herausforderung dar, aus Drittmitteln; und in Südafrika und Polen ‚was hier vorgeht‘ (Erving Goffman). Die der sich spezifische Übersetzungsnot- aus der Zahl von Artikeln, die Wissen- so gestellten Aufgaben zu bewältigen wendigkeiten ergeben, die nicht nur schaftlerInnen in bestimmten Fachzeit- erfordert teilweise titanische Aufgaben sprachlicher oder kultureller, sondern schriften publizieren und die die Zu- in der Kommunikation mit einer Viel- häufig auch (wissenschafts-)politischer weisung öffentlicher Mittel bestimmen. zahl von AkteurInnen nicht nur ‚über Natur sind. Bei der Verwirklichung tat- Wie sollte man nicht erwarten, dass sich nationale Grenzen‘ hinweg, sondern in sächlich tiefreichender akademischer aus derart unterschiedlichen Finanzie- einem weitaus komplexeren Sammel- Kooperationen müssen in erster Linie rungssystemen Konsequenzen für eine surium von Rollenzuschreibungen. Hier die unterschiedlichen Logiken und Stile effektive internationale Zusammenarbeit geht es nicht nur um Perfektion in der der beteiligten Wissenschaftssysteme ergeben? Prüfungsverwaltung und interkultu- 7
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich relle Kompetenz – manchmal geht es Terrain. Aber zugleich tritt damit auch Notwendigkeit zur Erwerbsarbeit und um nichts weniger als um die höchst die Chance in den Raum, das Projekt Willen zur politischen Tätigkeit, auf dem anspruchsvolle Aufgabe der kommuni- der Internationalisierung in einer wirk- die Demokratie beruht, resultieren. Um kativen Bearbeitung von institutionel- lich umfassenden Weise in den Blick zu ein Wort des Anthropologen Arjun Ap- len, kulturellen, gesellschaftlichen und nehmen: einer Weise, die dieses Projekt padurai aufzugreifen: Viele Studierende politischen Widersprüchen, die die Be- als Wagnis deutlich macht und zugleich besitzen und erkunden eine ‚Fähig- teiligten selbst nicht die Macht haben den Kontext liefert, innerhalb dessen keit zur Navigation‘, deren Effektivität aufzulösen. die Fähigkeit, mit diesem Wagnis umzu- sich nicht notwendigerweise in einer Vielleicht liegt hier der Schlüssel zum gehen, kultiviert werden könnte. ebenso nahtlosen wie planbaren Kette Verständnis der besonderen Verant- Um bei den Studierenden zu bleiben: von Studienerfolgen zeigt. Ein längerer wortung, die der Wissenschaft und Ihre Heterogenität, nicht zuletzt an Studienaufenthalt im Ausland fügt hier der Universität aus ihrer Privilegierung, unserem Fachbereich wie auch an den sicherlich eine Erfahrungsdimension wenn es um Internationalisierung geht, Partnereinrichtungen im Ausland, bildet hinzu. Aber wir wären kurzsichtig, wenn erwächst. Wissenschaft findet nicht das Substrat einer solchen Kultivierung. wir diese umfassende Kultivierung einer immer das heraus, was sie herauszu- Nicht alle, aber einige, haben bereits Navigationsfähigkeit, wie sie oft bereits finden angetreten ist – sonst wäre sie ausgedehnte ‚internationale Erfahrun- vor einem solchen Aufenthalt besteht, Verwaltung, nicht Wissenschaft. Studie- gen‘ – und dies sind manchmal Erfah- unterschätzten. Wir sollten verstärkt ren involviert die Möglichkeit, nicht alle rungen, die nicht jedeR würde machen daran arbeiten, diese genuinen Erfah- intellektuellen Aufgaben gleichermaßen wollen, haben sie doch häufig mit rungen zu einem Pfeiler universitärer zu bestehen – sonst wäre es die Wahr- Flucht und Diskriminierung zu tun. Viele Internationalisierung zu machen. nehmung rechtmäßiger Ansprüche auf haben sich, als Erststudierende in ihren Wie internationalisiert man eine Einrich- institutionalisiertes kulturelles Kapital, Herkunftsfamilien, durch das Dickicht tung, die ihrem Ursprung nach inter- nicht Studieren. In der internationalen von Hochschulsystemen geschlagen, national ist? Universitäten in Europa Kooperation steigern sich diese Risiken, haben Solidarität mit anderen Studie- bilden historisch, und im Wortsinn, eine aus den besagten Gründen. Dies macht renden und Nicht-Studierenden aus internationale Institution. So wurden die vielleicht mehr als alles andere den au- unterschiedlichsten Lagen praktiziert studentischen Gruppen an den mittel- ßerordentlichen Grad an Privilegierung und Stellung zu (hochschul-)politischen alterlichen Universitäten nach ihrer deutlich, den die Wissenschaft genießt Vorgängen bezogen. Viele kennen die geografischen Herkunft und Sprachge- – denn sie kann, wenn sie sich selbst Komplikationen, die aus dem Versuch brauch als nationes bezeichnet – die ernst nimmt, nichts versprechen außer der Vereinbarung von Studium, Wahr- Universität war also schon sehr früh ein mehr Klarheit, auch auf internationalem nehmung familialer Verantwortungen, Lokal International. Eine Erinnerung an 8
diese mittelalterliche Periode ist nütz- und politisch administrierte Migration lich, um sich darüber klar zu werden, historisch geprägt wurde, kann und dass die heutigen Forderungen nach sollte man das wissen. Internationalisierung der Wissenschaft und der Universität ohne eine historisch vorangegangene Nationalisierung – d.h. Vereinnahmung von Wissenschaft und Bildung durch den Nationalstaat – vermutlich deutlich anders akzentuiert wären. Worauf es heute, so möchte ich plädieren, letztlich ankommt, ist eine Kultivierung akademischer Navigations- fähigkeit in einer stark internationalisier- ten Welt – eine Kultivierung, die nicht umhinkommen wird, die Unterschei- dung zwischen ‚national‘ und ‚interna- tional‘ selbst zu hinterfragen. Soziale, kulturelle, wissenschaftlich-professionel- le und politische Beziehungen organi- sieren sich schon längst in einer Weise, die die Vergabe des Etiketts ‚internatio- nal‘ zunehmend unter den berechtigten Verdacht fehlender Trennschärfe stellt. Eine solche Navigationsfähigkeit kann und sollte durch internationalen Aus- tausch ausgebaut und gestärkt werden und sich in ihm bewähren – aber sie wartet als Aufgabe durchaus auch im geografischen Nahraum. Gerade in Gießen als einer Stadt, die in vielfältigs- ter Weise durch freiwillige, erzwungene 9
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich Bildungserträge der Hochschulen im internationalen Spiegel Edith Braun, Kristina Walz Die Einflüsse der Hochschulen auf zahl- vorbereitung sowie zu individuellen, Korhonen 2016). Die Verschiedenheit reiche individuelle und gesellschaftliche sozialen und finanziellen Erträgen von der Übergänge lässt sich sowohl durch Lebensbereiche ihrer Absolvent_innen Hochschulabsolvent_innen unterschied- die zunehmende Heterogenität der sind Gegenstand nationaler sowie licher europäischer und asiatischer Studierenden erklären, als auch durch internationaler Hochschulforschung. Länder bereit. Das deutsche Ko- die – in vielen Quellen festgestellten Zudem ist es eines der zentralen Ziele KoHS-Programm leistet über ein Netz – Veränderungen des Arbeitsmarktes. der Bologna-Reform den europäischen an interdisziplinären und internationa- So werden z. B. unterschiedlich erfolg- Hochschulraum international zu stär- len Forschungsprojekten bereits einen reiche Übergänge für Unterschiede im ken, unter anderem einer europaweit Beitrag zur Kompetenzmessung von Fach, Geschlecht oder in der Studien- vergleichbaren Gestaltung von Ab- Hochschulabsolvent_innen. Allerdings dauer festgestellt (vgl. z. B. Kostoglou schlüssen, Leistungen und erworbenen werden Methoden und Ergebnisse auch et al. 2011). Kompetenzen. Im Folgenden werden kritisch diskutiert, gerade bei dem so- Ein weiterer Faktor, der den Eingang ausgewählte Forschungsergebnisse zu gennanten AHELO Projekt. Grund dafür auf den Arbeitsmarkt beeinflusst, ist die Bildungsergebnissen von Hochschulen ist der befürchtete, nicht-wissenschaft- Mobilität von Absolvent_innen. Hohe sowie Erkenntnisse zum Eingang in das lich begründete Einfluss der OECD, der Mobilität führt zu höheren Arbeitsmarkt- Berufsleben vorgestellt. gerade im hochschulpolitischen Bereich erträgen (vgl. Kratz und Netz 2018). Dieser Aufsatz basiert auf einer Pub- ausgeweitet werden könnte. Internationale Erfahrung sowie die Be- likation, die in Form einer kommen- Eine besondere Rolle innerhalb der reitschaft, Stand- und Wohnort zu wech- tierten Literaturübersicht in Oxford Forschung zu Hochschulabsolvent_in- seln, kann daher von Absolvent_innen Bibliographies publiziert wird und unter nen nimmt der Übergang von der schon während des Studiums erworben Federführung der Professur für Hoch- Hochschule in den Arbeitsmarkt ein. werden und erfolgreich in der Berufs- schuldidaktik mit dem Schwerpunkt Insbesondere werden Vergleiche ausübung eingebracht werden (vgl. z. Lehrerbildung verfasst wurde. zwischen verschiedenen Ländern oder B. Behle 2017). Mit Beginn des Bolog- Das hohe Interesse, insbesondere der Hochschulsystemen vorgenommen, aus na-Prozesses zeigen sich Veränderun- internationalen Forschung, an Erträgen denen hervorgeht, wie unterschied- gen in den Mobilitätsmöglichkeiten Stu- der Hochschulbildung, zeigt sich unter lich stark die Übergänge standardisiert dierender und Absolvent_innen. Neben anderem an internationalen Verbund- sind (vgl. z. B. Jacob und Weiss 2010). vielen positiven Eigenschaften erkennen projekten. Die aufeinander aufbauen- Es ist ein Abnehmen über die Zeit von Studien jedoch auch die Gefahr des den Projekte CHEERS, REFLEX und standardisierten und linearen zuguns- Brain Drains sowie höhere Hindernis- HEGESCO stellen einen der weltweit ten von individualisierten Übergängen se, im eigenen Land zu studieren, falls größten Datensätze zur Arbeitsmarkt- zu beobachten (vgl. z. B. Alves und dieses für ausländische Bewerber_innen 10
interessant ist (vgl. Ferencz 2015). König et al. 2016). Sowohl Einzelfall- als Qualifikation durch Hochschulbildung Darüber hinaus wurde die Erfassung des auch vergleichende Studien aus unter- jedoch die Ansprüche von Arbeits- Kompetenzerwerbs als wichtiges Feld schiedlichen Ländern betrachten diese markt oder direktem Umfeld, kann sie internationaler Hochschulforschung er- Unterschiede und versuchen einen Weg auch zu Unzufriedenheit führen (vgl. kannt. Zentrale Themen sind dort theo- zu finden, einen Konsens zwischen den Green und Zhu 2010). Generell profitiert retische Rahmung und Definitionen von erworbenen Fähigkeiten von Absol- auch die Gesellschaft von Hochschul- Kompetenzen und deren Messung (z. B. vent_innen und den Ansprüchen von absolvent_innen und deren Bildungs- Vermunt et al. 2018) sowie empirische Arbeitgeber_innen zu identifizieren. erfahrungen. Zwar wird Bildung immer Arbeit und Vergleiche mit bereits exis- Aktuell, möglicherweise aufgrund der häufiger als ein privates Gut, anstelle tierenden Messmethoden (z. B. Braun hohen Individualität in den einzelnen eines gemeinnützigen gesehen (z. B. und Mishra 2016). Auf international Lebensläufen, scheint dieser Konsens Tilak 2008). Doch gibt es Belege, dass vergleichender Ebene finden sich vor darin zu bestehen, Absolvent_innen die viele Bereiche des Arbeitsmarktes ohne allem Ergebnisse verschiedener Kom- Verantwortung für den Erwerb wichtiger entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte petenzmessungen (z. B. Coates 2016). Arbeitsmarktkompetenzen außerhalb nicht funktionieren würden, wobei sich Dennoch bleibt die Entwicklung guter des Curriculums zu übertragen. die Nachfrage nach tertiärer Bildung und international vergleichbarer Kom- Akademische Abschlüsse allgemein ver- (noch) weiter erhöht. In Gegenden petenzmodelle und -messungen auch mindern das Risiko für Arbeitslosigkeit mit vielen Hochschulabsolvent_in- in Zukunft ein wichtiges Forschungsde- (vgl. z. B. Núñez und Livanos 2010). Die nen steigen z. B. die Gehälter für alle siderat, da die meisten Forschungspro- durch den Bologna-Prozess veränderten Arbeitnehmer_innen (vgl. Moretti 2004). jekte einen nationalen Fokus besitzen. Curricula unterschiedlicher Fächer gel- In weniger wirtschaftlich entwickel- Wie bereits erwähnt, ist die Messung ten in Deutschland als gute Vorausset- ten Ländern kann höhere Bildung zu von Kompetenzen und deren Vergleich- zung zur Entwicklung wichtiger Schlüs- schnellerer wirtschaftlichen Entwicklung barkeit nicht nur für die internationale selkompetenzen (vgl. Schaeper 2009). und höherer ökonomischer Produktivität Forschung von Interesse, sondern auch Ein weiteres, bereits erwähntes For- führen – solange es nicht zum Wegzug für potentielle Arbeitgeber_innen. schungsfeld ist die Wirkung von Hoch- der Fachkräfte, dem sog. Brain Drain Bei der Frage, welche Fähigkeiten schulen auf weitere persönliche und kommt. Dieser stellt einen der negati- und Kompetenzen für Hochschul- soziale Bereiche. Allgemein zeigen sich ven Einflüsse von (Hochschul-) Bildung absolvent_innen erstrebenswert sind, positive Effekte der Hochschulbildung auf die Gesellschaft dar (vgl. Bloom et gibt es unterschiedliche Bewertungen auf vielfältige Bereiche, z.B. auf bes- al. 2014) und betrifft insbesondere die verschiedener Akteure (Studierende, sere Gesundheit und Wohlbefinden sog. BRICS-Länder (Brasilien, Russland, Hochschulen, Arbeitgeber_innen) (z. B. (vgl. Gross et al. 2019). Übersteigt die Indien, China, Südafrika). 11
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich Nach wie vor ist es eine Herausforde- Literaturverzeichnis Ferencz, Irina (2015): Balanced Mobility Across rung, internationale Ergebnisse der the Board - A Sensible Objective? In: Adrian Curaj, Hochschulforschung über Länder- Alves, Mariana Gaio; Korhonen, Vesa (2016): Liviu Matei, Remus Pricopie, Jamil Salmi und Peter grenzen hinweg zu vergleichen, da mit Transitions and trajectories from higher education Scott (Hg.): The European Higher Education Area: einer Vielzahl von Kompetenzmodellen to work and back – A comparison between Finnish Springer, Cham, S. 27–41. und -definitionen und unterschied- and Portuguese graduates. In: European Educa- tional Research Journal 15 (6), S. 676–695. DOI: Green, Francis; Zhu, Yu (2010): Overqualification, lichen Indikatoren gearbeitet wird und 10.1177/1474904116661200. job dissatisfaction, and increasing dispersion in the auch zwischen den Hochschulsystemen returns to graduate education. In: Oxford Economic große Unterschiede bestehen. Inter- Behle, Heike (2017): The early career paths Papers 62 (4), S. 740–763. nationale Initiativen, wie die zu Beginn of UK-educated intra-European mobile des Artikels genannten, können hier- graduates. In: Journal of Further and Hig- Gross, Christiane; Bela, Anika; Jungbauer-Gans, bei helfen, in größerem Umfang diese her Education 41 (6), S. 802–816. DOI: Monika; Jobst, Andreas; Schwarze, Johannes Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Je 10.1080/0309877X.2016.1188895. (2019): Educational Returns Over the Life Course. nach Hintergrund sind große Initiativen In: Hans-Peter Blossfeld und Hans-Günther Roß- jedoch auch mit dem Risiko behaftet, Bloom, David E.; Canning, David; Chan, Kevin bach (Hg.): Education as a Lifelong Process: The dass Forschungsprojekte durch Interes- J.; Luca, Dara Lee (2014): Higher education and German National Educational Panel Study (NEPS). sen der Financier gelenkt werden. economic growth in Africa. In: International Journal Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. Abschließend ist eine gewisse Domi- of African Higher Education 1 (1), S. 22–57. 137–153. nanz europäischer und nordamerikani- Braun, Edith; Mishra, Shweta (2016): Methods Jacob, Marita; Weiss, Felix (2010): From higher scher Literatur festzustellen. Allerdings for Assessing Competences in Higher Education: education to work patterns of labor market entry in ist ein deutlicher Trend zu verzeichnen, A Comparative Review. In: Jeroen Huisman und Germany and the US. In: Higher Education 60 (5), dass in jüngster Zeit vermehrt inter- Malcolm Tight (Hg.): Theory and Method in Higher S. 529–542. DOI: 10.1007/s10734-010-9313-y. nationale Publikationen aus Asien und Education Research (Volume 2), S. 47–68. Afrika zu den jeweiligen Hochschulsys- König, Ljerka Sedlan; Juric, Petra Mezulić; Kopriv- temen erscheinen. Coates, Hamish (2016): Assessing student njak, Tihana (2016): Graduate Employability: A learning outcomes internationally: insights Gap between Perspectives - the Case of Croatia. and frontiers. In: Assessment & Evaluation in In: Advances in Economics and Business 4 (10), S. Higher Education 41 (5), S. 662–676. DOI: 525–538. DOI: 10.13189/aeb.2016.041002. 10.1080/02602938.2016.1160273. Kostoglou, Vassilis; Garmpis, Aristogiannis; Koilias, Christos; van der Heijden, Beatrice (2011): Predic- 12
tors of higher technological education graduates’ In: Studies in Higher Education 34 (6), S. 677–697. labour market entrance success. In: European DOI: 10.1080/03075070802669207. Journal of Higher Education 1 (2-3), S. 158–178. DOI: 10.1080/21568235.2011.616768. Tilak, Jandhyala B. G. (2008): Higher education: a public good or a commodity for trade? In: PRO- Kratz, Fabian; Netz, Nicolai (2018): Which SPECTS 38 (4), S. 449–466. DOI: 10.1007/s11125- mechanisms explain monetary returns to 009-9093-2. international student mobility? In: Studies in Higher Education 43 (2), S. 375–400. DOI: Vermunt, Jan D.; Ilie, Sonia; Vignoles, Anna (2018): 10.1080/03075079.2016.1172307. Building the foundations for measuring learning gain in higher education: a conceptual frame- Mayhew, Matthew J.; Rockenbach, Alyssa N.; work and measurement instrument. In: Higher Bowman, Nicholas A.; Seifert, Tricia A. D.; Wolniak, Education Pedagogies 3 (1), S. 266–301. DOI: Gregory C. (2016): How college affects students. 10.1080/23752696.2018.1484672. 21st century evidence that higher education works. Updated edition. Hg. v. Ernest T. Pascarella und Patrick T. Terenzini. San Francisco: Jossey-Bass. Moretti, Enrico (2004): Estimating the social return to higher education: evidence from longitudinal and repeated cross-sectional data. In: Journal of Econometrics 121 (1), S. 175–212. DOI: 10.1016/j. jeconom.2003.10.015. Núñez, Imanol; Livanos, Ilias (2010): Higher educa- tion and unemployment in Europe: an analysis of the academic subject and national effects. In: Hig- her Education 59 (4), S. 475–487. DOI: 10.1007/ s10734-009-9260-7. Schaeper, Hildegard (2009): Development of competencies and teaching–learning arrange- ments in higher education: findings from Germany. 13
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich Globalisierung der politischen Bildung? Anka Bruns-Junker Die Ziele des Fachunterrichts politi- Ungleichheit, ökologische Herausfor- Lernenden durchzieht und sie sich auch scher Bildung lassen sich unter dem derungen, wie der Klimawandel und auf gesellschaftlich-kultureller Ebene Begriff der politischen Mündigkeit gesellschaftliche Herausforderungen, vollzieht, erhält die Frage der normati- zusammenfassen. „Politikdidaktische wie Fragen des Zusammenlebens in ven Orientierung politischer Bildung im Fragen werden in der Regel [jedoch] kultureller Vielfalt, können nicht mehr politikdidaktischen Diskurs auch kon- noch immer auf den nationalstaatlichen allein innerhalb eines Nationalstaates zeptuell neue Wichtigkeit. Die zugrunde Kontext bezogen“ (Nonnenmacher; bearbeitet werden, sondern erfordern gelegte Wertorientierung prägt unsere Widmaier 2011, 5). So sollen Lernende die Zusammenarbeit verschiedenster Perspektive auf die Welt und berührt in Deutschland zur verantwortungsvol- internationaler, staatlicher und nicht- damit auch unsere (nationale) Identitäts- len Teilhabe als Bürgerinnen und Bürger staatlicher Akteure. Politische Bildung bildung. an der demokratischen Öffentlichkeit kann diese Herausforderungen nicht Dies leitet zu einem letzten zentralen befähigt werden, womit primär auf den als eine Art Feuerwehr bewältigen und konzeptuellen Punkt über den die nationalstaatlichen Kontext referiert trotzdem bleibt sie, sowohl inhaltlich, Politikdidaktik (im Zuge der Interna- wird. Diese weitgehende Begrenzung konzeptuell, als auch strukturell, von tionalisierung neu) nachdenken soll- der Bezugnahme auf den nationalstaat- der Vernetzung der Welt und den sich te: die begriffliche Eingrenzung und lichen Rahmen Deutschland spiegelt daraus (neu) ergebenden Herausforde- inhaltliche Füllung des Verständnisses sich in zahlreichen politikdidaktischen rungen keineswegs unberührt. von Bürgerschaftlichkeit. Die Adres- Publikationen, Schulbüchern, aber auch Ansätze, wie politische Bildung in glo- sierung von Staatsbürgerinnen und den Kerncurricula der Bundesländer baler oder supranationaler Perspektive Staatsbürgern wird in dem Diskurs der (vgl. Overwien 2018, 97-100). Das The- (neu) zu denken ist, finden sich bisher politischen Bildung zum Teil durchaus menfeld der Globalisierung erscheint wenige (u.a. bei Sander 2011 und 2018, in Frage gestellt, der Weltbürger bzw. hier lediglich als Additum, welches „die Eis 2010). Wolfgang Sander führt in die Weltbürgerin als neues Leitbild für zuvor dominant aus nationaler Pers- seinen Überlegungen (2011, 426-428) die Weltgesellschaft gefordert (vgl. z.B. pektive behandelten Themenbereiche“ zur Begründung der Beschäftigung mit Juchler 2010). Diese Vorstellung verfol- ergänzt (Sander 2011, 425). Gleichzeitig globalen Fragen in der politischen Bil- gen auch immer häufiger internationale hat die weltweite Vernetzung und Inter- dung beispielsweise an, dass die trans- Bildungsakteure und füllen den Begriff dependenz in den letzten Jahrzehnten nationale Perspektive bei der inhalt- nach eigenen Vorstellungen. Die OECD neue Formen angenommen. Viele lichen Auswahl und Strukturierung von beispielsweise plant die Messung der politische Herausforderungen, wie die Lerngegenständen systematisch einbe- Global Competency (vgl. OECD 2016), Ressourcenverknappung, ökonomische zogen werden muss. Dadurch, dass die die UNESCO hat einen detaillierten Herausforderungen, wie die globale Globalisierung alle Lebensbereiche der Ansatz zur Global Citizenship Education 14
(GCE) vorgelegt (vgl. UNESCO 2014), die Weltbank listet zahlreiche Heraus- forderungen für Global Citizens auf und sieht Bildung als ein Schlüssel zu deren Lösung (vgl. Bhargava 2006, 10), Oxfam hat Handreichungen zur Education for Global Citizenship publiziert (vgl. Oxfam GB 2015). Mit Blick auf die strukturelle Rahmung politischer Bildung in Zeiten der Globa- lisierung zeigt sich an solchen Anstößen internationaler politischer Akteure, dass sich eine strukturelle Globalisierung po- litischer Bildung zu vollziehen scheint. Internationale Bildungsorganisationen avancieren „nicht nur zu entscheiden- den Multiplikatoren der sich heraus- bildenden globalen Bildungskultur, sondern bilden zugleich das strukturelle Gerüst eines multilateralen Bildungs- systems“, kontrastiert Eckhardt Fuchs (2006, 102). Diese Akteure entwerfen Antworten auf die Frage, wie die poli- tische Bildung auf die Herausforderun- gen der Globalisierung reagieren kann und welche (neuen) Zielvorstellungen und eventuellen Bürgerleitbilder eine (globale) politische Bildung verfolgen sollte. Diese Antworten sind als neue Ansätze globaler politischer Bildung zu werten, welche nicht primär aus der Foto: Anka Bruns-Junker © 15
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich didaktischen Theoriebildung stammen, der GCE der UNESCO findet internatio- Literatur sondern von internationalen Akteuren. nal durchaus Beachtung und Umsetzung In der Analyse der Ansätze – beispiel- (vgl. UNESCO 2015, u.a. 48, 62-64 und Bhargava, Vinay (2006): Global Issues for Global haft sei hier die UNESCO genannt Deutsches Schulportal). Ebenso finden Citizens. An introduction to key development – finden sich u.a. Vorstellungen von sich in den Ansätzen, wie dem der challenges. Washington. Bürgertum in einer Weltgesellschaft, UNESCO, Entwürfe wie die Bildung für Fuchs, Eckhardt (2006): Multilaterale Bildungspoli- welche das aktive Engagement von nachhaltige Entwicklung, das interkultu- tik und transnationale Zivilgesellschaft: Univer- Weltbürgerinnen und -bürgern deutlich relle und globale Lernen. Diese finden sitätsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit. In: betonen. Die Frage der Zielperspek- nach und nach stärkere Beachtung in Miller-Kipp, Gisela; Zymek, Bernd (Hrsg.): Politik tive politischer Bildung, und ob diese politikdidaktischen Diskursen (vgl. v.a. in der Bildungsgeschichte - Befunde, Prozesse, überhaupt an Bürgerleitbilder gebun- Overwien 2016; 2018, 98) und sollten Diskurse. Bad Heilbrunn, S. 101-116. den sein sollte, wird in der hiesigen im Zuge der Internationalisierung politi- politischen Bildung allerdings ebenso scher Bildung nicht undiskutiert bleiben, Juchler, Ingo (2010): Der Weltbürger – Leitbild kontrovers diskutiert, wie die Frage, wie wenn internationale Bildungsakteure für Politische Bildung des 21. Jahrhunderts. diese Bürgerleitbilder dann konkret zu sie nutzen, um ihre Ansätze zur Bildung In: Steffens, Gerd; Widmaier, Benedikt (Hrsg.): definieren sind. Gerade die Vorstellung von Weltbürgerinnen und -bürgern zu Weltbürgertum und Kosmopolitisierung. Interdis- von ständig aktiven, politisch engagier- entwerfen. ziplinäre Perspektiven für die Politische Bildung. Schwalbach/Ts., S. 179-190. ten Bürgerinnen und Bürgern, welche Damit es zu einer intensiveren interna- die UNESCO so stark betont, wird in tionalen Debatte um (globale) politi- OECD (2016): Global competency for an inclusive der Didaktik der politischen Bildung zu- sche Bildung auf bildungstheoretischer world. Paris. mindest in Frage gestellt. Ebenso wird Ebene kommen kann, sollte die hiesige allgemein oft der These widersprochen, Politikdidaktik auf konzeptueller Ebe- Overwien, Bernd (2016): Globales Lernen und politischer Unterricht solle dieses Enga- ne den Blick weiter öffnen für diese politische Bildung - eine schwierige Beziehung? gement mit Lernenden realpolitisch par- anderen Ansätze, politische Bildung In: ZEP: Zeitschrift für internationale Bildungsfor- tizipierend umsetzen (vgl. z.B. Schiele global zu denken. Nur so kann es auch schung und Entwicklungspädagogik 39 (2016) 2, 2016, 73). Die UNESCO allerdings setzt auf struktureller Ebene zu einer nach- S. 7-11. in ihren Lernzielen zur GCE fest: Lernen- haltigen Globalisierung der politischen de sollen „act effectively and responsi- Bildung als Fachdidaktik kommen. Oxfam GB (2015): Education for Global Citizenship. bly at local, national and global levels Oxford. for a more peaceful and sustainable world“ (UNESCO 2015, 15). Der Ansatz 16
Sander, Wolfgang (2018): Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft. Frankfurt/M. Sander, Wolfgang (2011): Globalisierung der politi- schen Bildung – Herausforderungen für politisches Lernen in der Weltgesellschaft. In: Ders.; Scheun- pflug, Annette (Hrsg.): Politische Bildung in der Weltgesellschaft. Herausforderungen, Positionen, Kontroversen. Schwalbach/Ts., S. 417-431. Schiele, Siegfried (2016): Der Beutelsbacher Konsens ist keine Modeerscheinung! Zu seiner his- torischen Genese und gegenwärtigen Aktualität. In: Widmaier, Benedikt; Zorn, Peter (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn, S. 68-77. Steffens, Gerd; Widmaier, Benedikt (2010): Der Weltbürger als Leitbild für Bildung in Zeiten der Globalisierung? Zur Einführung. In: Dis. (Hrsg.): Weltbürgertum und Kosmopolitisierung. Interdis- ziplinäre Perspektiven für die Politische Bildung. Schwalbach/Ts., S. 5-12. UNESCO (2015): Global Citizenship Education. Topics and Learning Objectives. Paris. Deutsches Schulportal. Für mehr gute Schulen: „Global Citizenship Education“ Schule bewegt die Welt – und umgekehrt. Unter: https://deut- sches-schulportal.de/konzepte/schule-bewegt-die- welt-und-umgekehrt/ (11.04.2019). 17
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich Extended Education - made in Gießen Andrea Müller, Ludwig Stecher In vielen Ländern lässt sich beobachten teils nicht erst am Ende der Schulzeit, bote und Programme Gegenstand der wie lernunterstützende bzw. den Bil- sondern bereits in der Grundschulzeit Lern-Effektivitätsforschung als Teil der dungserfolg flankierende Angebote zur Lernunterstützung besucht. Auch in Bildungsforschung. und Programme außerhalb des Unter- Deutschland und anderen westlichen Im deutschsprachigen Raum werden richts bzw. außerhalb der klassischen Ländern ist die private bezahlte Nach- die außerschulischen bzw. außerunter- Institutionen Schule, Berufsschule oder hilfe weit verbreitet. richtlichen Bildungsangebote meist Hochschule zunehmend an Bedeutung Obwohl Zielsetzung und Ausgestaltung unter dem Begriff der non-formalen gewinnen. Die Ausgaben für entspre- der entsprechenden Programme und Lernangebote zusammengefasst. Im chende staatliche und private Förder- (privaten) Angebote in den einzelnen angloamerikanischen Raum finden sich programme stiegen in den letzten Ländern variieren, weisen sie zahlreiche hierfür Begriffe wie after-school progra- Jahren kontinuierlich an und auch auf- institutionelle Gemeinsamkeiten als mes, extra-curricular activities oder seiten der Teilnehmer nimmt die Nach- auch eine Reihe paralleler bildungspäd- organised bzw. designed activities. In frage nach solchen Angeboten stetig agogischer Probleme auf, die sie aus dem Sinne, in dem alle diese Begriffe zu, unabhängig davon, ob es sich dabei der Sicht der Bildungsforschung als ein auf die Erweiterung bzw. Ergänzung um außerunterrichtliche Angebote an zusammengehöriges Forschungsfeld der traditionellen Schule und des deutschen Ganztagsschulen, um Som- definieren lassen. Vom Lernen in der Unterrichts rekurrieren, hat sich in den mer-Camps in den USA oder um Ange- Schule unterscheidet die Angebote, letzten Jahren in der internationalen bote an schwedischen Freizeitzentren beispielsweise dass sie häufig nicht von Forschung hierfür der Begriff der handelt. Lehrkräften durchgeführt werden, es in ‚Extended Education‘ durchgesetzt. Neben den staatlichen bzw. offiziellen der Regel keine Leistungsbewertung Bildungsprogrammen und -initiativen (zumindest nicht im Sinne von Schulno- Eine Initiative made in Gießen hat sich in vielen Ländern ein privater ten) gibt, die Angebote auch in alters- Während sich spätestens seit dem Markt außerschulischer Bildung etab- gemischten Gruppen erfolgen, die Beginn der 2000er-Jahre zunehmend liert. So gibt es etwa in Süd-Korea TeilnehmerInnen sich zumeist freiwillig auch die Bildungsforschung mit dem – ähnlich wie die japanischen für die Teilnahme entscheiden und die Potenzial und den Problemfeldern Juku-Schulen – ein ausgedehntes Sys- Angebote curricular offen und im All- dieser Angebote und Programme tem privater Lern- und Nachhilfeinsti- gemeinen inhaltlich nicht standardisiert beschäftigte, fehlten auf internationaler tute, die u. a. auf die zentralen Prüfun- sind. Gleichwohl handelt es sich um Ebene bis dahin sowohl vergleichende gen am Ende der High-School im pädagogisch inszenierte Settings, die Forschungsprojekte und -initiativen als Übergang zum Hochschulstudium Lernprozesse bei Heranwachsenden auch ein länderübergreifender kontinu- vorbereiten. Solche Institute werden fördern sollen. Damit sind die Ange- ierlicher fachwissenschaftlicher Aus- 18
Weltkongress der WERA in Kapstadt teil und stellte dort seine Netzwerkakti- vitäten und seine Forschungsagenda vor. Im September 2019 findet in Stock- holm die zweite internationale Konfe- renz des WERA-IRN statt. Dem IRN ‚Extended Education‘ gehören mittler- weile über 170 Forscherinnen und Forscher weltweit an. Zu den künftigen Aufgaben des Netzwerks, das seit 2019 von Marianne Schüpbach und Gil Noam (Harvard) geleitet wird, gehört es u.a. seine Aktivitäten und Koopera- tionen vor allem auch auf den südame- Foto: privat rikanischen und afrikanischen Kontinent hin auszudehnen. Als aktuellste Publi- tausch. Dass sich dies zu Beginn der erschien daraufhin die erste Ausgabe kation des Netzwerks ist derzeit neben 2010er-Jahre verändert, daran ist das des International Journal for Research den aktuellen Schwerpunktheften des Institut für Erziehungswissenschaft im on Extended Education (IJREE). IJREE in Vorbereitung Sang Hoon Bae, Fachbereich 03 Sozial- und Kulturwis- Geschäftsführende HerausgeberInnen Joseph L. Mahoney Sabine Maschke, & senschaften der JLU maßgeblich betei- der ersten Stunde waren Ludwig Ste- Ludwig Stecher (Eds.) International ligt gewesen. cher (IfEW der JLU) und Sabine Developments in Research on Exten- 2010 wurde auf Schloss Rauischholz- Maschke (heute Uni Marburg). Geför- ded Education Perspectives on extra- hausen die erste internationale Konfe- dert wurde das Journal in seiner Grün- curricular activities, after-school pro- renz zum Thema Extended Education dungsphase von der Deutschen For- grams, and all-day schools. Das Buch als Forschungsfeld der Bildungsfor- schungsgemeinschaft. Das Journal erscheint im November 2019 bei schung – gefördert durch das BMBF erscheint mittlerweile im 7. Jahrgang Budrich Publishers. – durchgeführt. Die Konferenz hatte und hat sich international etabliert. Die zum Ziel zum ersten Mal internationale Geschäftsführende Herausgeberschaft SpitzenforscherInnen in diesem Bereich wurde 2018 an Prof. Sang Hoon Bae, zusammen und in den gemeinsamen Sungkyunkwan University, Seoul, Süd- (Forschungs-)Austausch zu bringen und korea, weitergegeben. gleichzeitig von der Konferenz ausge- 2018 wurde das ehemalige NEO-ER- hend ein internationales Forschungs- Netzwerk unter der Federführung von netzwerk (damals noch unter dem Titel Marianne Schüpbach (Freie Universität NEO-ER: Network for Research on Berlin) und Ludwig Stecher zum Inter- Extra-curricular and Out-of-school-time national Research Network ‚Extended Educational Research) sowie auch ein Education‘ innerhalb der World Educa- internationales Publikationsorgan auf tional Research Association (WERA- den Weg zu bringen. Im Herbst 2013 IRN) und nahm als solches am Ersten 19
Beiträge aus Forschung und Lehre am Fachbereich Trilaterale Partnerschaft Gießen - Tokyo - Seoul Johannes Diesing, Verena Schäfer-Nerlich Der Forschungsaufenthalt von Dr. Jo- den vorsieht, wurde die Zusammen- der JLU Gießen. Im Herbst 2020 wird im hannes Diesing an der Tokyo University arbeit der Chung-Ang Universität Seoul Rahmen dieses Förderschwerpunkts ein im Frühjahr bildet den Auftakt für das mit dem Institut für Politikwissenschaft gemeinsames Forschungskolloquium seit Januar 2019 bestehende trilaterale und dem ZMI erst im Zuge der An- mit Masterstudierenden aller drei Part- Partnerschaftsabkommen der JLU Gie- tragstellung im Sommer 2018 durch neruniversitäten in Gießen stattfinden. ßen mit Tokyo und Seoul. Das Projekt ein Memorandum of Understanding Die dritte Säule der trilateralen Partner- „Trilaterale Partnerschaft Gießen-To- formalisiert. Im Rahmen von interna- schaft bildet die Förderung innovativer kyo-Seoul“ haben Prof. Dr. Dorothée de tionalen Symposien und den Ostasia- Lehrangebote, die von Nachwuchswis- Nève, Dr. Verena Schäfer-Nerlich und tischen DAAD-Zentrenkonferenzen, an senschaftlerInnen an allen drei Stand- Dr. Johannes Diesing für das Institut denen WissenschaftlerInnen aller drei orten gemeinsam entwickelt und jeweils für Politikwissenschaft im Rahmen der Hochschulstandorte teilnahmen, konnte an einer der drei Universitäten in Form Ausschreibung des Deutschen Akade- der trilaterale akademische Austausch von Co-Teaching zusammen durchge- mischen Austauschdienstes (DAAD) für bereits seit dem Jahr 2013 angebahnt führt werden. Im Herbst 2019 werden Partnerschaften mit Japan und Korea und kontinuierlich gefestigt werden. dazu Masterstudierende der JLU an (PaJaKo) eingeworben. Partneruniversi- der Chung-Ang University in Seoul täten der JLU sind die Tokyo University Drei Säulen der Partnerschaft ein Blockseminar besuchen. Im Folge- in Japan und die Chung-Ang University Die trilaterale Partnerschaft Gießen jahr wird ein weiteres Blockseminar in in Seoul (Südkorea) mit ihren jeweiligen – Tokyo – Seoul sieht während der demselben Format für Studierende aus Zentren für Deutschland- und Europa- zunächst zweijährigen Laufzeit (2019- Gießen und Tokyo an der Tokyo Univer- studien (DESK und ZeDES). 2020) die Förderung von unterschied- sity angeboten. Durch die Förderung des DAAD kön- lichen Formaten vor, die sich als drei nen die bestehenden Kooperations- Säulen beschreiben lassen. So werden Auftaktbesuch von Gießener Politik- beziehungen mit beiden Universitäten erstens Forschungsaufenthalte von wissenschaftler in Japan gefestigt und ausgebaut werden. NachwuchswissenschaftlerInnen und Der einmonatige Forschungsaufenthalt Während der Fachbereich Kultur- und Hochschullehrenden der JLU an den von Dr. Johannes Diesing an der Tokyo Sozialwissenschaften und das Zentrum beiden Partneruniversitäten ermöglicht. University im März 2019 markierte den für Medien und Interaktivität (ZMI) der Die zweite Säule umfasst die Förderung Beginn einer besonderen Vernetzung JLU bereits im Mai 2016 einen Koope- von Studien- und Forschungsaufenthal- mit japanischen PolitikwissenschaftlerIn- rationsvertrag mit der Tokyo University ten von Masterstudierenden und Hoch- nen im Rahmen der PaJaKo-Förderung. geschlossen haben, der u. a. den Aus- schullehrenden der Tokyo University Neben dem fachlichen Austausch mit tausch von Studierenden und Forschen- und der Chung-Ang University Seoul an KollegInnen am Zentrum für Deutsch- 20
land- und Europastudien standen auch Dr. Dorothée de Nève Kenntnisse über Politik und Medien. Im Rahmen dieses aktuelle politische Auseinandersetzun- das politische System Südkoreas unter ersten Auslandsaufenthalts von Gieße- gen in Japan im Zentrum des wissen- besonderer Berücksichtigung der Ent- ner Master-Studierender in Seoul wird schaftlichen Interesses der Reise von wicklungen seit Mitte der 1980er Jahre. zudem das innovative Konzept des Co- Herrn Diesing. Während des Aufent- Inhaltliche Schwerpunkte, die bereits in Teachings erstmals Anwendung finden. haltes in Tokyo lag der Fokus dabei auf diesem Seminar vermittelt werden und den politischen Veranstaltungen rund dann vor Ort in Seoul vertieft werden um den achten Gedenktag der Drei- sollen, sind politikwissenschaftliche fach-Katastrophe von Fukushima im Analysen aktueller politischer Entwick- Jahre 2011. lungen und die Interdependenz von Einen zweiten Schwerpunkt des Aufent- haltes von Herrn Diesing bildete die Be- schäftigung mit dem aktuellen Okinawa Konflikt um den Ausbau einer ameri- kanischen Luftwaffenbasis in Japans südlichster Präfektur. Ausblick Im Jahr 2019 werden weitere Wissen- schaftlerInnen des Instituts für Politik- wissenschaft für Forschungsaufenthalte an die Partneruniversitäten nach Japan und Korea reisen. Darüber hinaus be- reiten sich im Sommersemester 2019 bereits Studierende des Masterstudien- gangs „Demokratie und Governance“ des Instituts für Politikwissenschaft auf die im Herbst stattfindende Exkursion an die Chung-Ang University in Seoul vor. Dazu erarbeiten sich die Studieren- den des Seminars „Südkorea“ von Prof. Foto: Johannes Diesing © 21
Beiträge aus Forschung Lehre am Fachbereich Stabilisierung von Arbeitskräften in der Textilindustrie: Begleitforschung zu Personalfluktuation und -rekrutierung im Hawassa Industrial Park (HIP), Äthiopien Michaela Fink, Reimer Gronemeyer Äthiopien als wichtiger Standort der Arbeitsplätze sind bisher entstanden. dass die Ursachen für die instabile Textilindustrie Bei voller Auslastung wird erwartet, Personalsituation nicht allein in ökono- Die Textilindustrie in Äthiopien boomt. dass der Park 60.000 Mitarbeiter mischen Faktoren (niedrige Gehälter) Steigende Produktionskosten in Asien beschäftigt und in einer Doppelschicht und in den Arbeits- und Wohnbedin- (aber auch z.B. in der Türkei) führen zu arbeitet. Ein zweiter Industriepark gungen (hohe Arbeitsbelastung, Verlagerungen der Produktionsstätten. wurde in der Hauptstadt Adis Abeba schlechte Unterbringung) zu suchen Neben Bangladesch, Vietnam und angesiedelt. Insgesamt sind zwölf sind, sondern dass darüber hinaus auch Myanmar ist Äthiopien mittlerweile solcher Industriegebiete in Äthiopien soziale und kulturelle Ursachen eine einer der führenden Beschaffungs- geplant. Zu den wichtigsten Exportlän- entscheidende Rolle spielen: die agrari- standorte der Textilindustrie. Lohnkos- dern im Bekleidungssektor zählen sche Sozialisation der Arbeiterinnen ten sind in der arbeitsintensiven Textil- neben Deutschland die USA und Groß- (das Personal besteht überwiegend aus industrie der entscheidende Faktor für britannien. Die Parks sind als Freihan- jungen Frauen), ihre starke Bindung an die Konkurrenzfähigkeit. In Äthiopien delszonen angelegt, die ausschließlich die dörflichen Gemeinschaften und die liegen die aktuell deutlich niedriger als für den Export produzieren. kulturellen Wertvorstellungen sowie etwa in Bangladesch (Bangladesch: ethnische Spannungen. monatlich 95 USD vs. Äthiopien ca. 30 Herausforderungen der Textilindustrie Die kulturelle Distanz der Arbeiterinnen USD). Die von der äthiopischen Regierung gegenüber den Erwartungen und Bis zum Jahr 2022 sollen in Äthiopien beabsichtigte Ausweitung von Indust- Normen, die eine industrialisierte 350.000 Jobs in der Textilbranche rie-, im speziellen Textilparks, die von Arbeitswelt an sie stellt, wird verstärkt entstehen. Dafür lässt die äthiopische der deutschen Regierung unterstützt durch die Distanz gegenüber den Regierung Industrieparks bauen – mit wird, sieht sich vor verschiedenen überwiegend aus dem Ausland stam- eigener Kläranlage und zuverlässiger Herausforderungen. Zentral ist dabei menden Führungskräften, die einerseits und kostengünstiger Stromversorgung. das Thema Arbeitskräfte. Hohe Perso- gänzlich andere soziale und kulturelle Investoren können die riesigen Hallen nalfluktuation (Turnover), geringe Pro- Hintergründe mitbringen und zugleich mieten. duktivität und mangelnde Zuverlässig- eine globalisierte, ökonomische Pers- In Hawassa, einer Stadt mit 300.000 keit (Absenteeism) gefährden die pektive repräsentieren. Einwohnern, wurde in 2016 der größte schaftlichkeit und damit den Fortbe- Das »mindset« der Arbeitskräfte, das Textilparks des Landes in Betrieb stand der neugeschaffenen Industrie- sich insbesondere in Fehlzeiten und in genommen. 20 internationale Textil- parks. hohen Abbruchraten ausdrückt, ist aus unternehmen haben sich dort mit 52 Eine Voruntersuchung der Antragsteller Sicht der Unternehmen nicht tragbar. Fabriken niedergelassen. 25.000 in Hawassa im März 2019 hat gezeigt, Zugleich wissen die Führungskräfte 22
meist kaum etwas über die sozialen und ökonomischen Hintergründe der Arbei- terinnen, über ihre kulturellen Wertvor- stellungen, über regionale Unter- schiede etc. Maßnahmen zur Personalstabilisierung beschränken sich Foto: Michaela Fink © bislang vor allem auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabri- hören sie auf? Warum kommen sie nicht Wohnbedingungen eine Stabilität ken und auf die Etablierung ökonomi- regelmäßig? Woher kommen sie? Aus schaffen? scher Anreize, etwa durch leistungsbe- welchen Verhältnissen brechen sie auf? Wie gehen die Arbeiterinnen mit dem zogene Boni-Zahlungen. Welche ethnischen und sozio-ökonomi- beschleunigten Industrialisierungspro- schen Rahmenbedingungen gelten für zess um? Welche Herausforderungen Begleitforschung durch die JLU in sie? Wie sind die Familienverhältnisse? stellen sich ihnen beim Übergang von Kooperation mit der Universität Was machen sie mit ihrem Einkommen einem agrarisch geprägten zu einem Hawassa (finanzieren sie die Familie, Kinder, industrialisierten Lebensumfeld? Wel- Um das Phänomen der massiven Perso- Konsumgüter, eine Weiterbildung, ein che »life-skills« und welche Arbeitsethik nalfluktuation und der Abwesenheit der Studium)? Welche Maßnahmen würden brauchen sie für die Arbeit in der Textil- Arbeiterinnen zu eruieren, haben wir sie veranlassen, regelmäßig anwesend industrie? Bzw. welche an die Landwirt- eine dreijährige Begleitforschung beim zu sein? Sind eher oder eher physische schaft angepassten »life skills« sind für Bundesministerium für wirtschaftliche Gründe für das Fernbleiben verant- sie im Umfeld der Fabrik hinderlich? Zusammenarbeit und Entwicklung wortlich (Stress, Erschöpfung)? Ist die (BMZ) beantragt. Antragsteller sind Vereinbarkeit von Familie und Arbeit Die Forschungsergebnisse können über Prof. Reimer Gronemeyer (IfS, JLU), ein Thema (mangelt es an Kinderbe- die Arbeit der deutschen Entwicklungs- Prof. Ingrid Miethe (IfE, JLU), Prof. treuung)? Sind andere Prioritätenset- zusammenarbeit (GIZ) direkt in die Tesfaye Semela Kukem (Universität zungen die Ursache des Fernbleibens? Beratung von Betrieben und Ausbil- Hawassa). Betrachten sie den Arbeitsplatz von dungs-, Trainings- und Rekrutierungs- Im Rahmen der geplanten Forschung vornherein als vorübergehend (bspw. institutionen eingespeist werden. sind insbesondere die Interessen und vor der Gründung einer eigenen Fami- Motivationslagen der Arbeiterinnen zu lie, oder der Vorbereitung der Über- analysieren: Welche Erwartungen ver- siedlung in die Stadt)? Würde mehr binden sie mit der Lohnarbeit? Warum Lohn oder würden andere Arbeits- und 23
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