AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz

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AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AMNESTY
                                                                     Nr. 93
                                                                         72
                                                             Dezember
                                                                 März 2018
                                                                      2012

MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE

                       POPULISMUS.
                       DIE GROSSE VERSUCHUNG

VIETNAM                       DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO
Oppositionelle in Gefahr      Höchste Alarmstufe
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
E CH T E
                                                            H E N R
                                                       N S C
                                                    ME       UN  S S T A R K
                                                   M ACHE N

                             MENSCHENRECHTE UNTER DRUCK,
                             AUCH IN DER SCHWEIZ!
                                                    Rund ums Thema Menschenrechte unter
JAHRESVERSAMMLUNG 2018                              Druck, auch in der Schweiz! wird es an der
                                                    Jahresversammlung ein Podium, Workshops
Die Jahresversammlung 2018 findet am                und eine Aktion geben. Amnesty International
5. und 6. Mai beim Weltpostverein in Bern statt.    setzt sich dafür ein, die Menschenrechte zu
                                                    stärken.
Wir freuen uns besonders, in diesem Jahr Idil       Mit der Kampagne «Brave» unterstützen
Eser von Amnesty Türkei sowie Sergei Nikitin        wir MenschenrechtsverteidigerInnen weltweit.
von Amnesty Russland und Rachel Logan von           Mit «Menschenrechte machen uns stark»
Amnesty UK als Gäste begrüssen zu dürfen.           wehren wir uns gegen den Angriff auf die
                                                    Europäische Menschenrechtskonvention
Anmeldung: bis zum 25. März 2018 auf                (EMRK) in der Schweiz durch die sogenannte
www.amnesty.ch/gv                                   «Fremde Richter»-Initiative.

Einreichung von Motionen und Postulaten:
bis zum 9. März 2018 an gv@amnesty.ch
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
INHALT_MÄRZ 2018
Titelbild
© Jim WATSON / AFP

        AKTUELL                                                                                                         THEMA
4       Good News                                                                                               26       Vietnam
6       Aktuell im Bild                                                                                                  Der Druck steigt
7       Nachrichten
9       Brennpunkt
        Zurechtgeschnitten

                                                                                                                                                           Die vietnamesische
        DOSSIER                                                                                                                                            Regierung geht immer härter
                                                                                                                                                           gegen Oppositionelle vor.
        Populismus.
        Die grosse Versuchung                                                                                   29       DR Kongo
                                                                                                                         Höchste Alarmstufe
                                                                                                                31       Saudi-Arabien
                                                                                                                         Losfahren
                                                                                                                32       Unvergesslich – Unsere Geschichten
                                                                                                                         Hummus oder Fondue?
                                                                                                                         Willkommen bei den Hartmanns

                                                                                                                        KULTUR
10      Populismus: Herausforderung für die Demokratie                                                          35       Buch
                                                                                                                         Verdrängte Schuld
12      Im Namen des «Volkes»
        Was ist Populismus überhaupt?                                                                           36       Ausstellung
                                                                                                                         Vom Warten im Ungewissen
14      Scheindemokratie
        Wie Viktor Orbán den Rechtsstaat abwickelt.
                                                                                                                37       Film
                                                                                                                         Zwischen Sehnsucht und Realismus
17      Der Populismus ist tot. Es lebe der Populismus                                                          38       Buch
        Warum Populismus in den USA kein Schimpfwort ist.                                                                13 Stufen zum Tod
20      Die Verlockung der Macht
        Boliviens linker Populismus wird autoritär.

22      Im Netz der alternativen Fakten                                                                                 CARTE BLANCHE
        Vom rechten Kampf gegen die «linken» Medien.
                                                                                                                39       Anne-Sophie Keller
24      «Trump ist Profiteur der neuen Medienwelt»                                                                       Gegen die Neutralität
        Bedroht das Internet die Demokratie?

Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 93, März 2018. Redaktion: Ramin Nowzad (verantw.), Manuela Reimann Graf. MitarbeiterInnen dieser Nummer: Ulla Bein, Nadia Boehlen,
Hannah El-Hitami, Camille Grandjean-Jornod, Astrid Herrmann, Fabienne Jacomet, Anne-Sophie Keller, Tobias Kuhnert, Mathias Peer, Bettina Rühl, Carole Scheidegger, Lotta Suter, Keno Verseck,
Sandra Weiss. Korrektorat: Korrektorat Vogt, Muri b. Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und
Französisch. Das Magazin gibt es auch als E-Paper unter https://issuu.com/magazin-amnesty-schweiz. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 27. April 2018. Distribution: «AMNESTY, Magazin der
Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sek­tion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die
Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty Inter­national, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktions­adresse: Magazin
«AMNESTY», Redak­tion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 88  000 (dt.).

www.amnesty.ch           facebook.com/amnesty.schweiz           twitter.com/amnesty_schweiz      International: www.amnesty.org          www.instagram.com/amnesty_schweiz

                                                                                                                                                                                                        3
AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N

                                             Regierungschef Viktor Orbán
                                             liess jüngst ganz Ungarn mit
                                             riesigen Plakaten zukleistern.
                                             Sie zeigten einen grinsenden
                                             alten Mann und den Schrift-
                                             zug: «99 Prozent lehnen illega-
                                                                                     GOO              Australien sagt Ja zur «Ehe für alle»
                                                                                                      AUSTRALIEN − Lesbische und schwule Paare dürfen in Australien künf-
                                                                                                      tig heiraten. Das hat das Parlament am 7. Dezember mit nur vier Ge-
                                                                                                      genstimmen beschlossen. In einer Volksbefragung hatten sich zuvor
                                                                                                      rund 62 Prozent der Bevölkerung dafür ausgesprochen, die Ehe für
                                                                                                      homosexuelle Paare zu öffnen. Das Ergebnis der Volksbefragung war
                                                                                                      für das Parlament nicht bindend, doch Premierminister Malcom Tur-
                                                                                                      bull hatte versprochen, sich an das Votum zu halten. Australien ist
                                                                                                      nun das 23. Land der Welt, das die «Ehe für alle» legalisiert hat.
                                             le Flüchtlinge ab. Lassen wir

                                                                               © REUTERS/David Gray
               nicht zu, dass Soros als Letzter lacht.» Kurz darauf
               postete ein Parlamentarier der Regierungspartei das
               Foto eines verkohlten Schweins, auf dessen Haut der
               Name «Soros» zu lesen war.
               Der US-Börsenspekulant George Soros ist ein Lieb-
               lingsfeind der neuen Rechten. Soros kam in Budapest
               zur Welt, überlebte den Holocaust und unterstützt
               nun weltweit NGOs, die sich für Bürgerrechte und
               den Schutz von Geflüchteten einsetzen. Orbán nennt
               ihn einen «Feind des Volkes».
               Muslimische Flüchtlinge, eine tote Sau und ein la-
               chender Jude: Willkommen im ungarischen Wahl-
                                                                                                      Freudentränen in Sydney: Schwule und Lesben dürfen nun auch in Australien
               kampf. Am 8. April wählt das EU-Land ein neues Par-                                    heiraten.

               lament. Orbán lässt sich noch immer durch Wahlen
                                                                                                      Amnesty deckt Fehlurteil auf
               legitimieren, aber hat Menschenrechte, Pluralismus                                     MEXIKO – Fast acht Jahre sass er im Gefängnis, nun ist Sergio Sán-
               und Gewaltenteilung längst abgeschüttelt.                                              chez Arellano endlich wieder in Freiheit. Die mexikanische Polizei
                                                                                                      hatte den Süsswarenhändler im März 2010 festgenommen, weil er
               Je bedrohlicher die Zukunft erscheint, desto verführe-                                 angeblich an einem Mord und einem versuchten Raubüberfall betei-
               rischer wird es, in der Vergangenheit Halt zu suchen:                                  ligt gewesen sein soll. Das Urteil: 27 Jahre Haft. Amnesty Internatio-
                                                                                                      nal studierte die Gerichtsakten und fand darin gravierende Unstim-
               Heimat, Familie, Tradition! Populisten versprechen                                     migkeiten bei den
                                                                                                                                    © Amnesty International/Sergio Ortiz

               die Rückkehr in eine heile Welt, die so freilich nur in                                Ermittlungen und
                                                                                                      dem anschliessenden
               ihrer Erinnerung existiert. Die SVP galt lange als
                                                                                                      Verfahren. Deswegen
               Avantgarde des europäischen Rechtspopulismus. In-                                      wurde Sergio Sánchez
               zwischen hat ihr Modell weltweit Schule gemacht.                                       Arellanos im Februar
                                                                                                      2018 freigelassen.
               Trump, Le Pen, Orbán und Co. behaupten, mit der
               Stimme «des Volkes» zu sprechen – und meinen es
               als Drohung an alle, die nicht dazugehören.
                                                                                                              Wieder in Freiheit:
                                                                                                                   der Mexikaner
                              Ramin Nowzad, verantwortlicher Redaktor                                   Sergio Sánchez Arellano.

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                                                                                                                                                                           AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AKTUELL_GOOD NEWS

D NEWS
Keine Waffen für den Krieg
im Jemen
DEUTSCHLAND/NORWEGEN – Seit
fast drei Jahren tobt im Jemen
ein blutiger Krieg, bei dem alle
Parteien gegen das Völkerrecht
verstossen. Dabei kommen auch
Waffen zum Einsatz, die aus
                                                              Filmemacher
                                                              mit Familie vereint
                                                              CHINA – Dem tibetischen
                                                              Filmemacher Dhondup
                                                              Wangchen ist die Flucht in
                                                              die USA gelungen. Ein chi-
                                                              nesisches Gericht hatte ihn
                                                              2009 in einem geheimen
                                                                                                                                                        IN KÜRZE
                                                                                                                                                        SUDAN – Der sudanesische Oppo-
                                                                                                                                                        sitionelle Radwan Daoud ist am
                                                                                                                                                        18. Januar ohne Anklage aus dem
                                                                                                                                                        Kober-Gefängnis in Khartum ent-
                                                                                                                                                        lassen worden. Er war am 6. De-
                                                                                                                                                        zember 2017 festgenommen wor-
westlichen Demokratien stam-                                  Prozess zu sechs Jahren                                                                   den und sass zunächst in einer
men. Norwegens Regierung hat                                  Haft verurteilt, weil er einen                                                            Hafteinrichtung des sudanesi-
am 3. Januar angekündigt, künf-                               kritischen Dokumentarfilm                                                                 schen Geheimdienstes NISS. Rad-
tig kein Kriegsmaterial mehr an                               über die Olympischen                                                                      wan Daoud besitzt die sudanesi-
die Vereinigten Arabischen Emi-                               Spiele in Peking gedreht                                                                  sche und die US-amerikanische

                                                                                                                                             © Privat
rate zu liefern, die im Jemen an                              hatte. Nachdem er 2014                                                                    Staatsbürgerschaft. Zehn Tage
der Seite Saudi-Arabiens kämp-                                freigekommen war, stand                                                                   nach seiner Freilassung wurde
                                                                                               Seinen Aufpassern entkommen: der tibetische
fen. Zwei Wochen später be-                                   er unter ständiger Beob-         Filmemacher Dhondup Wangchen.                            auch Naser Aldeen Mukhtar Mo-
schloss die deutsche Regierung                                achtung der Polizei und                                                                   hamed auf freien Fuss gesetzt.
einen generellen Rüstungsexport-                              durfte Tibet nicht verlassen. In den USA ist er nun mit seiner Familie                    Der ehemalige Vorsitzende der
stopp für alle Länder, die am Je-                             wiedervereint, die bereits vor Jahren dorthin geflohen war.                               Darfur Students Association an
men-Krieg beteiligt sind. Dies                                                                                                                          der Holy Quran University war am
betrifft vor allem Saudi-Arabien,                             Solidarität mit Mahadine                                                                  22. August 2017 festgenommen
einen der Hauptabnehmer deut-                                 TSCHAD − Sichtlich bewegt nahm der Blogger Mahadine aus dem                               worden und sass ebenfalls in ei-
scher Waffen.                                                 Tschad das Geschenk entgegen: «Es berührt mich, dass sich all diese                       nem Gefangenenlager des sudane-
                                                              Menschen für mich einsetzen, ohne mich zu kennen», sagte er, als                          sischen Geheimdienstes.
Ende einer blutigen Ära                                       Amnesty-Vertreter ihn im Gefängnis besuchten. Sie übergaben ihm ein
ÄTHIOPIEN – Die äthiopische Re-                               grosses Poster, auf welchem die Bilder Hunderter Menschen abgelich-                       ÄGYPTEN – Die Menschenrechts-
gierung hat Anfang Februar an-                                tet sind, die sich im Rahmen der Amnesty-Kampagne I’M HERE mit                            anwältin Mahienour el-Massry
geordnet, mehr als 700 Gefange-                               Mahadine solidarisiert hatten. Mehr als 2500 Menschen haben Selfies                       wurde am 16. Januar 2018 aus
ne freizulassen, darunter viele                               von sich aufgenommen, um gegen die Inhaftierung des Familienvaters                        dem Gefängnis entlassen. Sie war
Oppositionelle. Unter den Freige-                             zu protestieren. Mahadine sitzt im Gefängnis, weil er im Internet die                     am 30. Dezember 2017 wegen
lassenen sind auch der promi-                                 Regierung des Tschads kritisiert hatte. Ihm droht lebenslange Haft.                       «Teilnahme an einer unautorisier-
nente Blogger Eskinder Nega                                                                                                                             ten Protestaktion» und «Demons-
                                    © Amnesty International

und der Regierungskritiker Me-                                                                                                                          tration von Gewalt» zu zwei Jah-
rera Gudina. Das berüchtigte                                                                                                                            ren Haft verurteilt worden.
Maekelawi-Gefängnis in der
Hauptstadt Addis Abeba, in wel-                                                                                                                         USA – Der Oberste Gerichtshof der
chem Folter an der Tagesordnung                                                                                                                         USA hat die Hinrichtung von Ver-
war, soll ausserdem geschlossen                                                                                                                         non Madison vorläufig gestoppt.
und zu einem Museum umgebaut                                                                                                                            Er sollte am 25. Januar im US-
werden. Damit reagiert Äthiopien                                                                                                                        Bundesstaat Alabama exekutiert
offenbar auf die wachsenden poli-                                                                                                                       werden. Der Hinrichtungsauf-
tischen Unruhen in dem Land.                                                                                                                            schub gibt dem Obersten Ge-
Seit zwei Jahren kommt es immer                                                                                                                         richtshof Zeit, über einen Antrag
wieder zu gewaltsamen Protesten,                                                                                                                        der Verteidigung zu entscheiden.
bei denen bereits Hunderte Men-                                                                                                                         Die Verteidigung argumentiert,
schen starben. Amnesty nannte                                                                                                                           dass Vernon Madison aufgrund
die Freilassungen ein Signal für                                                                                                                        seiner geistigen Einschränkung
das «Ende einer Ära der blutigen                              Nicht allein: Hunderte Selfies von UnterstützerInnen wurden Mahadine                      nicht hingerichtet werden darf.
Repression».                                                  im Tschad übergeben.

                                                                                                                                                                                            5
AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AKTUELL_IM BILD

                                                                                                                                                         © REUTERS/Osman Orsal
       SYRIEN – Es ist eine neue Stufe der Eskalation: Das türkische Militär geht seit Ende Januar im Nordwesten Syriens gegen die kurdische Miliz YPG
       vor. Der Einsatz ist politisch hochbrisant, da die Miliz im Kampf gegen den «Islamischen Staat» eng mit den USA verbündet ist. Allein in den
       ersten beiden Wochen der Militäroperation sind mindestens 16 türkische Soldaten gestorben. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights
       Watch wirft unterdessen türkischen Grenzsoldaten vor, auf syrische Zivilpersonen geschossen zu haben, die vor den Kämpfen in die Türkei
       flüchten wollten.

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                                                                                                                                        AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
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                                                                                                                               hatte (siehe «Brennpunkt» im ver-                      Iran müssen alle Frauen und
© Amnesty International / Jarek Godlewski

                                                                                                                               gangenen Magazin), beantragte                          Mädchen ab neun Jahren in
                                                                                                                               Bundesrat Johann Schneider-Am-                         der Öffentlichkeit ein Kopftuch
                                                                                                                               mann nach Medien­berichten beim                        sowie einen langen, weiten
                                                                                                                               Gesamtbundesrat eine entspre-                          Mantel tragen, um Haare und
                                                                                                                               chende Verordnungsänderung.                            Körperkonturen zu verbergen.
                                                                                                                                                                                      Bei Zuwiderhandlung drohen
                                                                                                                               Einschüchterung                                        Gefängnis, Geldstrafen und Peit-
                                                                                                                               von Memorial                                           schenhiebe.
                                                                                                                               RUSSISCHE FÖDERATION – Die rus-
                                                                                                                               sische Menschenrechtsorganisa-                         Minderjähriger Straftäter
                                                                                                                               tion Memorial steht erneut unter                       exekutiert
                                                                                                                               Druck. Am 9. Januar nahm die                           IRAN – Die iranischen Behörden
                                                                                                                               Polizei Oyub Titiev, den Leiter des                    haben am 30. Januar den 22-jäh-
                                            Überall auf der Welt demonstrieren Menschen für die Freilassung von Taner Kılıç.   Regionalbüros in Tschetschenien,                       rigen Ali Kazemi hingerichtet. Ka-
                                                                                                                               unter dem Vorwurf des Drogen­                          zemi war wegen einer tödlichen
                                            Justizfarce                                                                        be­sitzes fest. Eine Woche später                      Messerstecherei verurteilt worden.
                                            TÜRKEI – Die Freude währte nur kurz: Am 31. Januar entschied ein                   wurden die Büros von Memorial                          Zum Zeitpunkt des Verbrechens
                                            Gericht in Istanbul, Taner Kılıç, den Präsidenten der türkischen                   in Inguschetien in Brand ge-                           war er 15 Jahre alt. Immer wieder
                                            Sektion von Amnesty International, freizulassen. Doch bereits wenige               steckt. Am 23. Januar ging ein                         werden im Iran Häftlinge hinge-
                                            Stunden später stiess das Gericht seinen Entscheid wieder um und                   Auto von Memorial-Mitarbeitern                         richtet, die zum Tatzeitpunkt min-
                                            beschloss die Fortsetzung der Untersuchungshaft. Bis Redaktions-                   in Flammen auf.                                        derjährig waren – ein Verstoss ge-
                                            schluss war Taner Kılıç weiterhin in Haft, der nächste Gerichtstermin                                                                     gen das Völkerrecht. Kazemis
                                            wurde auf den 21. Juni angesetzt. Kılıç wird die «Mitgliedschaft in                Kopftuchrebellion                                      Anwalt wurde über die geplante
                                            einer terroristischen Organisation» angelastet. Dabei handelt es sich              IRAN – Aus Protest gegen die                           Hinrichtung nicht informiert, ob-
                                            um einen völlig haltlosen Vorwurf, für den die Staatsanwaltschaft bis-             Kleidervorschriften nehmen über-                       wohl dies das iranische Recht vor-
                                            her keine Beweise vorlegen konnte.                                                 all im Iran Frauen in der Öffent-                      schreibt. Auch seine Familie durf-
                                                                                                                               lichkeit ihre Kopftücher ab und                        te sich von Ali Kazemi nicht
                                            Trump hält                               Widerstands der Republikaner im           hängen sie als Fahnen auf. Im                          verabschieden.
                                            an Guantánamo fest                       Kongress nicht schliessen konnte.
                                            USA – US-Präsident Donald                Seit Anfang 2008 wurden keine             Tep Vanny bleibt im Gefängnis
                                            Trump will das Gefangenenlager           neuen Häftlinge nach Guantána-            KAMBODSCHA – Das höchste Gericht in Kambodscha hat Anfang Februar
                                            Guantánamo auf Kuba nicht                mo gebracht. Es befinden sich             das Urteil gegen die Landrechtsaktivistin Tep Vanny bestätigt: Die Strafe
                                            schliessen, so verkündete er in          gegenwärtig noch 41 Gefangene                                                    von zwei Jahren und sechs Mo-
                                                                                                                                                                     © Free the 15!

                                            seiner Rede zur Lage der Nation.         im Camp, 26 von ihnen weiterhin                                                  naten Haft wird nicht aufgeho-
                                            Er habe eine entsprechende Ver-          ohne Anklage oder Urteil.                                                        ben. Tep Vanny hatte sich ge-
                                            fügung unterzeichnet. Terroristen                                                                                         meinsam mit anderen Frauen
                                            seien «keine regulären Kriegsge-         Schweizer Kriegsmaterial                                                         ihres Dorfes gegen die Vertrei-
                                            fangenen, sondern ungesetzliche          für Bürgerkriege                                                                 bung Tausender Menschen am
                                            feindliche Kombattanten», so             SCHWEIZ – Schweizer Kriegsmate-                                                  Boeung-Kak-See gewehrt, der
                                            Trump. «Wenn möglich, löschen            rial soll nun auch in Bürgerkriegs-                                              durch eine private Firma aufge-
                                            wir sie aus. Wenn notwendig,             länder geliefert werden dürfen.                                                  füllt wurde. Tep Vanny war im
                                            müssen wir sie einsperren und            Das Lobbying der Schweizer Rüs-                                                  März 2013 nach einer friedlichen
                                            befragen können.» Damit macht            tungsbetriebe für eine Lockerung                                                 Demonstration festgenommen
                                            Donald Trump ein Dekret seines           der Ausfuhrbestimmungen für                                                      worden, im Februar 2017 wurde
                                            Vorgängers Barack Obama rück-            Kriegsmaterial hat Früchte getra-                                                sie wegen «vorsätzlicher Gewalt
                                            gängig, der während seiner Amts-         gen. Nachdem sich im Herbst be-           Die Menschenrechtsaktivistin Tep       mit erschwerenden Umständen»
                                            zeit viele Gefangene entlassen           reits die sicherheitspolitische Kom-      Vanny sitzt seit mehr als 500 Tagen in verurteilt. Seither sitzt die Mutter
                                            hatte, aber das Lager wegen des          mission dafür ausgesprochen               einem Gefängnis in Pnom Penh.          von zwei Kindern im Gefängnis.

                                                                                                                                                                                                                           7
                                            AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AKTUELL_NACHRICHTEN

       Verfolgung von Transgender                                                  Schwangerschaft bisher nur er-         gert. Hanan Badr el-Din kämpft
       INDONESIEN – In der indonesischen Region Nord-Aceh ist die Polizei          laubt, wenn das Leben der Frau         für die Aufklärung des Ver-
       am 27. Januar gegen zwölf Transgender-Personen vorgegangen. Nicht           in Gefahr ist. Selbst nach einer       schwindens ihres Mannes und
       nur wurden die Mitarbeitenden von fünf Schönheitssalons festgenom-          Vergewaltigung ist eine Abtrei-        weiterer Menschen.
       men und die Salons geschlossen – «den Festgenommenen wurde                  bung verboten. Jetzt hat die iri-

                                                                                                                                                                  © Privat
       ausserdem mit Gewalt die Haare geschnitten, um sie ‹männlich zu             sche Regierung für kommenden
       machen›», wie Usman Hamid, Regionaldirektor von Amnesty Indone-             Sommer ein Referendum ange-
       sien, berichtet. Die fünf Transgender wurden am Tag darauf wieder           setzt, in dem die Irinnen und Iren
       freigelassen, «dies ist aber nur ein Beispiel der Verfolgungen, denen       für oder gegen eine Legalisierung
       Transgender ausgesetzt sind. Und nicht nur Transgender, alle LGBTI-         von Abtreibungen «in fast allen
                                                       Leute sind ernsthaft        Fällen» abstimmen können.
                                                   ©Keystone / HOTLI SIMANJUNTAK

                                                       gefährdet», so Usman
                                                       Hamid. Bereits am           In Gefahr
                                                       17. Dezember 2017           ÄGYPTEN – Für die ägyptische
                                                       hatten Einheimische ein     Menschenrechtsverteidigerin
                                                       Hotel überfallen, von       Hanan Badr el-Din wurden beim
                                                       welchem es hiess, dass      Briefmarathon 2017 viele Briefe
                                                       darin ein Schönheits-       geschrieben – doch leider sitzt
                                                       wettbewerb für Transse-     sie noch immer im Gefängnis.
                                                       xuelle stattfinde. Sechs    Und es geht ihr zunehmend
                                                       Transsexuelle wurden        schlechter: Sie leidet unter einer
                                                       an die Strafverfolgungs-    genetisch bedingten Krankheit,
                                                                                                                          Auch am Amnesty-Jugendtreffen in
       Diese Plüschfigur ging bei einer Demonstration  behörden übergeben,         doch wird ihr bislang die notwen-      Deutschland wurden Unterschriften für
       gegen LGBT-Menschen in Aceh verloren. In der    weil sie Sharia-Gesetze     dige medizinische Hilfe verwei-        Hanan Badr el-Din gesammelt.
       Region Banda Aceh wird Sharia-Recht angewandt. verletzt hätten.
                                                                                   Illegale Ausschaffungen
       Todesstrafe in Europa                zahl der Todeskandidaten in            MEXIKO –Routinemässig werden Tausende Asylsuchende aus Mexiko
       BELARUS/WEISSRUSSLAND – Zwei         Belarus nach Angaben der Be-           nach Honduras, El Salvador und Guatemala zurückgeschafft. Damit
       Männer wurden am 20. Januar in       hörden auf sieben erhöht hat.          verstösst das Land systematisch gegen das Non-Refoulement-Prinzip:
       Belarus zum Tode verurteilt,                                                Es schiebt Menschen trotz lebensbedrohlicher Gefahr in ihre Her-
       nachdem ihre lebenslangen Haft-      Referendum                             kunftsländer zurück. Dies dokumentiert Amnesty International in einem
       strafen im Berufungsverfahren        über Abtreibungsgesetz                 neuen Bericht. Guatemala, El Salvador und Honduras gehören zu den
       aufgehoben wurden. Sie sind die      IRLAND – Es ist eines der restrik-     gewalttätigsten Ländern der Welt. Seit Jahren flüchten Menschen aus
       ersten Personen, die 2018 in         tivsten Gesetze gegen Schwan-          diesen Ländern nach Norden – nicht nur wegen Hoffnung auf eine
       dem Land zum Tode verurteilt         gerschaftsabbrüche in Europa:          bessere Existenz, sondern auch, weil sie um ihr Leben fürchten.
       wurden, womit sich die Gesamt-       In Irland ist der Abbruch einer

                                                                                                                                                                  © Amnesty International / Sergio Ortiz Borbolla

        JETZT ONLINE
          Wie lassen sich Menschenrechte anschaulich erklären?
        Sehen Sie die filmischen Antworten von Studentinnen der
        Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK).

          Seit zwei Jahren demonstriert die 81-jährige Inger jeden
        Monat vor der saudi-arabischen Botschaft in Oslo für Raif
        Badawi. Ein berührendes Video über den anhaltenden Einsatz
        für den inhaftierten Blogger.

        Zu finden auf www.amnesty.ch/magazin-maerz18
                                                                                   MigrantInnen an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko.

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                                                                                                                                               AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AKTUELL_BRENNPUNKT

                       ZURECHTGESCHNITTEN
                                                                                                 Folgen haben. Die betroffenen       Erst wenn die Betroffenen in
© REUTERS/Petr Josek

                                                                                                 Kinder oder Jugendlichen wer-       der Lage sind, an der Entschei-
                                                                                                 den nicht gefragt und können        dungsfindung mitzuwirken und
                                                                                                 somit nicht selber entscheiden,     ihre informierte Einwilligung zu
                                                                                                 die Erziehungsberechtigten          geben, darf ein Eingriff auf
                                                                                                 sind meist gar nicht oder zu        Wunsch des intergeschlechtli-
                                                                                                 schlecht informiert, um eine        chen Menschen durchgeführt
                                                                                                 fundierte Entscheidung zu           werden. Folglich muss es Per-
                                                                                                 treffen.                            sonen, die das ihnen zugewie-
                                                                                                                                     sene Geschlecht anpassen
                                                                                                 Dabei handelt es sich um            möchten, ermöglicht werden,
                                                                                                 schwere Menschenrechtsver-          dies durch ein einfaches, trans-
                                                                                                 stösse: Die medizinischen Ein-      parentes und bedingungslos
                                                                                                 griffe verstossen gegen das         zugängliches Verfahren zu tun.
                                                                                                 Recht des Kindes auf Gesund-        Zudem müssen Erwachsene,
                                                                                                 heit sowie gegen sein Recht auf     die einer schädlichen und un-
                                                                                                 Anhörung bei allen Angelegen-       nötigen medizinischen Behand-
                       Ist es ein Bub oder ein Mädchen?                                          heiten, die es betreffen. Mit der   lung unterzogen wurden, ent-
                       Die Frage nach dem Geschlecht                                             Verletzung des Rechts auf kör-      schädigt werden. Schliesslich
                       eines Babys wird manchmal vorschnell                                      perliche und geistige Unver-        ist eine Aufarbeitung der jahr-
                       beantwortet. Jedes Jahr landen
                                                                                                 sehrtheit wird gleichzeitig auch    zehntelangen Menschenrechts-
                       Dutzende intergeschlechtliche Kinder
                       auf dem OP-Tisch – mit dramatischen
                       Folgen.                                J   edes Jahr werden in der
                                                                  Schweiz 40 bis 100 Kinder
                                                              geboren, deren Geschlechts-
                                                                                                 das Recht auf Privatsphäre und
                                                                                                 Selbstbestimmung verletzt. Das
                                                                                                 ist ebenso der Fall, wenn das
                                                                                                                                     verstösse in diesem Bereich
                                                                                                                                     unter Einbezug der Betroffenen
                                                                                                                                     nötig. Nicht zuletzt muss ein
                                                              merkmale – Genitalien, Keim-       Gesundheitspersonal keine           Anti-Diskriminierungsgesetz
                                                              drüsen, Hormone oder Chro-         ausreichenden Informationen         ausgearbeitet werden, das
                                                              mosomen – nicht den                bereitstellt, um Erziehungsbe-      «Geschlechtsmerkmal» explizit
                                                              geltenden, binären Normen für      rechtigten eine auf Fakten ba-      enthält.
                                                              «männlich» und «weiblich»          sierende Entscheidung über die
                                                              entsprechen. Man spricht von       medizinischen Eingriffe zu er-                Tobias Kuhnert, Queeramnesty
                                                              Intergeschlechtlichkeit oder Va-   möglichen.
                                                              riationen der Geschlechtsmerk-
                                                              male. Obwohl keine medizini-       Ein erster Schritt wäre, neben
                                                              sche Notwendigkeit besteht,        «Mann» und «Frau» eine dritte
                                                              werden diese intergeschlechtli-    offizielle Geschlechtskategorie
                                                              chen Kinder bis heute mit gra-     zu schaffen – aber damit ist es
                                                              vierenden chirurgischen Ein-       für intergeschlechtliche Men-
                                                              griffen sowie hormonellen          schen nicht getan: Invasive,
                                                              Behandlungen auf ein Ge-           irreversible chirurgische und
                                                              schlecht festgelegt – oftmals      hormonelle Eingriffe an Kindern
                                                              bereits im Säuglingsalter.         mit Variationen der Geschlechts-
                                                                                                 merkmale müssen verboten
                                                              Diese Eingriffe sind unumkehr-     werden, sofern es sich nicht
                                                              bar und können langfristige        um Notfallmassnahmen han-
                                                              körperliche und psychische         delt.

                                                                                                                                                                               9
                       AMNESTY März 2018
AMNESTY - POPULISMUS. DIE GROSSE VERSUCHUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
W      eltweit sind populistische
       Bewegungen auf dem
Vormarsch. Ob Donald Trump oder
Viktor Orbán, Marine Le Pen,
Beppe Grillo oder Evo Morales:
In einer durch Globalisierung
verunsicherten Welt fällt ihre
demagogische Saat auf frucht­
baren Boden. Der Populismus
verspricht einfache Lösungen für
komplexe Probleme – und stellt
dabei auch Demokratie und
Menschenrechte in Frage.
© dpa / KAY NIETFELD
             D    er Kampf für eine gerechtere Welt ist gefährlicher
                  geworden. Weltweit gehen Regierungen, Konzerne
             und bewaffnete Banden gegen Menschenrechtsvertei­
             diger vor – mit restriktiven Gesetzen oder nackter
             Gewalt.
             Wer Menschenrechte schützt, braucht immer häufiger
             selber Schutz. Was motiviert Menschen, sich trotzdem
             einzusetzen?

            Populismus:
   Herausforderung für
Mut in  die Demokratie
gefährlichen Zeiten
© EPA/MATHIEU CUGNOT
     Im Namen des «Volkes»
     Populismus – das Wort ist in den Medien allgegenwärtig. Doch Politikwissenschaftler und Soziologinnen
     sind sich keineswegs einig, was darunter zu verstehen ist.                  Von Nadia Boehlen

             «Z      unächst verwendete die Politikwissenschaft – später
                     auch die Medien – den Begriff Populismus in Europa,
             um nicht mehr von Rechtsextremismus oder Faschismus zu
                                                                                  Taguieff präzisiert zwar, dass Populismus mit jeder politi-
                                                                              schen Richtung kompatibel ist. In seiner Analyse konzen­
                                                                              triert er sich dennoch vor allem auf Führungspersonen der
             sprechen. So vor allem in Frankreich zur Zeit der ersten Er-     extremen Rechten wie Donald Trump, Viktor Orbán oder
             folge des Front National in den achtziger Jahren», erklärt An-   Marine Le Pen. Sie behaupten, sie würden sich dem herr-
             toine Chollet. Der Politikwissenschaftler an der Universität     schenden System entgegenstellen, indem sie die Einwande-
             Lausanne definiert Populismus als Verteidigung der Volks-        rung oder den Islam angreifen. Es sind «talentierte Demago-
             souveränität und der Demokratie. Seiner Meinung nach             gen, die die Misserfolge der alten Mitte-Rechts- und
             «trägt der Populismus ein radikales Reformprojekt in sich,       Mitte-Links-Parteien ausnutzen – eine Dynamik, die durch
             das in einem demokratischen Rahmen bleibt». Parteien wie         den Dschihad-Terrorismus verstärkt wird».
             die SVP oder der Front National, die keine weitreichenden            Laut Ashfaq Khalfan, Leiter des Programms für Recht und
             Reformen des bestehenden politischen Systems vorschlagen         Politik bei Amnesty International, kann Populismus legitime
             oder gar den demokratischen Rahmen angreifen, sieht er da-       Forderungen und positive Ansätze zur Stärkung des Wohl-
             her nicht als populistisch.                                      fahrtsstaates beinhalten. Populismus werde aber dann prob-
                 Ganz anders die Definition des französischen Philoso-        lematisch, wenn er versucht, bestimmte Gruppen in der Ge-
             phen und Politikwissenschaftlers Pierre-André Taguieff. Ihm      sellschaft ihrer Grundrechte zu berauben, so Ashfaq Khalfan.
             zufolge ist der Populismus «einerseits durch eine fast kulti-    Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Rodrigo Duterte auf
             sche Verehrung des Volkes gekennzeichnet – insbesondere          den Philippinen Drogenabhängige stigmatisiert und ihre Eli-
             von Volksschichten, die als ‹gesund›, ‹ehrlich›» oder ‹authen-   minierung aus der Gesellschaft fordert. Oder wenn der Front
             tisch› gefeiert werden. Andererseits auch dadurch, dass ein      National in Frankreich Muslime und Flüchtlinge dämoni-
             ‹Volkstribun› an ebendieses Volk appelliert».                    siert. Ashfaq Khalfan weist auch auf das Paradox hin, das oft

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DOSSIER_POPULISMUS

«Kultische Verehrung des Volkes»: Marine Le Pen                    cher Regionen verlangt», stellt Ashfaq Khalfan fest. «Durch
ist es gelungen, auch ehemalige Kommunisten                        die Aufnahme sozialer Forderungen konnten populistische
und Sozialdemokratinnen für den Front National                     Parteien viele Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen,
zu gewinnen.
                                                                   die zuvor traditionell für sozialistische und kommunistische
                                                                   Parteien gestimmt hatten.»
                                                                       Für Pierre-André Taguieff machen die Zuschreibungen
                                                                   «links» oder «rechts» eigentlich keinen Sinn mehr in einer
                                                                   Zeit, «in welcher eigentlich die moderate, globalisierungs-
im Zentrum populistischer Bewegungen steht: «Ein Populist          freundliche Mitte auf der einen Seite und die extremen Glo-
behauptet, ‹für das Volk› zu sprechen, indem er sich den Eli-      balisierungskritiker auf der anderen Seite die Rolle der Oppo-
ten widersetzt, obwohl er oft selbst Mitglied dieser Elite ist.»   sition übernehmen».
                                                                       Der Wahlerfolg von Donald Trump hat den populistischen
    Verwischte Fronten Der Populismus kann ganz                    Bewegungen Auftrieb gegeben, schätzt Pierre-André Ta-
unterschiedliche Formen annehmen, je nachdem, in wel-              guieff. «Seine Erfolgswelle hat gezeigt, dass der Hass und die
chen Regionen er sich entfaltet und welche ideologischen           Ablehnung der Elite durch die Unterprivilegierten wie auch
Elemente – links oder rechts – er absorbiert. Die politische       der Globalisierungsverlierer erfolgreich ausgenutzt werden
Führung in Polen, Ungarn und der tschechischen Republik            können, um an die Macht zu gelangen.» Antoine Chollet hin-
ist beispielsweise ebenso demagogisch wie westeuro­pä­ische        gegen lehnt es ab, Trump als Populisten zu bezeichnen, denn
Populisten, aber viel autoritärer, beobachtet Pierre-André Ta-     der Wissenschaftler ist davon überzeugt, dass Trump viel-
guieff. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal bestehe            mehr Methoden der extremen Rechten anwendet: «Dazu ge-
in der «Rolle, die der Bewahrung der christlichen Identität        hört es, über die Gegner zu sprechen statt über politische
zugeschrieben wird, mit welcher die Ablehnung von Immig-           Themen. Dazu gehört aber auch ein paranoider Blick auf Po-
ration und der Anti-Islamismus einhergehen». Demgegen-             litik und Gesellschaft.»
über ist «die beharrliche Verteidigung des Säkularismus –
die sich beispielsweise im Diskurs des neuen Front National           Der Widerspruch der direkten Demokratie
in Frankreich widerspiegelt – dem identitären Populismus           Die direkte Demokratie in der Schweiz ist dem Populismus
in Osteuropa fremd».                                               dienlich: «Die SVP nutzt die Instrumente der direkten De-
    «Linkspopulismus bestimmt den Feind im Allgemeinen             mokratie aus rein taktischen Gründen für ihre Ziele», betont
aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Klasse und zielt        Antoine Chollet. «Die SVP wird die direkte Demokratie aber
gegen nationale und ausländische Eliten», sagt Ashfaq Khal-        nicht verteidigen, wenn sie ihren Partei-Interessen läuft. Lei-
fan von Amnesty International. Aber es gebe Fälle, in denen        der wird als Resultat dieser Instrumentalisierung jeder, der
auch linke Populisten bestimmte ethnische Gruppen angrei-          die direkte Demokratie verteidigt, dem konservativen Spek-
fen. «Vor allem, wenn die Populisten glauben, diese Gruppen        trum zugeteilt – wenn nicht sogar als fremdenfeindlich be-
würden die Elite dominieren. Linkspopulisten fordern häufig        trachtet.»
mehr staatliche Marktregulierung, während Rechtspopulis-               In der Schweiz wurde die direkte Demokratie instrumen-
ten meist weniger staatliche Kontrolle wollen – vor allem,         talisiert, um MuslimInnen daran zu hindern, Minarette zu
wenn ihre Basis aus Kleinunternehmern besteht», so Ashfaq          bauen. Damit wurden ihre Religionsfreiheit und die Nicht-
Khalfan.                                                           Diskriminierungsrechte verletzt. Mit direkter Demokratie
    Auch rechtspopulistische Bewegungen greifen in gewis-          soll nun auch den Sprach-Minoritäten der Zugang zum öf-
sem Umfang traditionell linke Themen auf – unter Beibehal-         fentlichen Rundfunk verwehrt werden, was Ashfaq Khalfan
tung ihrer rassistischen Grundhaltung. «In den vergangenen         zutiefst beunruhigt, denn: «Eine Demokratie muss die Men-
Jahren hat der Front National zum Beispiel den Schutz des          schenrechte garantieren. Ansonsten wird sie zum Instru-
Wohlfahrtsstaates und den Schutz marginalisierter ländli-          ment für die Tyrannei der organisierten Mehrheit.»

                                   «Ein Populist behauptet, ‹für das Volk› zu sprechen, indem er sich den
                                   Eliten widersetzt, obwohl er oft selbst Mitglied dieser Elite ist».

                                                                                                                                         13
AMNESTY März 2018
DOSSIER_POPULISMUS

       In Osteuropa ist die populistische Rhetorik besonders verbreitet.
       In Ungarn ist man bereits einen Schritt weiter: Ministerpräsident
       Orbán hat sich daran gemacht, Demokratie und Rechtsstaat
       auszuhebeln.          Von Keno Verseck

       Scheindemokratie
                   U    ngarns Ministerpräsident Viktor Orbán erlaubte sich im
                        vergangenen September eine symbolische Grenzüber-
                   schreitung, die im Land für eine grosse Kontroverse sorgte. Es
                                                                                      Auf dem Weg in den illiberalen
                                                                                      Staat: Die Wahlen in Ungarn sind
                                                                                      frei, aber unfair.

                   ging um Flüchtlinge, um das staatliche Gewaltmonopol und
                   um Selbstjustiz. Anlass war der Fall eines bis dahin unbe-
                   kannten Mannes namens Zoltán Fenyvesi, der in dem südun-
                   garischen Dorf Öcsény eine kleine Pension betreibt.                von der Befürwortung der Todesstrafe bis hin zur Verun-
                       Fenyvesi, 61, ist Kleinunternehmer mit sozialem Gewissen       glimpfung von Roma als Arbeitsscheue und Kriminelle. Aber
                   und lädt jedes Jahr im Sommer eine Woche lang mittellose           Selbstjustiz zu rechtfertigen, war selbst für ihn eine neue Di-
                   Eltern mit Kindern in seine Pension ein, damit sie entspannte      mension. Zwar äusserten darüber viele ungarische Persön-
                   Tage in Naturnähe verbringen können. Meistens sind es Ro-          lichkeiten aus Politik, Kultur, Forschung und kirchlichen
                   ma-Familien. Im vergangenen Jahr bot Fenyvesi einer priva-         Einrichtungen ihr Entsetzen – sie warfen dem ungarischen
                   ten Budapester Flüchtlingshilfsorganisation an, eine Woche         Regierungschef vor, er würde das demokratische und rechtli-
                   lang eine Flüchtlingsfamilie mit Kindern einzuladen.               che Fundament des ungarischen Staates in Frage stellen.
                       Als sich diese Nachricht im Dorf verbreitete, beriefen wü-     Doch Konsequenzen hatte der Protest nicht.
                   tende Einwohnerinnen und Einwohner eine Versammlung                    Der Vorfall illustriert, in welchem Mass der offizielle Dis-
                   ein und beschuldigten Fenyvesi, er würde Terroristen in den        kurs in einigen EU-Staaten den bisher gültigen Rahmen von
                   Ort bringen. Einige drohten ihm offen Gewalt an, kurz dar-         Demokratie, Rechtsstaat und Humanismus gesprengt hat. Das
                   auf waren an den beiden Autos von ihm und seiner Frau die          ist nicht ausschliesslich, aber doch vorwiegend im Osten der
                   Reifen zerstochen. Fenyvesi sagte die Einladung an die             Europäischen Union der Fall. Dort äussern sich Spitzenpoliti-
                   Flüchtlingsfamilie ab – es sei beschämend, doch leider könne       kerInnen in Regierungsämtern regelmässig besonders abfällig
                   er für die Sicherheit seiner Gäste nicht garantieren.              über Grundrechte und Grundwerte eines demokratischen Eu-
                       Die Geschichte ging durch sämtliche ungarischen Medi-          ropas – und setzen dazu oft auch die entsprechende Politik um.
                   en. Weil sie so hohe Wellen schlug und weil sie sich just auf          Diese Entwicklung in manchen mittel- und südosteuropäi-
                   dem Höhepunkt einer demagogischen Regierungskampagne               schen EU-Ländern wird seit einigen Jahren als Populismus be-
                   gegen Flüchtlinge ereignete, äusserte sich auch Ministerprä-       zeichnet. Wiewohl nicht falsch, beschreibt der Begriff nur unge-
                   sident Viktor Orbán dazu: Er fände «nichts Beanstandens-           nau, worum es geht. Populistisch bis demagogisch ist bei
                   wertes» an den Reaktionen der Leute in Öcsény, sagte Orbán:        osteuropäischen RegierungspolitikerInnen in erster Linie die
                   «Es ist völlig richtig, dass sie ihre Meinung entschlossen, laut   Rhetorik. Jenseits derer finden in einigen – längst nicht allen –
                   und verständlich ausgedrückt haben.»                               dieser Länder Umgestaltungen statt, die mit typisch populisti-
                       Ungarns Regierungschef ist im Laufe seiner politischen         scher Politik eher wenig zu tun haben, sondern deren gemein-
                   Karriere schon mit vielen kontroversen Aussagen aufgefallen –      samer Nenner vielmehr ihr antidemokratischer Charakter ist.
                                                                                      BeobachterInnen haben dafür inzwischen den Begriff der imi-
                                                                                      tierten oder simulierten Demokratie geprägt: Systeme, die nur
       Keno Verseck arbeitet als Südosteuropa-Korrespondent                           noch eingeschränkt als Demokratien und Rechtsstaaten gelten
       für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender.                             können, aber auch keine klassischen Diktaturen sind.

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© REUTERS/Laszlo Balogh LB/JDP
    Unter allen EU-Ländern Osteuropas ist Ungarn mit dieser       mium zu wenden, einengen. Das Ergebnis: Formal existiert die
Umgestaltung bisher am weitesten gegangen – der seit Früh-        Gewaltenteilung zwar weiterhin – praktisch aber kaum noch.
jahr 2010 amtierende Regierungschef Viktor Orbán bekennt              Neben der Verfassung wurden auch andere, für eine Demo-
sich stolz dazu, sein Land zu einem «illiberalen Staat» umge-     kratie essenzielle Gesetze und Rahmenbedingungen stark auf
baut zu haben.                                                    die Bedürfnisse von Orbán und seiner Partei ausgerichtet. Das
    In Staatsapparat und öffentlichem Dienst wurden die Füh-      Parlament beispielsweise ist durch Änderungen der Geschäfts-
rungselite und ein Grossteil des höheren Personals nach 2010      ordnung zu einer blossen Abstimmungsmaschine verkom-
binnen kürzester Zeit flächendeckend ausgetauscht. Die öf-        men. Das Wahlgesetz wiederum begünstigt Fidesz unter ande-
fentlich-rechtlichen Medien liess die Orbán-Regierung eben-       rem durch das Zuschneiden der Wahlkreise zum eigenen
falls innerhalb weniger Monate komplett umstrukturieren,          Vorteil. Ungarische Wahlforscherinnen und Wahlforscher sa-
zugleich wurden nicht regierungstreue Medienschaffende            gen deshalb, die Wahlen in Ungarn seien zwar frei, aber unfair.
entlassen. Die privaten Medien Ungarns wiederum wurden in             In strategischen Wirtschaftsbereichen hat Orbán die «Po-
den vergangenen Jahren Stück für Stück von regierungsna-          litik der nationalen Souveränität» umgesetzt – gemeint ist die
hen Eigentümern aufgekauft. Unabhängiger Journalismus             staatliche oder mindestens private ungarische Mehrheitsei-
wird nur noch von wenigen Zeitungen, Internetportalen und         gentümerschaft in den Sektoren Medien, Bankwesen, Ener-
TV- und Radiosendern angeboten, die mit wenigen Ausnah-           gie und Handel. Das ist inzwischen weitgehend der Fall.
men nur über geringe Reichweite verfügen. Fazit: In Ungarn        Grossenteils sind es Fidesz-nahe UnternehmerInnen oder
herrscht Pressefreiheit – ohne freie Presse.                      Orbáns «Oligarchen», die als Eigentümer in einzelnen Sekto-
                                                                  ren fungieren. Die Überlegung hinter der «Politik der natio-
   Die grosse Säuberung Auch im Justizwesen fan-                  nalen Souveränität»: Ungarische EigentümerInnen lassen
den ein radikaler Umbau und ein Elitenwechsel statt. So etwa      sich leichter steuern als ausländische.
wurde das «Landesgerichtsamt» (OBH) geschaffen, eine zent-            Zu Orbáns System gehört auch der «arbeitsbasierte Staat» –
rale Justizbehörde mit weitreichenden Kompetenzen und             ein Slogan, hinter dem sich die offen propagierte Abschaffung
Weisungs­befugnissen gegenüber RichterInnen – und natürlich       des Sozialstaates in Ungarn verbirgt: Arme und Bedürftige, vor
einer Orbán-treuen Chefin. Eine umstrittene, seit 2012 geltende   allem Roma, die grösste Gruppe der Verlierer im postkommu-
Verfassung und mehrere seither vorgenommene Verfassungs-          nistischen Ungarn, die nicht zur Fidesz-Klientel gehören, er-
änderungen enthalten zahlreiche Bestimmungen, die auf die         halten kaum noch Sozialleistungen, und die auch nur, wenn
langfristige Machtsicherung von Orbán und seiner Partei Fi-       sie kommunale Arbeit verrichten oder permanente Kontrollen
desz zugeschnitten sind. So etwa liess Orbán die Befugnisse des   und Disziplinarmassnahmen über sich ergehen lassen. Diese
Verfassungsgerichtes sowie die Möglichkeiten, sich an das Gre-    Politik spart Kosten und ist bei vielen rassistisch eingestellten

                                                                                                                                                                       15
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DOSSIER_POPULISMUS

               Wählerinnen und Wählern zudem populär. Die eigene                sondern speziell den von Brüssel angemahnten Kampf gegen
               Wählerklientel dagegen, etwa Familien aus der Mittelklasse,      die Korruption abschwächen wollen. In Bulgarien ist eine
               unterstützt Fidesz durch spezielle Familienbeihilfen oder        konservativ-rechtsnationalistische Koalition mit ähnlicher
               Wohnkostensenkungen, UnternehmerInnen profitieren von            Agenda an der Macht.
               den EU-weit niedrigsten Steuersätzen, das Arbeitsrecht ist ei-       Der komplexeste Fall ist Tschechien, für das viele Kommen-
               nes der flexibelsten und arbeitnehmerfeindlichsten in Europa.    tatorInnen nach der Parlamentswahl im Oktober ebenfalls ein
                                                                                Abdriften in Richtung Rechtspopulismus diagnostizierten –
                   Ideologische Differenzen Nicht zuletzt zählt                 denn dort stimmten fast 60 Prozent der WählerInnen für
               zum Wandel in Ungarn auch eine Militarisierung des öffent-       Anti-Establishment-Parteien, darunter allein 30 Prozent für
               lichen Lebens, angefangen von der Einführung eines «patrio-      die rechtspopulistische Bewegung «Aktion unzufriedener
               tischen Wehrkundeunterrichtes» und einer Schulpolizei bis        Bürger» (ANO) des Unternehmers und Milliardärs Andrej
                                                                                    ^
               hin zur massiven finanziellen Förderung und gesetzlichen         Babis, der im Dezember letzten Jahres neuer Regierungschef
               Aufwertung von Bürgerwehren.                                     wurde, allerdings nur ein Minderheitenkabinett anführt.
                                                                                        ^
                   Andere osteuropäische EU-Staaten sind dem ungarischen            Babis pflegt einen populistischen Diskurs, in dem er vor
               Beispiel gefolgt – allerdings nur teilweise. In der westlichen   allem die angeblich ineffiziente und korrupte politische Elite
               Öffentlichkeit herrscht derzeit der Eindruck eines neuen         Tschechiens anprangert. Darin erschöpft sich sein Populis-
               rechtsnationalen, EU-feindlichen «Ostblocks» vor. Aber das       mus jedoch weitgehend. Lediglich in einem Punkt stimmt er
               Bild ist komplexer. Die Entwicklung in den in osteuropäi-        mit Orbán und Kaczynski´ überein: Er plädiert für eine konse-
               schen EU-Ländern verläuft nicht gleichförmig, zwischen ih-       quente Abschottung der EU-Aussengrenzen gegen Flüchtlin-
                                                                                                                 ^
               ren FührungspolitikerInnen bestehen viele Interessenunter-       ge. In seinen Reden lässt Babis gelegentlich einen vagen
               schiede sowie politische und ideologische Differenzen.           Euroskeptizismus anklingen, doch in der Realität ist er EU-
                   Eine «nationalistische Front» bilden osteuropäische EU-      freundlicher als mancher tschechische Politiker aus dem tradi-
               Länder lediglich bei der Ablehnung von Flüchtlingsquoten –       tionellen Parteienspektrum. Denn das Firmenimperium des
               prinzipiell. Praktisch setzen die meisten Länder der Region      Milliardärs, die Agrofert-Holding mit ihren rund 250 Unter-
                                                                                                ^
                                                                                nehmen, erstreckt sich über den gesamten europäischen Kon-
       Viktor Orbán träumte von der Revolte gegen                               tinent. Babis braucht den freien EU-Markt und profitiert von
                                                                                Brüsseler Subventionen. Er fordert deshalb kein «Europa der
       die «Brüsseler Bürokraten» und ihr «Europäisches                         Nationen» wie Orbán und Kaczynski,´   sondern eine verschlank-
       Imperium». Die Revolte fand nicht statt.                                 te und effizientere EU.
                                                                                    Ein Konzept, Tschechien im Orbánschen Sinne umzuge-
                                                                                                ^
               die Quote jedoch um, wenn auch zähneknirschend und un-           stalten, hat Babis nicht, so wie er überhaupt kein kohärentes
               vollständig. Ansonsten kann von einem «Block» nicht einmal       politisches Programm besitzt. Dennoch gehen von ihm eini-  ^
               im Fall der seit 1991 kooperierenden Visegrád-Staaten Polen,     ge Gefahren für den tschechischen Rechtsstaat aus: Babis ist
               Tschechien, Slowakei und Ungarn die Rede sein. Sie driften       der Typ des ambitionierten, selbstherrlichen und zutiefst von
               politisch vielmehr zunehmend auseinander.                        sich selbst überzeugten Oligarchen, der glaubt, dass sein au-
                   Zwar versucht beispielsweise Jaroslaw Kaczynski
                                                                ´ in Polen,     toritärer unternehmerischer Führungsstil auch dem gesam-
               das ungarische Modell zu kopieren, allerdings verfügt er         ten Land guttut. Er hasst die unabhängigen Medien und er
               nicht über eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Zudem bestehen zwi-       begreift nicht, warum seine Steuer- und Subventionstrickse-
                             ´ und Orbán erhebliche aussenpolitische Dif-
               schen Kaczynski                                                  reien, wegen derer gegen ihn ermittelt wird, echte Skandale
               ferenzen, vor allem in der Russland-Politik. In den baltischen   sind. Doch inwieweit er Tschechien umkrempeln kann oder
               Republiken spielen rechtspopulistische, nationalistische Par-    wird, ist noch völlig offen.
               teien nur eine geringe Rolle, ihre Agenda richtet sich vor           Ginge es nach Viktor Orbán, dann wäre 2017 das «Jahr der
               allem gegen die einheimischen russischsprachigen Minder-         Revolte» gegen das europäische Establishment, gegen die
               heiten. In der Slowakei hat der Regierungschef der linksnati-    «Brüsseler Bürokraten» und ihr «Imperium» geworden – so
               onalen Partei SMER, Robert Fico, letztes Jahr eine Abkehr        hatte Ungarns Ministerpräsident es verkündet. Die Revolte
               von seinem einstigen populistisch-nationalistischen Diskurs      fand nicht statt. Kürzlich rief Orbán 2018 zum Jahr aus, in
               vollzogen und sich zum Anhänger eines starken Kerneuro-          dem «der Willen der europäischen Völker wiederhergestellt»
               pas erklärt. In Rumänien regieren wendekommunistische            werde. Was immer er damit meinte – die Chancen stehen
               NationalistInnen, die nicht grundsätzlich EU-skeptisch sind,     gut, dass er nochmals Unrecht behält.

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DOSSIER_POPULISMUS

Der Populismus ist tot.
Es lebe der Populismus
Populismus ist in den USA kein Schimpfwort. Des Volkes Stimme meldet sich von links wie rechts
und nicht selten aus einer «radikalen Mitte».                   Von Lotta Suter

«F     reunde, der Populismus ist wahrhaftig, offiziell, un-
       leugbar tot», klagte die US-Journalistin Catherine
Rampell Ende Jahr in der Washington Post. «Zeitpunkt des
                                                                 will als die Wahl zwischen republikanischer und demokrati-
                                                                 scher Partei, zwischen Neoliberalismus und Neoliberalismus
                                                                 light. Es braucht eine fortschrittliche Politik, die klar und
Ablebens: Samstag, 2. Dezember 2017, kurz vor 2 Uhr mor-         deutlich die Interessen des Volkes gegen die Spezialinteres-
gens.» Das ist der Moment, in dem der US-Senat der äusserst      sen der Elite verteidigt. Und zwar die Interessen der gesam-
unpopulären Steuerreform zustimmte. Präsident Trump lob-         ten Bevölkerung, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Ge-
te den politischen Entschied und damit die massive Umver-        schlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Orientierung.
teilung von Kapital von unten nach oben, von Arm zu Reich,       Die feministische US-Philosophin Nancy Fraser kommt in
vom Volk zur wirtschaftlichen Elite.                             einem langen Essay über die Zukunft nach Trump zum
                                                                 Schluss: «Der progressive Populismus ist vielleicht bloss eine
   Brot und Spiele Man kann Donald Trumps Wand-                  Übergangsstation auf dem Weg in eine neue post-kapitalisti-
lung vom reaktionären volksnahen Kandidaten zum superre-         sche Gesellschaft», schreibt sie in der Politzeitschrift Ameri-
aktionären Neoliberalisten als Schlusspunkt der populisti-       can Affairs, «doch wenn wir diese Option nicht verfolgen,
schen Bewegungen werten, die in den USA nach der grossen         verlängern wir bloss das bestehende Interregnum.» Eine un-
Wirtschaftskrise vor zehn Jahren entstanden sind. Ein Dämp-      heilvolle Zwischenzeit, in der die Leute immer ärmer und
fer für die Tea Party und ihre «Rebellion gegen die Eliten»,     kränker, ungebildeter und unsolidarischer werden.
die letztlich zur Wahl des Rechtspopulisten Trump geführt
hat. Eine ernüchternde Niederlage auch für die Occupy Be-           Warnen und beschleunigen Diese Hoffnung
wegung, die den überraschenden Achtungserfolg des links-         auf einen fortschrittlichen Populismus speist sich unter an-
populistischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders         derem aus rund 130 Jahren Geschichte, in denen populisti-
mitvorbereitete.                                                 sche Bewegungen, Parteien und Personen von links, rechts
   Doch der Populismus ist in den USA nicht wirklich tot.        und aus der «radikalen Mitte» ein fester Bestandteil der US-
Präsident Trumps Wirtschaftspolitik bevorzugt zwar die we-       amerikanischen Politik gewesen sind. «Populists» nannten
nigen Superreichen. Doch er bedient seine Basis weiterhin        sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Erstes die Farmer
mit rassistischen, sexistischen, nationalistischen, fremden-     im Westen, die sich gegen die Wirtschaftspolitik der Banken
feindlichen und anti-intellektuellen Stammtischsprüchen          und Zulieferer an der Ostküste zur Wehr setzten. Die Bewe-
und Schikanen. Das Volk, gemeint sind vorab die weissen          gung war kurzlebig. Ein Teil ihrer Forderungen wurde von
heterosexuellen Christinnen und Christen, soll sich mit Brot-    den etablierten Parteien aufgenommen. Bemerkenswert ist,
krumen und Schauspielen zufriedengeben, während die Elite        dass diese frühen Linkspopulisten bereits Anstrengungen
schamlos prasst. Diese Art Rechtspopulismus hat zurzeit          machten, auch Afroamerikaner und Frauen in ihre Reihen
auch ausserhalb der USA bedrohlich viel Zulauf.                  aufzunehmen.
                                                                    Wenn die herrschenden politischen Werte und die Ängste,
    Ein progressiver Populismus Eher US-spezi-                   Hoffnungen und Sorgen eines breiten Teils der Bevölkerung
fisch ist das gegenwärtige Erstarken von linkspopulistischen
Positionen. Es ist nach den letzten Wahlen nicht mehr zu                                   Lotta Suter lebt in Vermont (USA) und arbeitet als freie
übersehen, dass ein grosser Teil der US-Bevölkerung mehr                                   Korrespondentin und Buchautorin.

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DOSSIER_POPULISMUS
© Lucas Jackson / Reuters

                                    «Der gute Populist»: Der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders wetterte gegen das Establishment und auch er verkaufte sich als
                                    «Mann des Volkes» – obwohl er seit Jahren in Washingtons Politzirkeln zu Hause war.

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DOSSIER_POPULISMUS

                         Die Schwäche des Populismus ist seine Anfälligkeit für Sündenbockpolitik.
                         Seine Stärke ist es, offene Konflikte und auch latente Spannungen klar zu
                         benennen.

              nicht übereinstimmten, tauchten in den USA jeweils populis-        Kompromissen zu übertünchen, sondern klar zu benennen.
              tische Bewegungen auf. Als frühe Warnung vor einer politi-         Aktuell ist das die Krise des Neoliberalismus und die Not-
              schen Krise oder als Katalysator für die etablierte Politik.       wendigkeit einer politischen Alternative für das Volk. Für
                  Der «New Deal», die Wirtschafts- und Sozialreformen von        das ganze Volk. 
              Präsident Franklin Roosevelt in den 1930er Jahren, wurde
              von links angestossen. Die neokonservative Wende unter
              Präsident Ronald Reagan hatte 1980 Unterstützung von
              rechts. In den 1990er Jahren vertraten die Aussenseiterkan-
              didaten Ross Perot, eher links, und Pat Buchanan, klar rechts,
                                                                                  «Wir, das Volk»
              politische Positionen, die im zentristischen Zweiparteiensys-       Die Verfassung der USA beginnt nicht wie in der Schweiz mit
              tem der USA keinen Platz fanden.                                    den hehren Worten «Im Namen Gottes des Allmächtigen». In
                  Es bedeutet eine Zuspitzung der Krise des US-amerikani-         der amerikanischen Konstitution aus dem Jahr 1787 steht als
              schen Politsystems, dass im letzten Herbst ein bekennender          Erstes selbstbewusst «Wir, das Volk». Allerdings einigten sich
              Rechtspopulist die Präsidentenwahl gewann. Und dass der             die dreizehn Gründerstaaten schnell darauf, dass bloss weisse
              Linkspopulist Bernie Sanders heute als mit Abstand belieb-          Männer zu diesem Volk gehören und somit Bürgerrechte ha-
              tester Politiker der USA genannt wird.                              ben sollen. 1857 versuchte der Sklave Dred Scott gegen seinen
                                                                                  Sklavenhalter zu prozessieren, um die Freiheit zu erlangen.
                  Politik für das Volk Nicht immer waren und sind                 Doch das Oberste Gericht entschied, ein «Neger» – selbst
              populistische Gruppierungen in den USA klassisch links              wenn er in den USA geboren ist – könne prinzipiell keine Rech-
              oder rechts einzuordnen. «Populismus ist keine Ideologie,           te haben, «die ein Weisser respektieren muss». 1872 wurde die
              sondern eine politische Logik – eine bestimmte Art, Politik         Frauenrechtlerin Susan Anthony wegen «krimineller Stimm-
              zu denken», schreibt der Publizist und Philosoph John Judis         abgabe» verurteilt und gebüsst. Erst im 20. Jahrhundert wur-
              in seinem 2016 erschienen Buch «The Populist Explosion»,            den die politischen Rechte allmählich auch auf Frauen, Afro-
              in dem er untersucht, wie die Wirtschaftskrise von 2008 die         amerikaner und auf die indigene Bevölkerung des Landes, die
              politische Landschaft in den USA und in Europa verändert            Native Americans, ausgedehnt. Doch bis heute versucht die
              hat. Und dann liefert der Autor trotzdem eine nützliche –           politische Rechte in den USA, ethnische Minderheiten vom
              und doch ideologische? – Unterscheidung: Der Linkspopulis-          Wählen abzuhalten. Die elf Millionen Menschen, die als Sans
              mus betreibt eine vertikale Politik, in der die unten und in der    Papiers in den USA leben, arbeiten und Steuern zahlen, besit-
              Mitte sich gegen die ganz oben wehren. Der Rechtspopulis-           zen gar keinerlei politische Rechte.
              mus hingegen stellt das Volk gegen eine Elite, die er dann          Diese Kürzestgeschichte der USA illustriert zwei Punkte, die
              beschuldigt, eine dritte Gruppe zu verhätscheln und zu ver-         für ein Verständnis des US-amerikanischen Populismus wich-
              wöhnen: zum Beispiel Immigrantinnen, Muslime oder Für-              tig sind. Erstens nimmt das Volk, das heisst die individuellen
              sorgeempfängerinnen. Der Linkspopulismus ist zweiteilig.            Bürgerinnen und Bürger, von jeher eine zentrale Rolle in der
              Der Rechtspopulismus ist dreiteilig, er schaut nach oben,           US-Politik ein, noch vor den Parteien, Institutionen und födera-
              aber gleichzeitig auch herab auf eine «Outgroup», eine              listischen Strukturen. Und zweitens ist das «Volk» seit Grün-
              Fremdgruppe.                                                        dung der USA eine unbeständige Grösse. In Politik, Kultur und
                  Die Schwäche des Populismus ist seine Anfälligkeit für          Wirtschaft wird bis heute ausgehandelt, wer dazu gehört zu
              solche Sündenbockpolitik. Seine Stärke ist es, offene Kon-          diesem Volk und wer nicht.
              flikte und auch latente Spannungen nicht mit voreiligen

                                                                                                                                                     19
AMNESTY März 2018
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