JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz

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JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
Nr. 24 · 2020

                                          JERUSALEM
                                          Halbjahresbericht des Österreichischen Pilger-Hospizes

  Reise nach
JERUSALEM

                                                                 Zu Hause in Jerusalem sein –
               bestellung@bebeverlag.at
                                                                 Jerusalem ins Wohnzimmer
                                                                 bringen
JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
IMPRESSUM:                                      SPENDENAUFRUF
Rektor Markus St. Bugnyar,
Österreichisches Pilger-Hospiz
zur Heiligen Familie                            So helfen Sie uns:
(Austrian Hospice)
Via Dolorosa 37 · P.O.B. 19600                  Österreichisches Hospiz – Sozialfonds
91194 Jerusalem                                 AT43 1919 0003 0015 0125
rectorate@austrianhospice.com                   BSSWATWW
Titelfoto: © ÖPH
                                                Österreichisches Hospiz – Bauspende
Die Autoren dieses Magazins sind für            AT17 1919 0004 0015 0124
Inhalt und Schlussfolgerungen in ihren Texten   BSSWATWW
ausschließlich selbst verantwortlich.
Aussagen der Gastbeiträge müssen nicht          Ich danke Ihnen sehr!
die Meinung des Herausgebers widerspiegeln.
JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
Woher kommt mir Kraft?

U
         ns fehlt die Sprache. Viele Menschen verstehen
         uns nicht. Unser Reden tönt oftmals wie aus ei-
         ner anderen Welt, einer anderen Zeit. Wer aber
nicht verstanden wird, verschwindet bald aus dem
Blickfeld. Kein allzu großes Wunder also, wenn sich
viele aus der Kirche verabschieden.                                                                    Foto: © Fotostudio Floyd

      Die Sprache der Kirche muss verständlich sein;             Dazu muss ich Jesus kennen. Dazu muss ich den
stringent, relevant, aktuell. Die Sprache der Kirche        Mitmenschen kennen, ihn verstehen. Es ist nicht über-
muss anrühren und durchaus irritieren, wenn es sein         trieben: Dazu muss ich den Mitmenschen lieben. Den
soll. Kein Echo aus vergangenen Epochen und keine           ganz konkreten, den Nachbarn; nicht den abstrakten,
Worthülsen, leer und oberflächlich. Auch nicht anbie-       in der Ferne. Gönnen Sie sich bitte das Büchlein von
dernd und angestrengt; das spürt jeder schnell.             C.S. Lewis, Dienstanweisung an einen Unterteufel; hier
                                                            erfahren sie mehr dazu.
     Letzte Woche las ich in einem Artikel der Wochen-
zeitung DIE ZEIT: Menschen treten vor allem deshalb              Für diese Ausgabe unserer Jerusalem-Korrespon-
aus der Kirche aus, weil ihre Botschaft nichts mit der      denz haben wir uns genau dieses Thema zur Aufgabe
eigenen Lebensrealität zu tun hat. Offenbar treffen wir     gemacht: Wie von Jesus heute erzählen?
in der Verkündigung der Botschaft Jesu nicht den                 Wir konnten namhafte Autoren gewinnen: Die
richtigen Ton, nicht das richtige Thema. Dem letzten        Wiener Pastoraltheologin Regina Polak und die Grazer
Schrei, dem neuesten Aufreger hinterher zu hecheln,         Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl, den Mis-
kann es auf Dauer nicht sein.                               sio-Nationaldirektor Karl Wallner und den belgischen
                                                            Historiker David Engels.
      Ich wage eine These. Es ist Jesu Ton, den wir nicht
treffen. Seine Art zu sprechen, die Aufmerksamkeit er-           Gemeinsam suchen wir nach Antworten aus ver-
regt und die ans Herz greift.                               schiedenen Perspektiven. Wofür lohnt es sich zu leben?
                                                            Woher kommt mir Kraft?
     Zum einen liegt das daran, dass wir nicht genug
auf Jesus schauen. Wer holt sich bei ihm Rat im Alltag?         Ich wünsche uns eine anregende Lektüre.
                                                                Ich danke Ihnen für Ihre Freundschaft!
     Zum anderen liegt das daran, dass wir den Mit-
menschen, den Zeitgenossen nicht hellhörig genug zu-                                 Ihr
hören. Wir reden oftmals bevor jemand fragt. Wir lie-
fern Antworten auf Fragen, die niemand stellt. Und so
veranstalten wir, um unsere Häuser zumindest zeitwei-
se zu füllen, Events, die mit dem Christlichen an sich
wenig zu tun haben. In der irrigen Meinung, diese Men-                 Rektor Markus St. Bugnyár
schen kämen wegen Christus. Und nächsten Sonntag
wieder.

     Wer Jesus verkündigen will, muss Mittler sein.
Mittler zwischen Jesus, von dem alles ausgeht, und dem
Nächsten, um den es geht. Jesus sagt: Geht hinaus in die
ganze Welt. Nicht: Begnügt euch mit dem, was ihr habt.
Nicht: Verwaltet das Alte. Sondern: Neuer Wein in neue
Schläuche!

                                                                                                                                  3
JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
LEITARTIKEL   Pilger­
                        herberge   Akademie   Gastbeitrag   Soziales   Friedensdienst   Chronik     Betrachtung

    Foto: © ÖPH

                                                                Kuppel der Grabeskirche = Anastasis =
                                                                     Auferstehung in Jerusalem

    Anastasis –
    Ort unserer Erlösung
    Eingezwängt in der Jerusalemer Altstadt liegt der
    heiligste Ort für uns Christen. Die „Anastasis“ –
    „Auferstehung“, wie die Orthodoxie die „Grabes­
    kirche“ nennt –, umfasst zwei heiligste Stätten:
    Den Felsen „Golgotha“, auf dessen Spitze das Kreuz
    eingerammt war, und das Grab Jesu. Josef von
    Arimathäa ersuchte Pontius Pilatus, ihm den
    Leichnam zur Bestattung zu überlassen. Da aufgrund
    des herannahenden Sabbats, auf den das Pesachfest
    des 15. Nisan fiel, alles noch vor Sonnenuntergang
    erledigt werden musste und Josef in unmittelbarer
    Nähe ein freies Grab (Johannes 19,41) besaß,
    wurde Jesus dort beigesetzt.

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JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
LEITARTIKEL            Pilger­
                             herberge    Akademie      Gastbeitrag           Soziales     Friedensdienst   Chronik   Betrachtung

          Von P rof . P. D r . K arl W allner

N
        ach den synoptischen Evangelien hüllte Josef
        Jesus zwar in ein Leinentuch (sindon), die
        komplizierten Salbungsrituale konnten jedoch            Foto: © P. Karl Wallner

an dem Leichnam nicht durchgeführt werden. Deshalb
haben Frauen in den Morgenstunden des übernächsten              tus – gelitten hat und gekreuzigt wurde, um unseres
Tages das Bedürfnis, die Salbung nachzuholen und ei-            Heiles willen, der den Schandtod des Kreuzes erlitten
len zum Grab, das sie leer vorfinden. Nach dem Johan-           hat, begraben wurde und siegreich auferstand. Jesus
nesevangelium ist es Petrus, der als erster das leere           Christus ist der Retter, der Erlöser, unser Heiland.
Grab in Augenschein nimmt. Golgotha und Grab befin-
den sich heute unter einem Dach.                                     Deshalb sind seine Jünger zu der Überzeugung ge-
                                                                kommen, dass das von ihm verkündete und verbürgte
      Es handelt sich um die historischen Orte, an denen        ewige Heil es wert ist, nicht nur in die ganze Welt hin-
sich das zugetragen hat, was das Wesen des christlichen         auszugehen, sondern auch selbst dafür zu sterben.
Glaubens darstellt: Christus besiegt den Tod und steht          Wenn wir also nicht mehr verstehen, worin das „Heil“
als „Erstgeborener der Toten“ (Offb 1,5; vgl. Röm 2,9)          besteht, das Christus gebracht hat, bedroht das das We-
zu neuem Leben auf. Das ist die „Erlösung“, die Chris-          sen des Christentums. Was ohne Wesen ist, wird verwe-
tus in die Welt bringen wollte, und die Anastasis ist der       sen. Die Grabeskirche bzw. Anastasis verhindert, dass
Ort, wo sie durch den Tod und die Auferstehung Chris-           wir Erlösung als etwas „Abstraktes“ umdeuten und zu
ti in ihrer Fülle konkretisiert wurde.                          einem „therapeutischen Mythos“ degenerieren.

     Das Christentum ist eine Erlösungsreligion, die auf             Christlicher Glaube gründet nicht auf religiösen
die Heilssehnsüchte der Menschen antwortet . Die Bibel          Geschichten, sondern auf faktischer Geschichte. Darum
berichtet, dass die Menschen Jesus von Nazareth in              müssen wir die Anastasis heilighalten, aber auch
Massen zugeströmt sind, - weil er sie heilte; weil von sei-     alle anderen konkreten „Memorien“ der Erlösungstat
nen Worten heilsame Weisung, Korrektur und Orientie-            Christi.
rung ausging. Das deutsche Wort „Heiland“, gotisch
„Heliand“, ist der Versuch, das hebräische „Jeschuah,                Alle Religionen haben ihre Symbole, ihre Zeichen,
Jesus“ zu übertragen; Jesus heißt „Gott schafft Heil“           ihre Logos, in denen sie ihre Identität nonverbal nach
und wird in den Kindheitsevangelien programmatisch              außen vermitteln. Aber anders als Davidstern und
gedeutet: Das Kind soll Jesus heißen, weil es „von den          Halbmond, anders als das Tao, anders als das Yin und
Sünden erlöst“. (Mt 1,21; vgl. Lk 1,31) Papst Benedikt          Yang, anders als das achtarmige Rad des Buddhismus
XVI. hat bei seinem Besuch im Stift Heiligenkreuz vor           handelt es sich beim Kreuz um ein historisches Ereignis.
der Kreuzesikone von Sarzana aus dem Jahre 1138 da-             Das Kreuz ist deshalb als Ausdruck der „Corporate
ran erinnert, dass der christliche Glaube sich nicht auf        Identity“ des Christentums so sehr geeignet, weil es auf
eine Lehre oder Ideologie bezieht: „Unser Licht, unsere         ein Faktum inmitten menschlicher Geschichte verweist.
Wahrheit, unser Ziel, unsere Erfüllung, unser Leben –
all das ist nicht eine religiöse Lehre, sondern eine Per-
son: Jesus Christus.“ Wir glauben an den ewigen Sohn
des ewigen Vaters, der in der Zeit aus der Jungfrau Ma-
ria geboren wurde, der in der Zeit – unter Pontius Pila-

                                                                                                                                   5
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LEITARTIKEL           Pilger­
                                                      herberge    Akademie     Gastbeitrag    Soziales    Friedensdienst   Chronik     Betrachtung

                                                                                                                    ZUR PERSON
                                                                                                             P. Dr. Karl Wallner (*1963), ist seit 1982
                                                                                                            Zisterzienser im Stift Heiligenkreuz. Zum
                                                                                                          Priester geweiht 1988, promoviert 1993 „sub
                                                                                                            auspiciis praesidentis“ (Universität Wien).
                                                                                                          Verschiedene Aufgaben im Stift; 1999 Dekan
                                                                                                           der Phil.-Theol. Hochschule. Im Jahr 2007
                                                                                                           bestellte ihn der Heiligen Stuhl zum Grün­
                                                                                                           dungsrektor der neuerrichteten Hochschule
                                                                                                         päpstlichen Rechtes, zeitgleich gründete er den
                                                                                                            Be&Be Verlag. Im Jahr 2019 wurde P. Karl
                                                                                                         Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke
                                                                                                                           in Österreich.

Foto: © P. Karl Wallner

                                          Rektor Dr. Wallner führte
                                 die Hochschule Heiligenkreuz zu neuer Blüte
                                                                                              Der Tempel in Jerusalem war der zentrale Ort der
                                                                                        Sühne. Nur dort konnte ein gläubiger Jude den „Tod“
                                Es ist eine große theologische Herausforderung, in      loswerden, den er sich durch die Sünde zugezogen hat-
                          der Grabeskirche über den Tod Christi zu reflektieren.        te. Nur dort konnte er wieder in den Bund, in „das Le-
                          Denn der von Christus besiegte „Tod“ ist mehr und an-         ben“ hinüberwechseln. Er musste dazu mit einem
                          deres als der biologische Tod. Die Bibel verbindet den        schuldlosen Tier zum Tempel pilgern. Geeignet waren
                          Begriff der „Sünde“ mit dem Begriff des „Todes“. Denn         Tauben bei armen Leuten, Ziegenböcklein und Kälber,
                          wenn ich sündige, dann bin ich nicht bloß „nicht brav“.       in den allermeisten Fällen aber wurden für die Sühne
                          Die Sünde verstanden die Juden dramatisch: Die Sünde          kleine Lämmer verwendet. Der Sünder, der im Tod
                          bricht die Beziehung mit Gott ab, sie tötet den Lebens-       war, brachte also sein Lamm zum Tempel. Vor dem
                          bund mit Gott. Daher verwendet die Bibel für die Sünde        Brandopferaltar legte er dem Tier die Hände auf. Dann
                          das Wort „Tod“. „Die Frucht der Sünde ist der Tod!“           beichtete er seine Sünden auf das Tier, er sprach laut
                          (Röm 6,23) Auch in der heutigen Umgangssprache for-           aus, dass und was er gesündigt hatte. So übertrug er die
                          mulieren wir, wenn wir eine Beziehung abbrechen: „Du          Sünde, also „den Tod“ auf das Tier. Der Priester nahm
                          bist für mich gestorben.“ Und die Theologie spricht von       das Tier entgegen, dass nun in der Vorstellung der Ju-
                          „Todsünde“ und meint damit nicht, dass jemand bei ei-         den zur Sünde geworden war und schnitt ihm die Hals-
                          ner schweren Sünde biologisch stirbt. „Tod“ bezeichnet        schlagader durch, sodass das Blut ausfließen kann. Blut
                          den vom Sünder gesetzten Abbruch des „Lebens“, der            ist nämlich immer göttlich!
                          „Beziehung“ zu Gott.
                                                                                              Blut ist heilig! Blut gehört Gott und muss daher an
                               Es gab im Judentum einen Mechanismus der „Ent-           Gott zurückgegeben werden, um den Bund wiederher-
                          sündigung“, der „Reinigung“ vom Tod. Diesen kennen            zustellen. Das Blut reinigt von Sünden. Das rote Blut
                          heute auch viele Theologen nicht mehr, obwohl das             wäscht die Seele des Sünders weiß. So sprengte der
                          ganze Alte und Neue Testament davon spricht: Es ist           Priester nun das Blut des Sühnelammes an den Vor-
                          die „Sühne“, die der Israelit leisten konnte, ja musste.      hang des Tempels. Dieser Vorhang verhüllte das Aller-
                          Ohne stellvertretende Sühne durch Blut gab es keine           heiligste, die goldene Platte mit den beiden Cherubim.
                          Sündenvergebung (Hebr 9,22). Und zwar mit Hilfe des           In den Himmeln über den Cherubim wohnt Gott. Sie
                          Opfers von Tieren, zumeist von Lämmern.                       denken jetzt sofort daran, dass beim Tod Christi dieser
                                                                                        Vorhang entzweigerissen ist. Der Zugang zur Barmher-
                                                                                        zigkeit Gottes, zu seinem neuen und ewigen Bund steht
                                                                                        seit Christi Kreuz allen offen! So war der Tod, der vom
                                                                                        Sünder auf das Lamm übertragen worden war, getötet
                                                                                        worden. Paulus will ganz offensichtlich darauf anspie-
                                                                                        len, wenn er davon spricht, dass Gott in Christus „den,
                                                                                        der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht
                                                                                        hat“ (2 Kor 5,21). Von Jesus sagt Johannes der Täufer:
                                                                                        „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hin-
                                                                                        wegnimmt!“ (Johannes 1,29.36) Vom Tempel sagt Je-

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JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
LEITARTIKEL               Pilger­
                                herberge   Akademie   Gastbeitrag         Soziales         Friedensdienst          Chronik         Betrachtung

Foto: © Andrea Krogmann

                                                                               Das Heilige Grab im Osterfeuer, das vom
sus: „Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen aber                                  Himmel herniedersteigt.
will ich ihn wieder aufrichten.“ (Joh 2,19) Und der
Evangelist Johannes fügt hinzu: „Er aber meinte den
Tempel seines Leibes.“ (Joh 2,21) Der neue Tempel ist          Tod „irgendwie“ weitergeht, das glaubte in der Antike
nun freilich nicht mehr geographisch fixiert. Er ist uni-      ohnehin jeder, mit Ausnahme der Sadduzäer. Das Le-
versal überall dort, wo Christus in Leben eines Men-           ben, das uns Gott vom Ort der Anastasis aus geschenkt
schen Gestalt annimmt.                                         hat – in unverbrüchlicher Verbindung zwischen Tod
                                                               und (leerem) Grab – ist ein versöhntes Leben. Es be-
      Das Wort „Versöhnung“ kommt von „Sühne“.                 ginnt daher präsentisch schon im Hier und Heute, wo
Gott „versühnt“ den Menschen, indem Jesus Christus             wir uns auf die Herrschaft Gottes einlassen. Es konkre-
stellvertretend für uns die dem Menschen zustehende            tisiert sich in der Vergebung der Sünden durch die
Strafe auf sich nimmt. Was Paulus im Kreuz erkannt             Gleichgestaltung mit Christus, dem Sohn. Auf ihn ge-
hat, das ist eine grundlegende Veränderung im Verhält-         tauft sind wir Söhne und Töchter „im Sohn“. Wir tra-
nis des Menschen zu Gott durch eine Tat, die Gott in           gen seinen Namen: Christus. In der Anastasis Jesu
Selbstinitiative von sich aus gesetzt hat. Der Sinn des        Christi hat Gott unseren Tod begraben und unser Le-
Kreuzes ist für Paulus identisch mit dem Wesen des             ben neu geschaffen.
Christentums: dem Glauben an eine von Gott gesetzte
Erlösung in Kreuz und Auferstehung Christi.                    I
                                                                    KARL JOSEF WALLNER, Sühne. Auf der Suche nach dem Sinn des Kreuzes,
                                                                    Illertissen 2015. Vgl. MARTIN HENGEL, Der stellvertretende Sühnetod Jesu.
                                                                    Ein Beitrag zur Entstehung des urchristli-chen Kerygmas, in: IKaZ Communio 9 (1980)
     Mit der Einsicht in einen Gott, der die von sich aus           1-25 und 135-147. BERTRAM SCHMITZ, Vom Tem-pelkult zur Eucharistiefeier.
                                                                    Die Transformation eines Zentralsymbols aus religionswissen-schaftlicher Sicht, Münster 2004.
heilsschaffende, lebensspendende Liebe ist, abgelesen               ADRIAN SCHENKER, Das Zeichen des Blutes und die Gewißheit der Vergebung im Alten
                                                                    Testament, in: Münchener Theologische Zeitschrift 34 (1983) 195-213; JOSEPH RATZINGER,
vom Kreuz, ist die Kirche in die Geschichte hinausgezo-             Artikel „Stellvertretung, in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Band 2, München 1963 566-575.
gen. Auf Golgotha hat Gott den Tod getötet und das Le-         II
                                                                    BENEDIKT XVI., Ansprache vom 9. September 2007 im Stift Heiligenkreuz.

ben neu geschaffen. Wir brauchen ein besseres und um-
fassenderes Verständnis des „Lebens“, das die Anastasis
Christi in die Welt bringt. Das „Leben“, das aus dem
Grab erstanden ist, ist nicht bloß eine Kontinuierung
des irdischen Lebens. Dass es nach dem biologischen

                                                                                                                                                                  7
JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
Leitartikel     PILGER­H ERBERGE           Akademie   Gastbeitrag   Soziales   Friedensdienst   Chronik    Betrachtung

                        Blick auf Jerusalem –
                  „Oh Herr, woher kommt uns Hilfe?“
                               (Ps 121)

    Foto: © ÖPH

    Stolz und Sorgenkind
    Stolz und Sorgenkind trifft es haargenau auf den
    Punkt. Von Anfang an waren wir als Österreicher
    stolz darauf, ein eigenes Haus in Jerusalem zu haben.
    Nicht irgendwo, sondern zentral in der Altstadt,
    an der Via Dolorosa; in wenigen Schritten bei der
    Grabeskirche, dem wichtigsten Ort der christ-
    lichen Welt.

                     Von M arkus S t . B ugnyár

    G
            enauso von Anfang an erfüllte uns dieser                  Stolz und Sorgenkind ist eine Wendung von Bot-
            Stolz auch mit Sorgen. Schon der Bau Mitte           schafter Dr. Arthur Breycha-Vauthier (1903-1986); er
            des 19. Jahrhunderts stieß auf unerwartete           hat sie 1972 zu Papier gebracht, in seiner Notiz über ei-
    Schwierigkeiten, die große Summen notwendig mach-            nen Besuch im Jahre 1968 des damaligen Hospiz-Rek-
    ten. Immer wieder wird die Region von Kriegen und            tors Dr. Franz Sauer in Beirut. Den beiden Herren war
    Auseinandersetzungen heimgesucht, die den Besucher-          die historische, die gesellschaftliche Bedeutung des Pil-
    strom unterbrechen und so auch die finanzielle Versor-       ger-Hospizes für Österreich ebenso bewusst wie die
    gung des Hauses. Hinzukamen Seuchen und Hungers-             Notwendigkeit, sich stets neu für dieses Haus einzuset-
    nöte, Fremdnutzungen und jahrelange Rückgabever­     -       zen. Wie sich das Heilige Land entwickelt, welchen
    handlungen.                                                  Wirren es entgegengeht, entzieht sich den Verantwortli-
                                                                 chen; vieles übersteigt das Verstehen und womöglich
         Unser österreichisches Pilger-Hospiz war von An-        auch unser Verständnis, wenn es um Politik und Kul-
    fang an Stolz und Sorgenkind und ist es auch heute wie-      tur, Mentalität und Eigenheiten der Lage vor Ort im
    der. Das sollte uns nicht schrecken, sondern vielmehr        Orient geht. Hier ist in jeder Generation neu anzusetzen
    Mut machen. Wir werden gestärkt aus dieser Zeit her-         und mit viel Feingefühl zu erklären und um Hilfe zu
    vorgehen.                                                    bitten.

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JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
Leitartikel   PILGER­H ERBERGE            Akademie     Gastbeitrag   Soziales   Friedensdienst   Chronik    Betrachtung

                                                                    Nun, das Pilger-Hospiz ist eine Stiftung unter der
                                                              Obhut des Erzbischofs von Wien; wir sind weder der Bi-
     In unseren Tagen ist es die Corona-Pandemie, die         schofskonferenz noch einer bestimmten Diözese zuge-
uns vor Augen führt, wie zerbrechlich unser Stolz und         ordnet. Das hat historische Gründe, die in unsere An-
Sorgenkind ist. In den vergangenen Jahren ging es im-         fangszeit zurückreichen. Damals kam die Idee zur
mer weiter aufwärts, immer zahlreicher sind die Pilger-       Gründung des Hauses vom Erzbischof von Wien und
gruppen geworden, die sich selbst ein Bild machten von        das Geld zum Bau aus allen Diözesen der Monarchie.
unserer Arbeit im Heiligen Land. Corona hat uns in die-       Man wollte ein eigenes Haus im Heiligen Land haben,
ser Entwicklung gebremst, einen Strich durch die Rech-        damit sich die Pilger aus allen Regionen in Jerusalem zu
nung gemacht. Wie kaum jemand wäre auch ich nicht             Hause fühlen. Eine Heimat am Grabe des Erlösers; das
auf die Idee gekommen, dass es in unserer Zeit wieder-        ist die Devise, die gilt.
um eine derart beängstigende Pandemie geben könnte.
Sie erinnert mich an die Schilderungen meines Vorgän-               Von hier rührt auch die Selbstverständlichkeit, mit
gers, der Ende des 19. Jahrhunderts mit der Cholera in        der sich die Bischofskonferenz und alle Diözesen immer
der Stadt zu kämpfen hatte. Keine Pilger ohne Quaran-         wieder mit dem Hospiz und seinen Anliegen identifizie-
täne. Heut wie damals: Wer macht sich schon mit einer         ren; dafür bin ich zutiefst dankbar! Wir wissen, dass
solchen Perspektive überhaupt auf den Weg?                    das eben nicht selbstverständlich ist und dass wir auf
                                                              diese Hilfe „von Amts- und Rechts wegen“ nicht ein-
    In unseren Tagen ist das Pilger-Hospiz wieder             fach Anspruch haben. Es gibt keinen jährlich fließen-
mehr Sorgenkind. Der Anlass ist klar: Corona. Das             den Budgetposten oder Geldhahn, den man beliebig
„wieso eigentlich?“ bedarf einer genaueren Erklärung.         steuern könnte. Das Hospiz als Stiftung gehört sich
                                                              selbst und hat sich selbst zu erhalten; durch den Dienst
     1. Dem Hospiz ging es in den letzten Jahren              einer Herberge und die Aufnahme von Pilgern und Be-
wirtschaftlich sehr gut. Die zahlreichen Pilger haben         suchern nicht zuletzt in unserem Café Triest. Zur Auf-
uns finanziell gut ausgestattet. Daran besteht kein           gabe des Rektors zählt demnach naturgemäß die Selb-
Zweifel. Erst so war es uns möglich, das große Jahrhun-       ständigkeit des Hauses zu bewahren und wenn es nötig
dert-Projekt Casa Austria – den neuen Gästehaustrakt          ist – wie in unserer Zeit – unsere Situation zu erklären
– zu einem glücklichen Ende zu führen. Neben den vie-         und um Hilfe zu bitten.
len privaten und öffentlichen Spenden kam der weitaus
größte Teil der Finanzierung vom Hospiz selbst. Dazu               Wir haben mit unseren Einsparungen bereits eine
wurde auch ein Kredit in Höhe von 2 Mio € aufgenom-           Schmerzgrenze erreicht. Bis auf wenige Schlüsselpositi-
men, der natürlich zu tilgen ist. Mehr Gästekapazitäten       onen sind alle MitarbeiterInnen in Kurzzeit, von einigen
bedeuten eine stabilere wirtschaftliche Basis in der Zu-      mussten wir uns bereits dauerhaft trennen. Jede einzel-
kunft.                                                        ne Kündigung schmerzt; mich, den Betroffenen natür-
                                                              lich noch mehr. Ich bin mir dessen vollkommen be-
      Wir dürfen, wenn wir über die Finanzen des Hos-         wusst, was ein solcher Schritt für diese Familien
pizes sprechen, nicht außer Betracht lassen, dass das         bedeutet.
Heilige Land solche Phasen eines Besucherrückganges
durchaus gewohnt ist. Denken Sie etwa an die Zweite               Israel hat bereits Mitte Juli die Kurzzeit für die
Intifada, die mehrere Jahre gedauert hat. Für solche          Tourismusbranche bis Juni 2021 verlängert. Das ist
Ausfälle gibt es eine Liquiditätsrücklage, die unantast-      wohl der Horizont, in dem wir nun planen müssen. Es
bar ist; eine absolute eiserne Reserve. Diese Rücklage        werden noch längere Zeit keine Gruppen ihren Weg in
jetzt anzutasten, könnte den Bankrott bedeuten: wenn          das Heilige Land finden. Doch der Tag wird kommen,
etwa auf eine lange Corona-Krise wieder eine Intifada         ganz gewiss, an dem wir einander wiedersehen werden.
folgt. Diese Rücklage jetzt anzutasten, verbietet der Je-     Dann wird der Stolz wieder überwiegen, dass wir unser
rusalem-Orient-geeichte Hausverstand. Deshalb sind            Sorgenkind gemeinsam gut durch diese Zeit gebracht
wir – trotz guter Ausgangslange der letzten Jahre – auf       haben.
Spenden angewiesen.

     2. Das Österreichische Pilger-Hospiz ist eine
kirchliche Einrichtung, aber keine Einrichtung der                  Anmerkung: Das Zitat „Stolz und Sorgenkind“
Kirche. Hier gibt es ein Missverständnis. Wenn ich um         findet sich bei Breycha-Vauthier, Arthur, Österreich in
Hilfe bitte, höre ich oft: Die Kirche hat eh genug Geld,      der Levante. Geschichte und Geschichten einer alten
die sollen euch finanzieren.                                  Freundschaft. Wien 1972.

                                                                                                                          9
JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
Leitartikel   Pilger­herberge    AKADEMIE            Gastbeitrag       Soziales    Friedensdienst    Chronik      Betrachtung

                                                                        Reise nach Jerusalem
                                                                        „crowd-funding“
                                                                        ermöglicht ein neues
                                                                        Buch und schenkt aus
                                                                        der Geschichte des Hau-
                                                                        ses Hoffnung auf eine
                                                                        bessere Zukunft.

                                                                                       Von M arkus S t . B ugnyár
     Foto: © ÖPH

                          Von R edaktion

                                                                        J
                                                                             eder kennt das Kinderspiel „Reise nach Jerusa-
                                                                             lem“. Wir laufen im Kreis und wer am Ende kei-

     F
             ranz Joseph I. reist nicht gern; schon gar nicht zu             nen freien Stuhl findet, scheidet aus. Wie die „Ses-
             Meere. Im Herbst 1869 aber muss es sein. Es                selpolka“ zu ihrem Namen kam, ist nicht wirklich
             steht viel auf dem Spiel. Eben erst war ein Krieg          geklärt. Die einen denken an die Zeit der Kreuzzüge,
     verloren und die Donaumonarchie muss sich neu erfin-               andere an den Beginn der zionistischen Bewegung im
     den. Ihr Schwerpunkt verlagert sich in Richtung der                19. Jahrhundert. Unbestritten ist dabei: Jerusalem, die
     ungarischen und slawischen Völker. Der Deutsche Bund               Heilige, ein Sehnsuchtsort, von dem jeder schon von
     zeigt Risse; Frankreich bekundet Interesse, der neue               Kindesbeinen an gehört hat.
     Partner an Habsburgs Seite zu sein.
           In diesem Moment lädt Ismail von Ägypten zur feier-                Die Reise Kaiser Franz Josephs in den Orient hatte
     lichen Eröffnung des Suez-Kanals. Europas Adel, Wür-               einen konkreten Anlass: Die Eröffnung des Suez-Kanals
     denträger, Künstler und Literaten machen sich in Scha-             im November 1869, zu der der ägyptische Vize-König
     ren auf den Weg zu diesem welthistorischen Spektakel im            Ismail die europäischen Würdenträger eingeladen hat-
     Orient. Die Deutschen schicken ihren Kronprinzen - und             te. Es sollte die längste Auslandsreise im Leben Franz
     die Österreicher übertrumpfen sie mit ihrem Kaiser.                Josephs bleiben und der für die Entwicklung unseres
           Auf dem Weg liegt das Heilige Land; Jerusalem,               Pilger-Hospizes wohl folgenreichste Besuch eines Pil-
     die Heilige Stadt. Franz Joseph ist ergriffen, zu Tränen           gers. Von nun standen die Pilgerreisen aus allen Regio-
     gerührt. Er zeigt sich als Pilger. Der erste christliche           nen der Monarchie unter diesem Vorzeichen: Das Bei-
     Kaiser im Lande Jesu des Herrn seit Kreuzfahrertagen.              spiel des Landesvaters nachahmend auf den Spuren
           Noch kann niemand ahnen, dass dieser Zwischen-               Jesu wandeln, um den Glauben des einzelnen Pilgers
     stopp alles sein wird, woran sich die Nachwelt erinnern            und die Einheit des vielfältigen Reiches zu festigen. Die-
     wird wollen.                                                       se Reise setzte in Österreich-Ungarn einen neuen Im-
           150 Jahre nach der Erstveröffentlichung von P.               puls für großangelegte Wallfahrten zu den biblischen
     Dr. Beda Dudiks, Kaiser-Reise nach dem Oriente, legt               heiligen Stätten.
     der Rektor des Österreichischen Pilger-Hospizes in Je-
     rusalem, Markus St. Bugnyár eine kommentierte, illus-                   Einige Monate später erschien im Frühjahr 1870
     trierte und durch weitere Quellen ergänzte Neuauflage              der Reisebericht des mährischen Benediktinerpaters Dr.
     des voluminösen Werkes vor. In seinem Haus bezog                   Beda Dudík als großformatige Prachtausgabe. 150 Jah-
     Franz Joseph Quartier.                                             re danach darf ich ihn nun kommentiert und illustriert
                                                                        neu vorstellen, verbunden mit der Hoffnung, dass wir
                                                                        uns zu unserer eigenen „Reise nach Jerusalem“ inspirie-

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Leitartikel   Pilger­herberge   AKADEMIE          Gastbeitrag       Soziales            Friedensdienst   Chronik   Betrachtung

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                                                                            Franz Joseph und seine Entourage
                                                                               im Garten des Palastes des
                                                                      ägyptischen Vize-Königs auf der Insel Gezirah
ren lassen. Eine Werbung, wenn man so möchte, für                                       in Kairo.
unser Pilger-Hospiz, in dem der Kaiser mit seiner Be-
gleitung Quartier nahm; besonders wichtig in einer
Zeit, die uns in ungeahnter Weise daran erinnert, wie
vorläufig und wenig selbstverständlich alles ist. Unser              P. Beda ist kaisertreuer Historiograph und versier-
Leben, unsere Bewegungsfreiheit, unser Wohlstand.               ter Ethnologe, der die einzelnen Etappen dieser Reise
Wohin sonst sollten wir uns wenden, wenn nicht zu den           mit detailreichen Beschreibungen zu Land und Leuten,
Worten Jesu in der Heiligen Schrift, an den Orten seines        Kultur und Sitte erfüllt. So erfahren wir mehr über das
Wirkens.                                                        Leben in der Hauptstadt des osmanischen Reiches und
                                                                über die Gewohnheiten der Beduinen an seinen Rän-
     Mit großen Erwartungen war man aufgebrochen                dern im damaligen Palästina und Ägypten.
zu dieser Reise. Europa stand vor einschneidenden Ver-
änderungen; eben erst war ein Krieg verloren worden,                 Niemand in der Suite des hohen Reisenden, auch
Österreich musste sich neue Bündnispartner suchen               dieser selbst nicht, konnte ahnen, dass von allen Ambi-
und sich in den inneren Belangen des Reiches neu orien-         tionen, die zu dieser Reise ermutigten, bald schon nur
tieren. Da kam die Einladung nach Ägypten gerade                noch der spirituelle Aspekt der „Reise nach Jerusalem“
recht; alles mit Rang und Namen machte sich auf den             übrigbleiben sollte. Alle anderen Hoffnungen politi-
Weg zu diesem historischen Spektakel mit traumhaften            scher und wirtschaftlicher Natur hatten sich durch
wirtschaftlichen Implikationen. Der Suez-Kanal sollte           Kriege und Umstürze in Deutschland, Frankreich und
den Handel zwischen Asien und Europa beflügeln und              Ägypten in den folgenden Jahren schnell zerschlagen.
neuen Reichtum in die alte Welt bringen; vor allem dem
österreichischen Hafen in Triest wünschte man hier re-               Ob wir Heutigen das nicht auch als Fingerzeig le-
gen Zuwachs. Im Wettlauf der Mächte, vor allem mit              sen können bei allem Erfolg und Misserfolg, bei allem
und gegen Preußen, musste der Kaiser selbst in Er-              Auf und Ab unseres Lebens, das wesentliche und tra-
scheinung treten.                                               gende Fundament allen Seins nicht aus dem Blick zu
                                                                verlieren: Das Vertrauen auf Gott, der alles zu einem
      Wir sehen Franz Joseph in den östlichsten Gebie-          guten Ende führen wird, auch wenn es sich uns nicht
ten seines Reiches, erleben seine Bewunderung für die           sofort erschließt und wir durch manche Talsohle des
Reste antiker Kultur in Athen und Konstantinopel, er-           Lebens wandern müssen, bevor es wieder hell werden
zittern mit ihm wenn die Wogen der stürmischen See              kann in unserer Zeit.
ihm nach dem Leben trachten, sinken in die Knie in der
Heiligen Stadt, gehen zur Jagd am Jordan, tanzen auf
Bällen und empfangen die Honoratioren seiner Unterta-
nen und Gastgeber, reiten mit der Kaiserin der Franzo-
sen durch die Wüste, erklimmen die Pyramiden von Gi-
zeh und begegnen Sisi bei der Heimfahrt über Triest.

                                                                                                                                 11

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Leitartikel   Pilger­
                         herberge   Akademie    GASTBEITRAG          Soziales    Friedensdienst   Chronik     Betrachtung

     Zur tripolaren Treue
     der Verkündigung
     des Jesus von Nazareth
     Seit den 70er-Jahren erschallt in der Kirche der Ruf nach einer
     „neuen Sprache“ in der Verkündigung. Doch die Erosion des
     kirchlich-formatierten Glaubens geht trotz zahlreicher
     ambitionierter Modernisierungsversuche ungebrochen weiter.
     Laut Österreichischer Wertestudie 2018 glauben sogar
     zunehmend mehr Katholiken nicht mehr an die Auferstehung
     oder Jesus Christus als den Sohn Gottes. Die Übernahme von
     Jugend-Dialekten, die Wahl mehr oder weniger geglückter
     Metaphern aus der modernen Lebenswelt, der Ersatz des
     Evangeliums durch Texte vom Dalai-Lama erweisen sich als
     weniger fruchtbringend denn erhofft.

                        Von R egina P olak

                     Woran liegt das?                                Religiöse Sprache will deshalb auf der Basis religi-
                                                                öser Erfahrung durchdacht werden. Sie muss im Leben
                                                                durchlebt, durchlitten, durchdacht sein. Sprache und

     E
              ine der Ursachen liegt im Verständnis von Spra-   Denken hängen untrennbar zusammen. Zum Denken
              che. Moderne Menschen haben zumeist ein           gehören nach Hannah Arendt das Be- und Hinterfra-
              technisches Sprachverständnis: Sprache diene      gen, das Zweifeln, das Unterscheiden, das Darüber-Hi-
     der Übermittlung von Informationen. Dies begünstigt        nausdenken. Sinn und Bedeutung religiöser Sprache er-
     die irrige pastorale Vorstellung, man müsse zur „Ver-      schließen sich dabei nur im Kontext konkreten Lebens
     mittlung“ die Inhalte nur modern verpacken und könne       und Handelns. Sie erschließen diese und werden von
     so über den Glauben informieren.                           ihnen erschlossen. Deshalb führt das Erklären von reli-
                                                                giösen Begriffen ebenso wenig zum Glauben wie die
          Religiöse Sprache ist aber keine Sprache der In-      Vorgabe von fixen Definitionen. Beides mag Vorstellun-
     formation, sondern der Trans-Formation: Sie zielt auf      gen von Gott nähren, bringt aber nicht mit Gott selbst
     die spirituelle Verwandlung des Menschen. Unsere gro-      in Berührung. Entscheidend ist der Dialog zwischen ge-
     ßen theologischen Worte beschreiben keine objektiv-        lebtem und geglaubtem Glauben.
     materiell vorliegenden Sachverhalte, sondern ver-dich-
     ten in Sprach-Symbolen tiefe Glaubenserfahrungen aus             Es genügt also nicht, Glaubensinhalte mit moder-
     Jahrhunderten. Sie können und sollen die Beziehung zu      nen Wörtern zu umkleiden. So werden sie niemanden
     Gott stiften und stärken. Sie bedürfen der Übersetzung     berühren. Ohne Erfahrungsbasis im konkreten Leben,
     und Verflüssigung.                                         ohne Handlungskontext bleibt jedes Dogma leer und
                                                                bedeutungslos, mag es noch so wahr sein. Entscheidend
                                                                ist, dass der Redner Menschen in einen nachvollziehba-
                                                                ren Denk- und Erfahrungsprozess miteinbezieht und
                                                                mit ihnen in Dialog tritt. Dabei kann der innere, ver-
                                                                dichtete Sinn religiöser Sprache wieder flüssig werden.
                                                                Die großen Glaubensworte müssen dabei keinesfalls
                                                                verschwiegen werden.

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Leitartikel              Pilger­
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                                                                                ZUR PERSON
                                                                    Regina Polak, geb. 1967 in Wien, ist Assoziierte
                                                                    Professorin und Institutsvorständin am Institut
                                                                    für Praktische Theologie der Katholisch-Theo­
                                                                      logischen Fakultät der Universität Wien. Sie
                                                                     studierte Katholische Theologie und Philoso­
                                                                    phie in Wien und spirituelle Theologie im Inter­
                                                                        religiösen Prozess in Salzburg. Ihre For­
                                                                        schungsschwerpunkte sind Religion und
                                                                       Migration, Werteforschung, sozioreligiöse
                                                                     Transformationsprozesse in Europa und deren
                                                                        Bedeutung für die Kirche, Interreligiöser
                                                                                         Dialog.

Foto: © Joseph Krpelan

                                                                      Wie verkündigt also Jesus von
          Das biblische Sprachverständnis                                      Nazareth?
      Dieser enge Zusammenhang zwischen Sprechen                    Als Jude lebt Jesus aus diesem biblischen Sprach-
und Denken, Leben und Handeln ist bereits in der Hei-          verständnis. Dabei lassen sich drei Quellen erkennen,
ligen Schrift bezeugt. Das hebräische Wort dabar be-           aus denen seine Verkündigung ihre Kraft bezieht.
deutet zugleich Wort und Tat. Das Wort handelt – die
Tat spricht. Dazwischen sollte nachgedacht werden.                   1) Jesus lebt in der und aus der Thora. Er zitiert
Dann können Wort und Tat einander wechselseitig er-            sie, er lernt sie, er interpretiert und lebt sie in Wort und
schließen. Das Wort wird zum „Sprach-Ereignis“. Es             Tat. Kein Jota, nicht der kleinste Buchstabe wird verge-
wird zum Ausdruck der ganzen Person.                           hen (Mt 5,18). Er hält sich an die jüdischen Normen
      Laut biblischem Zeugnis ist diese untrennbare            und Regeln und feiert alle Feste.
Verbindung zwischen Wort und Tat nur bei Gott in Fül-
le gegeben. Wenn er spricht, handelt er. Sein Wort er-              2) Jesus ist mit seiner Umgebung vertraut. Er
schafft die Welt. Seine Taten geben Zeugnis von ihm. Sein      kennt das Leben der Menschen nicht nur vom Hörensa-
Wort wird in Jesus Christus Fleisch. Im Leben des Jesus        gen, er lebt mit ihnen. Ausgehend von dieser tiefen Ver-
von Nazareth werden Gottes Wort und Tat erkennbar.             bundenheit mit den Menschen interpretiert er die Thora
      Bei Menschen ist diese Verbindung infolge ihrer          freimütig im Horizont der Gegenwart. Die Tradition
Endlichkeit und Sünde oft gebrochen. Die Suche nach            wird dabei nicht auf die Situation appliziert, sondern
der Übereinstimmung von Wort und Tat der Verkündi-             erschließt und vertieft deren Verständnis. Dies ist bis
gung ist eine Lebensaufgabe. Aber der Mensch hat kraft         heute das Grundprinzip jüdischer Schriftauslegung und
des Geistes Anteil an dieser Einheit von Wort und Tat, er      auch der Praktischen Theologie.
ist in gewissem Sinn Symbol und Träger des göttlichen
Wortes. In der Verkündigung des Jesus von Nazareth, in              3) Zentrale Quelle seiner Rede ist die lebendige Got-
der Wort und Tat untrennbar verbunden sind, wird dies          tesbeziehung, aus der Jesus lebt und auf die er verweist.
sichtbar und auch uns als Möglichkeit zugesagt.                Immer wieder zieht er sich dazu zum Gebet zurück.

                                                                    Die Verkündigung Jesu erwächst also dem perma-
                                                               nenten und treuen Dialog mit der Tradition, der Situa-
                                                               tion und Gott. Dementsprechend vielfältig sind die For-
                                                               men seiner Sprache. Er legt die Schrift aus, er erzählt
                                                               Gleichnisse; trifft er auf Leidende, stellt er Fragen, Dä-
                                                               monen weist er entschieden zurück. Jesus spricht kon-
                                                               textsensibel. Das findet nicht immer Zustimmung, lässt
                                                               aber niemanden kalt.

                                                                                                                              13
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          Jesu Sprache lebt von der Authentizität. Sein Ja ist
     ein Ja, sein Nein ein Nein (vgl. Mt 5,37). Das bedeutet
     nun aber gerade nicht, dass er gleichsam „aus dem
     Bauch“ heraus spricht. Seine Worte sind vielmehr des-            Manchen Christen fehlt dieses dialogische Verhält-
     halb so „echt“, weil sie einem durchdachten Zusam-          nis in der Verkündigung. Anders als in der jüdischen
     menspiel der Quellen seiner Rede entspringen. Die Au-       Tradition, die die Pluralität von Deutungen, Wider-
     thentizität hat ihren Ursprung in der Treue zu Gott, zu     sprüche und den interpretatorischen Konflikt wert-
     den Menschen und zur Tradition.                             schätzt, haben sie Angst, Fehler zu machen. Sie tun sich
          Jesu Sprache zeugt von profunder Bildung. Seine        schwer, die Spannung zwischen der Treue zu Gott, zur
     Auslegungen sind nicht abstrusen Eingebungen ge-            Tradition und zu den Menschen zu halten, die den Geist
     schuldet. Sie zeigen, wie tief er in seiner Tradition be-   der Verkündigung freisetzt. Diese tripolare Treue kön-
     heimatet ist. Er unterwirft sich dieser aber nicht, son-    nen wir von Jesus als Prediger lernen.
     dern hat zu deren Texten ein freundschaftliches, intimes
     Verhältnis. Er steht – wie im Judentum üblich – im Di-
     alog mit ihr. Deshalb kann er in Treue und Freiheit die
     Fülle der Bedeutungen dieser Tradition freilegen.

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                                                                                  ZUR PERSON
                                                                        Theresia Heimerl, (*1971), Studien der Deut­
                                                                       schen und Klassischen Philologie und Katholi­
                                                                      schen Theologie in Graz und Würzburg, Dr.phil.
                                                                      et theol., seit 2003 ao. Professorin für Religions­
                                                                       wissenschaft an der Katholisch-Theologischen
                                                                        Fakultät der Universität Graz; Arbeitsschwer­
                                                                          punkte: Europäische Religionsgeschichte,
                                                                      Körper-Geschlecht-Religion; Religion und Film.

Foto: © Theresia Heimerl

Jesus heute erzählen:
eine Irritation
Jesus war schon vieles in vielen Erzählungen während der
letzten 2000 Jahre: König und Heerführer, zärtlicher Liebhaber
und Feminist, Sozialrevolutionär und Kommunist, Esoteriker
und Filmstar. Jede Zeit erzählt „ihren“ Jesus und jede Zeit hat
gegenläufige Erzählungen, in denen verschiedene religiöse
Bedürfnisse aufeinanderprallen. Die Jesus-Erzählungen sind
gleichzeitig Erzählungen über ihre Erzähler und ihr Publikum.

                             Von T heresia H eimerl

W
            enn wir danach fragen, wie Jesus in unserer
            Zeit erzählt werden kann, fragen wir auch
            nach uns selbst und unserem Bild der Welt.           seinen oder ihren „Personal Jesus“ pflegen, wie ihn die
Was auf den ersten Blick auffällt: Die letzten großen Je-        britische Band Depeche Mode 1989 so treffend besang.
sus-Erzählungen liegen schon einige Jahrzehnte zurück.           Es scheint, als hätte die Erzählung von Jesus das Schick-
Jesus als gesellschaftlicher Revolutionär in schlechter          sal aller anderen großen Erzählungen ereilt, deren Ende
Gesellschaft, wie ihn der Wiener Theologe Adolf Holl             François Lyotard 1979 ausgerufen hat. Vielleicht ist
imaginierte, entsprang den bewegten 1960er-Jahren.               auch die akademische Theologie nicht ganz unschuldig
Auch die Erzählung von Jesus als sanftem Feministen              an dieser Entwicklung. Seit Rudolf Bultmann wurde die
und Beziehungstherapeuten, wie ihn die US-amerikani-             Entmythologisierung in immer feineren historischen
sche Theologin Carter Heyward in den 1980er-Jahren               und philologischen Verästelungen betrieben, bis von
entwarf, liegt mittlerweile fast 30 Jahre zurück. Selbst         der Erzählung über Jesus, den Sohn Gottes aus Naza-
die letzte große Aufregung um eine alternative Neuer-            reth nur mehr Fragmente überblieben, aus denen sich
zählung der Jesus-Geschichte hat reichlich Patina ange-          eine wissenschaftliche Arbeit, aber keine große Erzäh-
setzt: Die letzte Versuchung Christi in der Verfilmung           lung mehr schreiben lässt.
durch Martin Scorsese datiert aus dem Jahr 1988. Seit-
dem ist es, von lokalen Diskussionen wie dem Karikatu-
renbuch des österreichischen Zeichners Gerhard Hade-
rer abgesehen, ruhig geworden. Jeder und jede darf

                                                                                                                                 15
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     Wie also Jesus erzählen
     in unserer Zeit?
               Als Sohn Gottes, der Mensch
                      geworden ist
                                                                                   Als Auferstandenen
           Die Jesus-Erzählung beginnt mit der Weihnachts-
     geschichte, die bis heute die Menschen in ihren Bann               Dass die Erzählung von Jesus eine Erfolgsgeschichte
     zieht. Die Pointe der Erzählung von Jesus ist die Inkar-      im mehrfachen Sinn wurde, verdankt sie ihrem Ende.
     nation: Gott wird Mensch. Wer dieses Element weglässt,        Wenn der gekreuzigte und gestorbene Jesus von den To-
     erzählt eine andere Geschichte, eine ohne Pointe. Die         ten zurückkommen kann, ist nichts mehr unmöglich,
     Menschwerdung ist nicht nur Angelpunkt des Heils, wie         nicht einmal der Sieg über den scheinbar unausweichli-
     Tertullian Anfang des 3. Jahrhunderts feststellte. Sie ist    chen Tod. Jesus als Auferstandenen erzählen heißt, ihn
     auch das, was die Erzählung außergewöhnlich macht,            nicht als vergangene Geschichte, sondern als Hoffnung,
     kein Drehbuchschreiber würde diesen „Twist“ auslas-           als Versprechen zu erzählen. Jesus als Auferstandener
     sen. Jesus auf das Nachweisliche, das historisch Wahr-        macht aus dem „Es war einmal…“ ein „Es wird sein“.
     scheinliche zu reduzieren heißt, ihn zum Niemand zu           Nur mit Blick auf die Auferstehung macht es überhaupt
     machen, der seine Berühmtheit der gewieften Propa-            Sinn, Jesus heute zu erzählen. Die Spuren in Bethlehem,
     ganda einer machtbewussten Institution verdankt. Je-          in Nazareth, in Jerusalem wären schon längst vom Wind
     sus erzählen heißt, das bis dahin und heute für viele         verweht und keiner Erinnerung mehr wert, wenn Jesus
     wieder Undenkbare zu erzählen: Einen allmächtigen             nicht als Auferstandener mit dem Versprechen der Aufer-
     Gott, der freiwillig Mensch wird und als Mensch leidet        stehung für uns erzählt worden wäre. Jesus heute als Auf-
     und stirbt. Diese Behauptung irritiert heute sogar brave      erstandenen zu erzählen heißt, Hoffnung zu erzählen.
     Christinnen und Christen. Und diese Irritation kann
     Schlüssel des Erzählens werden.                                     Jesus erzählen in unserer Zeit kann und sollte
                                                                   mehr sein, als bloß eine Geschichte aus der Vergangen-
                   Als widersprüchliche                            heit fachkundig zu interpretieren und mehr, als Einzel-
                      Persönlichkeit                               teile des Erzählten in aktuelle Diskurse einzupassen
                                                                   oder Jesus zur ahistorischen Metapher zu machen. Jesus
           Der Jesus, den uns die Evangelien präsentieren, ist     erzählen heißt, nach vorne erzählen, von der Auferste-
     eine widersprüchliche Person. Damit sind nicht die Dif-       hung her und auf die Auferstehung hin. Jesus erzählen
     ferenzen zwischen den Evangelien gemeint, sondern die         hatte und hat ein hohes Irritationspotential und wäh-
     Person Jesus in ihren Aussagen und Handlungen. Jesus          rend wir von jedem Werbespot dieses Irritationsmo-
     predigt von Schwertern, die zu Pflugscharen werden            ment erwarten, soll die christliche Religion möglichst
     und will das Schwert bringen. Er lässt sich bewirten, bis     niemand mehr irritieren, am wenigstens uns als ihre
     der Wein ausgeht und ihn seine Kontrahenten als Fres-         Mitglieder. Jesus erzählen setzt voraus, dass sich Chris-
     ser und Säufer beschimpfen und verurteilt Reichtum            tinnen und Christen von ihm irritieren lassen und die
     und Festmähler als geschlossene, habgierige Gesell-           Geschichte nicht glätten, bis sie alle scheinbaren Zumu-
     schaften. Er redet vom Anbruch des Reiches Gott und           tungen an die postmoderne Vernunft verloren hat und
     erteilt jenen, die es gleich errichten wollen, eine Absage.   zum politisch korrekten Märchen geworden ist.
     Er lässt sich von einer unreinen Frau berühren und will
     seine eigene Mutter nicht kennen. Jesus erzählen hieß              Jesus erzählen heißt, durch Unwahrscheinlichkei-
     oft, einen Jesus aus diesen Widersprüchlichkeiten her-        ten und Unerwartetes zu irritieren und zu provozieren
     auszuarbeiten und alles Störende wegzulassen. Jesus in        im Wortsinn, herauszurufen, aufgeweckt aus gesicher-
     unserer Zeit erzählen heißt vielleicht, gerade diese Irri-    ten Erzählungen der Vergangenheit und in eine hoff-
     tationen stehen zu lassen. Weder Gott noch der Mensch         nungsvolle Zukunft hinein.
     sind immer begreifbar, warum sollte es der Mensch ge-
     wordene Gott sein?

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Leitartikel   Pilger­
                    herberge    Akademie      GASTBEITRAG          Soziales    Friedensdienst   Chronik    Betrachtung

                 ZUR PERSON
      Prof. Dr. David Engels (*1979) ist Professor für
      Römische Geschichte an der Université libre de
       Bruxelles (Belgien) und seit 2018 am Instytut
       Zachodni in Posen (Polen) tätig. Er ist Leiter
       mehrerer geschichtlicher Forschungsprojekte
          und insbesondere an komparatistischer
      Geschichtsforschung interessiert. David Engels
      ist Autor mehrerer Bücher, darunter „Auf dem
       Weg ins Imperium“, das in mehrere Sprachen
       übersetzt und von der Süddeutschen Zeitung
          zum „Besten Sachbuch September 2014“
          auserwählt wurde. Ihn interessieren die                                                           Foto: © David Engels

      abendländische Geistesgeschichte und Fragen
                  der Identität Europas.

                                                              Europas Erneuerung.
                                                              Ein Traum?
                    Von David Engels
                                                                    Man braucht nicht allein auf die Unruhen vom
                                                              Juni 2020 zu blicken, als es unter dem Vorwand solida-

E
         ine Erneuerung Europas aus dem Geist seiner          rischer Protestmärsche gegen Rassismus und Fremden-
         jahrhundertealten christlichen Tradition – wie       feindlichkeit nicht nur in den USA, sondern auch über-
         lange wird dieses Bild nun schon in verschie-        all in Europa zu gewaltsamen Ausschreitungen kam,
densten Kreisen beschworen? Und doch scheint es nicht         welche nicht nur in Plünderung und physische Aggres-
nur, daß wir dieser Hoffnung kaum einen Schritt näher         sion mündeten, sondern eben auch in die systematische
gekommen sind, sondern vielmehr sogar, daß wir uns            Beschädigung und Zerstörung unseres abendländischen
mehr und mehr von jenem Ziel entfernen. Der Grad der          Kulturerbes. Schon seit Jahren, ja Jahrzehnten ist der
sittlichen wie geistlichen Verwahrlosung des Westens er-      Westen geprägt von einer tragischen inneren Selbstzer-
reicht täglich neue, ungeahnte Ausmaße, und mittlerwei-       fleischung, bei der auf seiten der „Progressiven“ die
le sind nicht nur seine moralische Gesundheit und seine       wertvollsten Traditionen des Abendlands – Nächsten-
wirtschaftliche Stabilität bedroht, sondern auch sein         liebe, Toleranz, Gewissenserforschung – sich von ihren
Überleben als ein eigenständiger Kulturkreis – und zwar       spirituellen Wurzeln abgelöst haben und sich nunmehr
nicht nur, wie so oft und kontrovers in den Medien de-        ohne transzendente Verankerung gewissermaßen selbst
battiert, aufgrund der Masseneinwanderung aus dem au-         ad absurdum führen, während auf der Seite der „Kon-
ßereuropäischen Raum, sondern – erheblich schlimmer           servativen“ eine gewisse rückwärtsgewandte Ratlosig-
– aufgrund der inneren Ablösung der Europäer von ih-          keit zu herrschen scheint und der Ungeist des Liberalis-
rem christlichen Erbe und somit ihrem eigentlichen We-        mus seine Früchte trägt, etwa dergestalt, daß auch hier
sen. Freilich: Die abendländischen Traditionen speisen        das allgemeine „Laissez-faire“ zum Gesellschaftsideal
sich auch noch aus anderen als den christlichen Quellen       geworden ist und moralische Normen sich nur noch da-
– man denke hier nur an die antike Tradition –, und           durch rechtfertigen, daß sie „niemandem schaden“
auch die Weltkirche hat den europäischen Rahmen               oder einvernehmlich „verhandelt“ wurden.
längst transzendiert und anderswo fruchtbare Wurzeln
geschlagen. Aber europäisches Christentum und abend-               Darauf zu hoffen, zwischen diesen beiden Extre-
ländische Identität haben aus historischer Perspektiven       men des Liberalismus, die sich politisch meist im Uni-
so breite Schnittmengen, daß man für viele Jahrhunderte       versalismus oder im Nationalismus niederschlagen, eine
schon fast von einer Identität zu sprechen geneigt ist; und   neue Mitte zu etablieren, die wir einmal mit dem Neolo-
es ist deutlich, daß man das eine nicht entwurzeln kann,      gismus „Hesperialismus“ bezeichnet haben und die sich
ohne damit auch das andere zu zerstören.                      moralisch durch ein positives Bekenntnis zu den histo-
                                                              rischen Traditionen des Abendlands und somit eben
                                                              auch zum Christentum auszeichnet, politisch aber eine

                                                                                                                                   17
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     konstruktive Vereinigung der abendländischen Natio-
     nen jenseits von EU-Bürokratie und nationalistischer
     Engstirnigkeit anstrebt, scheint daher auf den ersten
     Blick vergebens. Und doch: Die Zeichen mehren sich,
     die optimistisch stimmen können – optimistisch zwar
     nicht im Sinne einer grundlegenden Rückkehr zu jener       den Umdenken erwächst: Ob es nun um die soziale Po-
     engen Verzahnung zwischen dies- und jenseitigem Le-        larisierung geht, die Paralyse der politischen Institutio-
     ben, wie sie längst vergangene Jahrhunderte kennzeich-     nen, das Risiko einer Minorisierung der christlichen
     nete, aber doch wenigstens im Sinne einer erneuten         Bevölkerung im großstädtischen Raum, die desaströsen
     Stärkung jenes christlichen abendländischen Patriotis-     Folgen des Raubbaus an unserer Umwelt, das Scheitern
     mus, ohne den unsere westliche Zivilisation und Le-        des Bildungssystems, die gräßliche Banalisierung von
     bensart ganz dem Auslöschen geweiht wäre.                  Abtreibung und Euthanasie, die Risiken des Transhu-
                                                                manismus oder die sittliche Verwahrlosung des allge-
          So sehen wir etwa im Bereich des privaten Lebens      genwärtigen Konsumkults – zunehmend wird deutlich,
     gerade auch bei jüngeren Menschen Anzeichen dafür,         in welcher gefährlichen Schieflage sich unsere Zivilisa-
     daß die oft von den Eltern des 1968er Umfelds empfan-      tion befindet, und daß die Lösung nicht in einem ge-
     genen Werte als unzureichend empfunden werden, da          mächlichen „Weiter so“ bestehen kann, sondern nur in
     sich ihre sozialen, politischen und kulturellen Verspre-   einer fundamentalen Umkehr.
     chungen als schal, ja gar schädlich erwiesen haben.
     Freilich, die Zahl derer, die sich bewußt für eine Rück-         Freilich: Wer sollte und könnte eine solche Um-
     kehr zur christlichen Transzendenz und zur kulturellen     kehr bewirken, wo die real existierenden christlichen
     Tradition entscheiden, die zudem in vielen Fällen nicht    Parteien doch zunehmend ihren eigentlichen Wesens-
     ererbt, sondern vielmehr neu entdeckt und hart erarbei-    kern aufgegeben haben, und die sich mittlerweile als
     tet werden müssen, ist immer noch verschwindend ge-        „wahre Konservative“ präsentierenden populistischen
     ring; doch wird zunehmend deutlich, daß Relativismus,      Parteien in vielen Fällen bis auf eine schonungslose Be-
     Materialismus und Nihilismus auch in den nächsten Ge-      standsaufnahme zahlreicher Gravamina nur mit wenig
     nerationen trotz allem keinen so vollständigen Sieg da-    konstruktiven Lösungsmöglichkeiten aufzuwarten ha-
     vontragen werden, wie es vor einigen Jahren noch schei-    ben? Wie sollen die einen ihre eigentliche Bestimmung
     nen mochte, sondern sich mit der Verfestigung und          wiederfinden, nachdem sie sich über so viele Jahre hin-
     Radikalisierung jener Gegenwelt auch die Verfechter        weg (meist sogar gegen den Widerstand ihrer Wähler)
     des Ursprünglichen neu organisieren und hartnäckig         in Richtung des allgegenwärtigen Linksliberalismus be-
     bereit sind, ihr Erbe trotz aller Widrigkeiten den kom-    wegt haben, während die anderen oft ganz in einer nos-
     menden Generationen zu übermitteln – und das viel-         talgischen und nationalistischen Staatsvergötzung be-
     leicht mit einem größeren Verständnis seiner überzeitli-   fangen sind, welche weder den politischen Realitäten
     chen Bedeutung als in vielen früheren Jahrhunderten        des globalisierten 21. Jh.s gerecht wird, noch eine echte,
     oberflächlichen Kulturchristentums.                        absolute und somit jenseitige Verankerung erkennen
                                                                läßt?
          Auch auf dem Feld des politischen Kampfes ist
     noch nicht alle Hoffnung verloren. Zum einen bewirkt            Doch „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende
     die bedrohliche Kumulation verschiedenster äußerer         auch“. Schon seit einigen Jahren zeigt sich allmählich
     und innerer Konfliktpotentiale – seien sie wirtschaftli-   die Einsicht, daß gerade jene, die den christlich-abend-
     cher, politischer, sozialer, demographischer, ökologi-     ländisch Wesenskern beschützen wollen, dies nicht nur
     scher oder ethnisch-kultureller Art –, daß bei vielen      auf nationaler Ebene, sondern auf europäischer Ebene
     Bürgern ein noch vor einigen Jahren fehlendes Bewußt-
     sein für die Schwere der Lage erwachsen ist, aus dem
     allmählich auch die Bereitschaft zu einem grundlegen-

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Leitartikel   Pilger­
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tun müssen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Vor-    sche Richtung abgelenkt wird, ist kaum auszuschlie-
bildwirkung der Visegrad-Staaten, welche durch ihre        ßen, daß auch hier rasch eine neue Stimmung kulturel-
enge Zusammenarbeit sowie die gemeinsame Betonung          ler Erneuerung einziehen könnte, falls die äußeren
des christlichen Erbes zeigen, daß auch jenseits von be-   Gegebenheiten günstig stehen – und gerade hier könnte
engter Nationalstaatlichkeit oder eurozentrischem Uni-     sich, jenseits von Parteienklüngel und Programmen,
versalismus Politik möglich ist; und die Entwicklungen     und nur durch das persönliche Bekenntnis einer neuen
der nächsten Jahre dürften diese Tendenz sicher noch       Generation verantwortungsbewußter Staatslenker ge-
vertiefen, wenn es wie erwartet zu Umstrukturierungen      steuert, eine völlig neue, gleichsam „augusteische“ Ge-
innerhalb der europäischen Parteienfamilie und einer       legenheit ergeben, christliche Werte wieder stolz und
möglichen Ausdehnung der Visegrad-Sphäre im Rah-           ungebrochen in die Öffentlichkeit zu tragen, anstatt sie
men des Trimariums-Projekts kommt: Angesichts der          unter einer Flut selbstkritischer Schuldbeteuerungen,
zunehmenden Krise Westeuropas ist daher kaum aus-          unausgegorener Reformen, kulturellem Mitläufertum
zuschließen, daß in einigen Jahren gerade der Osten als    oder falschverstandener Toleranz zu ersticken.
Anker der Stabilität gelten könnte und sich somit auch
viele andere Parameter verlagern. Die soeben veröffent-          Freilich: Vorläufig handelt es sich bei diesen Aus-
lichte und lebhaft diskutierte polnische „Präambel für     sichten noch um Zukunftsmusik, und um eine gefährli-
eine Konföderation europäischer Nationen“ könnte ein       che noch dazu: Gefährlich, denn es steht wohl zu erwar-
erstes Indiz sein, in welche Richtung ein solches neues    ten, daß die kommenden Monate und Jahre nicht etwa
Grundbild europäischer Zusammenarbeit tendieren            von einem friedlichen inneren Umdenken geprägt sein
könnte, deren Vorbild eher in der staatlichen Subsidi-     werden, sondern sich zunächst einmal die schon fast
arität und überzeitlichen Verankerung des Sacrum Im-       unkontrollierbar aufgestauten Probleme, Konflikte und
perium läge als im jakobinischen Zentralismus und La-      Aggressionen entladen müssen, wie die immer größere
izismus.                                                   Häufigkeit und Gewalttätigkeit jener Unruhen nahe-
                                                           legt, die zunehmend die europäischen Großstädte er-
     Zudem ist festzustellen, daß die Zeit der klassi-     schüttern und angesichts der völlig unzureichenden po-
schen Parteien ohnehin vorbei ist, wie der kometenhafte    litischen, seelischen und institutionellen Abwehrme-
Aufstieg des gegenwärtigen französischen Präsidenten       cha­nismen unserer Zivilisation wohl bald zur Tagesord-
und der zunehmende Zerfall der klassischen Linkspar-       nung gehören werden, bis schließlich der Becher bis zur
teien demonstrieren: Angesichts des augenscheinlichen      Neige gekostet sein wird. Freilich, es liegt an jedem ein-
Scheiterns der repräsentativen Parteiendemokratie          zelnen von uns, durch sein Reden und Handeln diese
steigt beim Bürger angesichts eines schwerfälligen und     Entwicklung so zu begleiten und zu steuern, daß das
ideologisch meist recht austauschbar wirkenden Appa-       Schlimmste verhütet werden mag und jene „Jahre der
rats der Unmut, während gleichzeitig die Sehnsucht         Entscheidung“ von einem freiwilligen Umdenken und
nach unmittelbaren menschlichen Vorbildern wächst –        einer einvernehmlichen Neuordnung Europas abge-
eine Entwicklung, die zwar durchaus gefährlich ist, be-    schlossen werden und nicht einem Diktat nackter Ge-
denkt man die Verwirrungen, die leicht durch die An-       walt. Dazu gilt es aber, jetzt schon die Weichen zu stel-
ziehungskraft charismatischer Persönlichkeiten in          len und sowohl im privaten Umfeld als auch im
Zeiten der Krise hervorgerufen werden können, der          politischen Miteinander die eigenen Ideale aus dem
gleichzeitig aber auch ein großes Potential für eine ra-   Geist christlichen Glaubens und abendländischer Tra-
sche Transformation politischer Strukturen innewohnt,      dition heraus zu leben und ihnen pragmatisch und rea-
welche aus heutiger Perspektive noch unwandelbar           listisch Raum zur neuen Verwirklichung zu verschaf-
scheinen mögen. Und bedenkt man die zunehmende,            fen.
schon fast atavistisch zu nennende Sehnsucht vieler
Menschen nach Ordnung, Klarheit und Tradition, wel-        I
                                                               David Engels, Eine Utopie für Europa, in: Cicero 2019.4. 28-29.
                                                               Vgl. hierzu David Engels, Was tun? Leben mit dem Niedergang Europas,
che freilich zur Zeit noch wesentlich vom Angebot der
                                                           II

                                                               Bad Schmiedeberg, 2020.
Konsumkultur verdeckt bzw. in eine rein materialisti-      III
                                                               David Engels, Wir Europäer, in: Die Tagespost 5.6.2020
                                                               (https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/wir-europaeer;art310,208739).
                                                           IV
                                                               David Engels (Hg.), Renovatio Europae. Plädoyer für einen hesperialistischen
                                                               Neubau Europas, Berlin 2019.
                                                           V
                                                               S. David Engels, Auf dem Weg ins Imperium, Berlin 2014.

                                                                                                                                                     19
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