JERUSALEM JERUSALEM Reise nach - Österreichisches Hospiz
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Nr. 24 · 2020 JERUSALEM Halbjahresbericht des Österreichischen Pilger-Hospizes Reise nach JERUSALEM Zu Hause in Jerusalem sein – bestellung@bebeverlag.at Jerusalem ins Wohnzimmer bringen
IMPRESSUM: SPENDENAUFRUF Rektor Markus St. Bugnyar, Österreichisches Pilger-Hospiz zur Heiligen Familie So helfen Sie uns: (Austrian Hospice) Via Dolorosa 37 · P.O.B. 19600 Österreichisches Hospiz – Sozialfonds 91194 Jerusalem AT43 1919 0003 0015 0125 rectorate@austrianhospice.com BSSWATWW Titelfoto: © ÖPH Österreichisches Hospiz – Bauspende Die Autoren dieses Magazins sind für AT17 1919 0004 0015 0124 Inhalt und Schlussfolgerungen in ihren Texten BSSWATWW ausschließlich selbst verantwortlich. Aussagen der Gastbeiträge müssen nicht Ich danke Ihnen sehr! die Meinung des Herausgebers widerspiegeln.
Woher kommt mir Kraft? U ns fehlt die Sprache. Viele Menschen verstehen uns nicht. Unser Reden tönt oftmals wie aus ei- ner anderen Welt, einer anderen Zeit. Wer aber nicht verstanden wird, verschwindet bald aus dem Blickfeld. Kein allzu großes Wunder also, wenn sich viele aus der Kirche verabschieden. Foto: © Fotostudio Floyd Die Sprache der Kirche muss verständlich sein; Dazu muss ich Jesus kennen. Dazu muss ich den stringent, relevant, aktuell. Die Sprache der Kirche Mitmenschen kennen, ihn verstehen. Es ist nicht über- muss anrühren und durchaus irritieren, wenn es sein trieben: Dazu muss ich den Mitmenschen lieben. Den soll. Kein Echo aus vergangenen Epochen und keine ganz konkreten, den Nachbarn; nicht den abstrakten, Worthülsen, leer und oberflächlich. Auch nicht anbie- in der Ferne. Gönnen Sie sich bitte das Büchlein von dernd und angestrengt; das spürt jeder schnell. C.S. Lewis, Dienstanweisung an einen Unterteufel; hier erfahren sie mehr dazu. Letzte Woche las ich in einem Artikel der Wochen- zeitung DIE ZEIT: Menschen treten vor allem deshalb Für diese Ausgabe unserer Jerusalem-Korrespon- aus der Kirche aus, weil ihre Botschaft nichts mit der denz haben wir uns genau dieses Thema zur Aufgabe eigenen Lebensrealität zu tun hat. Offenbar treffen wir gemacht: Wie von Jesus heute erzählen? in der Verkündigung der Botschaft Jesu nicht den Wir konnten namhafte Autoren gewinnen: Die richtigen Ton, nicht das richtige Thema. Dem letzten Wiener Pastoraltheologin Regina Polak und die Grazer Schrei, dem neuesten Aufreger hinterher zu hecheln, Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl, den Mis- kann es auf Dauer nicht sein. sio-Nationaldirektor Karl Wallner und den belgischen Historiker David Engels. Ich wage eine These. Es ist Jesu Ton, den wir nicht treffen. Seine Art zu sprechen, die Aufmerksamkeit er- Gemeinsam suchen wir nach Antworten aus ver- regt und die ans Herz greift. schiedenen Perspektiven. Wofür lohnt es sich zu leben? Woher kommt mir Kraft? Zum einen liegt das daran, dass wir nicht genug auf Jesus schauen. Wer holt sich bei ihm Rat im Alltag? Ich wünsche uns eine anregende Lektüre. Ich danke Ihnen für Ihre Freundschaft! Zum anderen liegt das daran, dass wir den Mit- menschen, den Zeitgenossen nicht hellhörig genug zu- Ihr hören. Wir reden oftmals bevor jemand fragt. Wir lie- fern Antworten auf Fragen, die niemand stellt. Und so veranstalten wir, um unsere Häuser zumindest zeitwei- se zu füllen, Events, die mit dem Christlichen an sich wenig zu tun haben. In der irrigen Meinung, diese Men- Rektor Markus St. Bugnyár schen kämen wegen Christus. Und nächsten Sonntag wieder. Wer Jesus verkündigen will, muss Mittler sein. Mittler zwischen Jesus, von dem alles ausgeht, und dem Nächsten, um den es geht. Jesus sagt: Geht hinaus in die ganze Welt. Nicht: Begnügt euch mit dem, was ihr habt. Nicht: Verwaltet das Alte. Sondern: Neuer Wein in neue Schläuche! 3
LEITARTIKEL Pilger herberge Akademie Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Foto: © ÖPH Kuppel der Grabeskirche = Anastasis = Auferstehung in Jerusalem Anastasis – Ort unserer Erlösung Eingezwängt in der Jerusalemer Altstadt liegt der heiligste Ort für uns Christen. Die „Anastasis“ – „Auferstehung“, wie die Orthodoxie die „Grabes kirche“ nennt –, umfasst zwei heiligste Stätten: Den Felsen „Golgotha“, auf dessen Spitze das Kreuz eingerammt war, und das Grab Jesu. Josef von Arimathäa ersuchte Pontius Pilatus, ihm den Leichnam zur Bestattung zu überlassen. Da aufgrund des herannahenden Sabbats, auf den das Pesachfest des 15. Nisan fiel, alles noch vor Sonnenuntergang erledigt werden musste und Josef in unmittelbarer Nähe ein freies Grab (Johannes 19,41) besaß, wurde Jesus dort beigesetzt. 4
LEITARTIKEL Pilger herberge Akademie Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Von P rof . P. D r . K arl W allner N ach den synoptischen Evangelien hüllte Josef Jesus zwar in ein Leinentuch (sindon), die komplizierten Salbungsrituale konnten jedoch Foto: © P. Karl Wallner an dem Leichnam nicht durchgeführt werden. Deshalb haben Frauen in den Morgenstunden des übernächsten tus – gelitten hat und gekreuzigt wurde, um unseres Tages das Bedürfnis, die Salbung nachzuholen und ei- Heiles willen, der den Schandtod des Kreuzes erlitten len zum Grab, das sie leer vorfinden. Nach dem Johan- hat, begraben wurde und siegreich auferstand. Jesus nesevangelium ist es Petrus, der als erster das leere Christus ist der Retter, der Erlöser, unser Heiland. Grab in Augenschein nimmt. Golgotha und Grab befin- den sich heute unter einem Dach. Deshalb sind seine Jünger zu der Überzeugung ge- kommen, dass das von ihm verkündete und verbürgte Es handelt sich um die historischen Orte, an denen ewige Heil es wert ist, nicht nur in die ganze Welt hin- sich das zugetragen hat, was das Wesen des christlichen auszugehen, sondern auch selbst dafür zu sterben. Glaubens darstellt: Christus besiegt den Tod und steht Wenn wir also nicht mehr verstehen, worin das „Heil“ als „Erstgeborener der Toten“ (Offb 1,5; vgl. Röm 2,9) besteht, das Christus gebracht hat, bedroht das das We- zu neuem Leben auf. Das ist die „Erlösung“, die Chris- sen des Christentums. Was ohne Wesen ist, wird verwe- tus in die Welt bringen wollte, und die Anastasis ist der sen. Die Grabeskirche bzw. Anastasis verhindert, dass Ort, wo sie durch den Tod und die Auferstehung Chris- wir Erlösung als etwas „Abstraktes“ umdeuten und zu ti in ihrer Fülle konkretisiert wurde. einem „therapeutischen Mythos“ degenerieren. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion, die auf Christlicher Glaube gründet nicht auf religiösen die Heilssehnsüchte der Menschen antwortet . Die Bibel Geschichten, sondern auf faktischer Geschichte. Darum berichtet, dass die Menschen Jesus von Nazareth in müssen wir die Anastasis heilighalten, aber auch Massen zugeströmt sind, - weil er sie heilte; weil von sei- alle anderen konkreten „Memorien“ der Erlösungstat nen Worten heilsame Weisung, Korrektur und Orientie- Christi. rung ausging. Das deutsche Wort „Heiland“, gotisch „Heliand“, ist der Versuch, das hebräische „Jeschuah, Alle Religionen haben ihre Symbole, ihre Zeichen, Jesus“ zu übertragen; Jesus heißt „Gott schafft Heil“ ihre Logos, in denen sie ihre Identität nonverbal nach und wird in den Kindheitsevangelien programmatisch außen vermitteln. Aber anders als Davidstern und gedeutet: Das Kind soll Jesus heißen, weil es „von den Halbmond, anders als das Tao, anders als das Yin und Sünden erlöst“. (Mt 1,21; vgl. Lk 1,31) Papst Benedikt Yang, anders als das achtarmige Rad des Buddhismus XVI. hat bei seinem Besuch im Stift Heiligenkreuz vor handelt es sich beim Kreuz um ein historisches Ereignis. der Kreuzesikone von Sarzana aus dem Jahre 1138 da- Das Kreuz ist deshalb als Ausdruck der „Corporate ran erinnert, dass der christliche Glaube sich nicht auf Identity“ des Christentums so sehr geeignet, weil es auf eine Lehre oder Ideologie bezieht: „Unser Licht, unsere ein Faktum inmitten menschlicher Geschichte verweist. Wahrheit, unser Ziel, unsere Erfüllung, unser Leben – all das ist nicht eine religiöse Lehre, sondern eine Per- son: Jesus Christus.“ Wir glauben an den ewigen Sohn des ewigen Vaters, der in der Zeit aus der Jungfrau Ma- ria geboren wurde, der in der Zeit – unter Pontius Pila- 5
LEITARTIKEL Pilger herberge Akademie Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung ZUR PERSON P. Dr. Karl Wallner (*1963), ist seit 1982 Zisterzienser im Stift Heiligenkreuz. Zum Priester geweiht 1988, promoviert 1993 „sub auspiciis praesidentis“ (Universität Wien). Verschiedene Aufgaben im Stift; 1999 Dekan der Phil.-Theol. Hochschule. Im Jahr 2007 bestellte ihn der Heiligen Stuhl zum Grün dungsrektor der neuerrichteten Hochschule päpstlichen Rechtes, zeitgleich gründete er den Be&Be Verlag. Im Jahr 2019 wurde P. Karl Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke in Österreich. Foto: © P. Karl Wallner Rektor Dr. Wallner führte die Hochschule Heiligenkreuz zu neuer Blüte Der Tempel in Jerusalem war der zentrale Ort der Sühne. Nur dort konnte ein gläubiger Jude den „Tod“ Es ist eine große theologische Herausforderung, in loswerden, den er sich durch die Sünde zugezogen hat- der Grabeskirche über den Tod Christi zu reflektieren. te. Nur dort konnte er wieder in den Bund, in „das Le- Denn der von Christus besiegte „Tod“ ist mehr und an- ben“ hinüberwechseln. Er musste dazu mit einem deres als der biologische Tod. Die Bibel verbindet den schuldlosen Tier zum Tempel pilgern. Geeignet waren Begriff der „Sünde“ mit dem Begriff des „Todes“. Denn Tauben bei armen Leuten, Ziegenböcklein und Kälber, wenn ich sündige, dann bin ich nicht bloß „nicht brav“. in den allermeisten Fällen aber wurden für die Sühne Die Sünde verstanden die Juden dramatisch: Die Sünde kleine Lämmer verwendet. Der Sünder, der im Tod bricht die Beziehung mit Gott ab, sie tötet den Lebens- war, brachte also sein Lamm zum Tempel. Vor dem bund mit Gott. Daher verwendet die Bibel für die Sünde Brandopferaltar legte er dem Tier die Hände auf. Dann das Wort „Tod“. „Die Frucht der Sünde ist der Tod!“ beichtete er seine Sünden auf das Tier, er sprach laut (Röm 6,23) Auch in der heutigen Umgangssprache for- aus, dass und was er gesündigt hatte. So übertrug er die mulieren wir, wenn wir eine Beziehung abbrechen: „Du Sünde, also „den Tod“ auf das Tier. Der Priester nahm bist für mich gestorben.“ Und die Theologie spricht von das Tier entgegen, dass nun in der Vorstellung der Ju- „Todsünde“ und meint damit nicht, dass jemand bei ei- den zur Sünde geworden war und schnitt ihm die Hals- ner schweren Sünde biologisch stirbt. „Tod“ bezeichnet schlagader durch, sodass das Blut ausfließen kann. Blut den vom Sünder gesetzten Abbruch des „Lebens“, der ist nämlich immer göttlich! „Beziehung“ zu Gott. Blut ist heilig! Blut gehört Gott und muss daher an Es gab im Judentum einen Mechanismus der „Ent- Gott zurückgegeben werden, um den Bund wiederher- sündigung“, der „Reinigung“ vom Tod. Diesen kennen zustellen. Das Blut reinigt von Sünden. Das rote Blut heute auch viele Theologen nicht mehr, obwohl das wäscht die Seele des Sünders weiß. So sprengte der ganze Alte und Neue Testament davon spricht: Es ist Priester nun das Blut des Sühnelammes an den Vor- die „Sühne“, die der Israelit leisten konnte, ja musste. hang des Tempels. Dieser Vorhang verhüllte das Aller- Ohne stellvertretende Sühne durch Blut gab es keine heiligste, die goldene Platte mit den beiden Cherubim. Sündenvergebung (Hebr 9,22). Und zwar mit Hilfe des In den Himmeln über den Cherubim wohnt Gott. Sie Opfers von Tieren, zumeist von Lämmern. denken jetzt sofort daran, dass beim Tod Christi dieser Vorhang entzweigerissen ist. Der Zugang zur Barmher- zigkeit Gottes, zu seinem neuen und ewigen Bund steht seit Christi Kreuz allen offen! So war der Tod, der vom Sünder auf das Lamm übertragen worden war, getötet worden. Paulus will ganz offensichtlich darauf anspie- len, wenn er davon spricht, dass Gott in Christus „den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht hat“ (2 Kor 5,21). Von Jesus sagt Johannes der Täufer: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hin- wegnimmt!“ (Johannes 1,29.36) Vom Tempel sagt Je- 6
LEITARTIKEL Pilger herberge Akademie Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Foto: © Andrea Krogmann Das Heilige Grab im Osterfeuer, das vom sus: „Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen aber Himmel herniedersteigt. will ich ihn wieder aufrichten.“ (Joh 2,19) Und der Evangelist Johannes fügt hinzu: „Er aber meinte den Tempel seines Leibes.“ (Joh 2,21) Der neue Tempel ist Tod „irgendwie“ weitergeht, das glaubte in der Antike nun freilich nicht mehr geographisch fixiert. Er ist uni- ohnehin jeder, mit Ausnahme der Sadduzäer. Das Le- versal überall dort, wo Christus in Leben eines Men- ben, das uns Gott vom Ort der Anastasis aus geschenkt schen Gestalt annimmt. hat – in unverbrüchlicher Verbindung zwischen Tod und (leerem) Grab – ist ein versöhntes Leben. Es be- Das Wort „Versöhnung“ kommt von „Sühne“. ginnt daher präsentisch schon im Hier und Heute, wo Gott „versühnt“ den Menschen, indem Jesus Christus wir uns auf die Herrschaft Gottes einlassen. Es konkre- stellvertretend für uns die dem Menschen zustehende tisiert sich in der Vergebung der Sünden durch die Strafe auf sich nimmt. Was Paulus im Kreuz erkannt Gleichgestaltung mit Christus, dem Sohn. Auf ihn ge- hat, das ist eine grundlegende Veränderung im Verhält- tauft sind wir Söhne und Töchter „im Sohn“. Wir tra- nis des Menschen zu Gott durch eine Tat, die Gott in gen seinen Namen: Christus. In der Anastasis Jesu Selbstinitiative von sich aus gesetzt hat. Der Sinn des Christi hat Gott unseren Tod begraben und unser Le- Kreuzes ist für Paulus identisch mit dem Wesen des ben neu geschaffen. Christentums: dem Glauben an eine von Gott gesetzte Erlösung in Kreuz und Auferstehung Christi. I KARL JOSEF WALLNER, Sühne. Auf der Suche nach dem Sinn des Kreuzes, Illertissen 2015. Vgl. MARTIN HENGEL, Der stellvertretende Sühnetod Jesu. Ein Beitrag zur Entstehung des urchristli-chen Kerygmas, in: IKaZ Communio 9 (1980) Mit der Einsicht in einen Gott, der die von sich aus 1-25 und 135-147. BERTRAM SCHMITZ, Vom Tem-pelkult zur Eucharistiefeier. Die Transformation eines Zentralsymbols aus religionswissen-schaftlicher Sicht, Münster 2004. heilsschaffende, lebensspendende Liebe ist, abgelesen ADRIAN SCHENKER, Das Zeichen des Blutes und die Gewißheit der Vergebung im Alten Testament, in: Münchener Theologische Zeitschrift 34 (1983) 195-213; JOSEPH RATZINGER, vom Kreuz, ist die Kirche in die Geschichte hinausgezo- Artikel „Stellvertretung, in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Band 2, München 1963 566-575. gen. Auf Golgotha hat Gott den Tod getötet und das Le- II BENEDIKT XVI., Ansprache vom 9. September 2007 im Stift Heiligenkreuz. ben neu geschaffen. Wir brauchen ein besseres und um- fassenderes Verständnis des „Lebens“, das die Anastasis Christi in die Welt bringt. Das „Leben“, das aus dem Grab erstanden ist, ist nicht bloß eine Kontinuierung des irdischen Lebens. Dass es nach dem biologischen 7
Leitartikel PILGERH ERBERGE Akademie Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Blick auf Jerusalem – „Oh Herr, woher kommt uns Hilfe?“ (Ps 121) Foto: © ÖPH Stolz und Sorgenkind Stolz und Sorgenkind trifft es haargenau auf den Punkt. Von Anfang an waren wir als Österreicher stolz darauf, ein eigenes Haus in Jerusalem zu haben. Nicht irgendwo, sondern zentral in der Altstadt, an der Via Dolorosa; in wenigen Schritten bei der Grabeskirche, dem wichtigsten Ort der christ- lichen Welt. Von M arkus S t . B ugnyár G enauso von Anfang an erfüllte uns dieser Stolz und Sorgenkind ist eine Wendung von Bot- Stolz auch mit Sorgen. Schon der Bau Mitte schafter Dr. Arthur Breycha-Vauthier (1903-1986); er des 19. Jahrhunderts stieß auf unerwartete hat sie 1972 zu Papier gebracht, in seiner Notiz über ei- Schwierigkeiten, die große Summen notwendig mach- nen Besuch im Jahre 1968 des damaligen Hospiz-Rek- ten. Immer wieder wird die Region von Kriegen und tors Dr. Franz Sauer in Beirut. Den beiden Herren war Auseinandersetzungen heimgesucht, die den Besucher- die historische, die gesellschaftliche Bedeutung des Pil- strom unterbrechen und so auch die finanzielle Versor- ger-Hospizes für Österreich ebenso bewusst wie die gung des Hauses. Hinzukamen Seuchen und Hungers- Notwendigkeit, sich stets neu für dieses Haus einzuset- nöte, Fremdnutzungen und jahrelange Rückgabever - zen. Wie sich das Heilige Land entwickelt, welchen handlungen. Wirren es entgegengeht, entzieht sich den Verantwortli- chen; vieles übersteigt das Verstehen und womöglich Unser österreichisches Pilger-Hospiz war von An- auch unser Verständnis, wenn es um Politik und Kul- fang an Stolz und Sorgenkind und ist es auch heute wie- tur, Mentalität und Eigenheiten der Lage vor Ort im der. Das sollte uns nicht schrecken, sondern vielmehr Orient geht. Hier ist in jeder Generation neu anzusetzen Mut machen. Wir werden gestärkt aus dieser Zeit her- und mit viel Feingefühl zu erklären und um Hilfe zu vorgehen. bitten. 8
Leitartikel PILGERH ERBERGE Akademie Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Nun, das Pilger-Hospiz ist eine Stiftung unter der Obhut des Erzbischofs von Wien; wir sind weder der Bi- In unseren Tagen ist es die Corona-Pandemie, die schofskonferenz noch einer bestimmten Diözese zuge- uns vor Augen führt, wie zerbrechlich unser Stolz und ordnet. Das hat historische Gründe, die in unsere An- Sorgenkind ist. In den vergangenen Jahren ging es im- fangszeit zurückreichen. Damals kam die Idee zur mer weiter aufwärts, immer zahlreicher sind die Pilger- Gründung des Hauses vom Erzbischof von Wien und gruppen geworden, die sich selbst ein Bild machten von das Geld zum Bau aus allen Diözesen der Monarchie. unserer Arbeit im Heiligen Land. Corona hat uns in die- Man wollte ein eigenes Haus im Heiligen Land haben, ser Entwicklung gebremst, einen Strich durch die Rech- damit sich die Pilger aus allen Regionen in Jerusalem zu nung gemacht. Wie kaum jemand wäre auch ich nicht Hause fühlen. Eine Heimat am Grabe des Erlösers; das auf die Idee gekommen, dass es in unserer Zeit wieder- ist die Devise, die gilt. um eine derart beängstigende Pandemie geben könnte. Sie erinnert mich an die Schilderungen meines Vorgän- Von hier rührt auch die Selbstverständlichkeit, mit gers, der Ende des 19. Jahrhunderts mit der Cholera in der sich die Bischofskonferenz und alle Diözesen immer der Stadt zu kämpfen hatte. Keine Pilger ohne Quaran- wieder mit dem Hospiz und seinen Anliegen identifizie- täne. Heut wie damals: Wer macht sich schon mit einer ren; dafür bin ich zutiefst dankbar! Wir wissen, dass solchen Perspektive überhaupt auf den Weg? das eben nicht selbstverständlich ist und dass wir auf diese Hilfe „von Amts- und Rechts wegen“ nicht ein- In unseren Tagen ist das Pilger-Hospiz wieder fach Anspruch haben. Es gibt keinen jährlich fließen- mehr Sorgenkind. Der Anlass ist klar: Corona. Das den Budgetposten oder Geldhahn, den man beliebig „wieso eigentlich?“ bedarf einer genaueren Erklärung. steuern könnte. Das Hospiz als Stiftung gehört sich selbst und hat sich selbst zu erhalten; durch den Dienst 1. Dem Hospiz ging es in den letzten Jahren einer Herberge und die Aufnahme von Pilgern und Be- wirtschaftlich sehr gut. Die zahlreichen Pilger haben suchern nicht zuletzt in unserem Café Triest. Zur Auf- uns finanziell gut ausgestattet. Daran besteht kein gabe des Rektors zählt demnach naturgemäß die Selb- Zweifel. Erst so war es uns möglich, das große Jahrhun- ständigkeit des Hauses zu bewahren und wenn es nötig dert-Projekt Casa Austria – den neuen Gästehaustrakt ist – wie in unserer Zeit – unsere Situation zu erklären – zu einem glücklichen Ende zu führen. Neben den vie- und um Hilfe zu bitten. len privaten und öffentlichen Spenden kam der weitaus größte Teil der Finanzierung vom Hospiz selbst. Dazu Wir haben mit unseren Einsparungen bereits eine wurde auch ein Kredit in Höhe von 2 Mio € aufgenom- Schmerzgrenze erreicht. Bis auf wenige Schlüsselpositi- men, der natürlich zu tilgen ist. Mehr Gästekapazitäten onen sind alle MitarbeiterInnen in Kurzzeit, von einigen bedeuten eine stabilere wirtschaftliche Basis in der Zu- mussten wir uns bereits dauerhaft trennen. Jede einzel- kunft. ne Kündigung schmerzt; mich, den Betroffenen natür- lich noch mehr. Ich bin mir dessen vollkommen be- Wir dürfen, wenn wir über die Finanzen des Hos- wusst, was ein solcher Schritt für diese Familien pizes sprechen, nicht außer Betracht lassen, dass das bedeutet. Heilige Land solche Phasen eines Besucherrückganges durchaus gewohnt ist. Denken Sie etwa an die Zweite Israel hat bereits Mitte Juli die Kurzzeit für die Intifada, die mehrere Jahre gedauert hat. Für solche Tourismusbranche bis Juni 2021 verlängert. Das ist Ausfälle gibt es eine Liquiditätsrücklage, die unantast- wohl der Horizont, in dem wir nun planen müssen. Es bar ist; eine absolute eiserne Reserve. Diese Rücklage werden noch längere Zeit keine Gruppen ihren Weg in jetzt anzutasten, könnte den Bankrott bedeuten: wenn das Heilige Land finden. Doch der Tag wird kommen, etwa auf eine lange Corona-Krise wieder eine Intifada ganz gewiss, an dem wir einander wiedersehen werden. folgt. Diese Rücklage jetzt anzutasten, verbietet der Je- Dann wird der Stolz wieder überwiegen, dass wir unser rusalem-Orient-geeichte Hausverstand. Deshalb sind Sorgenkind gemeinsam gut durch diese Zeit gebracht wir – trotz guter Ausgangslange der letzten Jahre – auf haben. Spenden angewiesen. 2. Das Österreichische Pilger-Hospiz ist eine kirchliche Einrichtung, aber keine Einrichtung der Anmerkung: Das Zitat „Stolz und Sorgenkind“ Kirche. Hier gibt es ein Missverständnis. Wenn ich um findet sich bei Breycha-Vauthier, Arthur, Österreich in Hilfe bitte, höre ich oft: Die Kirche hat eh genug Geld, der Levante. Geschichte und Geschichten einer alten die sollen euch finanzieren. Freundschaft. Wien 1972. 9
Leitartikel Pilgerherberge AKADEMIE Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Reise nach Jerusalem „crowd-funding“ ermöglicht ein neues Buch und schenkt aus der Geschichte des Hau- ses Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Von M arkus S t . B ugnyár Foto: © ÖPH Von R edaktion J eder kennt das Kinderspiel „Reise nach Jerusa- lem“. Wir laufen im Kreis und wer am Ende kei- F ranz Joseph I. reist nicht gern; schon gar nicht zu nen freien Stuhl findet, scheidet aus. Wie die „Ses- Meere. Im Herbst 1869 aber muss es sein. Es selpolka“ zu ihrem Namen kam, ist nicht wirklich steht viel auf dem Spiel. Eben erst war ein Krieg geklärt. Die einen denken an die Zeit der Kreuzzüge, verloren und die Donaumonarchie muss sich neu erfin- andere an den Beginn der zionistischen Bewegung im den. Ihr Schwerpunkt verlagert sich in Richtung der 19. Jahrhundert. Unbestritten ist dabei: Jerusalem, die ungarischen und slawischen Völker. Der Deutsche Bund Heilige, ein Sehnsuchtsort, von dem jeder schon von zeigt Risse; Frankreich bekundet Interesse, der neue Kindesbeinen an gehört hat. Partner an Habsburgs Seite zu sein. In diesem Moment lädt Ismail von Ägypten zur feier- Die Reise Kaiser Franz Josephs in den Orient hatte lichen Eröffnung des Suez-Kanals. Europas Adel, Wür- einen konkreten Anlass: Die Eröffnung des Suez-Kanals denträger, Künstler und Literaten machen sich in Scha- im November 1869, zu der der ägyptische Vize-König ren auf den Weg zu diesem welthistorischen Spektakel im Ismail die europäischen Würdenträger eingeladen hat- Orient. Die Deutschen schicken ihren Kronprinzen - und te. Es sollte die längste Auslandsreise im Leben Franz die Österreicher übertrumpfen sie mit ihrem Kaiser. Josephs bleiben und der für die Entwicklung unseres Auf dem Weg liegt das Heilige Land; Jerusalem, Pilger-Hospizes wohl folgenreichste Besuch eines Pil- die Heilige Stadt. Franz Joseph ist ergriffen, zu Tränen gers. Von nun standen die Pilgerreisen aus allen Regio- gerührt. Er zeigt sich als Pilger. Der erste christliche nen der Monarchie unter diesem Vorzeichen: Das Bei- Kaiser im Lande Jesu des Herrn seit Kreuzfahrertagen. spiel des Landesvaters nachahmend auf den Spuren Noch kann niemand ahnen, dass dieser Zwischen- Jesu wandeln, um den Glauben des einzelnen Pilgers stopp alles sein wird, woran sich die Nachwelt erinnern und die Einheit des vielfältigen Reiches zu festigen. Die- wird wollen. se Reise setzte in Österreich-Ungarn einen neuen Im- 150 Jahre nach der Erstveröffentlichung von P. puls für großangelegte Wallfahrten zu den biblischen Dr. Beda Dudiks, Kaiser-Reise nach dem Oriente, legt heiligen Stätten. der Rektor des Österreichischen Pilger-Hospizes in Je- rusalem, Markus St. Bugnyár eine kommentierte, illus- Einige Monate später erschien im Frühjahr 1870 trierte und durch weitere Quellen ergänzte Neuauflage der Reisebericht des mährischen Benediktinerpaters Dr. des voluminösen Werkes vor. In seinem Haus bezog Beda Dudík als großformatige Prachtausgabe. 150 Jah- Franz Joseph Quartier. re danach darf ich ihn nun kommentiert und illustriert neu vorstellen, verbunden mit der Hoffnung, dass wir uns zu unserer eigenen „Reise nach Jerusalem“ inspirie- 10
Leitartikel Pilgerherberge AKADEMIE Gastbeitrag Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Foto: © ÖNB Franz Joseph und seine Entourage im Garten des Palastes des ägyptischen Vize-Königs auf der Insel Gezirah ren lassen. Eine Werbung, wenn man so möchte, für in Kairo. unser Pilger-Hospiz, in dem der Kaiser mit seiner Be- gleitung Quartier nahm; besonders wichtig in einer Zeit, die uns in ungeahnter Weise daran erinnert, wie vorläufig und wenig selbstverständlich alles ist. Unser P. Beda ist kaisertreuer Historiograph und versier- Leben, unsere Bewegungsfreiheit, unser Wohlstand. ter Ethnologe, der die einzelnen Etappen dieser Reise Wohin sonst sollten wir uns wenden, wenn nicht zu den mit detailreichen Beschreibungen zu Land und Leuten, Worten Jesu in der Heiligen Schrift, an den Orten seines Kultur und Sitte erfüllt. So erfahren wir mehr über das Wirkens. Leben in der Hauptstadt des osmanischen Reiches und über die Gewohnheiten der Beduinen an seinen Rän- Mit großen Erwartungen war man aufgebrochen dern im damaligen Palästina und Ägypten. zu dieser Reise. Europa stand vor einschneidenden Ver- änderungen; eben erst war ein Krieg verloren worden, Niemand in der Suite des hohen Reisenden, auch Österreich musste sich neue Bündnispartner suchen dieser selbst nicht, konnte ahnen, dass von allen Ambi- und sich in den inneren Belangen des Reiches neu orien- tionen, die zu dieser Reise ermutigten, bald schon nur tieren. Da kam die Einladung nach Ägypten gerade noch der spirituelle Aspekt der „Reise nach Jerusalem“ recht; alles mit Rang und Namen machte sich auf den übrigbleiben sollte. Alle anderen Hoffnungen politi- Weg zu diesem historischen Spektakel mit traumhaften scher und wirtschaftlicher Natur hatten sich durch wirtschaftlichen Implikationen. Der Suez-Kanal sollte Kriege und Umstürze in Deutschland, Frankreich und den Handel zwischen Asien und Europa beflügeln und Ägypten in den folgenden Jahren schnell zerschlagen. neuen Reichtum in die alte Welt bringen; vor allem dem österreichischen Hafen in Triest wünschte man hier re- Ob wir Heutigen das nicht auch als Fingerzeig le- gen Zuwachs. Im Wettlauf der Mächte, vor allem mit sen können bei allem Erfolg und Misserfolg, bei allem und gegen Preußen, musste der Kaiser selbst in Er- Auf und Ab unseres Lebens, das wesentliche und tra- scheinung treten. gende Fundament allen Seins nicht aus dem Blick zu verlieren: Das Vertrauen auf Gott, der alles zu einem Wir sehen Franz Joseph in den östlichsten Gebie- guten Ende führen wird, auch wenn es sich uns nicht ten seines Reiches, erleben seine Bewunderung für die sofort erschließt und wir durch manche Talsohle des Reste antiker Kultur in Athen und Konstantinopel, er- Lebens wandern müssen, bevor es wieder hell werden zittern mit ihm wenn die Wogen der stürmischen See kann in unserer Zeit. ihm nach dem Leben trachten, sinken in die Knie in der Heiligen Stadt, gehen zur Jagd am Jordan, tanzen auf Bällen und empfangen die Honoratioren seiner Unterta- nen und Gastgeber, reiten mit der Kaiserin der Franzo- sen durch die Wüste, erklimmen die Pyramiden von Gi- zeh und begegnen Sisi bei der Heimfahrt über Triest. 11 Foto: © ÖPH
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Zur tripolaren Treue der Verkündigung des Jesus von Nazareth Seit den 70er-Jahren erschallt in der Kirche der Ruf nach einer „neuen Sprache“ in der Verkündigung. Doch die Erosion des kirchlich-formatierten Glaubens geht trotz zahlreicher ambitionierter Modernisierungsversuche ungebrochen weiter. Laut Österreichischer Wertestudie 2018 glauben sogar zunehmend mehr Katholiken nicht mehr an die Auferstehung oder Jesus Christus als den Sohn Gottes. Die Übernahme von Jugend-Dialekten, die Wahl mehr oder weniger geglückter Metaphern aus der modernen Lebenswelt, der Ersatz des Evangeliums durch Texte vom Dalai-Lama erweisen sich als weniger fruchtbringend denn erhofft. Von R egina P olak Woran liegt das? Religiöse Sprache will deshalb auf der Basis religi- öser Erfahrung durchdacht werden. Sie muss im Leben durchlebt, durchlitten, durchdacht sein. Sprache und E ine der Ursachen liegt im Verständnis von Spra- Denken hängen untrennbar zusammen. Zum Denken che. Moderne Menschen haben zumeist ein gehören nach Hannah Arendt das Be- und Hinterfra- technisches Sprachverständnis: Sprache diene gen, das Zweifeln, das Unterscheiden, das Darüber-Hi- der Übermittlung von Informationen. Dies begünstigt nausdenken. Sinn und Bedeutung religiöser Sprache er- die irrige pastorale Vorstellung, man müsse zur „Ver- schließen sich dabei nur im Kontext konkreten Lebens mittlung“ die Inhalte nur modern verpacken und könne und Handelns. Sie erschließen diese und werden von so über den Glauben informieren. ihnen erschlossen. Deshalb führt das Erklären von reli- giösen Begriffen ebenso wenig zum Glauben wie die Religiöse Sprache ist aber keine Sprache der In- Vorgabe von fixen Definitionen. Beides mag Vorstellun- formation, sondern der Trans-Formation: Sie zielt auf gen von Gott nähren, bringt aber nicht mit Gott selbst die spirituelle Verwandlung des Menschen. Unsere gro- in Berührung. Entscheidend ist der Dialog zwischen ge- ßen theologischen Worte beschreiben keine objektiv- lebtem und geglaubtem Glauben. materiell vorliegenden Sachverhalte, sondern ver-dich- ten in Sprach-Symbolen tiefe Glaubenserfahrungen aus Es genügt also nicht, Glaubensinhalte mit moder- Jahrhunderten. Sie können und sollen die Beziehung zu nen Wörtern zu umkleiden. So werden sie niemanden Gott stiften und stärken. Sie bedürfen der Übersetzung berühren. Ohne Erfahrungsbasis im konkreten Leben, und Verflüssigung. ohne Handlungskontext bleibt jedes Dogma leer und bedeutungslos, mag es noch so wahr sein. Entscheidend ist, dass der Redner Menschen in einen nachvollziehba- ren Denk- und Erfahrungsprozess miteinbezieht und mit ihnen in Dialog tritt. Dabei kann der innere, ver- dichtete Sinn religiöser Sprache wieder flüssig werden. Die großen Glaubensworte müssen dabei keinesfalls verschwiegen werden. 12
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung ZUR PERSON Regina Polak, geb. 1967 in Wien, ist Assoziierte Professorin und Institutsvorständin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theo logischen Fakultät der Universität Wien. Sie studierte Katholische Theologie und Philoso phie in Wien und spirituelle Theologie im Inter religiösen Prozess in Salzburg. Ihre For schungsschwerpunkte sind Religion und Migration, Werteforschung, sozioreligiöse Transformationsprozesse in Europa und deren Bedeutung für die Kirche, Interreligiöser Dialog. Foto: © Joseph Krpelan Wie verkündigt also Jesus von Das biblische Sprachverständnis Nazareth? Dieser enge Zusammenhang zwischen Sprechen Als Jude lebt Jesus aus diesem biblischen Sprach- und Denken, Leben und Handeln ist bereits in der Hei- verständnis. Dabei lassen sich drei Quellen erkennen, ligen Schrift bezeugt. Das hebräische Wort dabar be- aus denen seine Verkündigung ihre Kraft bezieht. deutet zugleich Wort und Tat. Das Wort handelt – die Tat spricht. Dazwischen sollte nachgedacht werden. 1) Jesus lebt in der und aus der Thora. Er zitiert Dann können Wort und Tat einander wechselseitig er- sie, er lernt sie, er interpretiert und lebt sie in Wort und schließen. Das Wort wird zum „Sprach-Ereignis“. Es Tat. Kein Jota, nicht der kleinste Buchstabe wird verge- wird zum Ausdruck der ganzen Person. hen (Mt 5,18). Er hält sich an die jüdischen Normen Laut biblischem Zeugnis ist diese untrennbare und Regeln und feiert alle Feste. Verbindung zwischen Wort und Tat nur bei Gott in Fül- le gegeben. Wenn er spricht, handelt er. Sein Wort er- 2) Jesus ist mit seiner Umgebung vertraut. Er schafft die Welt. Seine Taten geben Zeugnis von ihm. Sein kennt das Leben der Menschen nicht nur vom Hörensa- Wort wird in Jesus Christus Fleisch. Im Leben des Jesus gen, er lebt mit ihnen. Ausgehend von dieser tiefen Ver- von Nazareth werden Gottes Wort und Tat erkennbar. bundenheit mit den Menschen interpretiert er die Thora Bei Menschen ist diese Verbindung infolge ihrer freimütig im Horizont der Gegenwart. Die Tradition Endlichkeit und Sünde oft gebrochen. Die Suche nach wird dabei nicht auf die Situation appliziert, sondern der Übereinstimmung von Wort und Tat der Verkündi- erschließt und vertieft deren Verständnis. Dies ist bis gung ist eine Lebensaufgabe. Aber der Mensch hat kraft heute das Grundprinzip jüdischer Schriftauslegung und des Geistes Anteil an dieser Einheit von Wort und Tat, er auch der Praktischen Theologie. ist in gewissem Sinn Symbol und Träger des göttlichen Wortes. In der Verkündigung des Jesus von Nazareth, in 3) Zentrale Quelle seiner Rede ist die lebendige Got- der Wort und Tat untrennbar verbunden sind, wird dies tesbeziehung, aus der Jesus lebt und auf die er verweist. sichtbar und auch uns als Möglichkeit zugesagt. Immer wieder zieht er sich dazu zum Gebet zurück. Die Verkündigung Jesu erwächst also dem perma- nenten und treuen Dialog mit der Tradition, der Situa- tion und Gott. Dementsprechend vielfältig sind die For- men seiner Sprache. Er legt die Schrift aus, er erzählt Gleichnisse; trifft er auf Leidende, stellt er Fragen, Dä- monen weist er entschieden zurück. Jesus spricht kon- textsensibel. Das findet nicht immer Zustimmung, lässt aber niemanden kalt. 13
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Jesu Sprache lebt von der Authentizität. Sein Ja ist ein Ja, sein Nein ein Nein (vgl. Mt 5,37). Das bedeutet nun aber gerade nicht, dass er gleichsam „aus dem Bauch“ heraus spricht. Seine Worte sind vielmehr des- Manchen Christen fehlt dieses dialogische Verhält- halb so „echt“, weil sie einem durchdachten Zusam- nis in der Verkündigung. Anders als in der jüdischen menspiel der Quellen seiner Rede entspringen. Die Au- Tradition, die die Pluralität von Deutungen, Wider- thentizität hat ihren Ursprung in der Treue zu Gott, zu sprüche und den interpretatorischen Konflikt wert- den Menschen und zur Tradition. schätzt, haben sie Angst, Fehler zu machen. Sie tun sich Jesu Sprache zeugt von profunder Bildung. Seine schwer, die Spannung zwischen der Treue zu Gott, zur Auslegungen sind nicht abstrusen Eingebungen ge- Tradition und zu den Menschen zu halten, die den Geist schuldet. Sie zeigen, wie tief er in seiner Tradition be- der Verkündigung freisetzt. Diese tripolare Treue kön- heimatet ist. Er unterwirft sich dieser aber nicht, son- nen wir von Jesus als Prediger lernen. dern hat zu deren Texten ein freundschaftliches, intimes Verhältnis. Er steht – wie im Judentum üblich – im Di- alog mit ihr. Deshalb kann er in Treue und Freiheit die Fülle der Bedeutungen dieser Tradition freilegen. Feine Accessoires mit Tradition www.doppeladler-manufaktur.com 14
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung ZUR PERSON Theresia Heimerl, (*1971), Studien der Deut schen und Klassischen Philologie und Katholi schen Theologie in Graz und Würzburg, Dr.phil. et theol., seit 2003 ao. Professorin für Religions wissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz; Arbeitsschwer punkte: Europäische Religionsgeschichte, Körper-Geschlecht-Religion; Religion und Film. Foto: © Theresia Heimerl Jesus heute erzählen: eine Irritation Jesus war schon vieles in vielen Erzählungen während der letzten 2000 Jahre: König und Heerführer, zärtlicher Liebhaber und Feminist, Sozialrevolutionär und Kommunist, Esoteriker und Filmstar. Jede Zeit erzählt „ihren“ Jesus und jede Zeit hat gegenläufige Erzählungen, in denen verschiedene religiöse Bedürfnisse aufeinanderprallen. Die Jesus-Erzählungen sind gleichzeitig Erzählungen über ihre Erzähler und ihr Publikum. Von T heresia H eimerl W enn wir danach fragen, wie Jesus in unserer Zeit erzählt werden kann, fragen wir auch nach uns selbst und unserem Bild der Welt. seinen oder ihren „Personal Jesus“ pflegen, wie ihn die Was auf den ersten Blick auffällt: Die letzten großen Je- britische Band Depeche Mode 1989 so treffend besang. sus-Erzählungen liegen schon einige Jahrzehnte zurück. Es scheint, als hätte die Erzählung von Jesus das Schick- Jesus als gesellschaftlicher Revolutionär in schlechter sal aller anderen großen Erzählungen ereilt, deren Ende Gesellschaft, wie ihn der Wiener Theologe Adolf Holl François Lyotard 1979 ausgerufen hat. Vielleicht ist imaginierte, entsprang den bewegten 1960er-Jahren. auch die akademische Theologie nicht ganz unschuldig Auch die Erzählung von Jesus als sanftem Feministen an dieser Entwicklung. Seit Rudolf Bultmann wurde die und Beziehungstherapeuten, wie ihn die US-amerikani- Entmythologisierung in immer feineren historischen sche Theologin Carter Heyward in den 1980er-Jahren und philologischen Verästelungen betrieben, bis von entwarf, liegt mittlerweile fast 30 Jahre zurück. Selbst der Erzählung über Jesus, den Sohn Gottes aus Naza- die letzte große Aufregung um eine alternative Neuer- reth nur mehr Fragmente überblieben, aus denen sich zählung der Jesus-Geschichte hat reichlich Patina ange- eine wissenschaftliche Arbeit, aber keine große Erzäh- setzt: Die letzte Versuchung Christi in der Verfilmung lung mehr schreiben lässt. durch Martin Scorsese datiert aus dem Jahr 1988. Seit- dem ist es, von lokalen Diskussionen wie dem Karikatu- renbuch des österreichischen Zeichners Gerhard Hade- rer abgesehen, ruhig geworden. Jeder und jede darf 15
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung Wie also Jesus erzählen in unserer Zeit? Als Sohn Gottes, der Mensch geworden ist Als Auferstandenen Die Jesus-Erzählung beginnt mit der Weihnachts- geschichte, die bis heute die Menschen in ihren Bann Dass die Erzählung von Jesus eine Erfolgsgeschichte zieht. Die Pointe der Erzählung von Jesus ist die Inkar- im mehrfachen Sinn wurde, verdankt sie ihrem Ende. nation: Gott wird Mensch. Wer dieses Element weglässt, Wenn der gekreuzigte und gestorbene Jesus von den To- erzählt eine andere Geschichte, eine ohne Pointe. Die ten zurückkommen kann, ist nichts mehr unmöglich, Menschwerdung ist nicht nur Angelpunkt des Heils, wie nicht einmal der Sieg über den scheinbar unausweichli- Tertullian Anfang des 3. Jahrhunderts feststellte. Sie ist chen Tod. Jesus als Auferstandenen erzählen heißt, ihn auch das, was die Erzählung außergewöhnlich macht, nicht als vergangene Geschichte, sondern als Hoffnung, kein Drehbuchschreiber würde diesen „Twist“ auslas- als Versprechen zu erzählen. Jesus als Auferstandener sen. Jesus auf das Nachweisliche, das historisch Wahr- macht aus dem „Es war einmal…“ ein „Es wird sein“. scheinliche zu reduzieren heißt, ihn zum Niemand zu Nur mit Blick auf die Auferstehung macht es überhaupt machen, der seine Berühmtheit der gewieften Propa- Sinn, Jesus heute zu erzählen. Die Spuren in Bethlehem, ganda einer machtbewussten Institution verdankt. Je- in Nazareth, in Jerusalem wären schon längst vom Wind sus erzählen heißt, das bis dahin und heute für viele verweht und keiner Erinnerung mehr wert, wenn Jesus wieder Undenkbare zu erzählen: Einen allmächtigen nicht als Auferstandener mit dem Versprechen der Aufer- Gott, der freiwillig Mensch wird und als Mensch leidet stehung für uns erzählt worden wäre. Jesus heute als Auf- und stirbt. Diese Behauptung irritiert heute sogar brave erstandenen zu erzählen heißt, Hoffnung zu erzählen. Christinnen und Christen. Und diese Irritation kann Schlüssel des Erzählens werden. Jesus erzählen in unserer Zeit kann und sollte mehr sein, als bloß eine Geschichte aus der Vergangen- Als widersprüchliche heit fachkundig zu interpretieren und mehr, als Einzel- Persönlichkeit teile des Erzählten in aktuelle Diskurse einzupassen oder Jesus zur ahistorischen Metapher zu machen. Jesus Der Jesus, den uns die Evangelien präsentieren, ist erzählen heißt, nach vorne erzählen, von der Auferste- eine widersprüchliche Person. Damit sind nicht die Dif- hung her und auf die Auferstehung hin. Jesus erzählen ferenzen zwischen den Evangelien gemeint, sondern die hatte und hat ein hohes Irritationspotential und wäh- Person Jesus in ihren Aussagen und Handlungen. Jesus rend wir von jedem Werbespot dieses Irritationsmo- predigt von Schwertern, die zu Pflugscharen werden ment erwarten, soll die christliche Religion möglichst und will das Schwert bringen. Er lässt sich bewirten, bis niemand mehr irritieren, am wenigstens uns als ihre der Wein ausgeht und ihn seine Kontrahenten als Fres- Mitglieder. Jesus erzählen setzt voraus, dass sich Chris- ser und Säufer beschimpfen und verurteilt Reichtum tinnen und Christen von ihm irritieren lassen und die und Festmähler als geschlossene, habgierige Gesell- Geschichte nicht glätten, bis sie alle scheinbaren Zumu- schaften. Er redet vom Anbruch des Reiches Gott und tungen an die postmoderne Vernunft verloren hat und erteilt jenen, die es gleich errichten wollen, eine Absage. zum politisch korrekten Märchen geworden ist. Er lässt sich von einer unreinen Frau berühren und will seine eigene Mutter nicht kennen. Jesus erzählen hieß Jesus erzählen heißt, durch Unwahrscheinlichkei- oft, einen Jesus aus diesen Widersprüchlichkeiten her- ten und Unerwartetes zu irritieren und zu provozieren auszuarbeiten und alles Störende wegzulassen. Jesus in im Wortsinn, herauszurufen, aufgeweckt aus gesicher- unserer Zeit erzählen heißt vielleicht, gerade diese Irri- ten Erzählungen der Vergangenheit und in eine hoff- tationen stehen zu lassen. Weder Gott noch der Mensch nungsvolle Zukunft hinein. sind immer begreifbar, warum sollte es der Mensch ge- wordene Gott sein? 16
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung ZUR PERSON Prof. Dr. David Engels (*1979) ist Professor für Römische Geschichte an der Université libre de Bruxelles (Belgien) und seit 2018 am Instytut Zachodni in Posen (Polen) tätig. Er ist Leiter mehrerer geschichtlicher Forschungsprojekte und insbesondere an komparatistischer Geschichtsforschung interessiert. David Engels ist Autor mehrerer Bücher, darunter „Auf dem Weg ins Imperium“, das in mehrere Sprachen übersetzt und von der Süddeutschen Zeitung zum „Besten Sachbuch September 2014“ auserwählt wurde. Ihn interessieren die Foto: © David Engels abendländische Geistesgeschichte und Fragen der Identität Europas. Europas Erneuerung. Ein Traum? Von David Engels Man braucht nicht allein auf die Unruhen vom Juni 2020 zu blicken, als es unter dem Vorwand solida- E ine Erneuerung Europas aus dem Geist seiner rischer Protestmärsche gegen Rassismus und Fremden- jahrhundertealten christlichen Tradition – wie feindlichkeit nicht nur in den USA, sondern auch über- lange wird dieses Bild nun schon in verschie- all in Europa zu gewaltsamen Ausschreitungen kam, densten Kreisen beschworen? Und doch scheint es nicht welche nicht nur in Plünderung und physische Aggres- nur, daß wir dieser Hoffnung kaum einen Schritt näher sion mündeten, sondern eben auch in die systematische gekommen sind, sondern vielmehr sogar, daß wir uns Beschädigung und Zerstörung unseres abendländischen mehr und mehr von jenem Ziel entfernen. Der Grad der Kulturerbes. Schon seit Jahren, ja Jahrzehnten ist der sittlichen wie geistlichen Verwahrlosung des Westens er- Westen geprägt von einer tragischen inneren Selbstzer- reicht täglich neue, ungeahnte Ausmaße, und mittlerwei- fleischung, bei der auf seiten der „Progressiven“ die le sind nicht nur seine moralische Gesundheit und seine wertvollsten Traditionen des Abendlands – Nächsten- wirtschaftliche Stabilität bedroht, sondern auch sein liebe, Toleranz, Gewissenserforschung – sich von ihren Überleben als ein eigenständiger Kulturkreis – und zwar spirituellen Wurzeln abgelöst haben und sich nunmehr nicht nur, wie so oft und kontrovers in den Medien de- ohne transzendente Verankerung gewissermaßen selbst battiert, aufgrund der Masseneinwanderung aus dem au- ad absurdum führen, während auf der Seite der „Kon- ßereuropäischen Raum, sondern – erheblich schlimmer servativen“ eine gewisse rückwärtsgewandte Ratlosig- – aufgrund der inneren Ablösung der Europäer von ih- keit zu herrschen scheint und der Ungeist des Liberalis- rem christlichen Erbe und somit ihrem eigentlichen We- mus seine Früchte trägt, etwa dergestalt, daß auch hier sen. Freilich: Die abendländischen Traditionen speisen das allgemeine „Laissez-faire“ zum Gesellschaftsideal sich auch noch aus anderen als den christlichen Quellen geworden ist und moralische Normen sich nur noch da- – man denke hier nur an die antike Tradition –, und durch rechtfertigen, daß sie „niemandem schaden“ auch die Weltkirche hat den europäischen Rahmen oder einvernehmlich „verhandelt“ wurden. längst transzendiert und anderswo fruchtbare Wurzeln geschlagen. Aber europäisches Christentum und abend- Darauf zu hoffen, zwischen diesen beiden Extre- ländische Identität haben aus historischer Perspektiven men des Liberalismus, die sich politisch meist im Uni- so breite Schnittmengen, daß man für viele Jahrhunderte versalismus oder im Nationalismus niederschlagen, eine schon fast von einer Identität zu sprechen geneigt ist; und neue Mitte zu etablieren, die wir einmal mit dem Neolo- es ist deutlich, daß man das eine nicht entwurzeln kann, gismus „Hesperialismus“ bezeichnet haben und die sich ohne damit auch das andere zu zerstören. moralisch durch ein positives Bekenntnis zu den histo- rischen Traditionen des Abendlands und somit eben auch zum Christentum auszeichnet, politisch aber eine 17
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung konstruktive Vereinigung der abendländischen Natio- nen jenseits von EU-Bürokratie und nationalistischer Engstirnigkeit anstrebt, scheint daher auf den ersten Blick vergebens. Und doch: Die Zeichen mehren sich, die optimistisch stimmen können – optimistisch zwar nicht im Sinne einer grundlegenden Rückkehr zu jener den Umdenken erwächst: Ob es nun um die soziale Po- engen Verzahnung zwischen dies- und jenseitigem Le- larisierung geht, die Paralyse der politischen Institutio- ben, wie sie längst vergangene Jahrhunderte kennzeich- nen, das Risiko einer Minorisierung der christlichen nete, aber doch wenigstens im Sinne einer erneuten Bevölkerung im großstädtischen Raum, die desaströsen Stärkung jenes christlichen abendländischen Patriotis- Folgen des Raubbaus an unserer Umwelt, das Scheitern mus, ohne den unsere westliche Zivilisation und Le- des Bildungssystems, die gräßliche Banalisierung von bensart ganz dem Auslöschen geweiht wäre. Abtreibung und Euthanasie, die Risiken des Transhu- manismus oder die sittliche Verwahrlosung des allge- So sehen wir etwa im Bereich des privaten Lebens genwärtigen Konsumkults – zunehmend wird deutlich, gerade auch bei jüngeren Menschen Anzeichen dafür, in welcher gefährlichen Schieflage sich unsere Zivilisa- daß die oft von den Eltern des 1968er Umfelds empfan- tion befindet, und daß die Lösung nicht in einem ge- genen Werte als unzureichend empfunden werden, da mächlichen „Weiter so“ bestehen kann, sondern nur in sich ihre sozialen, politischen und kulturellen Verspre- einer fundamentalen Umkehr. chungen als schal, ja gar schädlich erwiesen haben. Freilich, die Zahl derer, die sich bewußt für eine Rück- Freilich: Wer sollte und könnte eine solche Um- kehr zur christlichen Transzendenz und zur kulturellen kehr bewirken, wo die real existierenden christlichen Tradition entscheiden, die zudem in vielen Fällen nicht Parteien doch zunehmend ihren eigentlichen Wesens- ererbt, sondern vielmehr neu entdeckt und hart erarbei- kern aufgegeben haben, und die sich mittlerweile als tet werden müssen, ist immer noch verschwindend ge- „wahre Konservative“ präsentierenden populistischen ring; doch wird zunehmend deutlich, daß Relativismus, Parteien in vielen Fällen bis auf eine schonungslose Be- Materialismus und Nihilismus auch in den nächsten Ge- standsaufnahme zahlreicher Gravamina nur mit wenig nerationen trotz allem keinen so vollständigen Sieg da- konstruktiven Lösungsmöglichkeiten aufzuwarten ha- vontragen werden, wie es vor einigen Jahren noch schei- ben? Wie sollen die einen ihre eigentliche Bestimmung nen mochte, sondern sich mit der Verfestigung und wiederfinden, nachdem sie sich über so viele Jahre hin- Radikalisierung jener Gegenwelt auch die Verfechter weg (meist sogar gegen den Widerstand ihrer Wähler) des Ursprünglichen neu organisieren und hartnäckig in Richtung des allgegenwärtigen Linksliberalismus be- bereit sind, ihr Erbe trotz aller Widrigkeiten den kom- wegt haben, während die anderen oft ganz in einer nos- menden Generationen zu übermitteln – und das viel- talgischen und nationalistischen Staatsvergötzung be- leicht mit einem größeren Verständnis seiner überzeitli- fangen sind, welche weder den politischen Realitäten chen Bedeutung als in vielen früheren Jahrhunderten des globalisierten 21. Jh.s gerecht wird, noch eine echte, oberflächlichen Kulturchristentums. absolute und somit jenseitige Verankerung erkennen läßt? Auch auf dem Feld des politischen Kampfes ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Zum einen bewirkt Doch „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende die bedrohliche Kumulation verschiedenster äußerer auch“. Schon seit einigen Jahren zeigt sich allmählich und innerer Konfliktpotentiale – seien sie wirtschaftli- die Einsicht, daß gerade jene, die den christlich-abend- cher, politischer, sozialer, demographischer, ökologi- ländisch Wesenskern beschützen wollen, dies nicht nur scher oder ethnisch-kultureller Art –, daß bei vielen auf nationaler Ebene, sondern auf europäischer Ebene Bürgern ein noch vor einigen Jahren fehlendes Bewußt- sein für die Schwere der Lage erwachsen ist, aus dem allmählich auch die Bereitschaft zu einem grundlegen- 18
Leitartikel Pilger herberge Akademie GASTBEITRAG Soziales Friedensdienst Chronik Betrachtung tun müssen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Vor- sche Richtung abgelenkt wird, ist kaum auszuschlie- bildwirkung der Visegrad-Staaten, welche durch ihre ßen, daß auch hier rasch eine neue Stimmung kulturel- enge Zusammenarbeit sowie die gemeinsame Betonung ler Erneuerung einziehen könnte, falls die äußeren des christlichen Erbes zeigen, daß auch jenseits von be- Gegebenheiten günstig stehen – und gerade hier könnte engter Nationalstaatlichkeit oder eurozentrischem Uni- sich, jenseits von Parteienklüngel und Programmen, versalismus Politik möglich ist; und die Entwicklungen und nur durch das persönliche Bekenntnis einer neuen der nächsten Jahre dürften diese Tendenz sicher noch Generation verantwortungsbewußter Staatslenker ge- vertiefen, wenn es wie erwartet zu Umstrukturierungen steuert, eine völlig neue, gleichsam „augusteische“ Ge- innerhalb der europäischen Parteienfamilie und einer legenheit ergeben, christliche Werte wieder stolz und möglichen Ausdehnung der Visegrad-Sphäre im Rah- ungebrochen in die Öffentlichkeit zu tragen, anstatt sie men des Trimariums-Projekts kommt: Angesichts der unter einer Flut selbstkritischer Schuldbeteuerungen, zunehmenden Krise Westeuropas ist daher kaum aus- unausgegorener Reformen, kulturellem Mitläufertum zuschließen, daß in einigen Jahren gerade der Osten als oder falschverstandener Toleranz zu ersticken. Anker der Stabilität gelten könnte und sich somit auch viele andere Parameter verlagern. Die soeben veröffent- Freilich: Vorläufig handelt es sich bei diesen Aus- lichte und lebhaft diskutierte polnische „Präambel für sichten noch um Zukunftsmusik, und um eine gefährli- eine Konföderation europäischer Nationen“ könnte ein che noch dazu: Gefährlich, denn es steht wohl zu erwar- erstes Indiz sein, in welche Richtung ein solches neues ten, daß die kommenden Monate und Jahre nicht etwa Grundbild europäischer Zusammenarbeit tendieren von einem friedlichen inneren Umdenken geprägt sein könnte, deren Vorbild eher in der staatlichen Subsidi- werden, sondern sich zunächst einmal die schon fast arität und überzeitlichen Verankerung des Sacrum Im- unkontrollierbar aufgestauten Probleme, Konflikte und perium läge als im jakobinischen Zentralismus und La- Aggressionen entladen müssen, wie die immer größere izismus. Häufigkeit und Gewalttätigkeit jener Unruhen nahe- legt, die zunehmend die europäischen Großstädte er- Zudem ist festzustellen, daß die Zeit der klassi- schüttern und angesichts der völlig unzureichenden po- schen Parteien ohnehin vorbei ist, wie der kometenhafte litischen, seelischen und institutionellen Abwehrme- Aufstieg des gegenwärtigen französischen Präsidenten chanismen unserer Zivilisation wohl bald zur Tagesord- und der zunehmende Zerfall der klassischen Linkspar- nung gehören werden, bis schließlich der Becher bis zur teien demonstrieren: Angesichts des augenscheinlichen Neige gekostet sein wird. Freilich, es liegt an jedem ein- Scheiterns der repräsentativen Parteiendemokratie zelnen von uns, durch sein Reden und Handeln diese steigt beim Bürger angesichts eines schwerfälligen und Entwicklung so zu begleiten und zu steuern, daß das ideologisch meist recht austauschbar wirkenden Appa- Schlimmste verhütet werden mag und jene „Jahre der rats der Unmut, während gleichzeitig die Sehnsucht Entscheidung“ von einem freiwilligen Umdenken und nach unmittelbaren menschlichen Vorbildern wächst – einer einvernehmlichen Neuordnung Europas abge- eine Entwicklung, die zwar durchaus gefährlich ist, be- schlossen werden und nicht einem Diktat nackter Ge- denkt man die Verwirrungen, die leicht durch die An- walt. Dazu gilt es aber, jetzt schon die Weichen zu stel- ziehungskraft charismatischer Persönlichkeiten in len und sowohl im privaten Umfeld als auch im Zeiten der Krise hervorgerufen werden können, der politischen Miteinander die eigenen Ideale aus dem gleichzeitig aber auch ein großes Potential für eine ra- Geist christlichen Glaubens und abendländischer Tra- sche Transformation politischer Strukturen innewohnt, dition heraus zu leben und ihnen pragmatisch und rea- welche aus heutiger Perspektive noch unwandelbar listisch Raum zur neuen Verwirklichung zu verschaf- scheinen mögen. Und bedenkt man die zunehmende, fen. schon fast atavistisch zu nennende Sehnsucht vieler Menschen nach Ordnung, Klarheit und Tradition, wel- I David Engels, Eine Utopie für Europa, in: Cicero 2019.4. 28-29. Vgl. hierzu David Engels, Was tun? Leben mit dem Niedergang Europas, che freilich zur Zeit noch wesentlich vom Angebot der II Bad Schmiedeberg, 2020. Konsumkultur verdeckt bzw. in eine rein materialisti- III David Engels, Wir Europäer, in: Die Tagespost 5.6.2020 (https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/wir-europaeer;art310,208739). IV David Engels (Hg.), Renovatio Europae. Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas, Berlin 2019. V S. David Engels, Auf dem Weg ins Imperium, Berlin 2014. 19
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