Journal - Giornale 3 /2016 - Retina Suisse

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Journal - Giornale 3 /2016 - Retina Suisse
Retina Suisse

              Journal - Giornale
              3/2016                         erscheint 3 Mal jährlich

               Die Selbsthilfeorganisation von Menschen mit Retinitis pigmentosa (RP),
               Makuladegeneration, Usher-Syndrom und anderen degenerativen
               Netzhauterkrankungen

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Journal - Giornale 3 /2016 - Retina Suisse
Impressum

      Redaktion:
        Christina Fasser, Renata Martinoni, Uta Buh
        Retina Suisse, Ausstellungsstrasse 36, 8005 Zürich
        Tel. 044 444 10 77, Fax 044 444 10 70
        E-mail info@retina.ch, www.retina.ch

      Satz:
        Werner Schrumpf AG, 8123 Ebmatingen

      Druck:
        Roda Fratelli SA, Taverne (TI)

      Hörzeitschrift:
        CAB, Landschlacht

      Jahresabo:
        Der Bezugspreis ist im Mitgliederbeitrag enthalten

      Erscheinungsform:
        Deutsch, Französisch, Italienisch gedruckt und ge-
        sprochen

      Postkonto 80-1620-2
        IBAN CH42 0900 0000 8000 1620 2
        Wir sind für jede Spende dankbar!

      Nr. 130, Dezember 2016

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Journal                  3/2016

 Agenda
10. März 2017
Wenn das Auge krank wird – Öffentliche Veranstaltung –
Eintritt frei
Messe Luzern Forum 2/3 Horwerstr. 87 6005 Luzern

22. April 2017
Generalversammlung von Retina Suisse in Freiburg

Selbsthilfegruppen-Treffen für Menschen mit erblichen
Netzhautdegenerationen und mit Retinitis pigmentosa
(RP):
13.03.2017, 03.04.2017, 15.05.2017, 12.06.2017
(18:00 - 20:15 Uhr), Zürich

Gesprächsgruppen für Menschen mit AMD gibt es in ver-
schiedenen Ortschaften der Deutschschweiz
(www.retina.ch/Selbsthilfe)

Genauere Angaben unter www.retina.ch (Veranstal-
tungen, Selbsthilfegruppen) oder telefonisch bei der
Geschäftsstelle Tel. 044 444 10 77. Zu gegebener Zeit
werden auch persönliche Einladungen verschickt.

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   1
Inhalt

Editorial ..................................................................... 4

Wir gratulieren ...................................................... 6
  Albrecht-von-Graefe-Medaille für
  Professor Eberhart Zrenner ....................................... 6
  Retinitis pigmentosa-Forschungspreis 2016 für
  Dr. rer. nat. Elvir Becirovic ......................................... 10

Aus Medizin und Forschung .......................... 14
  Farbwahrnehmung: Hormone verändern das Sehen
  (K. Langhammer) ............................................................... 14
  Altersbedingte Makuladegeneration: Neue Therapien
  in der Pipeline (A. Mende) ............................................... 17
  Training des exzentrischen Sehens bei Makula-Er-
  krankungen: Auswirkungen auf das Gehirn?
  (M.W. Greenlee/T. Plank) .................................................. 21
  Photorezeptor-Transplantation: Mechanismus zur
  Verbesserung der Netzhautfunktion anders als bisher
  angenommen .................................................................... 25

Leben mit ... .................................................................. 27
  Bericht von der 18. Retina International-Konferenz
  in Taipeh (S. Hüsler) ................................................... 27
  Charles Bonnet-Syndrom – Interview mit Agnes
  Forster (J. Seiler) ........................................................ 34
  Wir stellen vor: Sehbehindert, dafür sprachgewandt
  (U. Buhl) ...................................................................... 40

 2        Retina-Suisse-Journal  3 -2016
Mit der Hand auf der Schulter meines Freundes Harald
  um die halbe Welt (K. Schorn/H. Kalf) ........................ 43
  Punktschrift ist heute notwendiger denn je!
  (C. Cloux) ................................................................... 47
  Die Einführung selbstfahrender Autos vorbereiten
  (J. Favre) ..................................................................... 52
  Tageszeitungen auch ohne Computerkenntnisse
  konsumieren (J. Seiler) ............................................. 55

Hilfsmittel ............................................................... 57
  Der E-Kiosk wird zum Audioplayer (R. Roth) .......... 57
  Neu im elektronischen Kiosk .................................... 58

Lesetipps ................................................................. 60
  Infobrochure über klinische Studien ............................. 60
  Blind Date – Wenn Liebe sehen lässt (I. Tyarks) ........... 61

Apropos: Die Präsidentin hat das Wort .................... 63

                                        Retina-Suisse-Journal  3 -2016           3
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser

Schon hat wieder ein neues Jahr begonnen. Und die
Weihnachtszeit liegt hinter uns. Ein volles Jahr ging für
uns und Retina Suisse zu Ende. Viele Veranstaltungen,
eine reich befrachtete Generalversammlung, Besuche
in den Labors und eine Premiere: Die ersten zwei klini-
schen Versuche für erbliche Netzhautdegenerationen
beginnen am Hôpital Jules-Gonin in Lausanne. Als Reti-
na Suisse 1979 gegründet wurde, wagte dies niemand
zu hoffen. Nur die idealistischen Patienten und Patien-
tinnen der Gründergeneration hegten immer irgendwo
in ihrem Herzen, dass dies doch wahr werden würde.

Nach mehr als 35 Jahren trafen sich die ehemaligen
Vorstandsmitglieder zu einem gemütlichen Zusam-
mensein und Austausch. Da wurde uns allen bewusst,
wie weit wir gekommen sind. Heute gibt es weltweit
mehr als 20 Therapieversuche für erbliche Netzhautde-
generationen. Das Feld der Gentherapie «explodiert«
richtig gehend. Dies ist extrem ermutigend und doch,
wie immer im Leben, ein Wort der Vorsicht ist geboten.
Auch wenn diese Entwicklungen zu Hoffnung Anlass
geben, die Forschung braucht Zeit. Wir können uns
nichts Schlimmeres vorstellen, als dass eine Genthe-
rapie registriert wird und dann aber mangels nachge-
wiesener Wirksamkeit von den Versicherungen nicht
bezahlt wird. Oder noch schlimmer: Die Therapie ist da,
wird bezahlt, aber die Patienten und Patientinnen sind

4      Retina-Suisse-Journal  3 -2016
unbekannt, da sie nicht genotypisiert wurden. Wie Sie
sehen, wartet auf Retina Suisse noch viel Arbeit und
Informationstätigkeit.

Ganz unbeachtet sind zwei Jubiläen an uns vorbeige-
gangen: Vor 25 Jahren eröffnete die Retina Suisse am
1.9.1991 die Geschäftsstelle in Zürich und Daniela Ca-
pelli war als erste Mitarbeiterin dabei und ist es immer
noch! Auch unser «Hauptsponsor», der Schweizerische
Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, der uns den
Start ermöglichte, unterstützt uns immer noch grosszü-
gig. Für die langjährige Treue und tolle Zusammenar-
beit möchte die Redaktion beiden, Daniela Capelli und
dem SBV, herzlich danken.

Therapieversuche lassen Menschen mit erblichen Netz-
hautdegenerationen mit Recht hoffen. Aber bis es so
weit ist, geht das Leben mit einer Sehbehinderung wei-
ter. Dass dieser Weg nicht immer einfach ist, wissen wir
alle aus eigener schmerzhafter Erfahrung. Dass aber am
Ende des Tunnels Licht ist, haben viele erfahren. Nutzen
wir die dunkle Jahreszeit, um uns mit anderen zu tref-
fen, auszutauschen und zuzuhören. Dabei darf aber das
Feiern nicht vergessen werden.

Wir wünschen Ihnen allen ein glückliches neues Jahr
mit vielen schönen Begegnungen mit Familie, Freunden
und Unbekannten. Mit den besten Wünschen

Christina Fasser, Uta Buhl und Renata Martinoni

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   5
Wir gratulieren
Albrecht-von-Graefe-Medaille für Professor
Eberhart Zrenner

Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG)
zeichnet Professor Dr. med. Dr. h.c. mult. Eberhart
Zrenner mit der Albrecht-von-Graefe-Medaille aus.
Neben zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zu
Funktion und Erkrankungen der Netzhaut hat er
massgeblich das elektronische Retina-Implantat ent-
wickelt. Es ermöglicht blinden, an Retinitis pigmento-
sa erkrankten Patienten ein orientierendes Sehen in
Schwarz-Weiss-Bildern. Die Albrecht-von-Graefe-Me-
daille ist die höchste Auszeichnung, die die DOG nur
alle zehn Jahre für ausserordentliche Verdienste um
die Augenheilkunde vergibt. Die Verleihung fand im
Rahmen des 114. Kongresses der DOG am 1. Oktober
2016 in Berlin statt.

Eberhart Zrenner wirkte von 1989 bis 2013 als Or-
dinarius an der Universitäts-Augenklinik Tübingen.
In dieser Zeit widmete er sich vor allem den erbli-
chen Netzhauterkrankungen und baute als Grün-
dungsdirektor das international anerkannte For-
schungsinstitut für Augenheilkunde auf, das sich den
zellbiologischen, molekulargenetischen und elekt-
rophysiologischen Grundlagen des Fachs widmet.
Seit 2013 leitet er als Seniorprofessor am Centrum

6     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
für Integrative Neurowissenschaften der Universität
Tübingen eine Arbeitsgruppe zur Pathophysiologie
des Sehens, die am Department für Augenheilkunde
angesiedelt ist.

«Es ist Eberhart Zrenner zu verdanken, dass wir die
Ursachen der Blindheit bei jungen Menschen mit
erblichen Netzhauterkrankungen überhaupt erst
verstehen und einer Behandlung zugänglich machen
konnten», erklärt Professor Dr. med. Horst Helbig,
Präsident der DOG. Damit habe Zrenner ein Tor nicht
nur zur Genforschung aufgestossen, sondern auch
den Boden bereitet für neue Therapieansätze wie
Genersatztherapie und Neuroprotektion. «Eberhart
Zrenner trägt einen grossen Anteil daran, dass die
Augenheilkunde eine Vorreiterrolle in der Biomedi-
zin erringen konnte», betont Helbig. So konnte auf
Grundlage der Arbeiten der Tübinger Forschergruppe
sowie der Partner an der Ludwig-Maximilians-Univer-
sität München im vergangenen November in Tübin-
gen die erste deutsche Gentherapie am Auge starten.
«Eberhart Zrenner darf nun erleben, wie seine Arbeit
sichtbare Früchte trägt und für Krankheiten erste er-
folgreiche Therapien entstehen, die zu Beginn seiner
Laufbahn wie ein ferner Traum erschienen», erklärt
der DOG-Präsident.

Zu Zrenners grössten Verdiensten gehört die Entwick-
lung eines elektronischen Implantats für erblindete
Patienten, die unter der erblichen Netzhauterkran-

                         Retina-Suisse-Journal  3 -2016   7
kung Retinitis pigmentosa leiden und für die er seit
1989 bis heute eine Spezialsprechstunde an der Tü-
binger Augenklinik betreibt. Dabei setzen die Chirur-
gen einen winzigen Kamera-Chip unter die Netzhaut
ein, der Schwarz-Weiss-Bilder mit einer Auflösung
von 1.500 Pixeln liefert und über ein Verbindungska-
bel zu einer kleinen Empfangsspule hinter dem Ohr
mit Strom versorgt wird. Der Chip ist inzwischen zer-
tifiziert und an mehreren deutschen Zentren als Kas-
senleistung zugelassen. Die Ergebnisse der Sehpro-
these variieren – manche Patienten können wieder
grössere Buchstaben lesen, andere Gebäudeumrisse
erkennen oder zumindest Lichtquellen identifizieren.
Voraussetzung für ein solches Implantat: Die Pati-
enten müssen früher einmal gesehen haben können
und über eine intakte innere Netzhaut verfügen. «Die
Idee, ein elektronisches Implantat zu entwickeln,
wurde zunächst als irrwitzig abgetan», erinnert sich
Zrenner. Doch das frühere Studium der Elektrotechnik
half dem heute 70-jährigen Wissenschaftler, sein Kon-
zept hartnäckig weiter zu verfolgen. «Als alter Elekt-
ronikbastler ist mir klar geworden, dass es doch mög-
lich sein könnte», berichtet Zrenner und bilanziert:
«In Bezug auf wissenschaftliche Durchbrüche muss
man in Zwanzig-Jahren-Horizonten denken – und
man braucht ein eingeschworenes Team mit vielen
unterschiedlichen Fähigkeiten.»

Aussergewöhnlich ist auch der Einsatz des gebür-
tigen Münchners für die Forschungsförderung in

8     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
der Augenheilkunde. Über viele Jahre war Zrenner
Fachkollegiat für Augenheilkunde bei der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, und er ist Vorsitzender des
European Vision Institute. Darüber hinaus wurde
Zrenner in zahlreiche renommierte Wissenschaftsein-
richtungen wie die Leopoldina, den Senat der Max
Planck-Gesellschaft, den Wissenschaftsrat und den
Gesundheitsforschungsrat berufen. Er hat ein DFG-
Schwerpunktprogramm, eine DFG-Forschergruppe
und einen Sonderforschungsbereich geleitet und war
zweimal Dekan der Tübinger Medizinischen Fakultät.

Die Albrecht-von-Graefe-Medaille ist die höchste Aus-
zeichnung, die die DOG vergibt und wird laut Statu-
ten alle zehn Jahre «demjenigen zuerkannt, der sich
unter den Zeitgenossen – ohne Unterschied der Nati-
onalität – die grössten Verdienste um die Förderung
der Ophthalmologie erworben hat.» Die Auswahl
erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren und wurde
durch die DOG-Mitgliederversammlung bestätigt.
Albrecht von Graefe entwickelte 1857 eine neue Ope-
rationsmethode bei Grünem Star. Erster Träger der
Albrecht-von-Graefe-Medaille war 1886 Hermann von
Helmholtz, der den Augenspiegel zur Untersuchung
des Augeninneren erfand.

Im Anschluss an die Verleihung hielt der ehemalige
Ordinarius der Universitäts-Augenklinik Tübingen
und jetzige Sprecher des Tübinger Zentrums für Neu-
rosensorik die Albrecht-von-Graefe-Gedächtnisvorle-

                         Retina-Suisse-Journal  3 -2016   9
sung zum Thema «Augenheilkunde als medizinische
Leitdisziplin».

Auch bei Retina Suisse ist Prof. Zrenner kein Unbe-
kannter, war er doch häufig Redner an den Retina
Suisse-Konferenzen und Generalversammlungen. Als
langjähriger Vorsitzender des wissenschaftlich-medi-
zinischen Beirats der Retina International hat er vie-
les bewegt und in Bewegung gebracht. Dafür danken
wir ihm herzlich!

Quelle: Pressemitteilung der DOG [1]

Links aus diesem Beitrag:
[1] http://www.dog.org/wp-content/
uploads/2016/03/Web-PM-DOG-Kongress-Zrenner-
September- 2016_F.pdf

 Retinitis pigmentosa-Forschungspreis 2016 für
 Dr. rer. nat. Elvir Becirovic

Der diesjährige RP-Forschungspreis der PRO RETINA
Deutschland e. V. und der Retina Suisse ist im Rahmen
des 114. Kongresses der Deutschen Ophthalmologi-
schen Gesellschaft (DOG) in Berlin an Herrn Dr. rer. nat.
Elvir Becirovic vom Department für Pharmazie der Lud-
wig-Maximilians-Universität München (LMU) vergeben
worden.

10     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
Der Preis wurde zuerkannt für drei miteinander verbun-
dene Publikationen zum Thema «Physiologie und Pa-
thophysiologie von Peripherin-2 (PRPH-2)».

 * Becirovic, E., S. Bohm, O.N. Nguyen, L.M. Riedmayr,
		 M.A. Koch, E. Schulze, S. Kohl, O. Borsch, T. Santos-
		 Ferreira, M. Ader, S. Michalakis, and M. Biel. 2016.
		 In Vivo Analysis of Disease-Associated Point Muta
		 tions Unveils Profound Differences in mRNA Splicing
		 of Peripherin-2 in Rod and Cone Photoreceptors.
		 PLoS Genet. 12:e1005811.
 * Nguyen, O.N., S. Bohm, A. Giessl, E.S. Butz,
		 U. Wolfrum, J.H. Brandstatter, C. Wahl-Schott,
		 M. Biel, and E. Becirovic. 2016. Peripherin-2 differen
		 tially interacts with cone opsins in outer segments
		 of cone photoreceptors. Hum. Mol. Genet.
 * Becirovic, E., O.N. Nguyen, C. Paparizos, E.S. Butz,
		 G. Stern-Schneider, U. Wolfrum, S.M. Hauck,
		 M. Ueffing, C. Wahl-Schott, S. Michalakis, and
		 M. Biel. 2014. Peripherin-2 couples rhodopsin to the
		 CNG channel in outer segments of rod photorecep
		 tors. Hum. Mol. Genet. 23:5989-5997.

Die drei Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage, wes-
halb Punktmutationen im sogenannten PRPH-2-Gen
eine unterschiedliche «Durchschlagkraft» (Penetranz)
in Stäbchen und Zapfen aufweisen. Mutationen in die-
sem Gen gehören zu den häufigsten Ursachen für be-
stimmte Formen der Retinitis pigmentosa (autosomal
dominant), die allerdings mit ganz unterschiedlichen

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Merkmalen auftreten kann, so dass keine klare Bezie-
hung zwischen Genotyp und Erscheinungsbild (Geno-
typ-Phänotyp-Korrelation) möglich ist. Den Arbeiten
von Herrn Dr. Becirovic liegt die Hypothese zugrunde,
dass es unterschiedliche Interaktionspartner in den
Aussensegmenten von Stäbchen und Zapfen gibt, die
sich je nach Lokalisation bestimmter Peripherin-2-Punkt-
Mutationen unterschiedlich auswirkt. Dr. Becirovic hat
diese Frage in Photorezeptoren von Mausmodellen mit
Hilfe von eigens konstruierten PRPH-2-Minigenen syste-
matisch untersucht. So konnte er zeigen, dass Periphe-
rin-2 mit den unterschiedlichen Opsinen (Proteinanteil
des Sehpigments) der Zapfen und Stäbchen interagiert.
Mit weitergehenden Untersuchungen konnte bei einer
bestimmten Maus-Mutante gezeigt werden, dass diese
Punktmutation zu einer spezifischen Störung und zu
einem bestimmten Krankheitsbild führt.

Diese Studien-Ergebnisse liefern neuartige Einsichten in
die Physiologie und Pathophysiologie von Peripherin-2
in Stäbchen und Zapfen der Netzhaut und weisen auch
auf neue Regulationsfaktoren hin. Die Ergebnisse legen
auch nahe, dass eine überhöhte Zahl von Genkopien
(Überexpression) von Peripherin-2 toxische Effekte ver-
mitteln könnte, die eine Genersatztherapie zur Behand-
lung von PRPH-2-vermittelten Zapfendystrophien sehr
schwierig machen würde.

Die Originalveröffentlichungen von Hr. Dr. Becirovic
sind damit von sehr hoher wissenschaftlicher Qualität

12     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
und haben grosse Bedeutung für die zukünftigen Stra-
tegien von Behandlungen der erblichen Netzhautdys-
trophien.

Dr. Becirovic hat in Köln Biologie studiert und am De-
partment für Pharmazie (Center for Drug Research) der
Ludwig-Maximilians-Universität München 2010 zum Dr.
rer. nat. promoviert. Seither ist er als Nachwuchsgrup-
penleiter in dieser Abteilung tätig. Mit seinen Leistun-
gen gehört er eindeutig zum hoffnungsvollsten wissen-
schaftlichen Nachwuchs im Bereich der experimentellen
Forschung, die auf das Verständnis von Krankheitsme-
chanismen bei degenerativen Netzhauterkrankungen
und deren Therapie ausgerichtet ist.

Retina Suisse und die PRO RETINA Deutschland e. V.
wünschen Herrn Dr. Elvir Becirovic viel Erfolg bei seiner
weiteren Arbeit an der LMU München und gratulieren
ihm herzlich zu dieser Ehrung, die mit einer Barsumme
von 2’000 Euro sowie der Finanzierung eines Kongress-
aufenthaltes in Übersee (im Wert von weiteren 1’500 €)
verbunden ist.

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Aus Medizin und Forschung
 Farbwahrnehmung: Hormone verändern das Sehen

Karin Langhammer, Pro Retina News

Dass Schilddrüsenhormone das Farbsehen beeinflus-
sen, überrascht. Genau dieses Phänomen erkundet
ein Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen
(UDE) in einer grossen Studie. Neue Erkenntnisse
wurden jetzt im Magazin «Frontiers in Cellular Neu-
roscience» veröffentlicht. Diese Arbeit wurde finan-
ziert durch die PRO RETINA-Stiftung zur Verhütung
von Blindheit [1].

Ohne die Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und
Triiodthyronin (T3) geht gar nichts. Sie regulieren Pro-
zesse wie den Stoffwechsel und wirken bei der Ent-
wicklung des Körpers sowie des Nervensystems mit.
Überraschenderweise hängt auch von ihnen ab, wie
wir Farben erkennen. Ist die Netzhaut mit solchen
Hormonen unterversorgt, nimmt man Farben schlech-
ter wahr oder kann sie gar nicht sehen.

Einfluss auf die Synthese retinaler Pigmente
«Schilddrüsenhormone aktivieren die Bildung be-
stimmter Pigmente in der Netzhaut. Dieser Prozess
ist äusserst dynamisch, denn die Synthese wird auch
im Erwachsenenalter beeinflusst, wenn die Hormon-

14     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
konzentration schwankt. Das zeigten Experimente an
Nagetieren und Menschen», erklärt Yoshiyuki Hen-
ning, Doktorand an der UDE. Der Biologe erforscht
mit Karol Szafranski vom Leibniz-Institut für Alterns-
forschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena diese
spezielle Hormonversorgung. Eine zu hohe Konzen-
tration könnte mit degenerativen Erkrankungen der
Netzhaut zusammenhängen – was bislang kaum un-
tersucht wurde.

Schilddrüsenhormontransporter MCT8
In ihrem Artikel beschreiben die beiden Wissen-
schaftler einen der bekanntesten und effizientesten
Schilddrüsenhormontransporter in der Netzhaut von
Mäusen: kurz MCT8. Solche Transporter sind extrem
wichtig – nur so gelangen die Hormone in die Ziel-
zellen. MCT8 konnte besonders stark in den ersten
Lebenswochen nachgewiesen werden, bei erwachse-
nen Tieren nur noch in geringen Mengen. Daher ver-
muten die Forscher, dass der Transporter eine beson-
dere Rolle in der finalen Reifungsphase der Netzhaut
spielt, also während sich das neuronale Netzwerk
ausdifferenziert. Das macht auch das Allan-Herndon-
Dudley-Syndrom deutlich, ein genetischer Defekt von
MCT8, der mit erheblichen geistigen und motorischen
Beeinträchtigungen einhergeht.
Weitere Untersuchungen sind geplant, um heraus-
zufinden wie sich die Sehfähigkeit ändert, wenn der
Transporter fehlt.

                          Retina-Suisse-Journal  3 -2016   15
Beginn eines grossen Projekts
Die aktuelle Studie ist der Anfang eines grossen Pro-
jektes: «Wir wollen besser verstehen, wie die Netzhaut
sich entwickelt und funktioniert, um Zusammenhängen
zwischen einer gestörten Versorgung mit Schilddrüsen-
hormonen und verschiedenen Sehstörungen nachzu-
gehen. Denn solche hormonellen Störungen sind heute
weit verbreitet, doch über ihre Wirkung auf das Sehen
weiss man noch zu wenig», so Henning.

Quellen:
 * Pressemitteilung der Universität Duisburg-Essen [2],
 * Ophthalmologische Nachrichten [3],
 * Frontiers in Cellular Neuroscience [4]

Links aus diesem Beitrag:
[1] http://www.pro-retina-stiftung.de/1-0-Startseite.html
[2] https://www.uni-due.de/de/presse/meldung.
php?id=9528
[3] http://www.biermann-medizin.de/fachbereiche/
endokrinologie-diabetologie/hormonstoerungen-schild-
druese/hormone-veraendern-sehen
[4] http://journal.frontiersin.org/article/10.3389/
fncel.2016.00205/full

16     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
Altersbedingte Makuladegeneration: Neue
 Therapien in der Pipeline

Annette Mende

Es tut sich was in der Therapie der altersabhängigen
Makuladegeneration (AMD). Erstmals befindet sich
mit Lampalizumab ein Wirkstoff gegen die trockene
Form der Erkrankung in einer fortgeschrittenen Pha-
se der klinischen Prüfung. Und auch bei der feuchten
AMD stehen Neuerungen bevor. Mittlerweile ist es
zehn Jahre her, dass gegen den Gewebewachstums-
faktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor)
gerichtete Substanzen in die Therapie der AMD ein-
geführt wurden.

«Das war ein Meilenstein», erinnerte sich Professor
Dr. Frank Holz von der Universitäts-Augenklinik Bonn
beim Kongress der Deutschen Ophthalmologischen
Gesellschaft (DOG) in Berlin. «Erstmals konnten wir
bei unseren Patienten mit feuchter AMD die Sehkraft
erhalten. Der Enthusiasmus war gross.»

Gedämpfte Euphorie
Zehn Jahre später ist die Euphorie zwar nicht gänzlich
verflogen, hat aber durch einige Probleme, die sich
in der breiten Anwendung zeigten, einen Dämpfer
erlitten. So sprechen die meisten Patienten zwar an-

                          Retina-Suisse-Journal  3 -2016   17
fänglich gut auf die Anti-VEGF-Therapie an. «Über die
Jahre kann das Erreichte aber meistens nicht gehal-
ten werden», berichtete Holz. Dafür gibt es mehrere
Gründe. Da ist zum einen das Problem der Therapie-
müdigkeit. Die AMD ist eine chronische Erkrankung,
die durch die Anti-VEGF-Therapie nicht geheilt wird.
Die Medikamente müssen aufgrund ihrer kurzen
Halbwertszeit regelmässig in den Augapfel gespritzt
werden (intravitreal = in den Glaskörper. Anm. der
Red.). «Wir wissen zwar mittlerweile, dass das Auge
das gut verträgt, auch Hunderte Spritzen. Für die Pa-
tienten ist das aber dennoch kein schöner Gedanke»,
so der Augenarzt. Zudem bedeutet es einen grossen
Organisationsaufwand, etwa wenn jüngere Ange-
hörige den betagten Patienten jeden Monat zur Be-
handlung fahren müssen.

Regelmässige Injektionen
Zur Therapie der feuchten AMD zugelassen sind
momentan drei Präparate: Eylea® (Aflibercept), Lu-
centis® (Ranibizumab) und Visudyne® (Verteporfin).
«In den Zulassungsstudien wurden die Medikamen-
te monatlich verabreicht. Unterdessen hat sich aber
gezeigt, dass ein Grossteil der Patienten weniger
Behandlungen benötigt», informierte Holz. Die Span-
ne reiche von einem bis zu drei Monaten. Ein Wirk-
stoff mit wahrscheinlich längerer Wirksamkeit ist
Brolucizumab, ein Anti-VEGF- Antikörperfragment. Er
wird zurzeit in Phase-III-Studien getestet. Auch Bro-
lucizumab muss intravitreal gespritzt werden, aber

18    Retina-Suisse-Journal  3 -2016
«davon können Sie viel höhere Dosen verabreichen,
ohne dem Auge mehr Volumen zuzumuten», erklärte
Holz. Neben einer verlängerten Wirkdauer erhoffe
man sich von Brolucizumab eine Erhöhung der An-
sprechrate sowie einen Effekt auf die bei vielen Pa-
tienten im Verlauf der Therapie auftretende Fibrose
(Gewebeveränderung durch die pathologische Ver-
mehrung von Bindegewebszellen).

Der VEGF-abhängige Stoffwechselweg ist nicht
der einzige, der bei feuchter AMD eine Rolle spielt.
Daneben ist auch der Plättchen-abhängige Wachs-
tumsfaktor PDGF (Platelet-Derived Growth Factor)
beteiligt. Dieser scheint durch eine lang andauernde
Anti-VEGF-Therapie hochreguliert zu werden, wo-
durch sich möglicherweise deren mit der Zeit nachlas-
sende Wirksamkeit erklärt. Eine Kombitherapie aus
VEGF- und PDGF-Blocker könnte das umgehen und
wird auch bereits getestet. Erste Ergebnisse mit dem
PDGF-Hemmer Fovista™ weisen darauf hin, dass die
Kombination mit einem Anti-VEGF-Präparat der Anti-
VEGF-Monotherapie überlegen ist.

Therapie der trockenen AMD sehnlichst erwartet
«Der heilige Gral der AMD-Therapie ist aber eigent-
lich nicht die feuchte Form, sondern die trockene»,
sagte Holz. Bei der trockenen Form der Erkrankung
sammeln sich sogenannte Drusen in der Netzhaut
an, Ablagerungen von Protein- und Lipidresten. Die
Zellen der Netzhaut werden dadurch zunehmend

                         Retina-Suisse-Journal  3 -2016   19
schlechter mit Nährstoffen versorgt – man spricht von
geografischer Atrophie – und sterben schliesslich ab.
«Eine trockene AMD findet sich histologisch in jedem
Auge, das beginnt schon ab einem Alter von 50 Jah-
ren», sagte Holz. Auch Patienten mit feuchter AMD
leiden gleichzeitig unter der trockenen Form. «Der
Prozess schreitet fort, auch wenn wir die krankhafte
Gefässeinsprossung mit Anti-VEGF-Therapie behan-
deln», so der Ophthalmologe. Es gebe sogar Hin-
weise darauf, dass die Anti-VEGF-Therapie die Atro-
phie-Entwicklung möglicherweise begünstige und
beschleunige. Nach zwei Jahren Anti-VEGF-Therapie
finde sich bei 18 bis 20 Prozent der Patienten eine
Atrophie, nach sieben Jahren sogar bei 98 Prozent.
«So lange wir nur die feuchte Komponente behan-
deln, gewinnen wir den Kampf gegen die AMD letzt-
lich nicht.» Mit Lampalizumab gebe es nun erstmals
einen Wirkstoff, mit dem sich das Fortschreiten der
trockenen AMD zumindest verlangsamen lasse.
Laut Hersteller Roche handelt es sich um ein Anti-
gen-bindendes Antikörperfragment, das gegen den
Komplementfaktor D gerichtet ist. Dieses Enzym ist
an der Aktivierung des alternativen Komplement-
Stoffwechselwegs (ACP) beteiligt, einer Komponente
des Immunsystems, die bei trockener AMD überaktiv
zu sein scheint.

Studien mit 2000 Patienten
«Nach positiven Ergebnissen in Phase II wird Lampa-
lizumab zurzeit in zwei Phase-III-Studien weltweit an

20    Retina-Suisse-Journal  3 -2016
2000 Patienten getestet. Die Daten erwarten wir für
nächstes Jahr», informierte Holz. Auch Lampalizumab
müsse alle vier bis sechs Wochen in den Augapfel
gespritzt werden. Therapieziel sei die Verlangsamung
des Fortschreitens der Erkrankung, nicht die Verbes-
serung der Sehkraft. Trotz dieser Einschränkungen
sei der Wirkstoff ein Hoffnungsträger für betroffene
Patienten und Ärzte. Ein Durchbruch bei der Therapie
der trockenen AMD wird sehnlichst erwartet: Sollte
er ausbleiben, wird die Erkrankung bereits in vier
Jahren die häufigste Erblindungsursache in Industrie-
nationen sein.

Quellen:
* Pharmazeutische Zeitung, [1] Ausgabe 40/2016.
  Links aus diesem Beitrag: [1] http://www.pharma-
  zeutische-zeitung.de/index.php?id=65448
* Pro Retina News 2016

 Training des exzentrischen Sehens bei Makula-
 erkrankungen: Auswirkungen auf das Gehirn?

Prof. Dr. Mark W. Greenlee und Dr. Tina Plank

Im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsge-
meinschaft geförderten Forschergruppe (http://www.
uni-regensburg.de/FOR1075) befassen wir uns seit 2008
mit den Folgen von zentralen Gesichtsfeldausfällen
auf das Gehirn. Mittels funktioneller Magnetresonanz-

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   21
tomographie (fMRT) untersuchen wir Patienten mit
Makulaerkrankungen (vor allem erblichen Netzhautdys-
trophien, sowie altersbedingter Makuladegeneration
AMD), während sie verschiedene Sehaufgaben absol-
vieren. Hierbei interessiert uns besonders, inwiefern es
aufgrund des durch die Erkrankung entstehenden zen-
tralen Gesichtsfeldausfalls zu Umstrukturierungen in
visuellen Arealen des Gehirns kommt, und ob spezielle
Trainingsmassnahmen eine solche Anpassung des Ge-
hirns begünstigen können.

Patienten mit einem Zentralskotom entwickeln in der
Regel einen neuen, bevorzugten Fixationsbereich auf
noch intakter, peripherer Netzhaut, den sogenannten
«preferred retinal locus» (PRL), der dann auch zum Le-
sen oder zum Fixieren von Objekten bzw. Gesichtern im
Alltag verwendet wird. In zwei unserer Studien trai-
nierten wir diese Netzhautstelle gezielt und begleiteten
diese Massnahmen mit fMRT-Messungen.

Zur Stabilisierung der Fixation am PRL trainierten wir
neun Teilnehmer mit AMD über einen Zeitraum von
sechs Monaten mittels eines exzentrischen Sehtrainings
(Software Xcentric Viewing vom Sehförderzentrum
Chemnitz), eines Blickbewegungstrainings und eines
Lesetrainings mit Hyperokular (Rosengarth et al., 2013).
Im Laufe des Trainings konnten wir im Durchschnitt
eine Steigerung der Fixationsstabilität am PRL um etwa
50 Prozent erreichen. Auch die Lesegeschwindigkeit
stieg um durchschnittlich etwa 24 Prozent und die Seh-

22     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
schärfe im Nahbereich um durchschnittlich etwa 27
Prozent moderat an. In visuellen Arealen des Gehirns
fanden wir einen tendenziell positiven Zusammenhang
zwischen dem Anstieg in der Gehirnaktivierung und
dem Anstieg der Fixationsstabilität in der ersten Phase
des Trainings, in der die Stabilisierung der Fixation be-
sonders ausgeprägt war.

In einer weiteren Studie setzten wir perzeptuelles Ler-
nen ein, um das Sehen an einem bereits etablierten PRL
zu verbessern (Plank, Rosengarth et al., 2014). Unter
perzeptuellem Lernen versteht man ein Lernen, das un-
bewusst auf der Wahrnehmungsebene stattfindet. Eine
Verbesserung stellt sich hier implizit über wachsende
Übung oder Erfahrung mit bestimmten Sehreizen ein.
Wir benutzten hierzu eine Texturunterscheidungsauf-
gabe, die auch in früheren Untersuchungen zum per-
zeptuellen Lernen schon häufig zum Einsatz kam (Karni
& Sagi, 1991). 13 Probanden mit Makulaerkrankungen
trainierten diese Aufgabe etwa drei Wochen lang, be-
gleitet von drei MRT-Sitzungen. Im Verlauf des Trainings
zeigte sich im Durchschnitt ein signifikanter Lernerfolg.
Auch die Gehirnaktivierung in visuellen Arealen stieg
mit dem Training tendenziell an. Es zeigte sich jedoch
auch hier der Vorteil einer stabilen exzentrischen Fixa-
tion: Sowohl Lernerfolg, als auch Anstieg der Gehirn-
aktivierung waren bei den Teilnehmern mit stabiler
exzentrischer Fixation stärker ausgeprägt. Die Beispiele
zeigen, dass aktives Sehtraining Vorteile für Patienten
mit einer Makuladegeneration haben könnte.

                            Retina-Suisse-Journal  3 -2016   23
Wir danken der DFG (FOR 1075) für die Förderung un-
seres Forschungsprojekts und allen unseren Kollegen
am Universitätsklinikum Regensburg, vor allem Sabine
Brandl-Rühle und dem Direktor der Augenklinik, Prof.
Dr. med. Horst Helbig, für ihre Mitarbeit und Unterstüt-
zung, sowie für die Durchführung der medizinischen
Voruntersuchungen. Wir möchten uns ebenso bei der
PRO RETINA für ihre Unterstützung bei der Rekrutie-
rung sowie bei allen Teilnehmern für ihre Mitwirkung
an der Studie ganz herzlich bedanken.

Für Fragen steht Ihnen gerne zur Verfügung:
Dr. Tina Plank, E-Mail: tina.plank@ur.de

Literatur:
• Karni, A. & Sagi, D. PNAS 88, 4966-4970 (1991). www.
  ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC51788
• Plank, T., Rosengarth, K., Schmalhofer, C., Goldhacker,
  M., Brandl-Rühle, S., & Greenlee, M.W. Front Psychol 5
  (2014). http://dx.doi.org/10.3389/fpsyg.2014.01189
• Rosengarth, K., Keck, I., Brandl-Rühle, S., Frolo,
  J., Hufendiek, K., Greenlee, M.W., & Plank, T.
  Front Psychol 4 (2013). http://dx.doi.org/10.3389/
  fpsyg.2013.00428

24     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
Photorezeptor-Transplantation:
 Mechanismus zur Verbesserung der Netzhaut-
 funktion anders als bisher angenommen

Pro Retina News 2016

Die Forschergruppe um Prof. Dr. Marius Ader vom
Forschungszentrum für Regenerative Therapien
Dresden (CRTD) stellt ein neues Verständnis für den
Mechanismus von Zelltransplantationen zur Ver-
besserung der Netzhautfunktion vor, welches einen
möglicherweise neuen therapeutischen Ansatz zur
Behandlung retinaler Degenerationen wie der alters-
bedingten Makuladegeneration oder Retinitis pig-
mentosa eröffnet.

Die hier vorgestellte Studie beschreibt einen Paradig-
menwechsel im Forschungsfeld der Photorezeptor-
Transplantation. Photorezeptoren, oder auch Sehzel-
len, umfassen die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut.
Während die Stäbchen das Sehen bei geringen
Lichtverhältnissen ermöglichen («Nachtsehen»), sind
die Zapfen für das Tageslichtsehen und die Farber-
kennung verantwortlich. Bei retinalen Degenera-
tions-Krankheiten sind meist die Photorezeptoren
betroffen, was zu Krankheitsbildern wie der alters-
bedingten Makuladegeneration (AMD) oder Retinitis
pigmentosa (RP) führen kann.

                          Retina-Suisse-Journal  3 -2016   25
Aktueller Studieninhalt
Die hier thematisierte Studie untersucht die Mecha-
nismen, die der Rettung der Netzhautfunktion im
Mausmodell zu Grunde liegen. Bislang ist man bei
der Transplantation von Photorezeptoren von einer
strukturellen Integration der Spenderzellen in das
Netzhautgewebe ausgegangen, die die Funktion der
endogenen, zugrunde gegangenen Photorezeptoren
ersetzen (Zellersatz-Therapie).
Die jetzt vorgestellten Ergebnisse zeigen aber, dass
dies nicht der Fall ist, sondern die Spenderzellen am
Ort der Injektion verbleiben und stattdessen Zell–
material zu noch vorhandenen Photorezeptoren des
Empfängers transferieren. Es handelt sich hierbei um
einen neuen, unerwarteten Mechanismus von Zellma-
terial-Transfer zwischen Spender- und Empfänger-Pho-
torezeptoren, dessen Potential zur Entwicklung einer
Therapie für den Menschen nun genauer untersucht
werden muss (Zellsupport-Therapie).

Weitere Ziele
Anschlussuntersuchungen von Professor Ader und
seinem Forscherteam haben nun die Identifikation
der zellulären und molekularen Voraussetzungen für
diesen Prozess zum Ziel. «Unsere Ergebnisse eröffnen
einen möglicherweise neuen therapeutischen Ansatz
zur Behandlung retinaler Degenerationen, durch den
Spenderzellen noch vorhandene aber dysfunktionale
Photorezeptoren unterstützen anstatt diese zu erset-
zen», so Professor Ader.

26    Retina-Suisse-Journal  3 -2016
Publikation: Santos-Ferreira T*, Llonch S*, Borsch O*,
Postel K, Haas J, Ader M. Retinal transplantation of
photoreceptors results in donor–host cytoplasmic ex-
change. Nature Communications 7, 13028. doi:10.1038/
ncomms13028 (2016). [1]

Quelle: DFG-Forschungszentrum für Regenerative The-
rapien TU Dresden – Exzellenzcluster [2]

Links aus diesem Beitrag:
[1] http://www.nature.com/articles/ncomms13028
[2] https://www.crt-dresden.de/fileadmin/Press_
Releases/161006_PM_Ader_de.pdf

 Leben mit ...
 Bericht von der
 18. Retina International-Konferenz in Taipeh

Stephan Hüsler

Retina Suisse wurde an der 18. Weltkonferenz von Reti-
na International vom 6. bis 10. Juli 2016 in Taipeh (Tai-
wan) durch Susanne Trudel, Präsidentin, und Stephan
Hüsler, Geschäftsleiter, vertreten. Erstmals war die noch
junge Retina Taiwan Gastgeberin. Sie wurde unterstützt
durch Retina Hong Kong. Die langjährige Präsidentin,
Christina Fasser, führte routiniert durch die GV, erstmals
schrieb Avril Daly das Protokoll. Sie ist seit Januar 2016
Geschäftsführerin des Weltverbandes.

                            Retina-Suisse-Journal  3 -2016   27
Der Sitz von Retina International bleibt in der Schweiz,
die Geschäftsstelle befindet sich in Irland. Der Vorstand
mit Christina Fasser als Präsidentin wurde wiederge-
wählt. Neu wurden Michael Längsfeld aus Deutschland
und Kristinn Halldor Einarsson aus Island in den Vor-
stand gewählt.
An der GV beantragten Organisationen aus Marokko,
Spanien, Puerto Rico und Zypern die Aufnahme als
«candidate member». Eine Organisation aus Israel wur-
de «associate member». Für uns unverständlich hat sich
die kanadische Vereinigung aus dem Weltverband zu-
rückgezogen. Damit zählt Retina International 24 Voll-
mitglieder, 4 Kandidaten und 20 Interessenten sowie
eine assoziierte Vereinigung.
Die Delegierten wählten Reykjavik als Durchführungs-
ort der 20. Retina International World Conference 2020,
2018 werden sich die Delegierten in Auckland, Neusee-
land, treffen.

Das «Continous Education Program»
Am zweiten Tag der Weltkonferenz erhielten die De-
legierten die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und «best
practice» miteinander zu teilen. So präsentierte Clau-
dette Medefindt, Retina South Africa, das Projekt zum
Aufbau eines Patientenregisters und wie die Organi-
sation versucht, allen Patienten eine gesicherte Gendi-
agnose zu vermitteln. Sie zeigte in ihrem Vortrag, wie
Patienten in Südafrika auf klinische Studien vorbereitet
werden. Patricia Zilliox vom Foundation Fighting Blind-
ness Clinical Research Institute (USA) zeigte den Dele-

28     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
gierten, wie rasant sich die Zahl der klinischen Studien
für Netzhautdegenerationen in letzter Zeit entwickelte.
So sind gegenwärtig 43 klinische Studien für Retinitis
pigmentosa registriert, für Morbus Stargardt sind es
deren 10. Die klinische Forschung hat sich in den letzten
vier Jahren rasant entwickelt. Dies zeigt sich auch in der
grossen Zahl von Firmen, die Forschungsprojekte laufen
haben. Eine davon ist Spark Therapeutic Inc.
Deren CEO beschrieb den Aufbau der Firma mit dem
Ziel, eine Gentherapie für das Gen RPE65 zu entwickeln.
Die Zulassung sei bei der FDA (die US-Zulassungsbehör-
de. Anm. der Red.) beantragt worden, der Abschluss
des Verfahrens werde für den Frühling 2017 erwartet.
Die Sehschärfe genüge nicht als Erfolgsmesser. Deshalb
entwickelte Spark einen Mobilitätstest. Damit kann die
Verbesserung deutlich gezeigt werden. Alle drei Redner
betonten die Wichtigkeit der Genanalyse als Vorausset-
zung für eine Therapie. Der Erfolg der Therapie hänge
davon ab, wieviele Zellen zu Beginn vorhanden seien.

Der wissenschaftliche Teil
Für den öffentlichen Kongress vom 9. und 10. Juli kamen
rund 800 Personen ins Kongresszentrum von Taipeh. Wie
schon an den beiden vorangegangenen Tagen brachte ein
Taifun das Programm auch an den öffentlichen Vorträgen
durcheinander. Nicht alle Referenten schafften die Anrei-
se. Das brachte der Präsidentin Christina Fasser und den
Organisatoren viel Mehrarbeit. Dank grossem Einsatz aller
Verantwortlichen bemerkten die Besucher jedoch kaum
etwas von diesen Herausforderungen.

                            Retina-Suisse-Journal  3 -2016   29
Der Schreibende reiste mit der Hoffnung nach Tai-
wan, dort etwas über alternative Therapien – und
hier natürlich aus der traditionellen chinesischen
Medizin – erfahren zu können. Leider fand dieser
Vortragsblock jedoch nicht statt. Dafür durften wir
über verschiedene Therapieansätze für seltene Netz-
hautdegenerationen mehrere Vorträge hören. Nach-
folgend ein kurzer Überblick dazu:

1. Stammzellen
Der Ersatz abgestorbener Photorezeptoren durch
Stammzellen ist eine der grossen Hoffnungen vieler
Patienten mit Netzhautdegenerationen. Stammzel-
len sind noch nicht voll entwickelte Zellen, die sich in
irgend eine Art von Zellen, also auch Netzhautzellen,
entwickeln können. Sie werden entweder von em-
bryonalem oder adultem Gewebe gewonnen. Mitt-
lerweile gelingt es sogar, Hautzellen in Stammzellen
zurück zu entwickeln, die dann wiederum in Photore-
zeptorzellen weiterentwickelt werden. Der Aufwand
ist jedoch sehr gross und es dauert sehr lange, bis
genügend Zellen vorhanden sind. In den USA ist eine
klinische Studie mit 16 RP-Patienten geplant. Auch
mit Patienten mit Stargardt und AMD (trocken und
feucht) gibt es klinische Studien mit Stammzellen. Die
Transplantation von voll entwickelten Photorezepto-
ren ist bisher noch nicht möglich. Es wird also noch
viele Jahre dauern, bis aus dieser Forschung eine The-
rapie wird.

30     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
2. Netzhautchip
An der Konferenz präsentierten die Hersteller von
Argus II (Second Sight Medical Products Inc.) und Alpha
AMS (Retina Implant AG) ihre Produkte. Sie brachten
auch je einen Träger des jeweiligen Implantates als
Botschafter mit. Beide Implantate sind auf dem europäi-
schen Markt, also auch in der Schweiz, zugelassen.
Allerdings gibt es dafür in der Schweiz noch keine Fi-
nanzierung über die Krankenkasse. Diese Technologie
hat sich in den vergangenen Jahren sehr erfreulich
entwickelt. Trotzdem kann nicht von einem «normalen»
Sehen gesprochen werden. Wer einen solchen Chip
trägt, ist nach wie vor auf einen weissen Stock ange-
wiesen. Wer jetzt noch etwas sieht, wird von einem
Netzhautchip nicht profitieren.

3. Optogenetik
Gewisse Pflanzen und Tiere verfügen über lichtemp-
findliche Proteine die ebenfalls elektrische Impulse
produzieren. Wissenschaftler versuchen, diese Proteine
mittels Molekulartechnik in die Netzhaut von Tieren
mit RP einzubringen. Sie aktivieren dort die Bipolarzel-
len. Im Sehzentrum wird dies dann als «Licht an» oder
«Licht aus» wahrgenommen. Prof. José-Alain Sahel
stellte die Versuche der Pariser Firma GenSight Biologics
vor.

4. Neuroprotektion
Neuroprotektive Faktoren (CNTF) können die Netzhaut-
zellen vor dem Absterben schützen. Sie werden mit

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   31
einer reiskorngrossen Kapsel ins Auge implantiert, wo
sie diese CNTF über längere Zeit abgeben. Verschiedene
Forschungsgruppen studieren diesen Ansatz an RP-
Patienten und Patienten mit Makuladegenerationen,
z.B. um Prof. Matthew LaVail (USA) und Prof. José-Alain
Sahel (Paris).

5. Transkorneale Elektrostimulation (TES)
Aus der Entwicklung des Netzhautchips erkannten die
Forschenden in Tübingen, dass die Netzhaut dank der
elektrischen Stimulation durch das Implantat länger
überlebt. Daraus entstand die Idee, den elektrischen
Impuls über die Hornhaut – die Cornea – zu verabrei-
chen. Ein Gerät wurde entwickelt und in vielen Versu-
chen am Tiermodell und auch an Menschen mit Reti-
nitis pigmentosa getestet. Das Produkt heisst «System
OkuStim», ist in Europa zugelassen und wird auch in
der Schweiz durch die Universitäts-Augenklinik Jules-
Gonin in Lausanne angepasst. Am Kongress sprachen
die Vertreter der Herstellerfirma Okuvision über die Er-
gebnisse der TES-Studien und der multizentrischen in-
ternationalen Anwendungsbeobachtung TESOLA. Die
Studien zeigten gute Resultate, die durch eine weitere
zur Zeit laufende Studie mit Patienten erhärtet wer-
den sollen, deren Genmutationen bekannt sind.

6. Antioxidantien
Dank der ARED-Studien ist die Wirksamkeit verschiede-
ner Vitamine und Spurenelemente als Nahrungsmittel-
zusätze in gewissen Fällen der altersbedingten Makula-

32     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
degeneration bekannt. Die Einnahme dieser Präparate
soll jedoch mit dem Augenarzt abgesprochen werden.
Auch bei Retinitis pigmentosa gibt es Studien an Tier-
modellen (Van Veen, Campochiaro). Bis jetzt gibt es
jedoch noch keine klinischen Studien.
Generell ist die Aufnahme von Vitaminen und Spuren-
elementen über die Nahrung lustvoller. Der Schreiben-
de wünscht «en Guete!».

7. Gentherapie
Dank der Entdeckung des Defekts im RPE65-Gen des
Briard-Hundes «Lancelot» ist die Genersatztherapie bei
RPE65 die erste derartige Therapie, die hoffentlich dem-
nächst durch die FDA zugelassen wird. Für viele andere
Genmutationen gibt es mittlerweile klinische Studien
in allen Phasen der klinischen Forschung. Achromatop-
sie, Choroideremie, Stargardt, Usher-Syndrom und viele
mehr stehen im Fokus. Auch in der Schweiz soll 2017
eine orale Therapie für Patienten mit Mutationen in den
Genen RPE65 und LRAT beginnen.

Professor Gerald Chader fasste den Kongress in ge-
wohnter Eloquenz zusammen. Er freute sich sehr da-
rüber, dass nach so vielen Jahren der Grundlagenfor-
schung endlich klinische Studien – und zwar sehr viele
– mit ganz unterschiedlichen Therapieansätzen arbei-
ten. Dies lässt darauf hoffen, dass auch für Patienten
mit weit fortgeschrittenen Netzhautdegenerationen
irgendwann doch eine Behandlung zur Verfügung ste-
hen wird.

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   33
Den berührenden Abschluss des Kongresses bildete ein
Chor junger Patienten mit RP. Sie sind Mitglieder von
Retina Taiwan. Sie sangen ein selber komponiertes Lied
über das Leben mit RP.

 Charles Bonnet-Syndrom – Interview mit Agnes
 Forster

Jean Seiler; jean.seiler@retina.ch

Viele Menschen mit unterschiedlich verursachten Seh-
störungen sehen Dinge, dies es nicht gibt, nämlich so
genannte Phantombilder oder medizinisch ausgedrückt
visuelle Halluzinationen. Dieses Syndrom wurde bereits
vom Genfer Philosoph Charles Bonnet erwähnt, als er
die visuellen Halluzinationen seines geistig gesunden
aber sehbehinderten Grossvaters beschrieb. Bei die-
sem so genannten Charles-Bonnet-Syndrom (CBS), das
aufgrund einer chronischen Sehverschlechterung bei
normalem Bewusstsein auftritt, kommt es zu visuellen
Trugwahrnehmungen, ohne dass eine akute psychiat-
rische Erkrankung im eigentlichen Sinne vorliegt. Wie
Menschen diese Phänomene oder Erscheinungen er-
leben und wie sie damit umgehen zeigt das folgende
Interview, das ich bei Agnes Forster durchführen durfte.

Agnes ist 86 Jahre alt und wohnt selbständig in einem
schönen Thurgauer Städtchen. Sie ist ihrem Alter ent-
sprechend körperlich und vor allem geistig gesundheit-

34     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
lich gut unterwegs. «Mein Sehvermögen könnte jedoch
besser sein», sagt sie. Ihre Grundproblematik betrifft
ein zweifach operiertes Glaukom, sowie eine trockene
AMD. Im Allgemeinen kommt Agnes mit diesen Sehbe-
hinderungen erstaunlich gut zurecht. Sie schätzt, dass
sie ihre potenziellen Sehreste nutzen kann. Daher ist sie
auch mobil gut unterwegs. Sie kennt jedes «Högerli» in
Ihrer Umgebung und nutzt ihren weissen Stock haupt-
sächlich wegen der Sicherheit. Am liebsten sei sie
alleine unterwegs, um nicht abgelenkt zu werden.

Jean: Wann hast Du das erste Mal Erscheinungen ge-
habt?
Agnes: «Vor gut einem Jahr erschienen mir immer wie-
der Bilder und ich wusste gar nicht, was ich damit an-
fangen sollte. Wenn ich die Augen schloss, waren sie
wieder weg. Aber draussen kann ich ja die Augen nicht
schliessen. Es waren so Figuren und im Laufe der Zeit
waren es immer unterschiedlichere und zahlreichere –
einfach unheimlich.»

Agnes erzählt auch, dass sie von einer gegenübersitzen-
den Person Details nicht erkenne. Hier wird die Proble-
matik komplex, da verschiedene Ursachen und verschie-
dene Phänomene ineinander greifen. Sie schildert dann
aber weiter, dass das Gegenüber, von dem sie wegen
ihrer AMD die Details nicht sieht, auf einmal 2 Köpfe
vor sich habe und das Schwierigste in dieser Situation
sei, dass es verschiedene Köpfe seien und dies somit
nicht mit Doppelsichtigkeit zu tun habe. Es könne sein,

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   35
dass sie einer Frau gegenübersitze und ein Kopf eines
alten Mannes daneben auftauche.

Jean: Hast Du diese Erscheinungen auch draussen?
Agnes: «Es kann sein, dass ich auf dem Trottoir gehe
und weiter vorne auf einmal Figuren auftauchen, die
in Wirklichkeit gar nicht da sind. Diese sind nie nahe
bei mir. Der Bereich um mich herum ist somit frei, so
dass ich mich nicht bedrängt fühle. Es handelt sich dann
immer um Menschen, Erwachsene oder Kinder, die ich
sehe. Dabei muss ich aber heillos aufpassen, dass ich
auf dem Trottoir bleibe und nicht irgendwie über die
Kante hinaus einen Fehltritt begehe. Die Erscheinungen
traten auch auf dem Beifahrersitz im Auto mit meiner
Tochter auf. Ich hatte Angst sie überfahre die Kinder,
die für mich mitten auf der Strasse auftauchten. Die
Tochter erschrak sehr, weil ja gar keine Kinder da waren
und fragte, ob es mir denn auch gut gehe. Ich habe es
ihr dann beschrieben und die Tochter ging für den
Moment nicht mehr darauf ein.»

«Interessanterweise haben z. B. die Kinder, die immer
wieder auftauchen, in den Kleidern jedes mal die glei-
chen Muster und Farben.»

Agnes kann die Kleider im Detail beschreiben, sogar
den Schnitt und die Stoffart. Ein weiteres Detail sei,
dass sie die Figuren immer von hinten sehe, also gehen
diese quasi ihr voraus oder mit ihr und nie entgegen,
also nicht bedrohlich.

36     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
Agnes: «Schwierig ist es, wenn sich tatsächlich noch
andere Menschen in meiner Umgebung aufhalten. Die
Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion kann
ich dann nur noch klären, indem ich stillstehe, die Au-
gen schliesse und die Figuren dann verschwinden. So
kann ich den Unterschied feststellen. Andererseits ha-
ben ja die erscheinenden Figuren immer die selben Klei-
der an, also sind es ja fast «Bekannte» von mir: «Aha,
jetzt sind die Kinder wieder hier»».

Jean: Sind es immer menschliche Figuren oder siehst Du
auch noch anderes?
Agnes: «Wenn ich still sitze, sehe ich auch einen Blu-
menstrauss, immer denselben. Auf einmal ist er wieder
da.»

In allen Details kann sie beschreiben, welche Blumen-
sorten im Strauss vorhanden sind. Irgendwie liebt sie
ihn, denn sie beschreibt ihn als schön.

Jean: Hast Du schon Figuren in einem Zusammenhang
mit einer Person oder einem Ereignis bringen können?
Agnes: «Ich kann keine Verbindung zu etwas Realem
herstellen, es handelt sich effektiv um Phantombilder.
Zu Beginn der Erscheinungen hatte ich bei meiner Au-
genärztin eine Octopus-Gesichtsfeldmessung. Dabei
sind die Figuren auch aufgetreten, wonach ich dies der
Ärztin berichtete. Sie sagte nur, sie kenne dies, ich müs-
se aber keine Angst haben. Meiner Tochter war diese
Erklärung jedoch zu wenig präzise und sie bestand

                            Retina-Suisse-Journal  3 -2016   37
darauf, dass ich nochmals hingehe. Am Telefon erhielt
ich einen Termin, ich hätte Glück, denn morgen sei eine
Spezialistin da für solche Fälle. Diese Frau untersuchte
mich mit irgendwelchen Stäbchen mit Bildern. Damit
mass sie den Abstand von mir bis zum Endpunkt an
dem ich das Bild nicht mehr sehe würde. Nach einer da-
rauf folgenden Befragung sprach sie über Doppelsich-
tigkeit. Mit dieser Erklärung war ich aber nicht zufrie-
den, denn ich sehe ja nicht zweimal dasselbe, sondern
daneben ein völlig anderes Bild oder Gesicht. Damit
war die Abklärung zu Ende, sie könne mir nicht helfen.
Die Augenärztin riet mir, dass ich eine MRI-Untersu-
chung machen soll. Ich soll einfach die Ruhe bewahren,
das sei im Moment das Wichtigste. Die nächsten zwei
Wochen war meistens schlechtes Wetter und ich muss-
te mich immer wieder ausruhen. Mit der Ruhe sind
die Phänomene weniger aufgetreten. Ich merkte, dass
diese nur auftreten, wenn ich in Bewegung bin. Nachts
war immer Ruhe. Das ist das Positive an der Geschichte,
dass ich wenigstens gut schlafen kann.

Jean: Hast Du irgendwelche Medikamente erhalten?
Agnes: «Nein, Gott sei Dank nicht. Wir haben ja dann
zusammen telefoniert und du hast mir gesagt, dass es
sich wahrscheinlich um das Charles-Bonnet-Syndrom
(CBS) handeln könnte und hast es mir dann erklärt.
Beim Physiotherapeut erschienen wieder Figuren, wor-
auf er mir riet, mich sofort beim Hausarzt anzumelden
und die Hautärztin, die ich in diesen Tagen ebenfalls
aufsuchen musste, meldete mich sofort beim Hausarzt

38     Retina-Suisse-Journal  3 -2016
an. Alle hatten bis hierher die Ansicht, dass das Phäno-
men neurologisch bedingt sei und deshalb sofortiger
Handlungsbedarf bestehe, eine Abklärung in der psy-
chiatrischen Klinik. Gleichentags stand ich dann beim
Hausarzt in der Praxis und mir war inzwischen regel-
recht unwohl. Dieser eröffnete mir, dass ich gut ver-
sorgt sei und alle notwendigen Medikamente erhalte.
Ich soll versuchen schöne Orte zu besuchen und die po-
sitiven Dinge des Lebens zu sehen. Aber machen kön-
ne man da nichts. Mit diesem Bericht, dass dies völlig
harmlos sei und es dafür keine Medikamente brauche,
sowie mit deiner Erklärung betreffend dem CBS, dass es
sich dabei nicht um eine Krankheit handle. Ich war dann
beruhigt, ging aus der Praxis in die Konditorei und fei-
erte dies mit einem guten Stück Kuchen.»

Jean: Wie haben deine Angehörigen reagiert?
Agnes: «Sie haben nie zu verstehen gegeben, dass mit
meinem Hirn etwas nicht in Ordnung sei. Ich muss zwar
gestehen, ich habe bei meinen Leuten eher zurückhal-
tend über meine Erscheinungen gesprochen. Mit der
Zeit habe ich dann auch schon so brockenweise etwas
gesagt, wie bei den beiden Frauen, die zu einem Spiel-
nachmittag zu mir kamen. Auf einmal habe ich zwei
Phänomen-Buben weggescheucht und die zwei Frauen
fragten mich, was ich habe. Dann sagte ich: «Ich habe
gerade zwei Buben weggescheucht». Logischerweise
haben die Frauen nichts weiter darauf erwidert. Anders
war es in der Kontaktgruppe für Menschen mit einer
Sehbehinderung, die du leitest. Da hast Du ja auf mein

                           Retina-Suisse-Journal  3 -2016   39
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