Journal - Giornale 3 /2016 - Retina Suisse
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Retina Suisse Journal - Giornale 3/2016 erscheint 3 Mal jährlich Die Selbsthilfeorganisation von Menschen mit Retinitis pigmentosa (RP), Makuladegeneration, Usher-Syndrom und anderen degenerativen Netzhauterkrankungen Umschlag-DE.indd 2 3.5.2012 11:56:01 Uhr
Impressum Redaktion: Christina Fasser, Renata Martinoni, Uta Buh Retina Suisse, Ausstellungsstrasse 36, 8005 Zürich Tel. 044 444 10 77, Fax 044 444 10 70 E-mail info@retina.ch, www.retina.ch Satz: Werner Schrumpf AG, 8123 Ebmatingen Druck: Roda Fratelli SA, Taverne (TI) Hörzeitschrift: CAB, Landschlacht Jahresabo: Der Bezugspreis ist im Mitgliederbeitrag enthalten Erscheinungsform: Deutsch, Französisch, Italienisch gedruckt und ge- sprochen Postkonto 80-1620-2 IBAN CH42 0900 0000 8000 1620 2 Wir sind für jede Spende dankbar! Nr. 130, Dezember 2016 Umschlag-DE.indd 3 3.5.2012 11:56:01 Uhr
Journal 3/2016 Agenda 10. März 2017 Wenn das Auge krank wird – Öffentliche Veranstaltung – Eintritt frei Messe Luzern Forum 2/3 Horwerstr. 87 6005 Luzern 22. April 2017 Generalversammlung von Retina Suisse in Freiburg Selbsthilfegruppen-Treffen für Menschen mit erblichen Netzhautdegenerationen und mit Retinitis pigmentosa (RP): 13.03.2017, 03.04.2017, 15.05.2017, 12.06.2017 (18:00 - 20:15 Uhr), Zürich Gesprächsgruppen für Menschen mit AMD gibt es in ver- schiedenen Ortschaften der Deutschschweiz (www.retina.ch/Selbsthilfe) Genauere Angaben unter www.retina.ch (Veranstal- tungen, Selbsthilfegruppen) oder telefonisch bei der Geschäftsstelle Tel. 044 444 10 77. Zu gegebener Zeit werden auch persönliche Einladungen verschickt. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 1
Inhalt Editorial ..................................................................... 4 Wir gratulieren ...................................................... 6 Albrecht-von-Graefe-Medaille für Professor Eberhart Zrenner ....................................... 6 Retinitis pigmentosa-Forschungspreis 2016 für Dr. rer. nat. Elvir Becirovic ......................................... 10 Aus Medizin und Forschung .......................... 14 Farbwahrnehmung: Hormone verändern das Sehen (K. Langhammer) ............................................................... 14 Altersbedingte Makuladegeneration: Neue Therapien in der Pipeline (A. Mende) ............................................... 17 Training des exzentrischen Sehens bei Makula-Er- krankungen: Auswirkungen auf das Gehirn? (M.W. Greenlee/T. Plank) .................................................. 21 Photorezeptor-Transplantation: Mechanismus zur Verbesserung der Netzhautfunktion anders als bisher angenommen .................................................................... 25 Leben mit ... .................................................................. 27 Bericht von der 18. Retina International-Konferenz in Taipeh (S. Hüsler) ................................................... 27 Charles Bonnet-Syndrom – Interview mit Agnes Forster (J. Seiler) ........................................................ 34 Wir stellen vor: Sehbehindert, dafür sprachgewandt (U. Buhl) ...................................................................... 40 2 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
Mit der Hand auf der Schulter meines Freundes Harald um die halbe Welt (K. Schorn/H. Kalf) ........................ 43 Punktschrift ist heute notwendiger denn je! (C. Cloux) ................................................................... 47 Die Einführung selbstfahrender Autos vorbereiten (J. Favre) ..................................................................... 52 Tageszeitungen auch ohne Computerkenntnisse konsumieren (J. Seiler) ............................................. 55 Hilfsmittel ............................................................... 57 Der E-Kiosk wird zum Audioplayer (R. Roth) .......... 57 Neu im elektronischen Kiosk .................................... 58 Lesetipps ................................................................. 60 Infobrochure über klinische Studien ............................. 60 Blind Date – Wenn Liebe sehen lässt (I. Tyarks) ........... 61 Apropos: Die Präsidentin hat das Wort .................... 63 Retina-Suisse-Journal 3 -2016 3
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Schon hat wieder ein neues Jahr begonnen. Und die Weihnachtszeit liegt hinter uns. Ein volles Jahr ging für uns und Retina Suisse zu Ende. Viele Veranstaltungen, eine reich befrachtete Generalversammlung, Besuche in den Labors und eine Premiere: Die ersten zwei klini- schen Versuche für erbliche Netzhautdegenerationen beginnen am Hôpital Jules-Gonin in Lausanne. Als Reti- na Suisse 1979 gegründet wurde, wagte dies niemand zu hoffen. Nur die idealistischen Patienten und Patien- tinnen der Gründergeneration hegten immer irgendwo in ihrem Herzen, dass dies doch wahr werden würde. Nach mehr als 35 Jahren trafen sich die ehemaligen Vorstandsmitglieder zu einem gemütlichen Zusam- mensein und Austausch. Da wurde uns allen bewusst, wie weit wir gekommen sind. Heute gibt es weltweit mehr als 20 Therapieversuche für erbliche Netzhautde- generationen. Das Feld der Gentherapie «explodiert« richtig gehend. Dies ist extrem ermutigend und doch, wie immer im Leben, ein Wort der Vorsicht ist geboten. Auch wenn diese Entwicklungen zu Hoffnung Anlass geben, die Forschung braucht Zeit. Wir können uns nichts Schlimmeres vorstellen, als dass eine Genthe- rapie registriert wird und dann aber mangels nachge- wiesener Wirksamkeit von den Versicherungen nicht bezahlt wird. Oder noch schlimmer: Die Therapie ist da, wird bezahlt, aber die Patienten und Patientinnen sind 4 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
unbekannt, da sie nicht genotypisiert wurden. Wie Sie sehen, wartet auf Retina Suisse noch viel Arbeit und Informationstätigkeit. Ganz unbeachtet sind zwei Jubiläen an uns vorbeige- gangen: Vor 25 Jahren eröffnete die Retina Suisse am 1.9.1991 die Geschäftsstelle in Zürich und Daniela Ca- pelli war als erste Mitarbeiterin dabei und ist es immer noch! Auch unser «Hauptsponsor», der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, der uns den Start ermöglichte, unterstützt uns immer noch grosszü- gig. Für die langjährige Treue und tolle Zusammenar- beit möchte die Redaktion beiden, Daniela Capelli und dem SBV, herzlich danken. Therapieversuche lassen Menschen mit erblichen Netz- hautdegenerationen mit Recht hoffen. Aber bis es so weit ist, geht das Leben mit einer Sehbehinderung wei- ter. Dass dieser Weg nicht immer einfach ist, wissen wir alle aus eigener schmerzhafter Erfahrung. Dass aber am Ende des Tunnels Licht ist, haben viele erfahren. Nutzen wir die dunkle Jahreszeit, um uns mit anderen zu tref- fen, auszutauschen und zuzuhören. Dabei darf aber das Feiern nicht vergessen werden. Wir wünschen Ihnen allen ein glückliches neues Jahr mit vielen schönen Begegnungen mit Familie, Freunden und Unbekannten. Mit den besten Wünschen Christina Fasser, Uta Buhl und Renata Martinoni Retina-Suisse-Journal 3 -2016 5
Wir gratulieren Albrecht-von-Graefe-Medaille für Professor Eberhart Zrenner Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) zeichnet Professor Dr. med. Dr. h.c. mult. Eberhart Zrenner mit der Albrecht-von-Graefe-Medaille aus. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zu Funktion und Erkrankungen der Netzhaut hat er massgeblich das elektronische Retina-Implantat ent- wickelt. Es ermöglicht blinden, an Retinitis pigmento- sa erkrankten Patienten ein orientierendes Sehen in Schwarz-Weiss-Bildern. Die Albrecht-von-Graefe-Me- daille ist die höchste Auszeichnung, die die DOG nur alle zehn Jahre für ausserordentliche Verdienste um die Augenheilkunde vergibt. Die Verleihung fand im Rahmen des 114. Kongresses der DOG am 1. Oktober 2016 in Berlin statt. Eberhart Zrenner wirkte von 1989 bis 2013 als Or- dinarius an der Universitäts-Augenklinik Tübingen. In dieser Zeit widmete er sich vor allem den erbli- chen Netzhauterkrankungen und baute als Grün- dungsdirektor das international anerkannte For- schungsinstitut für Augenheilkunde auf, das sich den zellbiologischen, molekulargenetischen und elekt- rophysiologischen Grundlagen des Fachs widmet. Seit 2013 leitet er als Seniorprofessor am Centrum 6 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen eine Arbeitsgruppe zur Pathophysiologie des Sehens, die am Department für Augenheilkunde angesiedelt ist. «Es ist Eberhart Zrenner zu verdanken, dass wir die Ursachen der Blindheit bei jungen Menschen mit erblichen Netzhauterkrankungen überhaupt erst verstehen und einer Behandlung zugänglich machen konnten», erklärt Professor Dr. med. Horst Helbig, Präsident der DOG. Damit habe Zrenner ein Tor nicht nur zur Genforschung aufgestossen, sondern auch den Boden bereitet für neue Therapieansätze wie Genersatztherapie und Neuroprotektion. «Eberhart Zrenner trägt einen grossen Anteil daran, dass die Augenheilkunde eine Vorreiterrolle in der Biomedi- zin erringen konnte», betont Helbig. So konnte auf Grundlage der Arbeiten der Tübinger Forschergruppe sowie der Partner an der Ludwig-Maximilians-Univer- sität München im vergangenen November in Tübin- gen die erste deutsche Gentherapie am Auge starten. «Eberhart Zrenner darf nun erleben, wie seine Arbeit sichtbare Früchte trägt und für Krankheiten erste er- folgreiche Therapien entstehen, die zu Beginn seiner Laufbahn wie ein ferner Traum erschienen», erklärt der DOG-Präsident. Zu Zrenners grössten Verdiensten gehört die Entwick- lung eines elektronischen Implantats für erblindete Patienten, die unter der erblichen Netzhauterkran- Retina-Suisse-Journal 3 -2016 7
kung Retinitis pigmentosa leiden und für die er seit 1989 bis heute eine Spezialsprechstunde an der Tü- binger Augenklinik betreibt. Dabei setzen die Chirur- gen einen winzigen Kamera-Chip unter die Netzhaut ein, der Schwarz-Weiss-Bilder mit einer Auflösung von 1.500 Pixeln liefert und über ein Verbindungska- bel zu einer kleinen Empfangsspule hinter dem Ohr mit Strom versorgt wird. Der Chip ist inzwischen zer- tifiziert und an mehreren deutschen Zentren als Kas- senleistung zugelassen. Die Ergebnisse der Sehpro- these variieren – manche Patienten können wieder grössere Buchstaben lesen, andere Gebäudeumrisse erkennen oder zumindest Lichtquellen identifizieren. Voraussetzung für ein solches Implantat: Die Pati- enten müssen früher einmal gesehen haben können und über eine intakte innere Netzhaut verfügen. «Die Idee, ein elektronisches Implantat zu entwickeln, wurde zunächst als irrwitzig abgetan», erinnert sich Zrenner. Doch das frühere Studium der Elektrotechnik half dem heute 70-jährigen Wissenschaftler, sein Kon- zept hartnäckig weiter zu verfolgen. «Als alter Elekt- ronikbastler ist mir klar geworden, dass es doch mög- lich sein könnte», berichtet Zrenner und bilanziert: «In Bezug auf wissenschaftliche Durchbrüche muss man in Zwanzig-Jahren-Horizonten denken – und man braucht ein eingeschworenes Team mit vielen unterschiedlichen Fähigkeiten.» Aussergewöhnlich ist auch der Einsatz des gebür- tigen Münchners für die Forschungsförderung in 8 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
der Augenheilkunde. Über viele Jahre war Zrenner Fachkollegiat für Augenheilkunde bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und er ist Vorsitzender des European Vision Institute. Darüber hinaus wurde Zrenner in zahlreiche renommierte Wissenschaftsein- richtungen wie die Leopoldina, den Senat der Max Planck-Gesellschaft, den Wissenschaftsrat und den Gesundheitsforschungsrat berufen. Er hat ein DFG- Schwerpunktprogramm, eine DFG-Forschergruppe und einen Sonderforschungsbereich geleitet und war zweimal Dekan der Tübinger Medizinischen Fakultät. Die Albrecht-von-Graefe-Medaille ist die höchste Aus- zeichnung, die die DOG vergibt und wird laut Statu- ten alle zehn Jahre «demjenigen zuerkannt, der sich unter den Zeitgenossen – ohne Unterschied der Nati- onalität – die grössten Verdienste um die Förderung der Ophthalmologie erworben hat.» Die Auswahl erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren und wurde durch die DOG-Mitgliederversammlung bestätigt. Albrecht von Graefe entwickelte 1857 eine neue Ope- rationsmethode bei Grünem Star. Erster Träger der Albrecht-von-Graefe-Medaille war 1886 Hermann von Helmholtz, der den Augenspiegel zur Untersuchung des Augeninneren erfand. Im Anschluss an die Verleihung hielt der ehemalige Ordinarius der Universitäts-Augenklinik Tübingen und jetzige Sprecher des Tübinger Zentrums für Neu- rosensorik die Albrecht-von-Graefe-Gedächtnisvorle- Retina-Suisse-Journal 3 -2016 9
sung zum Thema «Augenheilkunde als medizinische Leitdisziplin». Auch bei Retina Suisse ist Prof. Zrenner kein Unbe- kannter, war er doch häufig Redner an den Retina Suisse-Konferenzen und Generalversammlungen. Als langjähriger Vorsitzender des wissenschaftlich-medi- zinischen Beirats der Retina International hat er vie- les bewegt und in Bewegung gebracht. Dafür danken wir ihm herzlich! Quelle: Pressemitteilung der DOG [1] Links aus diesem Beitrag: [1] http://www.dog.org/wp-content/ uploads/2016/03/Web-PM-DOG-Kongress-Zrenner- September- 2016_F.pdf Retinitis pigmentosa-Forschungspreis 2016 für Dr. rer. nat. Elvir Becirovic Der diesjährige RP-Forschungspreis der PRO RETINA Deutschland e. V. und der Retina Suisse ist im Rahmen des 114. Kongresses der Deutschen Ophthalmologi- schen Gesellschaft (DOG) in Berlin an Herrn Dr. rer. nat. Elvir Becirovic vom Department für Pharmazie der Lud- wig-Maximilians-Universität München (LMU) vergeben worden. 10 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
Der Preis wurde zuerkannt für drei miteinander verbun- dene Publikationen zum Thema «Physiologie und Pa- thophysiologie von Peripherin-2 (PRPH-2)». * Becirovic, E., S. Bohm, O.N. Nguyen, L.M. Riedmayr, M.A. Koch, E. Schulze, S. Kohl, O. Borsch, T. Santos- Ferreira, M. Ader, S. Michalakis, and M. Biel. 2016. In Vivo Analysis of Disease-Associated Point Muta tions Unveils Profound Differences in mRNA Splicing of Peripherin-2 in Rod and Cone Photoreceptors. PLoS Genet. 12:e1005811. * Nguyen, O.N., S. Bohm, A. Giessl, E.S. Butz, U. Wolfrum, J.H. Brandstatter, C. Wahl-Schott, M. Biel, and E. Becirovic. 2016. Peripherin-2 differen tially interacts with cone opsins in outer segments of cone photoreceptors. Hum. Mol. Genet. * Becirovic, E., O.N. Nguyen, C. Paparizos, E.S. Butz, G. Stern-Schneider, U. Wolfrum, S.M. Hauck, M. Ueffing, C. Wahl-Schott, S. Michalakis, and M. Biel. 2014. Peripherin-2 couples rhodopsin to the CNG channel in outer segments of rod photorecep tors. Hum. Mol. Genet. 23:5989-5997. Die drei Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage, wes- halb Punktmutationen im sogenannten PRPH-2-Gen eine unterschiedliche «Durchschlagkraft» (Penetranz) in Stäbchen und Zapfen aufweisen. Mutationen in die- sem Gen gehören zu den häufigsten Ursachen für be- stimmte Formen der Retinitis pigmentosa (autosomal dominant), die allerdings mit ganz unterschiedlichen Retina-Suisse-Journal 3 -2016 11
Merkmalen auftreten kann, so dass keine klare Bezie- hung zwischen Genotyp und Erscheinungsbild (Geno- typ-Phänotyp-Korrelation) möglich ist. Den Arbeiten von Herrn Dr. Becirovic liegt die Hypothese zugrunde, dass es unterschiedliche Interaktionspartner in den Aussensegmenten von Stäbchen und Zapfen gibt, die sich je nach Lokalisation bestimmter Peripherin-2-Punkt- Mutationen unterschiedlich auswirkt. Dr. Becirovic hat diese Frage in Photorezeptoren von Mausmodellen mit Hilfe von eigens konstruierten PRPH-2-Minigenen syste- matisch untersucht. So konnte er zeigen, dass Periphe- rin-2 mit den unterschiedlichen Opsinen (Proteinanteil des Sehpigments) der Zapfen und Stäbchen interagiert. Mit weitergehenden Untersuchungen konnte bei einer bestimmten Maus-Mutante gezeigt werden, dass diese Punktmutation zu einer spezifischen Störung und zu einem bestimmten Krankheitsbild führt. Diese Studien-Ergebnisse liefern neuartige Einsichten in die Physiologie und Pathophysiologie von Peripherin-2 in Stäbchen und Zapfen der Netzhaut und weisen auch auf neue Regulationsfaktoren hin. Die Ergebnisse legen auch nahe, dass eine überhöhte Zahl von Genkopien (Überexpression) von Peripherin-2 toxische Effekte ver- mitteln könnte, die eine Genersatztherapie zur Behand- lung von PRPH-2-vermittelten Zapfendystrophien sehr schwierig machen würde. Die Originalveröffentlichungen von Hr. Dr. Becirovic sind damit von sehr hoher wissenschaftlicher Qualität 12 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
und haben grosse Bedeutung für die zukünftigen Stra- tegien von Behandlungen der erblichen Netzhautdys- trophien. Dr. Becirovic hat in Köln Biologie studiert und am De- partment für Pharmazie (Center for Drug Research) der Ludwig-Maximilians-Universität München 2010 zum Dr. rer. nat. promoviert. Seither ist er als Nachwuchsgrup- penleiter in dieser Abteilung tätig. Mit seinen Leistun- gen gehört er eindeutig zum hoffnungsvollsten wissen- schaftlichen Nachwuchs im Bereich der experimentellen Forschung, die auf das Verständnis von Krankheitsme- chanismen bei degenerativen Netzhauterkrankungen und deren Therapie ausgerichtet ist. Retina Suisse und die PRO RETINA Deutschland e. V. wünschen Herrn Dr. Elvir Becirovic viel Erfolg bei seiner weiteren Arbeit an der LMU München und gratulieren ihm herzlich zu dieser Ehrung, die mit einer Barsumme von 2’000 Euro sowie der Finanzierung eines Kongress- aufenthaltes in Übersee (im Wert von weiteren 1’500 €) verbunden ist. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 13
Aus Medizin und Forschung Farbwahrnehmung: Hormone verändern das Sehen Karin Langhammer, Pro Retina News Dass Schilddrüsenhormone das Farbsehen beeinflus- sen, überrascht. Genau dieses Phänomen erkundet ein Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen (UDE) in einer grossen Studie. Neue Erkenntnisse wurden jetzt im Magazin «Frontiers in Cellular Neu- roscience» veröffentlicht. Diese Arbeit wurde finan- ziert durch die PRO RETINA-Stiftung zur Verhütung von Blindheit [1]. Ohne die Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und Triiodthyronin (T3) geht gar nichts. Sie regulieren Pro- zesse wie den Stoffwechsel und wirken bei der Ent- wicklung des Körpers sowie des Nervensystems mit. Überraschenderweise hängt auch von ihnen ab, wie wir Farben erkennen. Ist die Netzhaut mit solchen Hormonen unterversorgt, nimmt man Farben schlech- ter wahr oder kann sie gar nicht sehen. Einfluss auf die Synthese retinaler Pigmente «Schilddrüsenhormone aktivieren die Bildung be- stimmter Pigmente in der Netzhaut. Dieser Prozess ist äusserst dynamisch, denn die Synthese wird auch im Erwachsenenalter beeinflusst, wenn die Hormon- 14 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
konzentration schwankt. Das zeigten Experimente an Nagetieren und Menschen», erklärt Yoshiyuki Hen- ning, Doktorand an der UDE. Der Biologe erforscht mit Karol Szafranski vom Leibniz-Institut für Alterns- forschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena diese spezielle Hormonversorgung. Eine zu hohe Konzen- tration könnte mit degenerativen Erkrankungen der Netzhaut zusammenhängen – was bislang kaum un- tersucht wurde. Schilddrüsenhormontransporter MCT8 In ihrem Artikel beschreiben die beiden Wissen- schaftler einen der bekanntesten und effizientesten Schilddrüsenhormontransporter in der Netzhaut von Mäusen: kurz MCT8. Solche Transporter sind extrem wichtig – nur so gelangen die Hormone in die Ziel- zellen. MCT8 konnte besonders stark in den ersten Lebenswochen nachgewiesen werden, bei erwachse- nen Tieren nur noch in geringen Mengen. Daher ver- muten die Forscher, dass der Transporter eine beson- dere Rolle in der finalen Reifungsphase der Netzhaut spielt, also während sich das neuronale Netzwerk ausdifferenziert. Das macht auch das Allan-Herndon- Dudley-Syndrom deutlich, ein genetischer Defekt von MCT8, der mit erheblichen geistigen und motorischen Beeinträchtigungen einhergeht. Weitere Untersuchungen sind geplant, um heraus- zufinden wie sich die Sehfähigkeit ändert, wenn der Transporter fehlt. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 15
Beginn eines grossen Projekts Die aktuelle Studie ist der Anfang eines grossen Pro- jektes: «Wir wollen besser verstehen, wie die Netzhaut sich entwickelt und funktioniert, um Zusammenhängen zwischen einer gestörten Versorgung mit Schilddrüsen- hormonen und verschiedenen Sehstörungen nachzu- gehen. Denn solche hormonellen Störungen sind heute weit verbreitet, doch über ihre Wirkung auf das Sehen weiss man noch zu wenig», so Henning. Quellen: * Pressemitteilung der Universität Duisburg-Essen [2], * Ophthalmologische Nachrichten [3], * Frontiers in Cellular Neuroscience [4] Links aus diesem Beitrag: [1] http://www.pro-retina-stiftung.de/1-0-Startseite.html [2] https://www.uni-due.de/de/presse/meldung. php?id=9528 [3] http://www.biermann-medizin.de/fachbereiche/ endokrinologie-diabetologie/hormonstoerungen-schild- druese/hormone-veraendern-sehen [4] http://journal.frontiersin.org/article/10.3389/ fncel.2016.00205/full 16 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
Altersbedingte Makuladegeneration: Neue Therapien in der Pipeline Annette Mende Es tut sich was in der Therapie der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD). Erstmals befindet sich mit Lampalizumab ein Wirkstoff gegen die trockene Form der Erkrankung in einer fortgeschrittenen Pha- se der klinischen Prüfung. Und auch bei der feuchten AMD stehen Neuerungen bevor. Mittlerweile ist es zehn Jahre her, dass gegen den Gewebewachstums- faktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) gerichtete Substanzen in die Therapie der AMD ein- geführt wurden. «Das war ein Meilenstein», erinnerte sich Professor Dr. Frank Holz von der Universitäts-Augenklinik Bonn beim Kongress der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) in Berlin. «Erstmals konnten wir bei unseren Patienten mit feuchter AMD die Sehkraft erhalten. Der Enthusiasmus war gross.» Gedämpfte Euphorie Zehn Jahre später ist die Euphorie zwar nicht gänzlich verflogen, hat aber durch einige Probleme, die sich in der breiten Anwendung zeigten, einen Dämpfer erlitten. So sprechen die meisten Patienten zwar an- Retina-Suisse-Journal 3 -2016 17
fänglich gut auf die Anti-VEGF-Therapie an. «Über die Jahre kann das Erreichte aber meistens nicht gehal- ten werden», berichtete Holz. Dafür gibt es mehrere Gründe. Da ist zum einen das Problem der Therapie- müdigkeit. Die AMD ist eine chronische Erkrankung, die durch die Anti-VEGF-Therapie nicht geheilt wird. Die Medikamente müssen aufgrund ihrer kurzen Halbwertszeit regelmässig in den Augapfel gespritzt werden (intravitreal = in den Glaskörper. Anm. der Red.). «Wir wissen zwar mittlerweile, dass das Auge das gut verträgt, auch Hunderte Spritzen. Für die Pa- tienten ist das aber dennoch kein schöner Gedanke», so der Augenarzt. Zudem bedeutet es einen grossen Organisationsaufwand, etwa wenn jüngere Ange- hörige den betagten Patienten jeden Monat zur Be- handlung fahren müssen. Regelmässige Injektionen Zur Therapie der feuchten AMD zugelassen sind momentan drei Präparate: Eylea® (Aflibercept), Lu- centis® (Ranibizumab) und Visudyne® (Verteporfin). «In den Zulassungsstudien wurden die Medikamen- te monatlich verabreicht. Unterdessen hat sich aber gezeigt, dass ein Grossteil der Patienten weniger Behandlungen benötigt», informierte Holz. Die Span- ne reiche von einem bis zu drei Monaten. Ein Wirk- stoff mit wahrscheinlich längerer Wirksamkeit ist Brolucizumab, ein Anti-VEGF- Antikörperfragment. Er wird zurzeit in Phase-III-Studien getestet. Auch Bro- lucizumab muss intravitreal gespritzt werden, aber 18 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
«davon können Sie viel höhere Dosen verabreichen, ohne dem Auge mehr Volumen zuzumuten», erklärte Holz. Neben einer verlängerten Wirkdauer erhoffe man sich von Brolucizumab eine Erhöhung der An- sprechrate sowie einen Effekt auf die bei vielen Pa- tienten im Verlauf der Therapie auftretende Fibrose (Gewebeveränderung durch die pathologische Ver- mehrung von Bindegewebszellen). Der VEGF-abhängige Stoffwechselweg ist nicht der einzige, der bei feuchter AMD eine Rolle spielt. Daneben ist auch der Plättchen-abhängige Wachs- tumsfaktor PDGF (Platelet-Derived Growth Factor) beteiligt. Dieser scheint durch eine lang andauernde Anti-VEGF-Therapie hochreguliert zu werden, wo- durch sich möglicherweise deren mit der Zeit nachlas- sende Wirksamkeit erklärt. Eine Kombitherapie aus VEGF- und PDGF-Blocker könnte das umgehen und wird auch bereits getestet. Erste Ergebnisse mit dem PDGF-Hemmer Fovista™ weisen darauf hin, dass die Kombination mit einem Anti-VEGF-Präparat der Anti- VEGF-Monotherapie überlegen ist. Therapie der trockenen AMD sehnlichst erwartet «Der heilige Gral der AMD-Therapie ist aber eigent- lich nicht die feuchte Form, sondern die trockene», sagte Holz. Bei der trockenen Form der Erkrankung sammeln sich sogenannte Drusen in der Netzhaut an, Ablagerungen von Protein- und Lipidresten. Die Zellen der Netzhaut werden dadurch zunehmend Retina-Suisse-Journal 3 -2016 19
schlechter mit Nährstoffen versorgt – man spricht von geografischer Atrophie – und sterben schliesslich ab. «Eine trockene AMD findet sich histologisch in jedem Auge, das beginnt schon ab einem Alter von 50 Jah- ren», sagte Holz. Auch Patienten mit feuchter AMD leiden gleichzeitig unter der trockenen Form. «Der Prozess schreitet fort, auch wenn wir die krankhafte Gefässeinsprossung mit Anti-VEGF-Therapie behan- deln», so der Ophthalmologe. Es gebe sogar Hin- weise darauf, dass die Anti-VEGF-Therapie die Atro- phie-Entwicklung möglicherweise begünstige und beschleunige. Nach zwei Jahren Anti-VEGF-Therapie finde sich bei 18 bis 20 Prozent der Patienten eine Atrophie, nach sieben Jahren sogar bei 98 Prozent. «So lange wir nur die feuchte Komponente behan- deln, gewinnen wir den Kampf gegen die AMD letzt- lich nicht.» Mit Lampalizumab gebe es nun erstmals einen Wirkstoff, mit dem sich das Fortschreiten der trockenen AMD zumindest verlangsamen lasse. Laut Hersteller Roche handelt es sich um ein Anti- gen-bindendes Antikörperfragment, das gegen den Komplementfaktor D gerichtet ist. Dieses Enzym ist an der Aktivierung des alternativen Komplement- Stoffwechselwegs (ACP) beteiligt, einer Komponente des Immunsystems, die bei trockener AMD überaktiv zu sein scheint. Studien mit 2000 Patienten «Nach positiven Ergebnissen in Phase II wird Lampa- lizumab zurzeit in zwei Phase-III-Studien weltweit an 20 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
2000 Patienten getestet. Die Daten erwarten wir für nächstes Jahr», informierte Holz. Auch Lampalizumab müsse alle vier bis sechs Wochen in den Augapfel gespritzt werden. Therapieziel sei die Verlangsamung des Fortschreitens der Erkrankung, nicht die Verbes- serung der Sehkraft. Trotz dieser Einschränkungen sei der Wirkstoff ein Hoffnungsträger für betroffene Patienten und Ärzte. Ein Durchbruch bei der Therapie der trockenen AMD wird sehnlichst erwartet: Sollte er ausbleiben, wird die Erkrankung bereits in vier Jahren die häufigste Erblindungsursache in Industrie- nationen sein. Quellen: * Pharmazeutische Zeitung, [1] Ausgabe 40/2016. Links aus diesem Beitrag: [1] http://www.pharma- zeutische-zeitung.de/index.php?id=65448 * Pro Retina News 2016 Training des exzentrischen Sehens bei Makula- erkrankungen: Auswirkungen auf das Gehirn? Prof. Dr. Mark W. Greenlee und Dr. Tina Plank Im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsge- meinschaft geförderten Forschergruppe (http://www. uni-regensburg.de/FOR1075) befassen wir uns seit 2008 mit den Folgen von zentralen Gesichtsfeldausfällen auf das Gehirn. Mittels funktioneller Magnetresonanz- Retina-Suisse-Journal 3 -2016 21
tomographie (fMRT) untersuchen wir Patienten mit Makulaerkrankungen (vor allem erblichen Netzhautdys- trophien, sowie altersbedingter Makuladegeneration AMD), während sie verschiedene Sehaufgaben absol- vieren. Hierbei interessiert uns besonders, inwiefern es aufgrund des durch die Erkrankung entstehenden zen- tralen Gesichtsfeldausfalls zu Umstrukturierungen in visuellen Arealen des Gehirns kommt, und ob spezielle Trainingsmassnahmen eine solche Anpassung des Ge- hirns begünstigen können. Patienten mit einem Zentralskotom entwickeln in der Regel einen neuen, bevorzugten Fixationsbereich auf noch intakter, peripherer Netzhaut, den sogenannten «preferred retinal locus» (PRL), der dann auch zum Le- sen oder zum Fixieren von Objekten bzw. Gesichtern im Alltag verwendet wird. In zwei unserer Studien trai- nierten wir diese Netzhautstelle gezielt und begleiteten diese Massnahmen mit fMRT-Messungen. Zur Stabilisierung der Fixation am PRL trainierten wir neun Teilnehmer mit AMD über einen Zeitraum von sechs Monaten mittels eines exzentrischen Sehtrainings (Software Xcentric Viewing vom Sehförderzentrum Chemnitz), eines Blickbewegungstrainings und eines Lesetrainings mit Hyperokular (Rosengarth et al., 2013). Im Laufe des Trainings konnten wir im Durchschnitt eine Steigerung der Fixationsstabilität am PRL um etwa 50 Prozent erreichen. Auch die Lesegeschwindigkeit stieg um durchschnittlich etwa 24 Prozent und die Seh- 22 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
schärfe im Nahbereich um durchschnittlich etwa 27 Prozent moderat an. In visuellen Arealen des Gehirns fanden wir einen tendenziell positiven Zusammenhang zwischen dem Anstieg in der Gehirnaktivierung und dem Anstieg der Fixationsstabilität in der ersten Phase des Trainings, in der die Stabilisierung der Fixation be- sonders ausgeprägt war. In einer weiteren Studie setzten wir perzeptuelles Ler- nen ein, um das Sehen an einem bereits etablierten PRL zu verbessern (Plank, Rosengarth et al., 2014). Unter perzeptuellem Lernen versteht man ein Lernen, das un- bewusst auf der Wahrnehmungsebene stattfindet. Eine Verbesserung stellt sich hier implizit über wachsende Übung oder Erfahrung mit bestimmten Sehreizen ein. Wir benutzten hierzu eine Texturunterscheidungsauf- gabe, die auch in früheren Untersuchungen zum per- zeptuellen Lernen schon häufig zum Einsatz kam (Karni & Sagi, 1991). 13 Probanden mit Makulaerkrankungen trainierten diese Aufgabe etwa drei Wochen lang, be- gleitet von drei MRT-Sitzungen. Im Verlauf des Trainings zeigte sich im Durchschnitt ein signifikanter Lernerfolg. Auch die Gehirnaktivierung in visuellen Arealen stieg mit dem Training tendenziell an. Es zeigte sich jedoch auch hier der Vorteil einer stabilen exzentrischen Fixa- tion: Sowohl Lernerfolg, als auch Anstieg der Gehirn- aktivierung waren bei den Teilnehmern mit stabiler exzentrischer Fixation stärker ausgeprägt. Die Beispiele zeigen, dass aktives Sehtraining Vorteile für Patienten mit einer Makuladegeneration haben könnte. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 23
Wir danken der DFG (FOR 1075) für die Förderung un- seres Forschungsprojekts und allen unseren Kollegen am Universitätsklinikum Regensburg, vor allem Sabine Brandl-Rühle und dem Direktor der Augenklinik, Prof. Dr. med. Horst Helbig, für ihre Mitarbeit und Unterstüt- zung, sowie für die Durchführung der medizinischen Voruntersuchungen. Wir möchten uns ebenso bei der PRO RETINA für ihre Unterstützung bei der Rekrutie- rung sowie bei allen Teilnehmern für ihre Mitwirkung an der Studie ganz herzlich bedanken. Für Fragen steht Ihnen gerne zur Verfügung: Dr. Tina Plank, E-Mail: tina.plank@ur.de Literatur: • Karni, A. & Sagi, D. PNAS 88, 4966-4970 (1991). www. ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC51788 • Plank, T., Rosengarth, K., Schmalhofer, C., Goldhacker, M., Brandl-Rühle, S., & Greenlee, M.W. Front Psychol 5 (2014). http://dx.doi.org/10.3389/fpsyg.2014.01189 • Rosengarth, K., Keck, I., Brandl-Rühle, S., Frolo, J., Hufendiek, K., Greenlee, M.W., & Plank, T. Front Psychol 4 (2013). http://dx.doi.org/10.3389/ fpsyg.2013.00428 24 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
Photorezeptor-Transplantation: Mechanismus zur Verbesserung der Netzhaut- funktion anders als bisher angenommen Pro Retina News 2016 Die Forschergruppe um Prof. Dr. Marius Ader vom Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) stellt ein neues Verständnis für den Mechanismus von Zelltransplantationen zur Ver- besserung der Netzhautfunktion vor, welches einen möglicherweise neuen therapeutischen Ansatz zur Behandlung retinaler Degenerationen wie der alters- bedingten Makuladegeneration oder Retinitis pig- mentosa eröffnet. Die hier vorgestellte Studie beschreibt einen Paradig- menwechsel im Forschungsfeld der Photorezeptor- Transplantation. Photorezeptoren, oder auch Sehzel- len, umfassen die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut. Während die Stäbchen das Sehen bei geringen Lichtverhältnissen ermöglichen («Nachtsehen»), sind die Zapfen für das Tageslichtsehen und die Farber- kennung verantwortlich. Bei retinalen Degenera- tions-Krankheiten sind meist die Photorezeptoren betroffen, was zu Krankheitsbildern wie der alters- bedingten Makuladegeneration (AMD) oder Retinitis pigmentosa (RP) führen kann. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 25
Aktueller Studieninhalt Die hier thematisierte Studie untersucht die Mecha- nismen, die der Rettung der Netzhautfunktion im Mausmodell zu Grunde liegen. Bislang ist man bei der Transplantation von Photorezeptoren von einer strukturellen Integration der Spenderzellen in das Netzhautgewebe ausgegangen, die die Funktion der endogenen, zugrunde gegangenen Photorezeptoren ersetzen (Zellersatz-Therapie). Die jetzt vorgestellten Ergebnisse zeigen aber, dass dies nicht der Fall ist, sondern die Spenderzellen am Ort der Injektion verbleiben und stattdessen Zell– material zu noch vorhandenen Photorezeptoren des Empfängers transferieren. Es handelt sich hierbei um einen neuen, unerwarteten Mechanismus von Zellma- terial-Transfer zwischen Spender- und Empfänger-Pho- torezeptoren, dessen Potential zur Entwicklung einer Therapie für den Menschen nun genauer untersucht werden muss (Zellsupport-Therapie). Weitere Ziele Anschlussuntersuchungen von Professor Ader und seinem Forscherteam haben nun die Identifikation der zellulären und molekularen Voraussetzungen für diesen Prozess zum Ziel. «Unsere Ergebnisse eröffnen einen möglicherweise neuen therapeutischen Ansatz zur Behandlung retinaler Degenerationen, durch den Spenderzellen noch vorhandene aber dysfunktionale Photorezeptoren unterstützen anstatt diese zu erset- zen», so Professor Ader. 26 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
Publikation: Santos-Ferreira T*, Llonch S*, Borsch O*, Postel K, Haas J, Ader M. Retinal transplantation of photoreceptors results in donor–host cytoplasmic ex- change. Nature Communications 7, 13028. doi:10.1038/ ncomms13028 (2016). [1] Quelle: DFG-Forschungszentrum für Regenerative The- rapien TU Dresden – Exzellenzcluster [2] Links aus diesem Beitrag: [1] http://www.nature.com/articles/ncomms13028 [2] https://www.crt-dresden.de/fileadmin/Press_ Releases/161006_PM_Ader_de.pdf Leben mit ... Bericht von der 18. Retina International-Konferenz in Taipeh Stephan Hüsler Retina Suisse wurde an der 18. Weltkonferenz von Reti- na International vom 6. bis 10. Juli 2016 in Taipeh (Tai- wan) durch Susanne Trudel, Präsidentin, und Stephan Hüsler, Geschäftsleiter, vertreten. Erstmals war die noch junge Retina Taiwan Gastgeberin. Sie wurde unterstützt durch Retina Hong Kong. Die langjährige Präsidentin, Christina Fasser, führte routiniert durch die GV, erstmals schrieb Avril Daly das Protokoll. Sie ist seit Januar 2016 Geschäftsführerin des Weltverbandes. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 27
Der Sitz von Retina International bleibt in der Schweiz, die Geschäftsstelle befindet sich in Irland. Der Vorstand mit Christina Fasser als Präsidentin wurde wiederge- wählt. Neu wurden Michael Längsfeld aus Deutschland und Kristinn Halldor Einarsson aus Island in den Vor- stand gewählt. An der GV beantragten Organisationen aus Marokko, Spanien, Puerto Rico und Zypern die Aufnahme als «candidate member». Eine Organisation aus Israel wur- de «associate member». Für uns unverständlich hat sich die kanadische Vereinigung aus dem Weltverband zu- rückgezogen. Damit zählt Retina International 24 Voll- mitglieder, 4 Kandidaten und 20 Interessenten sowie eine assoziierte Vereinigung. Die Delegierten wählten Reykjavik als Durchführungs- ort der 20. Retina International World Conference 2020, 2018 werden sich die Delegierten in Auckland, Neusee- land, treffen. Das «Continous Education Program» Am zweiten Tag der Weltkonferenz erhielten die De- legierten die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und «best practice» miteinander zu teilen. So präsentierte Clau- dette Medefindt, Retina South Africa, das Projekt zum Aufbau eines Patientenregisters und wie die Organi- sation versucht, allen Patienten eine gesicherte Gendi- agnose zu vermitteln. Sie zeigte in ihrem Vortrag, wie Patienten in Südafrika auf klinische Studien vorbereitet werden. Patricia Zilliox vom Foundation Fighting Blind- ness Clinical Research Institute (USA) zeigte den Dele- 28 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
gierten, wie rasant sich die Zahl der klinischen Studien für Netzhautdegenerationen in letzter Zeit entwickelte. So sind gegenwärtig 43 klinische Studien für Retinitis pigmentosa registriert, für Morbus Stargardt sind es deren 10. Die klinische Forschung hat sich in den letzten vier Jahren rasant entwickelt. Dies zeigt sich auch in der grossen Zahl von Firmen, die Forschungsprojekte laufen haben. Eine davon ist Spark Therapeutic Inc. Deren CEO beschrieb den Aufbau der Firma mit dem Ziel, eine Gentherapie für das Gen RPE65 zu entwickeln. Die Zulassung sei bei der FDA (die US-Zulassungsbehör- de. Anm. der Red.) beantragt worden, der Abschluss des Verfahrens werde für den Frühling 2017 erwartet. Die Sehschärfe genüge nicht als Erfolgsmesser. Deshalb entwickelte Spark einen Mobilitätstest. Damit kann die Verbesserung deutlich gezeigt werden. Alle drei Redner betonten die Wichtigkeit der Genanalyse als Vorausset- zung für eine Therapie. Der Erfolg der Therapie hänge davon ab, wieviele Zellen zu Beginn vorhanden seien. Der wissenschaftliche Teil Für den öffentlichen Kongress vom 9. und 10. Juli kamen rund 800 Personen ins Kongresszentrum von Taipeh. Wie schon an den beiden vorangegangenen Tagen brachte ein Taifun das Programm auch an den öffentlichen Vorträgen durcheinander. Nicht alle Referenten schafften die Anrei- se. Das brachte der Präsidentin Christina Fasser und den Organisatoren viel Mehrarbeit. Dank grossem Einsatz aller Verantwortlichen bemerkten die Besucher jedoch kaum etwas von diesen Herausforderungen. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 29
Der Schreibende reiste mit der Hoffnung nach Tai- wan, dort etwas über alternative Therapien – und hier natürlich aus der traditionellen chinesischen Medizin – erfahren zu können. Leider fand dieser Vortragsblock jedoch nicht statt. Dafür durften wir über verschiedene Therapieansätze für seltene Netz- hautdegenerationen mehrere Vorträge hören. Nach- folgend ein kurzer Überblick dazu: 1. Stammzellen Der Ersatz abgestorbener Photorezeptoren durch Stammzellen ist eine der grossen Hoffnungen vieler Patienten mit Netzhautdegenerationen. Stammzel- len sind noch nicht voll entwickelte Zellen, die sich in irgend eine Art von Zellen, also auch Netzhautzellen, entwickeln können. Sie werden entweder von em- bryonalem oder adultem Gewebe gewonnen. Mitt- lerweile gelingt es sogar, Hautzellen in Stammzellen zurück zu entwickeln, die dann wiederum in Photore- zeptorzellen weiterentwickelt werden. Der Aufwand ist jedoch sehr gross und es dauert sehr lange, bis genügend Zellen vorhanden sind. In den USA ist eine klinische Studie mit 16 RP-Patienten geplant. Auch mit Patienten mit Stargardt und AMD (trocken und feucht) gibt es klinische Studien mit Stammzellen. Die Transplantation von voll entwickelten Photorezepto- ren ist bisher noch nicht möglich. Es wird also noch viele Jahre dauern, bis aus dieser Forschung eine The- rapie wird. 30 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
2. Netzhautchip An der Konferenz präsentierten die Hersteller von Argus II (Second Sight Medical Products Inc.) und Alpha AMS (Retina Implant AG) ihre Produkte. Sie brachten auch je einen Träger des jeweiligen Implantates als Botschafter mit. Beide Implantate sind auf dem europäi- schen Markt, also auch in der Schweiz, zugelassen. Allerdings gibt es dafür in der Schweiz noch keine Fi- nanzierung über die Krankenkasse. Diese Technologie hat sich in den vergangenen Jahren sehr erfreulich entwickelt. Trotzdem kann nicht von einem «normalen» Sehen gesprochen werden. Wer einen solchen Chip trägt, ist nach wie vor auf einen weissen Stock ange- wiesen. Wer jetzt noch etwas sieht, wird von einem Netzhautchip nicht profitieren. 3. Optogenetik Gewisse Pflanzen und Tiere verfügen über lichtemp- findliche Proteine die ebenfalls elektrische Impulse produzieren. Wissenschaftler versuchen, diese Proteine mittels Molekulartechnik in die Netzhaut von Tieren mit RP einzubringen. Sie aktivieren dort die Bipolarzel- len. Im Sehzentrum wird dies dann als «Licht an» oder «Licht aus» wahrgenommen. Prof. José-Alain Sahel stellte die Versuche der Pariser Firma GenSight Biologics vor. 4. Neuroprotektion Neuroprotektive Faktoren (CNTF) können die Netzhaut- zellen vor dem Absterben schützen. Sie werden mit Retina-Suisse-Journal 3 -2016 31
einer reiskorngrossen Kapsel ins Auge implantiert, wo sie diese CNTF über längere Zeit abgeben. Verschiedene Forschungsgruppen studieren diesen Ansatz an RP- Patienten und Patienten mit Makuladegenerationen, z.B. um Prof. Matthew LaVail (USA) und Prof. José-Alain Sahel (Paris). 5. Transkorneale Elektrostimulation (TES) Aus der Entwicklung des Netzhautchips erkannten die Forschenden in Tübingen, dass die Netzhaut dank der elektrischen Stimulation durch das Implantat länger überlebt. Daraus entstand die Idee, den elektrischen Impuls über die Hornhaut – die Cornea – zu verabrei- chen. Ein Gerät wurde entwickelt und in vielen Versu- chen am Tiermodell und auch an Menschen mit Reti- nitis pigmentosa getestet. Das Produkt heisst «System OkuStim», ist in Europa zugelassen und wird auch in der Schweiz durch die Universitäts-Augenklinik Jules- Gonin in Lausanne angepasst. Am Kongress sprachen die Vertreter der Herstellerfirma Okuvision über die Er- gebnisse der TES-Studien und der multizentrischen in- ternationalen Anwendungsbeobachtung TESOLA. Die Studien zeigten gute Resultate, die durch eine weitere zur Zeit laufende Studie mit Patienten erhärtet wer- den sollen, deren Genmutationen bekannt sind. 6. Antioxidantien Dank der ARED-Studien ist die Wirksamkeit verschiede- ner Vitamine und Spurenelemente als Nahrungsmittel- zusätze in gewissen Fällen der altersbedingten Makula- 32 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
degeneration bekannt. Die Einnahme dieser Präparate soll jedoch mit dem Augenarzt abgesprochen werden. Auch bei Retinitis pigmentosa gibt es Studien an Tier- modellen (Van Veen, Campochiaro). Bis jetzt gibt es jedoch noch keine klinischen Studien. Generell ist die Aufnahme von Vitaminen und Spuren- elementen über die Nahrung lustvoller. Der Schreiben- de wünscht «en Guete!». 7. Gentherapie Dank der Entdeckung des Defekts im RPE65-Gen des Briard-Hundes «Lancelot» ist die Genersatztherapie bei RPE65 die erste derartige Therapie, die hoffentlich dem- nächst durch die FDA zugelassen wird. Für viele andere Genmutationen gibt es mittlerweile klinische Studien in allen Phasen der klinischen Forschung. Achromatop- sie, Choroideremie, Stargardt, Usher-Syndrom und viele mehr stehen im Fokus. Auch in der Schweiz soll 2017 eine orale Therapie für Patienten mit Mutationen in den Genen RPE65 und LRAT beginnen. Professor Gerald Chader fasste den Kongress in ge- wohnter Eloquenz zusammen. Er freute sich sehr da- rüber, dass nach so vielen Jahren der Grundlagenfor- schung endlich klinische Studien – und zwar sehr viele – mit ganz unterschiedlichen Therapieansätzen arbei- ten. Dies lässt darauf hoffen, dass auch für Patienten mit weit fortgeschrittenen Netzhautdegenerationen irgendwann doch eine Behandlung zur Verfügung ste- hen wird. Retina-Suisse-Journal 3 -2016 33
Den berührenden Abschluss des Kongresses bildete ein Chor junger Patienten mit RP. Sie sind Mitglieder von Retina Taiwan. Sie sangen ein selber komponiertes Lied über das Leben mit RP. Charles Bonnet-Syndrom – Interview mit Agnes Forster Jean Seiler; jean.seiler@retina.ch Viele Menschen mit unterschiedlich verursachten Seh- störungen sehen Dinge, dies es nicht gibt, nämlich so genannte Phantombilder oder medizinisch ausgedrückt visuelle Halluzinationen. Dieses Syndrom wurde bereits vom Genfer Philosoph Charles Bonnet erwähnt, als er die visuellen Halluzinationen seines geistig gesunden aber sehbehinderten Grossvaters beschrieb. Bei die- sem so genannten Charles-Bonnet-Syndrom (CBS), das aufgrund einer chronischen Sehverschlechterung bei normalem Bewusstsein auftritt, kommt es zu visuellen Trugwahrnehmungen, ohne dass eine akute psychiat- rische Erkrankung im eigentlichen Sinne vorliegt. Wie Menschen diese Phänomene oder Erscheinungen er- leben und wie sie damit umgehen zeigt das folgende Interview, das ich bei Agnes Forster durchführen durfte. Agnes ist 86 Jahre alt und wohnt selbständig in einem schönen Thurgauer Städtchen. Sie ist ihrem Alter ent- sprechend körperlich und vor allem geistig gesundheit- 34 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
lich gut unterwegs. «Mein Sehvermögen könnte jedoch besser sein», sagt sie. Ihre Grundproblematik betrifft ein zweifach operiertes Glaukom, sowie eine trockene AMD. Im Allgemeinen kommt Agnes mit diesen Sehbe- hinderungen erstaunlich gut zurecht. Sie schätzt, dass sie ihre potenziellen Sehreste nutzen kann. Daher ist sie auch mobil gut unterwegs. Sie kennt jedes «Högerli» in Ihrer Umgebung und nutzt ihren weissen Stock haupt- sächlich wegen der Sicherheit. Am liebsten sei sie alleine unterwegs, um nicht abgelenkt zu werden. Jean: Wann hast Du das erste Mal Erscheinungen ge- habt? Agnes: «Vor gut einem Jahr erschienen mir immer wie- der Bilder und ich wusste gar nicht, was ich damit an- fangen sollte. Wenn ich die Augen schloss, waren sie wieder weg. Aber draussen kann ich ja die Augen nicht schliessen. Es waren so Figuren und im Laufe der Zeit waren es immer unterschiedlichere und zahlreichere – einfach unheimlich.» Agnes erzählt auch, dass sie von einer gegenübersitzen- den Person Details nicht erkenne. Hier wird die Proble- matik komplex, da verschiedene Ursachen und verschie- dene Phänomene ineinander greifen. Sie schildert dann aber weiter, dass das Gegenüber, von dem sie wegen ihrer AMD die Details nicht sieht, auf einmal 2 Köpfe vor sich habe und das Schwierigste in dieser Situation sei, dass es verschiedene Köpfe seien und dies somit nicht mit Doppelsichtigkeit zu tun habe. Es könne sein, Retina-Suisse-Journal 3 -2016 35
dass sie einer Frau gegenübersitze und ein Kopf eines alten Mannes daneben auftauche. Jean: Hast Du diese Erscheinungen auch draussen? Agnes: «Es kann sein, dass ich auf dem Trottoir gehe und weiter vorne auf einmal Figuren auftauchen, die in Wirklichkeit gar nicht da sind. Diese sind nie nahe bei mir. Der Bereich um mich herum ist somit frei, so dass ich mich nicht bedrängt fühle. Es handelt sich dann immer um Menschen, Erwachsene oder Kinder, die ich sehe. Dabei muss ich aber heillos aufpassen, dass ich auf dem Trottoir bleibe und nicht irgendwie über die Kante hinaus einen Fehltritt begehe. Die Erscheinungen traten auch auf dem Beifahrersitz im Auto mit meiner Tochter auf. Ich hatte Angst sie überfahre die Kinder, die für mich mitten auf der Strasse auftauchten. Die Tochter erschrak sehr, weil ja gar keine Kinder da waren und fragte, ob es mir denn auch gut gehe. Ich habe es ihr dann beschrieben und die Tochter ging für den Moment nicht mehr darauf ein.» «Interessanterweise haben z. B. die Kinder, die immer wieder auftauchen, in den Kleidern jedes mal die glei- chen Muster und Farben.» Agnes kann die Kleider im Detail beschreiben, sogar den Schnitt und die Stoffart. Ein weiteres Detail sei, dass sie die Figuren immer von hinten sehe, also gehen diese quasi ihr voraus oder mit ihr und nie entgegen, also nicht bedrohlich. 36 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
Agnes: «Schwierig ist es, wenn sich tatsächlich noch andere Menschen in meiner Umgebung aufhalten. Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion kann ich dann nur noch klären, indem ich stillstehe, die Au- gen schliesse und die Figuren dann verschwinden. So kann ich den Unterschied feststellen. Andererseits ha- ben ja die erscheinenden Figuren immer die selben Klei- der an, also sind es ja fast «Bekannte» von mir: «Aha, jetzt sind die Kinder wieder hier»». Jean: Sind es immer menschliche Figuren oder siehst Du auch noch anderes? Agnes: «Wenn ich still sitze, sehe ich auch einen Blu- menstrauss, immer denselben. Auf einmal ist er wieder da.» In allen Details kann sie beschreiben, welche Blumen- sorten im Strauss vorhanden sind. Irgendwie liebt sie ihn, denn sie beschreibt ihn als schön. Jean: Hast Du schon Figuren in einem Zusammenhang mit einer Person oder einem Ereignis bringen können? Agnes: «Ich kann keine Verbindung zu etwas Realem herstellen, es handelt sich effektiv um Phantombilder. Zu Beginn der Erscheinungen hatte ich bei meiner Au- genärztin eine Octopus-Gesichtsfeldmessung. Dabei sind die Figuren auch aufgetreten, wonach ich dies der Ärztin berichtete. Sie sagte nur, sie kenne dies, ich müs- se aber keine Angst haben. Meiner Tochter war diese Erklärung jedoch zu wenig präzise und sie bestand Retina-Suisse-Journal 3 -2016 37
darauf, dass ich nochmals hingehe. Am Telefon erhielt ich einen Termin, ich hätte Glück, denn morgen sei eine Spezialistin da für solche Fälle. Diese Frau untersuchte mich mit irgendwelchen Stäbchen mit Bildern. Damit mass sie den Abstand von mir bis zum Endpunkt an dem ich das Bild nicht mehr sehe würde. Nach einer da- rauf folgenden Befragung sprach sie über Doppelsich- tigkeit. Mit dieser Erklärung war ich aber nicht zufrie- den, denn ich sehe ja nicht zweimal dasselbe, sondern daneben ein völlig anderes Bild oder Gesicht. Damit war die Abklärung zu Ende, sie könne mir nicht helfen. Die Augenärztin riet mir, dass ich eine MRI-Untersu- chung machen soll. Ich soll einfach die Ruhe bewahren, das sei im Moment das Wichtigste. Die nächsten zwei Wochen war meistens schlechtes Wetter und ich muss- te mich immer wieder ausruhen. Mit der Ruhe sind die Phänomene weniger aufgetreten. Ich merkte, dass diese nur auftreten, wenn ich in Bewegung bin. Nachts war immer Ruhe. Das ist das Positive an der Geschichte, dass ich wenigstens gut schlafen kann. Jean: Hast Du irgendwelche Medikamente erhalten? Agnes: «Nein, Gott sei Dank nicht. Wir haben ja dann zusammen telefoniert und du hast mir gesagt, dass es sich wahrscheinlich um das Charles-Bonnet-Syndrom (CBS) handeln könnte und hast es mir dann erklärt. Beim Physiotherapeut erschienen wieder Figuren, wor- auf er mir riet, mich sofort beim Hausarzt anzumelden und die Hautärztin, die ich in diesen Tagen ebenfalls aufsuchen musste, meldete mich sofort beim Hausarzt 38 Retina-Suisse-Journal 3 -2016
an. Alle hatten bis hierher die Ansicht, dass das Phäno- men neurologisch bedingt sei und deshalb sofortiger Handlungsbedarf bestehe, eine Abklärung in der psy- chiatrischen Klinik. Gleichentags stand ich dann beim Hausarzt in der Praxis und mir war inzwischen regel- recht unwohl. Dieser eröffnete mir, dass ich gut ver- sorgt sei und alle notwendigen Medikamente erhalte. Ich soll versuchen schöne Orte zu besuchen und die po- sitiven Dinge des Lebens zu sehen. Aber machen kön- ne man da nichts. Mit diesem Bericht, dass dies völlig harmlos sei und es dafür keine Medikamente brauche, sowie mit deiner Erklärung betreffend dem CBS, dass es sich dabei nicht um eine Krankheit handle. Ich war dann beruhigt, ging aus der Praxis in die Konditorei und fei- erte dies mit einem guten Stück Kuchen.» Jean: Wie haben deine Angehörigen reagiert? Agnes: «Sie haben nie zu verstehen gegeben, dass mit meinem Hirn etwas nicht in Ordnung sei. Ich muss zwar gestehen, ich habe bei meinen Leuten eher zurückhal- tend über meine Erscheinungen gesprochen. Mit der Zeit habe ich dann auch schon so brockenweise etwas gesagt, wie bei den beiden Frauen, die zu einem Spiel- nachmittag zu mir kamen. Auf einmal habe ich zwei Phänomen-Buben weggescheucht und die zwei Frauen fragten mich, was ich habe. Dann sagte ich: «Ich habe gerade zwei Buben weggescheucht». Logischerweise haben die Frauen nichts weiter darauf erwidert. Anders war es in der Kontaktgruppe für Menschen mit einer Sehbehinderung, die du leitest. Da hast Du ja auf mein Retina-Suisse-Journal 3 -2016 39
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