Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil

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Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
Kanton St. Gallen
Kantonsschule Wattwil

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                        XXXXXXXX

2021
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
Inhalt
Campus Wattwil

Martin Gauer Mit Blick nach vorne	                             3
Stefan Kölliker Bildungschancen und Föderalismus               4
Franz Eberle Zur Bedeutung von Gymnasien auf dem Lande	        6
Hochbauamt St.Gallen Die Planung und Realisierung eines
Gymnasiums im Toggenburg 	                                      8
Jörg Rüesch Der Bezug zum «Modulor» von Le Corbusier           12
Alois Gunzenreiner Die Kantonsschule stärkt das regionale
Zentrum                                                        14
Susanne Hartmann Eine Einheit, ein Campus                      16
Michael Fischer «Das Atrium überzeugt»                         18
Lernen am Gymnasium                                            20
Mathias Gunz & Michael Künzle Ein Projekt im Team              22

Renate Graf Schülerzahlen im Querschnitt                       26
Guido Bannwart Die FMS, ein dynamischer Ausbildungsgang        28
Hannes Steinebrunner FMSplus im Praxistest                     31
José Gomez Die Chancen und Risiken der IT-Bildungsoffensive    34
Emil Müller Die Kanti Wattwil bringt die Informatik voran      38
Felix Berger Die neue Talentklasse Sport                       40
Simon Ammann Profisport und Schule                             41

Michael Boller Unterricht unter Corona-Bedingungen             42
Barbara Bucher Was für ein Theater!                            44
Claudia Dischl Ausschnitte aus der Lesung der «Pest»           46
Jost Kirchgraber Theatererinnerungen ...
oder was an der Kanti auch sonst noch so über die Bühne ging   48

Jubiläen

50 Jahre Kanti Wattwil: CHANCE                                 54
50 Jahre Kanti-Chor «cantacanti»                               56
30 Jahre «il mosaico»                                          60
25 Jahre Big Band                                              62
Vor 25 Jahren – und heute                                      64
Silvianne Blosser Als erste Festangestellte dabei              66
Wolfgang Sieber Vom ersten Tag an dabei                        67

Unsere Abschlussklassen                                        68
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
Mit Blick nach vorne
Ein fensterreiches, in hellblauer Fassade     Ordnung markant prägt und das kom-
gekleidetes Gebäude stattlicher Dimen-        munikative lnnenleben zum Hauptthema
sion – die Computeranimation lässt er-        macht, ist sehr beachtenswert» (Jurybe-
               ahnen, welches Panorama        richt 2021:31). Der Campus ist konzipiert
               sich uns künftig auf dem       als Ort der Begegnung, des Austauschs
               neuen Schulweg bieten          und der Zusammenarbeit – in und zwi-
               wird. Läuft alles nach Plan,   schen den Klassen, aber auch zwischen
               findet der Unterricht schon    den Schulen, denn die Kanti Wattwil und
               2025 im Campus Wattwil         das Berufs- und Weiterbildungszentrum        3
               statt, der auf dem heutigen    Wattwil (BWZT) rücken 2028 zusammen.

                                                                                          Editorial
               Areal der Aussensport­
               anlagen Rietstein entsteht.    Wir haben die Begegnung
Doch noch führt unser Schulweg zum            und die Zusammenarbeit
«Bergkristall» an der Näppisueli­strasse.     ganz besonders vermisst
Die Schülerzahlen auf S. 26 zeigen ein-       im letzten Jahr. 50 Jah-
drücklich auf, wie weitsichtig der Ent-       re Kanti Wattwil, 50 Jah-
scheid in den 60er-Jahren des letzten         re Chor «cantacanti»,
Jahrhunderts war, auf Landschulen zu          30 Jahre «il mosaico» und
setzen: Mit phasenweise über 900 Schü-        25 Jahre Big Band – prak-
lerinnen und Schülern hat die Kanti Watt-     tisch alle Jubiläumsanläs-
wil sämtliche Erwartungen übertroffen ...     se fielen der Pandemie zum Opfer. Der
und platzt aus allen Nähten.                  zweite Teil der QUER-Ausgabe erinnert
Schon bald mussten Zusatzräume auf            an die Jubiläen, an Aufgeschobenes und
der anderen Seite der Thur zugemietet         Aufgehobenes – aber auch an innovati-
werden und bis heute kommen die Schü-         ve Formen kreativen Schaffens im
lerinnen und Schüler, aber auch etliche       Social-Distance-Modus wie
Lehrpersonen allein schon wegen des           auch an die Projekte,
Wegs zwischen den Schulgebäuden dem           die mit den Locke-
Tagesziel von 10 000 Schritten pro Tag        rungsmassnahmen
erheblich näher.                              wieder aufkeimen
                                              Ich wünsche Ihnen
Das Siegerprojekt der Architekten Gunz,       eine spannende und
Weber & Künzle (Zürich), «Céleste»,           abwechslungsrei-
schafft einen zentralen Lern- und Le-         che Lektüre!
bensort im Zeichen der Kommunikation.
Dieser Aspekt erwies sich für das Sie-        ■ Martin Gauer,
gerprojekt als matchentscheidend, wie         Rektor
dem Jury-Bericht zu entnehmen ist: «Der
Vorschlag, die Kantonsschule in einem
Komplex zu lösen, der die städtebauliche
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
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Campus Wattwil

                 Bildungschancen und
                 Föderalismus
                 Im grossflächigen, ringförmig angelegten   Die Bildungschancen in den ländliche-
                 Kanton St. Gallen ergeben sich für viele   ren Regionen des Kantons erhöhten sich
                 Regionen automatisch weite Distanzen       schlagartig mit der Dezentralisierung der
                 in die Hauptstadt. Im verkehrstechnisch    Mittelschulbildung im Kanton St. Gal-
                 erst schlecht erschlossenen jungen Staat   len. Schon kurz nach der ersten staat-
                 St. Gallen des 19. Jahrhunderts wandten    lich geführten «Landmittelschule» (1963
                 sich deshalb viele Jugendliche Bildungs-   Sargans) wurde 1970, also vor 51 Jah-
                 stätten ausserhalb des Kantons zu. Die     ren, die Kantonsschule Wattwil eröffnet.
                 Kantonshauptstadt lag fernab, zudem        Später kamen Heerbrugg und Wil dazu.
                 misstrauten viele Familien der staatli-    Unüberbrückbar lange Schulwege zu
                 chen, liberal geführten Kantonsschule in   den Bildungsstätten der Sekundarstu-
                 St. Gallen.                                fe II waren fortan kaum mehr ein Thema.
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                                                                                                                  Campus Wattwil
Abb.: Michael Fischer, Susanne Hartmann, Stefan Kölliker, Alois Gunzenreiner

                 Die neuen Bildungsinstitute stiessen al-              von Musik und der Naturwissenschaften
                 len Unkenrufen zum Trotz auf grossen                  gelingt es der Schule immer wieder, weit
                 Anklang und entwickelten sich prächtig.               über die Regionsgrenzen hinaus Akzente
                 Gerade in Wattwil kommt dazu, dass die                zu setzen. Dies soll so bleiben. Mit
                 Schule Regionen zusammengebracht hat,                 dem Grossprojekt «Gymnasium
                 die sonst nur wenig gemeinsam hatten.                 der Zukunft», das die Über-
                 Staatspolitisch betrachtet kann die Grün-             prüfung von Strukturen und
                 dung von Kantonsschulen daher als föde­               Inhalten zum Ziel hat, stellt
                 ralistischer Akt bezeichnet werden, bei               der Kanton St. Gallen sicher,
                 dem sich die Regionen des vielgestaltigen             dass das Erfolgsmodell Gym-
                 Kantons deutlich nähergekommen sind.                  nasium auch künftig am Puls
                 Erfreulich ist, dass die Stimmbürgerinnen             der Zeit ist.
                 und Stimmbürger im November 2019 im
                 Rahmen der Vorlage zum Campus Wattwil                 ■ Stefan Kölliker,
                 diesen Willen zum Zusammenhalt und zur                Regierungsrat,
                 Zusammenarbeit über den Ricken hinweg                 Vorsteher des
                 eindrücklich bekräftigt haben.                        Bildungs­
                                                                       departements
                 Baulich ist die Schule in die Jahre gekom-
                 men. Das erwähnte Campus-Projekt wird
                 hier Abhilfe schaffen. Die Schulqualität in
                 den angebotenen Lehrgängen Gymna-
                 sium und Fachmittelschule steht ausser
                 Zweifel. In Bereichen wie der Förderung
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Rückblick

            Zur Bedeutung von
            Gymnasien auf dem Lande
            Aufgewachsen in bescheidenen ökono-       ren Schichten eröffnet. Ich gehöre somit
            mischen Verhältnissen auf dem Lande       zu den Nutzniessern der staatlich ge-
            und in einem eher bildungsfernen Mili-    steuerten Bildungsexpansion, in deren
            eu, war es für mich nicht naheliegend,    Folge auch die Landmittelschulen des
            nach der obligatorischen Schule ein       Kantons St. Gallen entstanden. Auf Sar-
            Gymnasium zu besuchen. Es waren           gans folgten im Jahre 1970 Wattwil, 1975
            die Lehrer der Sekundarschule Flums,      Heerbrugg und als «Nachzüglerin» 2002
            die meine Eltern dazu brachten, ihren     Wil. Diese Schulen zogen auch neue Be-
            schulleistungsstarken Sohn zu den Auf-    rufskategorien in die Landregionen. So
            nahmeprüfungen 1970 der noch jungen       war auch meine Tätigkeit als Lehrer an
            Landmittelschule in Sargans anzumelden.   der Kantonsschule Wattwil und später
            Sie war 1963 im Zuge der sogenannten      an der Kantonsschule Sargans prägend
            Bildungs­expansion gebaut worden und      für meine weitere Berufslaufbahn bis zum
            hatte damit neue Bildungsmöglichkeiten    Professor an der Universität Zürich.
            für Kinder aus sozioökonomisch unte-
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
Mit Bildungsexpansion wird der starke        dungspolitischen Lösungen. Sie müssen
Ausbau des Bildungssystems in den            aber wohlüberlegt sein. Der Fachkräfte­
1960er und 1970er Jahren bezeichnet,         mangel beispielsweise würde eher für
der insbesondere auf der Sekundarstufe       einen weiteren Ausbau der Landmittel-
II und im tertiären Bereich erfolgte. An-    schulen sowie eine Spezialisierung bereits
lass dazu gaben vor allem drei Faktoren:     am Gymnasium sprechen. Für die Stär-
Erstens die stetige Zunahme der Bevöl-       kung der demokratischen Gesellschaft
kerung, zweitens das starke Wirtschafts-     mittels des zweiten gymnasialen Ziels
wachstum und ein damit einhergehender        der vertieften Gesellschaftsreife ist aber
Fachkräftemangel und drittens die gesell-    eine weiterhin breit gefächerte Bildung
schaftspolitischen Motive der Verbesse-      unabdingbar, was wiederum grössten-
rung der Chancengerechtigkeit und der        teils mit dem ersten gymnasialen Ziel der
Stärkung der demokratischen Mündig-          allgemeinen Studierfähigkeit harmoniert
keit. Während im Jahre 1960 die nationale    (Eberle & Brüggenbrock, 2013). Auch eine
gymnasiale Maturitätsquote noch bei 4 %      Erhöhung der Maturitätsquote über den
und 1970 bei 7 % lag, stieg sie bis 1980     aktuellen Schweizer Durchschnitt wäre                                       7
auf rund 10 % und bis 2010 auf rund 20 %     nachteilig. Sie ginge nicht ohne Senkung

                                                                                                                     Landgymnasium – Rückblick
an (Becker & Zangger, 2013, S. 428). Seit-   des durchschnittlichen Leistungsniveaus
her verharrte sie im Grossen und Ganzen      an den Gymnasien, denn es gibt den
bei diesem Wert. Im Kanton St. Gallen        Puffer der besser ausgeschöpften Bega-
hat sie sich bei im interkantonalen Ver-     bungsreserven nur noch sehr beschränkt.
gleich niedrigen rund 15 % eingependelt;     Die Weiterentwicklung der Gymnasien auf
es gäbe hier noch etwas Spielraum nach       dem Lande muss deshalb vor allem eine
oben. Insbesondere hinsichtlich des          qualitative sein.
zweiten Motors der Bildungsexpansion
wurde dahingehend argumentiert, dass         Literatur
durch den Ausbau der Mittelschulen auch      Becker, R. & Zangger, Ch. (2013). Die Bildungs-
                                             expansion in der Schweiz und ihre Folgen. Eine
die sogenannten ­«Begabungsreserven»         empirische Analyse des Wandels der Bildungsbe-
­besser ausgeschöpft werden könnten.         teiligung und Bildungsungleichheiten mit den Daten
 Weil es dieses schlummernde Potenzial       der Schweizer Volkszählungen 1970, 1980, 1990 und
                                             2000. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy-
 tatsächlich gab, war es dabei nicht not-    chologie, 65(3), 423–449.
 wendig, für die Erhöhung der Maturitäts-
 quote die Matura-Anforderungen nach         Eberle, F. & Brüggenbrock, C. (2013). Bildung am
                                             Gymnasium. Bern: EDK.
 unten ­anzupassen, wie das zuweilen be-
 hauptet wird.

Die auslösenden Gründe der Bildungs­                                               ■ Franz Eberle, bis 2019
expansion sind auch aktuell noch virulent,                                         Professor für Gymnasial- und
die heute nicht mehr wegzudenkenden                                                Wirtschaftspädagogik an der
Landmittelschulen haben die Probleme                                               Universität Zürich. In Flums
auch im Kanton St. Gallen nur teilweise                                            ­aufgewachsen, hat er seine
behoben. Zuwanderung, Fachkräfteman-                                                Matura in Sargans absolviert
gel, nur moderat abgebaute Chancen­                                                 und nach seinem Studium an
ungerechtigkeiten beim Zugang zu den                                                der Universität St.Gallen mit-
Gymnasien und fortlaufender Bedarf an                                               unter an der Kanti Wattwil
breiter und tiefer Allgemeinbildung als                                             unterrichtet. Seit 2020 ist er
wichtiges Fundament einer funktionieren-                                            Mitglied des Schweizerischen
den Demokratie rufen weiterhin nach bil-                                            ­Wissenschaftsrats.
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
Die Planung und ­Realisierung
eines Gymnasiums im
­Toggenburg
Neue Schulkonzeption in der Hochkonjunktur                     und Gleichberechtigung gegenüber der Stadt – wo bis
Zu Beginn der konjunkturstarken 60er Jahre des vergange-       anhin die meisten höheren Lehranstalten lagen – sollte
nen Jahrhunderts wurde von der Politik konstatiert, dass der   auch den fähigen jungen Leuten vom Land der Zugang
Bedarf an geschulten Menschen (Wissenschaftlern, Ingeni-       zur Bildung ermöglicht werden.
euren, Technikern, gebildeten Kaufleuten und Lehrpersonal)
durch das Zeitalter der Automation sehr stark angestiegen      Damit war der politische Grundstein gelegt für den Aus-
war und noch um ein Vielfaches zunehmen werde.                 bau des st.gallischen Mittelschulwesens, welcher mit
                                                               der Erweiterung der traditionellen Bildungsstätten in der
Dem Mangel an qualifizierten Kräften für die Wirtschaft        Kantonshauptstadt (Kantonschule Am Burggraben) und
und Lehre sollte gemäss der Empfehlung einer eidgenös-         in Rorschach (Lehrerseminar) seinen Anfang nahm. Mit
sischen Kommission durch den Ausbau, die Vermehrung            der Errichtung einer Zweigschule in Sargans und der
und insbesondere Dezentralisierung der Ausbildungs-            Initiierung einer Mittelschule Toggenburg fand diese neue
stätten begegnet werden. Daraus ergab sich für den Kan-        Schulkonzeption nun ihre erste Fortsetzung.
ton St.Gallen die Strategie, besonders das Potential der
ländlichen Regionen, welche in expansiver Entwicklung          In den Jahren 1960–1963 erarbeitete der Arbeitsaus-
waren, zu nutzen. Im Sinne einer Standortaufwertung            schuss einer Studienkommission des kantonalen Erzie-
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
hungsdepartementes in Zusammenarbeit mit dem Bau-           die künftige Entwicklung der Schule ist nach Massgabe
departement die Grundlagen für eine Zweigmittelschule       der angrenzenden Ueberbauung nicht ausgeschlossen.»
im Toggenburg.                                              (Standortwahl einer Zweigmittelschule im Toggenburg,
                                                            Baudepartement des Kantons St.Gallen, 19.03.1963)
Der Ausschuss untersuchte die Bedürfnisfrage, das
­Einzugsgebiet, Frequenzfragen, das Verhältnis zu den       Der Kantonsrat bewilligte in seiner Sitzung vom 5. No-
 Sekundarschulen, die Führung einer Seminarabteilung,       vember 1963 den Projektierungskredit für die bisherigen
 die Schulorganisation, das Raumprogramm, den Standort      Vorarbeiten, den Wettbewerb und die Projektierung des
 der Schule und deren Kosten für Erstellung und Betrieb.    Neubaus auf der bevorzugten Liegenschaft in Wattwil.
 Im Schlussbericht des Arbeitsausschusses wurde dem
 Standort Wattwil der Vorzug eingeräumt. Zwar schien        Im Folgejahr erfolgte die Überprüfung der Tauglichkeit für
 die Fläche des Grundstücks «Alter Gemeindeplatz» für       eine Mittelschule und Lehrerseminar mit 450 Schülern
 die Errichtung der notwendigen Gebäulichkeiten samt        in einem Projektwettbewerb auf Einladung. Nach der
 Sportplätzen nicht auszureichen. Doch überwogen im         Überarbeitung der drei erstrangierten Entwürfe fiel die
 Vergleich zu Lichtensteig die Vorteile: die unmittelbare   Wahl auf den Vorschlag von Otto Glaus und Heribert              9
 Nähe zum Bahnhof, die sonnige und ruhige Lage mitten       Stadlin – diejenigen Architekten, welche sich bereits

                                                                                                                         Architektur – Rückblick
 im Talgrund, die angrenzende Freifläche der Thur und die   bei der Erweiterung der Kantonsschule Am Burggraben
 vollständige Erschliessung des planierten Baugrunds.       (1962–1964) mit der Aufgabe des «neuen» Schulhaus-
                                                            baus für die Mittelschule auseinandersetzen konnten.
Die günstige Mitbenutzung eines Sportplatzes der
Gemeinde und die unmittelbare Nähe zum Volkshaus            Entsprechend einem Grundsatz der Architekten, dass
(heutiger Thurpark) ermöglichten Synergien, was zu-         funktionelle Forderungen nicht nur funktionell, sondern
sammen mit der Landschenkung durch die Gemeinde             auch ästhetisch und schön gelöst werden sollen, ent-
erhebliche Kosteneinsparungen für das Vorhaben mit          stand im Zusammenspiel von einzelnen Baukörpern ein
sich brachte. Dermassen entschlackt wurde dem Areal         funktionaler Zweckbau mit skulpturaler Wirkung. Wie-
die Eignung beigemessen: «Eine dreistöckige Überbau-        derkehrendes Element der äusseren Erscheinung sind
ung des in Frage stehenden Areals mit Rücksicht auf         rhythmisch angeordnete Stützen. Das bewegliche Mass-
                                                            system, welches dem Entwurf zugrunde liegt, ermöglicht
                                                            eine grosse Anpassungsfähigkeit – sowohl im Innern als
                                                            auch im äusseren Kubus – ohne die einheitliche Gestal-
                                                            tung zu gefährden.

                                                            Die Protokolle der grossrätlichen Kommission zeugen
                                                            von den intensiven Auseinandersetzungen mit der neuen
                                                            Schulkonzeption und deren konkreten Ausformulierung.
                                                            Der Diskurs umfasste grundsätzliche Fragestellungen
                                                            wie die Dezentralisierung mit Zweigmittelschulen, deren
                                                            Ausweitung zu Maturitätsschulen und gleichzeitigem
                                                            Angebot von Lehrerseminaren, aber auch Fragen zum
                                                            Verhältnis von neuen Schulen zum Ausbau des Stipen-
                                                            dienwesens wie auch Detailfragen zur Baugestaltung.
                                                            Projektionsfläche und Knetmasse war der dehnbare
                                                            Entwurf der Kantonsschule Wattwil. So konnte an der
                                                            kantonalen Volksabstimmung vom 28. Mai 1967 dem
                                                            Souverän ein gut geschnürtes Paket unterbreitet werden,
                                                            so dass eine Dreiviertel-Mehrheit der Bevölkerung den
                                                            Bau der Kantonsschule Wattwil befürwortete. Dies war
Kanton St. Gallen Kantonsschule Wattwil
Aufgrund der chronischen Überbelegung
                                                                                                    infolge der wachsenden Schülerzahl wur-
                                                                                                    de 2008 ein selektiver Projektwettbewerb
                                                                                                    für einen Neubau durchgeführt. Ziel war
                                                                                                    das Erlangen von Entwürfen für die ar-
                                                                                                    chitektonisch heikle Ergänzung der be-
                                                                                                    stehenden Schulanlage. Damit sollte die
                                                                                                    separate Mensa mit der Eingangshalle
                                                                                                    verbunden und gleichzeitig die Aufent-
10                                                                                                  haltszonen vergrössert werden. Das von
                                                                                                    «Eigen GmbH» sorgfältig ausgearbeitete
Architektur – Rückblick

                                                                                                    Siegerprojekt schlug vor, den Gesamtbau
                          der Startschuss für die konkrete Baueingabe und die letzten Ausfüh-       in derselben formalen Logik weiterzubau-
                          rungsplanungen.                                                           en. Die Autoren wählten – wie auch schon
                                                                                                    Stadlin zuvor – das Prinzip der Verschmel-
                          Folgen des Erfolgs                                                        zung und ergänzten das Fehlende sowohl
                          Das konstruktive Prinzip des anpassungsfähigen, modularen Rasters         in betrieblicher wie auch in architektoni-
                          kam dem Schulhaus zugute. So konnte noch während der Bauzeit –            scher Hinsicht.
                          aufgrund der veränderten Nutzerbedürfnisse – der westliche Teil des
                          Klassentraktes um drei zusätzliche Klassenzimmer erweitert werden,        Mit diesem Verbindungsbau wurde auch
                          ohne dass dadurch die Gesamtwirkung beeinträchtigt worden wäre.           die erste umfassende Sanierung der
                                                                                                    40-jährigen Bausubstanz ins Auge ge-
                          Am 20. April 1970 – nach nicht einmal zwei Jahren Bauzeit – nahm die      fasst.
                          Schule mit 154 Schülern in sieben Klassen, welche von 30 Lehrpersonen
                          unterrichtet wurden, ihren Betrieb auf. Die anfängliche Sorge um zu we-   Doch aufgrund des sich abzeichnenden
                          nig Schüler war unbegründet, denn schon vier Jahre nach der Eröffnung     Erneuerungsbedarfs und einer künftigen
                          war die Schülerzahl auf über 500 angestiegen. Die Kapazität der Schule    Auslegung auf 720 Schülerinnen und
                          stiess somit an ihre Grenzen; und um der stetig steigenden Nach­          Schüler verzichtete man auf die Umset-
                          frage nachkommen zu können, mussten ausserhalb des Schulcampus            zung des Verbindungstrakts und prüfte im
                          Räumlichkeiten zugemietet werden. Die entfernte Lage der externen         Jahr 2012 verschiedene Lösungsansät-
                          Schulräume und Sportstätten hatte natürlich auch Einwirkung auf die       ze, wie auf den ausgewiesenen Mehrflä-
                          betriebliche Organisation und den Stundenplan. Und die Heerscharen        chenbedarf bei gleichzeitiger Gesamter-
                          von Schülern fanden kaum noch Raum für Aufenthalt und Versorgung.         neuerung des Bestands reagiert werden
                                                                                                    kann. Mehrere Varianten zeigten, dass
                          Mit den Erweiterungsbauten im Jahre 1992, welche durch Heribert           eine Sanierung oder Erweiterung des
                          Stadlin als ein Weiterbauen des Bestandes im Sinne und Geist der          Hauptgebäudes ausgesprochen komplex
                          Gründerbauten entworfen wurden, sollte dem Platzmangel entge-             und kostenintensiv ist und dass bei einer
                          gengewirkt werden. Die Mensa als ein separates Gebäude neben              Sanierung mitunter ein Zielkonflikt öf-
                          dem Haupteingang, der verlängerte Naturwissenschaftstrakt und die         fentlicher lnteressen zwischen baulichen
                          neue Mediothek auf dem Dach der Turnhalle brachten jedoch keine           Massnahmen und dem Denkmalschutz
                          nachhaltige Abhilfe.                                                      besteht.
Aus diesem Grund wurden auch Umset-         einen Ersatzneubau für die KSW am Standort der heutigen Aussen-
zungsvarianten mit einem Ersatzneubau       sportanlage Rietstein, deren Eigentümer der Kanton ist.
an verschiedenen Standorten (Wattwil,
Uznach und Rapperswil) geprüft. Mit Be-     Die entwickelte Lösungsstrategie «Campus Wattwil» umfasst die Re-
schluss vom März 2015 nahm die Re-          alisierung eines Ersatzneubaus für die KSW sowie die Erneuerung
gierung die Abklärungen und vertieften      und Erweiterung des Berufs- und Weiterbildungszentrums Toggenburg
Planungen zur Kenntnis und bestätigte,      BWZT. Die unmittelbare Nachbarschaft der beiden kantonalen Schulen
dass nach wie vor am Mittelschulstandort    ermöglicht wichtige Synergien. Durch eine gemeinsame Konzeption und
in Wattwil aus bildungspolitischen, ver-    Nutzung von Aula, Mensa und Küche, Mediothek, Sportanlagen und
kehrspolitischen, finanzpolitischen sowie   anderen flankierenden Einrichtungen können Bau- und Betriebskosten
regionalpolitischen Überlegungen festge-    optimiert werden.
halten wird.
                                            Mit der deutlichen Annahme der bildungsrelevanten Vorlagen hat der
Schöne Aussichten                           Souverän ein starkes Zeichen für den Bildungsstandort Ostschweiz
Unter Berücksichtigung der Haltung des      gesetzt. Durch die bauliche und betriebliche Konzentration der beiden    11
Bildungsdepartementes aus Nutzersicht,      kantonalen Schulen in Wattwil kann nach jahrelanger Stagnation das

                                                                                                                     Architektur – Rückblick
den Erkenntnissen des Baudepartemen-        Bildungsangebot zeitgemäss und nachhaltig organisiert werden. Die
tes zur Schutzwürdigkeit der bestehenden    beiden konkreten Bauprojekte werden in zwei international ausge-
Anlage, der fehlenden Möglichkeiten von     schriebenem Architekturwettbewerben ermittelt und zeitlich aufeinander
Erweiterung am bestehenden Standort         abgestimmt umgesetzt, so dass die Kantonschule Wattwil im Jahre
sowie der Rahmenbedingungen und Per-        2025 in neuem Glanz erstrahlen kann.
spektiven eines Neubaus auf einem Er-
satzgrundstück favorisierte die Regierung   ■ Hochbauamt Kanton St.Gallen
12

     Der Bezug zum «Modulor»
     von Le Corbusier
        Die Betonarchitektur des 20. Jahrhun-       mit den kubisch gestalteten Elementen
        derts ist vielen unter uns durch die ei-    dennoch schlicht und elegant. Das Haus
        gene Schulzeit in einem derartigen          hat seinen Platz am Thurbogen gefunden.
        Haus vertraut und zu einem Stück Hei-       Es ist von markant krummwachsenden
        mat geworden. Die «Kanti Wattwil», ein      Föhren umgeben und entspricht in der
        ­Betonmonolith, wurde zur damaligen Zeit    Ausdrucksform den Idealen der dama-
         für diesen Ort als zu gross empfunden.     ligen Zeit. Das Gebäude mit der rohen
         Er wirkt mit seinen Fertigelementstützen   Betonkonstruktion und den vorfabrizier-
ten Stützen weisen drei wiederkehrende       gehend unverändert. Sie akzentuieren die
rhythmische Abstände auf, die auf den        plastische Wirkung in der Anordnung der
Modulor von Le Corbusier zurückgeht.         einzelnen Baukörper.
Der Modulor ist mir noch von meinem
eigenen Studium her vertraut. Kurz vor       Mit der Erweiterung der Mensa 1992, der
seinem Tod sagte Le Corbusier im bri-        Verlängerung des Naturwissenschafts­
tischen Fernsehen: «Heutzutage unter-        trakts und der neuen Mediothek auf der
nehmen Millionen von Menschen täglich        Turnhalle erfuhr der Bau grössere Verän-
eine sinnlose Fahrt mit dem öffentlichen     derungen. Die Erweiterung wurde vom
Verkehrsmittel oder dem Auto, was eine       am Gründungsbau beteiligten Architekten
ungeheure Verschwendung des moder-           Heribert Stadlin geplant. Das Bestreben
nen Lebens darstellt. Diese Menschen         ging dahin, die einzelnen Formen mög-
leben, wo sie nicht leben sollten; sie ar-   lichst genau zu übernehmen, wie im bau-
beiten, wo sie nicht arbeiten sollten. Un-   historischen Gutachten 2012 von Dr. phil.
ser gegenwärtiges Problem ist es, zu den     Leza Dosch, im Auftrag des Hochbauam-
Bedingungen der Natur zurückzukehren.»       tes des Kanton St.Gallen, beschrieben                   13
Diese Aussage erscheint mir brandaktuell.    wurde.

                                                                                                     Architektur – Rückblick
Unter diesem Zeitgeist in der Beziehung
von Natur und Architektur ist die «Kanti     Das Bauwerk erachte ich aus Sicht des
Wattwil» zu sehen. Zeitzeugen aus dieser     Heimatschutzgedankens als schützens-
Epoche haben denselben Stellenwert in        wert. Es lohnt sich, sich über eine zu-
der Architektur wie die Architektur frühe-   künftige Verwendung des Gebäudes im
rer Jahrhunderte.                            Zusammenhang mit dem Wandel in der
                                             Gesellschaft Gedanken zu machen.
Das Werk der «Kanti Wattwil» wurde von
den Architekten Otto Glaus und Heribert      ■ Jörg Rüesch, Vorstandsmitglied und
Stadlin aus St.Gallen 1970 vollendet. Der    Regionalvertreter Heimatschutz SG/AI.
plastische Innenausbau erscheint wie ein     www.kunst-architektur.ch
üppiges Innenfutter in einem skulptura-
len Betonkleid, vergleichbar mit einem
Kleidungsstück. Der Ausdruck aus dieser
Ära ist immer noch erlebbar, wirkt zeitlos
und authentisch. Die grob verputzten In-
nenwände und mit grünen Kacheln und
Holz verkleideten Innenräume sind weit-                       Der Modulor (frz. Moduler für dt.
                                                              Proportionsschema) ist ein vom Ar-
                                                              chitekten und Maler Le Corbusier
                                                              entwickeltes Proportionssystem.

                                                              Der Architekt Otto Glaus lernte Le
                                                              Corbusier als Mitarbeiter in dessen
                                                              Architekturbüro in Paris kennen und
                                                              Heribert Stadlin bestätigte in einem
                                                              Interview mit dem Magazin «Bauen
                                                              + Wohnen» (1971), dass sie bei der
                                                              Konzeption der Kanti Wattwil weit-
                                                              gehend nach den Modulor-Massen
                                                              von Le Corbusier gearbeitet hätten.
14
Rückblick

            Die Kantonsschule stärkt das
            regionale Zentrum
            Aus heutiger Sicht ist das Tempo, mit welchem die neue     kantonaler Arbeitsausschuss begonnen, die Grundlagen
            Kantonsschule Wattwil realisiert wurde, sehr beachtlich.   für eine Zweigmittelschule im Toggenburg zu erarbeiten.
            Mit der Überweisung der «Stipendien-Motion» beauftrag-     Dabei gab man aufgrund des Eisenbahnknotens dem
            te der St.Gallische Grosse Rat am 19. November 1963        Standort Wattwil den Vorzug. Der Gemeinderat handelte
            die Regierung, «… gleichzeitig mit der Vorlage über die    schnell und die Wattwiler Stimmbürger stimmten am
            Errichtung der Mittelschule Toggenburg, Bericht und        24. März 1963 dem Vorhaben zu, dem Kanton ihren Ge-
            Antrag für eine liberale Ausgestaltung der Stipendien-     meindeplatz für den Bau einer Kantonsschule zu schen-
            ordnung zu unterbreiten».                                  ken. Schon Mitte 1964 wurde ein Projektwettbewerb zwi-
            Offenbar war man sich in Wattwil schon früh bewusst,       schen Fachleuten aus dem Einzugsgebiet der künftigen
            wie zukunftsweisend der Bau einer Mittelschule für die     Schule lanciert. Nachdem Regierung und Parlament die
            regionale Entwicklung wird. Bereits ab 1960 hatte ein      Vorlage genehmigt hatten, stimmten am 28. Mai 1967
auch 74,35 % des St.Galler Stimmvolks
dem Bauprojekt sowie dem erforderlichen
Baukredit von Fr. 7 020 000 zu.

Eindrücklich aus heutiger Sicht ist, dass
sich in der Folge rund 150 Firmen und
Private entschlossen, das Projekt mit
Spenden im Umfang von Fr. 780 000 zu
unterstützen. Nach Abschluss der Projek-
tierungsarbeiten begannen bereits im Juli
1968 die Bauarbeiten. Trotz eines schnee-
reichen Winters konnte die Kantonsschule
Wattwil nach knapp zweijähriger Bauzeit
schon am 20. April 1970 planmässig er-
öffnet werden.                                 Rietwis die Sportinfrastruktur für die kan-
                                               tonalen Schulen deutlich erweitert und                15
153 Köpfe umfasste vor 50 Jahren die           zeitgemässer ausgestattet. In direkter

                                                                                                     Architektur – Rückblick
Schülerschar. Die Buben waren damals           Nachbarschaft wird die Badi ebenfalls
mit 85 Schüler zu 69 Schülerinnen noch         saniert und Elemente wie Minigolf oder
deutlich in der Überzahl. 46 von ihnen         Bistro werden erneuert. In der Summe
kamen aus dem Bezirk See, 6 aus dem            entsteht eine Sport- und Freizeitanlage,
Gaster, 25 aus dem Obertoggenburg, 32          welche für die Schülerinnen und Schüler
aus dem Neutoggenburg, 11 aus dem              sowie für den Lehrkörper die Aufenthalts-
Untertoggenburg und 10 aus der Region          möglichkeiten in Wattwil verbreitert. So
Wil. Die breite regionale Herkunft vermag      wird nicht nur die neue Kantonsschule,
auch zu erklären, dass die Abstimmungs-        sondern der ganze Campus mit allen Tei-
vorlage in allen Bezirken eine Mehrheit        len zu einem Leuchtturm für die gesamte
gefunden hatte.                                Region werden.

Da im April die Umgebungsarbeiten noch                                       ■ Alois Gunzenreiner,
nicht abgeschlossen waren und offenbar                                       Gemeindepräsident
auch das Wetter am ersten Schultag sehr                                      Wattwil
garstig war, erwies es sich als kluger Ent-
scheid, dass die offizielle Einweihungs-
feier erst auf den 5. Juni 1970 angesetzt
worden war.

Mit dem Entscheid über den «Campus
Wattwil» im November 2019 hat der kan-
tonale Souverän einen neuen Zeitab-
schnitt für die Kanti Wattwil eingeläutet.
Wiederum gelang es durch eine gute und
plausible Lösung den Bildungsstandort
zu sichern, ja für die Zukunft zu stärken.
Das Schulangebot auf allen Stufen ist für
das Toggenburg und Wattwil ein relevan-
ter Faktor für die Standortattraktivität. So
wird mit der neuen Gesamtsportanlage
16
Architektur – Aussichten

                           INTERVIEW MIT SUSANNE HARTMANN, REGIERUNGSRÄTIN

                           Eine Einheit, ein Campus
                                    Susanne Hartmann steht dem Baude-           An welche Räumlichkeiten der Kanti
                                    partement des Kantons St.Gallen vor         Wattwil erinnern Sie sich besonders?
                                    und ist seit 2020 Mitglied der St.Galler    Der Eingangsbereich war für mich das
                                    Regierung. Sie ging selbst an die Kanti     Herz der Kanti. Damals gab es noch keine
                                    Wattwil zur Schule und äussert sich         Mensa. Jeden Mittag sassen wir im Ein-
                                    zum Campus Wattwil.                         gangsbereich, auch wenn es dort oft kalt
                                                                                war wegen des Durchzugs. Unser Essen
                                    Susanne Hartmann, Sie haben an der          haben wir in Tupperware mitgebracht.
                                    Kanti Wattwil das Lehrerseminar ab-         Besonders gut erinnere ich mich an die
                                    solviert und sind heute Vorsteherin des     begrenzte kulinarische Vielfalt: Linsen
                                    Baudepartements: Wie würden Sie Ih-         und Dosenravioli standen damals hoch
                                    ren beruflichen Weg beschreiben?            im Kurs.
                                    In drei Worten zusammengefasst: vielfäl-
                                    tig, spannend und unkonventionell. Nach     Was war das Wichtigste, was Sie von
                                    meiner Arbeit als Primarlehrerin sattelte   der Kantizeit in Wattwil mitgenommen
                                    ich um und wurde Rechtsanwältin. Da-        haben?
                                    nach trat ich mein Amt als Stadtpräsi-      Wie immer sind es die Menschen, an die
                                    dentin von Wil an. Heute bin ich Regie-     wir uns erinnern. Wir hatten eine wahn-
                                    rungsrätin. Der Wechsel von der Lehrerin    sinnig tolle Klasse im Lehrerseminar. Mit
                                    zur Rechtsanwältin ist vermutlich eher      sehr vielen ehemaligen Semikolleginnen
                                    unüblich. Für mich war es eine Bereiche-    – vor allem aus dem Linthgebiet – habe
                                    rung. Ich bringe einen breiten Rucksack     ich heute noch engen und regelmässigen
                                    mit unterschiedlichen Erfahrungen mit.      Kontakt.
Wie sieht für Sie die ideale Schule als       Projektwettbewerb «Campus Wattwil».
                                               Lern- und Lebensort aus?                      Wie haben Sie den Jurywettbewerb bis
Abb.: © Baudepartement des Kantons St.Gallen

                                               Die Schule ist idealerweise ein Ort, an       jetzt erlebt?
                                               dem junge Menschen Neues lernen, Din-         Ein Architekturwettbewerb für ein solch
                                               ge ausprobieren, Fehler machen dürfen         grosses Projekt ist Knochenarbeit. Die
                                               und lernen, Entscheidungen zu treffen.        Pandemie hat unsere Arbeit erschwert,
                                               Reine Informationsvermittlung von Lehre-      da physische Treffen schwieriger waren.
                                               rin oder Lehrer zu den Schülerinnen und       Hinzu kommt: Die Aufgabenstellung für
                                               Schülern hat heute nicht mehr denselben       den Neubau der Kantonsschule war an-
                                               Stellenwert. Junge Menschen sollen be-        spruchsvoll. Ich bin aber überzeugt, dass
                                               fähigt werden, sich untereinander auszu-      die Jury das richtige Projekt ausgewählt
                                               tauschen und gemeinsam zu Lösungen            hat. Das Siegerprojekt hat uns vollends
                                               zu kommen. Die Lehrpersonen wiederum          überzeugt. Die vielen Arbeitsstunden ha-
                                               sollen die Schülerinnen und Schüler an-       ben sich also gelohnt.
                                               leiten und unterstützen.                                                                   17

                                                                                                                                          Architektur – Aussichten
                                               Welche sind die wichtigsten Kriterien,        Sie verfolgen aufgrund Ihrer berufli-
                                               die der Campus Wattwil Ihrer Ansicht          chen Tätigkeit den öffentlichen Diskurs
                                               nach erfüllen muss? Oder anders ge-           zu grossen Bauvorhaben seit mehre-
                                               fragt, was muss anders sein als im al-        ren Jahren aus nächster Nähe. Was
                                               ten Bau aus dem Jahr 1970?                    hat sich verändert und wo liegen die
                                               Für mich sind Offenheit und Kommunika-        Schwerpunkte heute?
                                               tion zwei gute Stichworte für den Neubau      Bei Bauvorhaben gilt es, zwischen Hoch-
                                               der Kantonsschule. Die Stockwerke im          und Tiefbauten zu unterscheiden. Stras-
                                               neuen Gebäude sind offen ausgestaltet,        senbauvorhaben werden heute häufig
                                               was den Austausch über alle Geschosse         ideologisch diskutiert, die einzelnen Ver-
                                               ermöglicht. Wichtig war natürlich auch,       kehrsmittel werden gegeneinan-
                                               dass die neue Kanti und die Berufsschule      der ausgespielt. Was für beide
                                               zusammen als eine Einheit, also als ein       Bereiche gilt: Die Themen
                                               Campus, wahrgenommen werden. Des-             Nachhaltigkeit, Umwelt und
                                               halb sind die gemeinsamen Nutzungen           Energie haben in der öffent-
                                               wie die Mensa zur Berufsschule hin aus-       lichen Diskussion an Bedeu-
                                               gerichtet.                                    tung gewonnen.

                                               Ab 2025 soll der Unterricht in der neu-       ■ Für das Interview: Renate
                                               en Kantonsschule stattfinden – wie            Graf, Rektoratsassistentin
                                               schätzen Sie diesen Zeitplan ein? Wo
                                               orten Sie allfällige Hindernisse?
                                               Der Zeitplan ist aus heutiger Sicht realis-
                                               tisch. Zu Verzögerungen kann es kom-
                                               men, wenn es gegen das Vorhaben Ein-
                                               sprachen gibt.

                                               Sie sind seit knapp einem Jahr Regie-
                                               rungsrätin als Vorsteherin des Baude-
                                               partements und somit Teil der Jury zum
Abb.: © Baudepartement des Kantons St.Gallen
18
                           INTERVIEW MIT MICHAEL FISCHER, KANTONSBAUMEISTER
Architektur – Aussichten

                           «Das Atrium überzeugt»
                           Herr Fischer, Sie sind als Kantonsbau-         und die Turmuhr wie auch an die Zentrumszone des
                           meister Teil der Jury zum Projektwett-         neuen Campus.
                           bewerb "Campus Wattwil". Wie haben             Zweitens interessierten uns in der Umsetzung des Raum-
                           Sie den Jurywettbewerb erlebt?                 programms die Überlegungen zum Lernen in der Zu-
                           Ich habe den Wettbewerb sehr positiv           kunft. Wie erwähnt, haben viele das Gefühl zu wissen,
                           erlebt: Wir hatten fachlich und mit den        wie eine Schule funktioniert. Aber die Schule wird in
                           zukünftigen Nutzenden sehr gute Diskus-        Zukunft anders aussehen als heute: Man wird in Gruppen
                           sionen sowie genug Zeit, um die 70 Pro-        arbeiten oder individuell, um dann wieder im Plenum
                           jekte, die eingegangen sind, sorgfältig        ­zusammenzukommen. Wir suchten in den Projekten
                           zu prüfen. Ein so hoher Zulauf ist übri-        nach Lösungen zu neuen Lernformen.
                           gens nicht ungewöhnlich, da es immer
                           weniger offene Wettbewerbe gibt. Auch          Wie setzt sich eine Jury für einen Wettbewerb zu-
                           haben viele das Gefühl, das «Programm          sammen? Nach welchen Kriterien werden die Jury-
                           Schule» zu verstehen und einfach lösen         mitglieder gewählt?
                           zu können.                                     Der Wettbewerb wurde nach den Vorgaben des Schwei-
                                                                          zerischen Ingenieur- und Architektenverbands (SIA)
                           Was waren Ihrer Ansicht nach die               ausgeschrieben. Es wird zwischen Fachjuroren und
                           wichtigsten Kriterien, die von den ein-        Sachjuroren unterschieden. Die ersten sind Experten
                           gegangenen Projekten erfüllt werden            aus Architektenkreisen und die zweiten setzen sich aus
                           mussten?                                       Vertreterinnen und Vertretern der Schule, des Bildungs-
                           Das Siegerprojekt soll erstens auf der         und des Baudepartements zusammen. Die Fachjuroren
                           städtebaulichen und architektonischen          stellen eine Person mehr als die Sachjuroren.
                           Ebene eine Lösung bieten, die der Um-
                           gebung Rechnung trägt. Ich denke da an         Welche Regeln gelten für die Jurymitglieder?
                           die Ebnaterstrasse, an den Verkehr, an         Die Juroren verpflichten sich, die Schweigepflicht einzu-
                           die Turnhalle Rietstein, an den Kirchturm      halten. Zudem hören wir auf die zukünftigen Nutzenden
Wie haben Sie auf das Projekt reagiert,
                                                          als Sie die Pläne und das Modell zum
                                                          ersten Mal sahen?
                                                          Für mich war schnell klar, dass es wohl ein
                                                          Favorit sein würde. Man merkt dies daran,
                                                          dass einem ein Projekt ins Auge springt.

                                                          2025 soll der Unterricht im neuen Ge-
                                                          bäude der Kanti Wattwil stattfinden –
                                                          wie schätzen Sie diesen Zeitplan ein?
                                                          Der Zeitplan ist realistisch, aber sportlich.
                                                          Er lässt sich einhalten, wenn im Bewilli-
                                                          gungsprozess keine Einsprachen einge-
                                                          hen. Doch wir sind zuversichtlich, dass                     19
                                                          wir das Projekt in gutem Einvernehmen

                                                                                                                      Architektur – Aussichten
                                                          mit der Nachbarschaft realisieren können.

                                                          Wann wird voraussichtlich die Einwei-
                                                          hung des gesamten Campus Wattwil
                                                          sein, und worauf freuen Sie sich ganz
des Projekts, denn wenn wir ein Projekt aussuchen, in     besonders dabei?
dem sie sich nicht wiedererkennen, haben beide Seiten     Wenn alles gut läuft, werden wir das
viel zu verlieren.                                        BWZT im Jahr 2028 saniert haben und
                                                          dann wird der Campus Wattwil endgül-
Wie läuft die Jurierung ab? Gibt es Vorgaben, die         tig Realität. Ich freue mich auf das neue
zwingend eingehalten werden müssen?                       Modell, wo sich Berufsschule und Mittel-
Wer ein Projekt einreicht, gibt auch ein Modell in der    schule einige Infrastrukturen teilen, und
Skala 1:200 ab. Zuerst werden in kleineren Gruppen die    hoffe, dass dies das gegenseitige Ver-
Projekte anhand der Modelle verglichen. In einer zwei-    ständnis und die Kommunikation unter
ten Stufe werden die Pläne studiert. Am ersten Jurytag    den Schülerinnen und Schülern fördert.
haben wir aus den 70 eingegangenen Projekten acht
Favoriten ausgesucht. Diese wurden noch einmal von
Fachspezialisten auf Herz und Nieren geprüft, bevor am
zweiten Jurytag das Siegerprojekt gekürt wurde.
                                                                                          ■ Michael Fischer, Leiter
Was sprach für das Projekt «Céleste»?                                                     des Hochbauamtes,
Erstens hat es eine klare städtebauliche Setzung und                                      vormals Partner beim
zweitens überzeugt uns das grosse Atrium. Die Archi-                                      Büro Herzog & de
tekten haben sich mit der Schule der Zukunft ausei-                                       Meuron in Basel. Er
nandergesetzt und ihr Projekt unterscheidet sich von                                      plante unter anderem
zahlreichen anderen, bei denen die Einteilung in Klas-                                    das Bergrestaurant und
senzimmer und Flure vorherrschte. «Céleste» versucht                                      die Gondelbahn auf
mit dem Atrium etwas Neues zu machen und eine Lern-                                       dem Chäserrugg.
landschaft zu schaffen, die mit dem Tageslicht von oben
zusätzlich aufgewertet wird.
AUS DEN AUSSCHREIBUNGSUNTERLAGEN

Lernen am Gymnasium
In den Ausschreibungsunterlagen            Projektziele
zeichnen die «Projektziele» ein Bild
davon, wie der Unterricht in Zukunft       Die Kantonsschule Wattwil ist ein Ort, der zum Lernen
aussieht und welche Ansprüche da-          animiert und einlädt, ein Ort des Lernens und Lehrens, ein
durch an den Neubau eines Campus           Ort für die Entfaltung und der persönlichen Entwicklung.
gestellt werden.                           Gleichzeitig ist sie als Arbeitsort ein Ort des Lebens, der
Wie dem Interview mit Michael Fischer      Begegnung und des Austauschs und insbesondere der
zu entnehmen ist, hat die Erfüllung die-   Zusammenarbeit.
ser Vorgabe die Wahl des Projekts we-
sentlich beeinflusst.                      Unterricht ist keine starre Konstante, sondern entwickelt
                                           sich dynamisch. Vielfältige Lehr- und Arbeitsmethoden
                                           sind Voraussetzung für den Aufbau von fachlichen wie
                                           auch überfachlichen Kompetenzen. Neben den regulären
                                           Unterrichtszimmern stehen an der neuen Kanti deshalb
                                           auch grosszügige Lernorte für alternative Unterrichts-
                                           settings zur Verfügung. Die Räumlichkeiten bieten einen
                                           Rahmen für moderne und künftige Unterrichtsformate wie
individuelles, eigenverantwortliches
Lernen oder Lernen innerhalb und aus-
serhalb der Stammklassen und tragen
massgeblichen Einflussfaktoren auf
die Unterrichtsentwicklung Rechnung,
aktuell beispielsweise der Digitalisie-
rung. Vielfältige Lern- und Arbeitsare-
ale in Schulhaus und Aussenflächen
ermöglichen und unterstützen die un-
terschiedlichen pädagogischen Set-
tings. Die Räumlichkeiten sind funk-
tional zusammenhängend konzipiert
und beinhalten grössere zentrale wie
kleinere dezentrale Lernlandschaften.
Hohe akustische und raumklimatische
Standards bieten den Benutzern ein                                                                   21
hohes Mass an täglicher Aufenthalts-

                                                                                                     Architektur – Aussichten
qualität. Flexible Lösungen schaffen
Raum für künftige Entwicklungen und       eine stärkere Anbindung des Areals an das bestehende
Anpassungen.                              Berufs- und Weiterbildungszentrum und die gemein-
Mit dem Projektwettbewerb wird ein        same Aussensportanlage Rietwis (weiter südlich des
sowohl wirtschaftlich und funktional      Planungsperimeters gelegen) ermöglicht. Es soll qua-
wie auch städtebaulich und architek-      litätsvolle Freiräume bieten sowie eine neue räumliche
tonisch überzeugendes Projekt mit         Identität schaffen. Mit dem Öffentlichkeitscharakter als
einem Team für die Projektierung und      Begegnungs-, Lern- und Arbeitsort soll ein wesentlicher
Realisierung gesucht.                     Beitrag zur Ortsentwicklung geleistet werden.

Es soll eine städtebaulich, architek-     ■ Quelle: Wettbewerbsprogramm Campus Wattwil.
tonisch und freiräumlich stimmige         Ersatzneubau Kantonsschule (KSW)
Gesamtanlage entstehen, welche
22
                                    Abb.: © Gunz & Künzle
Architektur – Aussichten

                           INTERVIEW MIT DEN ARCHITEKTEN MATHIAS GUNZ UND MICHAEL KÜNZLE

                           Ein Projekt im Team
                                    Herzlichen Glückwunsch für Ihr Sie-         Die neue Kantonsschule soll ein kom-
                                    gerprojekt «Céleste»! Gab es einen          munikatives und kollaboratives Gebäude
                                    bestimmten Moment und Ort, wo es            werden, das die Kreativität seiner Nutzen-
                                    «klick» gemacht hat und die Idee ent-       den ins Zentrum stellt. Als offene Halle
                                    standen ist?                                soll sie der Dreh- und Angelpunkt des
                                    Ja, wir hatten zuerst lange einen anderen   gesamten Campus werden.
                                    Ansatz verfolgt. Aber wir wussten schon
                                    von Anfang an, dass die gesuchte Idee       Wie kamen Sie auf «Céleste»?
                                    in all ihren Aspekten vom Flussraum der     Das Herzstück der neuen Schule ist – wie
                                    Thur, an die ja der neue Campus ange-       vorher erwähnt – die Lernlandschaft im
                                    bunden werden soll, zu leben hat. Dann      Atrium. Über ihr schwebt das Oberlicht,
                                    ist es uns gelungen – wie so oft im Er-     das sie in ein «himmlisches» Licht taucht.
                                    folgsfall – zwei Widersprüche unter ei-
                                    nen Hut zu bringen: die neutrale, allsei-   Kannten Sie das Toggenburg und Watt-
                                    tig nach aussen gerichtete Anordnung        wil vor der Ausarbeitung des Projekts?
                                    der Unterrichtszimmer versus eine klare     Wir beide stammen aus der Ostschweiz;
                                    Ausrichtung des Gebäudes auf die Thur.      aufgewachsen sind wir in St. Gallen. Uns
                                    Letzteres glückte mit der kaskadenartigen   verbindet viel mit diesem Teil der Schweiz.
                                    Landschaft im Herz des Gebäudes, die        Eine vertiefte Auseinandersetzung mit
                                    sich zur Thur hin öffnet.                   dem Ort und dem Landschaftsraum, in
                                                                                den ein Projekt hinein erdacht wird, ist bei
                                    Welche Vision verfolgen Sie mit Ihrem       uns aber so oder so quasi in den Grund-
                                    Projekt?                                    leistungen enthalten.
Wie viel Arbeit steckt hinter der Ent-
wicklung einer solchen Projekteingabe            Die neue Kantonsschule soll ein kommunikatives
und wer trägt das Risiko?                          und kollaboratives Gebäude werden, das die
Wir pflegen die Idee für ein Projekt im           Kreativität seiner Nutzenden ins Zentrum stellt.
Team zu erarbeiten. Dazu gehört eine
lange Suche in etlichen Gesprächen und
mit vielen Skizzen. Wenn wir sicher sind,      offen gestaltet. Die grossen Zeichensäle
dass eine Idee reif ist, wird das Projekt      enthielten nichts ausser Tische, aber je
sozusagen «ins Reine» gezeichnet. Das          länger ein Semester dauerte, umso mehr
alleine ist schon mit sehr viel Aufwand        Leben kehrte in die Räumlichkeiten ein.
verbunden. Darüber hinaus sind aber            Zum Ende waren sie jeweils mit unzäh-
unzählige Ingenieure und Spezialisten          ligen Modellen und Zeichnungen gefüllt.
in den Prozess eingebunden. Trotzdem           Die Lehrenden und Lernenden konnten
geht man leer aus, wenn ein Vorschlag          sich in dieser offenen Struktur einnisten
nicht auf Gegenliebe stösst … das ist hart,    und schufen sich ihre Kommunikations-
aber dieses System hat auch für uns viele      räume selber. Eigentlich ganz in Ordnung.             23
Vorteile. Und es bleibt auch immer etwas

                                                                                                     Architektur – Aussichten
zurück, etwas, woran man bei anderer           Welches ist für Sie ein idealer Lernort?
Gelegenheit weiterdenken kann.                 Der ideale Lernort ist ein offener, pro-
                                               grammierbarer Lebensraum, der den
Wie sieht Ihr schulischer Werdegang            Rahmen für viele Aspekte des Lebens
aus und woran erinnern Sie sich be-            von Lernenden und Lehrenden aufspannt.
sonders, wenn Sie an die Schulräum-            Die Schwelle für den gegenseitigen Aus-
lichkeiten zurückdenken, die Sie ge-           tausch darf niemals zu hoch sein. Und
prägt haben?                                   trotzdem muss er auch konzentriertes
Wir beide haben die Kantonsschule am           Arbeiten ermöglichen. Ich weiss nicht,
Burggraben in St. Gallen besucht, bevor        wie es Ihnen geht, aber am schwersten
wir an der ETH Zürich unser Architektur-       fällt mir die Konzentration in stillen Bib-
studium in Angriff nahmen. Die «Kanti»         liotheksräumen, wo man ständig nur das
blieb mir als humanistischer Lehrpalast,       Zuschlagen der schweren Eingangstür
ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert, in       und das Hüsteln der anderen hört…
Erinnerung: Unterrichtszimmer reiht sich
an Unterrichtszimmer, verbunden durch          ■ Mathias Gunz und Michael Künzle,
breite Korridore. Es dominierte ganz klar      Architekten ETH SIA
der Frontalunterricht. Der Austausch un-
ter den Schülerinnen und Schülern fand
vor dem Schulgebäude oder im nahe-
gelegenen Spielsalon statt. Im Gebäude
selber gab es, soweit ich mich erinnere,
keine Räume, wo man sich ausserhalb
des Unterrichts auch nur hätte hinsetzen
können. Die Architekturabteilung der ETH
hingegen war (und ist immer noch) in ei-
nem sehr weitläufigen Gebäude aus den
70er Jahren des letzten Jahrhunderts auf
dem Hönggerberg untergebracht. Es wur-
de zwar von allen Nutzenden immer wie-
der hart kritisiert, ist im Grunde aber sehr
Architektur – Aussichten

                           24
Architektur – Aussichten
                           25
Schülerzahlen im Querschnitt
               1970 öffnete die Kanti Wattwil ihre Tore     aufnahm. Als sie im Jahr 2004 ins neu
               mit 154 Schülerinnen und Schülern.           gebaute Schulhaus einzog, ging an der
               Danach erlebte die Kantonsschule eine        Kanti Wattwil die Zahl der Schülerinnen
               rasante Zunahme, die 2001 mit 936 Schü-      und Schüler weiter zurück.
               lerinnen und Schülern einen Höchststand      2015 verzeichnete die Kanti Wattwil nur
               erreichte – sie zählte damals 43 Klassen.    noch 599 Schülerinnen und Schüler, der-
                                                            weil die Zahl bis heute wieder kontinuier-
               Der starke Rückgang der Schülerzahlen        lich angestiegen ist und sich im Jahr 2020
26             ab 2002 erklärt sich mit der Eröffnung       bei knapp 700 Mädchen und Knaben ein-
               der Kanti Wil, die damals mit vier Klassen   gependelt hat, die das Gymnasium oder
Rückblick

               in einem Provisorium den Schulbetrieb        die Fachmittelschule absolvieren.

               Anzahl mit 936 Schülerinnen und Schüler

               1000

                900

                800

                                                                                                   Anzahl
                700                                                                                Schülerinnen
                                                                                                   und Schüler
                600                                                                                Total

                500
                                                                                                Anzahl
                                                                                                Mädchen
                400

                300
                                                                                                 Anzahl
                                                                                                 Knaben
                200

                100

                  0

                      1970        1980         1990          2000         2010          2020
Herkunft der Schülerinnen und Schüler nach Regionen

                            60%                                                       14%
                                               15%13%                            6%
                                                                    7% 6%                   2%
                                                                            3%
                        37%                             4%                            Wil
                                                                            Unter-                    Gossau
                     30%
                                             Alt-             22%           toggen-
                                             toggenburg                                                           St.Gallen1
                                                                            burg
                                                                12%11%
                                                 Neu-
                                                 toggenburg                                      2% 1%
               See
                                                                                                 Ausserkantonal
                                        12%                        16%
                              Gaster                Obertoggenburg    11%
                                   4% 6%                                 8%
      1970                                                                                                                     27
      1995
      2019*

                                                                                                                               Rückblick
* Stand Dezember 2019, zur besseren Vergleichsmöglichkeit aufgeteilt in die früheren Bezirke
1
    Der Bezirk St.Gallen war 1995 mit drei Schülerinnen und Schüler vertreten.

Herkunft der Schülerinnen und                                    Die Diplomhandelsschule wurde ab dem Schuljahr 1994
Schüler nach Regionen                                            nicht mehr geführt. Die letzte Klasse des Lehrerseminars
Die Abbildung zeigt einerseits deutlich auf, dass auf-           schloss im 2005 ab. Seitdem werden die Lehrpersonen
grund der Eröffnung der Kantonsschule Wil die Schüler-           aller Stufen an der PH St.Gallen ausgebildet. Die Diplom-
zahlen aus den Bezirken Neutoggenburg, Alttoggenburg             mittelschule wurde 2004 durch die Fachmittelschule ab-
und Wil drastisch zurückgegangen sind. Andererseits              gelöst. Der letzte Jahrgang der Wirtschaftsmittelschule
hat der Anteil der Schülerinnen und Schüler aus den              schloss im 2016 an der Kanti Wattwil ihre Ausbildung ab.
Bezirken See und Gaster stark zugenommen bei stag-
nierenden Zahlen im Neu- und Obertoggenburg.                     1998 erfolgte im Zuge des Maturitätsanerkennungregle-
                                                                 ments die Ablösung der Matura-Typen A, B, C und E
Das Ausbildungsangebot im Laufe der Zeit                         durch die «Schwerpunktfächer» Biologie, Chemie, Ita-
Bei Eröffnung der Schule im Jahr 1970 wurden folgende            lienisch, Latein, Mathematik, Physik, Spanisch sowie
Ausbildungsgänge angeboten:                                      Wirtschaft und Recht.

    Matura Typ B       38 Schülerinnen und
                       Schüler
                                                                 Seit 2004 führt die Kanti Wattwil die Fachmittelschule mit
                                                                 den Berufsfeldern Gesundheit, Pädagogik und Soziales
    Matura Typ C       39 Schülerinnen und
                       Schüler                                   ein. 2017 kam das neue Berufsfeld Kommunikation und
    Matura Typ E       16 Schülerinnen und                       Information dazu. In der FMS werden zurzeit in 7 Klassen
                       Schüler                                   rund 130 Schülerinnen und Schüler ausgebildet.
    Lehrerseminar      49 Schülerinnen und
                       Schüler                                   ■ Renate Graf, Rektoratsassistentin
    Diplomhandels-     12 Schülerinnen und
    schule             Schüler
FMS

28
FMS – Rückblick

                   INTERVIEW MIT GUIDO BANNWART – PROREKTOR AN DER KANTI AM BRÜHL, ST.GALLEN

                   Die FMS, ein dynamischer
                   Ausbildungsgang
                                                                                                          Kanton St.Gallen
                   Die FMS ist von der heutigen Bildungslandschaft nicht mehr wegzudenken. Sie            Bildungsdeparteme
                   gilt als praxisorientierte Alternative zur gymnasialen Ausbildung, weil sie Allge-
                   meinwissen vermittelt und gleichsam auf berufsspezifische Profile vorbereitet.
                   Wie kurvenreich deren Einführung vor nunmehr 15 Jahren war und welche
                   Perspektiven sich heute in diesem Ausbildungsgang eröffnen, zeigt der Beitrag
                   von Guido Bannwart, der als Prorektor der Kantonsschule am Brühl in St.Gallen
                   deren Konzeption und Realisierung nah miterlebt hat.

                   Herr Bannwart, woran erinnern Sie          zu tun, die den Lehrgang für den Kan-
                   sich, wenn Sie zurück an die Entste-       ton St.Gallen konzipiert hatte. In dieser
                   hung der FMS denken?                       Gruppe waren nicht nur das Amt für
                   Im Schuljahr 2004/2005 konnten wir die     Mittelschulen bzw. die Schulen selber
                   ersten Klassen an den Fachmittelschulen    vertreten, sondern auch Personen von
                   (FMS) im Kanton St.Gallen begrüssen.       den Abnehmerschulen, d. h. von der PH
                   Zugegeben, die Einführung der FMS mit      St.Gallen, den Fachhochschulen und
                   den Berufsfeldern Gesundheit, Soziales,    von der Organisation der Arbeitswelt für
                   Pädagogik, Musik und Gestalten verlief     Gesundheits- und Sozialberufe. Dass die
                   etwas harzig. Das hatte aber nichts mit    Einführung trotz sehr guter Konzeptarbeit
                   der geleisteten Arbeit der Projektgruppe   eine Herausforderung darstellte, lag an
dem noch ganz unbekannten Lehrgang,             breit abgestützten Arbeitsgruppe disku-
der von der Erziehungsdirektorenkonfe-          tiert und führten zu den Veränderungen im
renz aufgegleist worden war.                    Projekt FMS plus, das der Erziehungsrat
                                                schlussendlich gutgeheissen hat. Wäh-
Wie wurde über die FMS informiert?              rend der ganzen Arbeit konnten wir auf
Einerseits erschienen Zeitungsmeldun-           allen Ebenen eine positive und konstruk-
gen, dass die FMS eine Ausbildung ohne          tive Haltung gegenüber der FMS fest-
Anschluss sei, also in eine Sackgasse           stellen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass
führe, was der Einführung im Kanton             die FMS gut im Kanton verankert ist. Im
St.Gallen natürlich nicht förderlich war.       Rahmen des Projekts konnten z. B. die
Andererseits aber konnte dann die FMS           naturwissenschaftlichen Fächer gestärkt
im Kanton St.Gallen dank guter Informa-         und neu verteilt werden. Damit wurde eine
tionsarbeit des Amtes für Mittelschulen,        Forderung aufgenommen, die immer wie-
der Schulleitungen der Kantonsschule am         der zu hören ist und nicht nur die FMS
Brühl St.Gallen wie auch der Kantons-                                                              29
schulen Heerbrugg, Sargans und Wattwil

                                                                                                   FMS – Rückblick
doch relativ schnell Fuss fassen.                  Heute ist die FMS ein wichtiger Lehrgang, der
                                                  zwischen einer Berufslehre und der gymnasialen
Was ist die FMS heute?                                       Ausbildung angesiedelt ist.
Heute ist die Ausbildung ein wichtiger
Lehrgang, der zwischen einer Berufs-
lehre und der gymnasialen Ausbildung            betrifft. Aufgrund der Rückmeldungen
angesiedelt ist. Sie richtet sich an junge      der Fachhochschulen wurde das neue
Menschen, die schon eine bestimmte Vor-         Fach «Politik des Berufsfeldes» konzipiert,
stellung von ihrem Berufsbereich haben,         um den Schülerinnen und Schülern einen
also zielgerichtet sind und auch den prak-      zusammenhängenden Einblick in Politik,
tischen Ansatz einer Ausbildung schät-          Gesellschaft und Entwicklung im jeweili-
zen sowie erkennen, dass eine vertiefte         gen Berufsfeld zu ermöglichen.
Allgemeinbildung die Grundlage für ein
Studium an einer weiterführenden Schule         Die Rede ist auch vom Berufsfeld Kom-
ist. Genau diese Mischung macht es aus,         munikation und Information
dass über die letzten Jahre eine stabile        Mit dem neugeschaffenen Berufsfeld
Anzahl von Schülerinnen und Schülern            Kommunikation und Information macht
diesen Weg gegangen ist.                        die FMS einen weiteren Schritt in die Zu-
                                                kunft. Stimmen aus der Wirtschaft und die
In welche Richtung zielt die Weiterent-         neuen Angebote an den Fachhochschu-
wicklung der FMS?                               len haben uns gezeigt, dass das weite
Auch wenn eine Ausbildung gut funktio-          Feld der Kommunikation immer wichtiger
niert und rund läuft, lässt sie sich optimie-   wird. Dafür braucht es einen passenden
ren. Nach zehn Jahren FMS wurde eine            Grundbau, den die FMS vermitteln kann.
breite Evaluation des Lehrgangs durch           Die Schülerinnen und Schüler behandeln
das Institut für Wirtschaftspädagogik der       Themenbereiche wie Kommunikation
Universität St.Gallen bei Schülerinnen und      von Firmen, Kommunikationspsycholo-
Schülern, Lehrpersonen und Abnehmer-            gie oder Formen der Präsentation. Oder
schulen durchgeführt. Die erarbeiteten          aber sie setzen sich mit Kommunikation
Vorschläge wurden wiederum von einer            in anderen Sprachen und Kulturen aus-
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