Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
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Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36
Inhalt _______________________________________________ Eva Schneider Mahlzeiten und Chronometrie. Eine chinoise Konsolenuhr aus der Sammlung Poignard _______________________________________________ Ina Tanita Burda Stillen – Zeit – Essen. Mahl-Zeiten zwischen Struktur und Störung _______________________________________________ Martina Weingärtner Von Spontaneität, Freigiebigkeit und Anerkennung. Genesis 18 als Bild einer außergewöhnlichen Tischgemeinschaft _______________________________________________ Marion Steinicke Die Zeit, die Uhren und die Speisen des Kaisers. Nachrichten aus dem Reich der Mitte _______________________________________________ Nicole Hoffmann La durée poignardée. Aus der europäischen Lerngeschichte der getakteten Mahl-Zeit _______________________________________________ Kulinarisches Kino. Andreas Ackermann im online-Gespräch mit Thomas Struck _______________________________________________ Impressum _______________________________________________ Vordere Umschlagklappe: Chinoise Konsolenuhr (gedruckt auf Esspapier) unter Verwendung eines Fotos der Deutschen Stiftung Denkmalschutz Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz © GDKE, Pfeuffer
Eva Schneider (Stiftung Bürgerliche Wohnkultur, Sammlung Alex Poignard) Mahlzeiten und Chronometrie. Eine chinoise Konsolenuhr aus der Sammlung Poignard MahlZEIT Wer kennt es nicht, dass Frühstück, Mittag- und Abendessen, manchmal auch die Kaffeezeiten, mit ganz be- stimmten Uhrzeiten verbunden sind Zwar sind die Zeiträume, in denen wir die jeweilige Mahlzeit zu uns neh- men, kulturell verschieden, doch be- steht dennoch ein auf Tradition beru- hendes Gefühl, wann es Zeit für eine Mahlzeit ist. Während es früher noch üblich war, zu jeder Mahlzeit pünktlich auf den Glockenschlag und in bürgerlichen Familien gemeinsam am Tisch einzu- nehmen, sieht es heutzutage – beson- ders unter der Woche - jedoch ganz anders aus: Frühstück und Mittages- sen werden heute meist unabhängig voneinander in Mensen, Pausenräu- Chinoise Konsolenuhr. men oder am Arbeitsplatz, teilweise Deutsche Stiftung Denkmalschutz, auch überhaupt nicht eingenommen. Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz, Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE. Auch wenn die Zeiträume hier noch die Gleichen sind, ist das klassische Prinzip vom (warmen) Familienessen am Tisch zu festen Uhrzeiten in die Abendstunden, beziehungsweise auf das Wochenende verschoben worden. Und trotzdem sind bestimmte Uhrzeiten weiterhin fest an gewisse Mahl- zeiten gekoppelt, weshalb beispielsweise in kaum einer Küche oder einem Esszimmer die Uhr als Einrichtungsgegenstand fehlen würde. 1
Werbekarte der Firma Huxley. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz, Foto: Eva Schneider Die Uhr im Kontext der Sammlung Alex Poignard Mit weit über 50.000 Objekten zeigt die Sammlung des ehemaligen belgi- schen Süßwarenhändlers Alexandre Poignard ein breites Spektrum von Ob- jekten bürgerlicher Alltags- und Wohnkultur. In der umfangreichen Sammlung machen Uhren zahlenmäßig nur einen kleinen Teil aus, jedoch hat sich Alex Poignard hier auf besonders gut er- haltene und für die ästhetischen Vorlieben des 18. und 19. Jahrhunderts charakteristische Stücke konzentriert. Im Stil des Barocks, Rokoko und ver- einzelt des Klassizismus sind zahlreiche Tisch- und Kaminuhren mit ver- spielten Formen und verschiedensten Motiven und Figuren aus Porzellan, aber auch aus Metall zu finden. Neben Kompositionen wie beispielsweise einem nachdenklichen Napoleon oder einem Ritter hoch zu Ross gibt es aber auch außergewöhnliche Stücke wie die chinoise Konsolenuhr, denn obwohl der Sammlungsfokus auf westeuropäischer Kultur liegt, sind dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, aber bestimmt auch dem Geschmack des Sammlers geschuldet, dass sich viele ostasiatische Objekte in der Sammlung wiederfinden. Neben Puppenhäusern, Spielkarten und kleinen Schreinen, die aus Japan und China importiert worden sind, gehören zum Bestand der Sammlung auch Porzellangegenstände, die in Europa hergestellt wurden. 2
Es ist daher angemessen, die hier vorliegende Uhr etwas näher im Kon- text von Entstehungszeit, Gestaltung und Bedeutung zu betrachten. Zeitmesser und die Kunst des Exotismus Das Streben des Menschen, Zeit zu messen, einzuteilen und zu verwalten, spielt gerade zur heutigen Zeit eine immer wichtigere Rolle. Meetings, Deadlines und Termine müssen eingehalten werden, die sog. „Work-Li- fe-Balance“ wird immer wichtiger. Uhren, egal ob auf dem Smartphone oder am Handgelenk, begleiten uns tagtäglich nicht nur als Zeitmesser, son- dern eben auch als ästhetische Accessoires und Statussymbol. Praktische kleine Uhren, die man beispielsweise auf Tische, Regalbretter oder Simse stellen konnte, kamen bereits im 15. Jahrhundert auf und kom- Gruppe von Konsolenuhren. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz, Foto: Eva Schneider. binierten schnell ihre Funktion als Zeitmesser und die Ästhetik der jeweili- gen Zeit miteinander. Uhrgehäuse wie die chinoise Konsolenuhr sind be- reits früh nach der Erfindung des europäischen Porzellans Anfang des 18. Jahrhunderts hergestellt worden. Als nützliche Dekoration zierten sie Ka- minsimse, an Wände angebrachte Sockel oder Regale, aber auch (Beistell-) Tische. Bereits vor dem 18. Jahrhundert wurde der Einrichtung eines Haus- halts als Ausdruck sozialen Prestiges großer Stellenwert beigemessen. Der 3
Trend, sich als weltoffen und dem Exotischen zugeneigt zu präsentieren, wird jedoch an dem Interesse an asiatischen Motiven in dieser Zeit beson- ders greifbar. Mit der Erfindung des europäischen Hartporzellans in Meißen war es auch möglich, die sonst nur schwer bezahlbaren Importe zu imitie- ren und frei zu interpretieren, sodass die sogenannten Chinoiserien ihren Weg mit der Zeit auch in bürgerliche Haushalte fanden. So ist auch bei der hier zur Diskussion stehenden Uhr aus der Sammlung Alex Poignard deut- lich die Verbindung zwischen zwei Funktionsweisen zu erkennen: die Uhr als solche, nämlich als reine Informationsquelle, sowie als informatives Dekor und Prestigeobjekt. Die auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datierte Uhr aus der Samm- lung Alex Poignard besteht aus drei Teilen: Dem Uhrwerk, dem Uhrgehäuse und dem Sockel. Das Uhrwerk stammt aus der Werkstatt des Uhrmachers B. J. Vanderveken in Brüssel und nimmt nur wenig Platz innerhalb des Ge- häuses ein. Ziffern, Zeiger und Signatur der Werkstatt sind zierlich gehalten und nehmen sich im Kontext der sonst satten Farben des Gehäuses optisch stark zurück. Abgesehen vom Namen und einstigen Standort in der Rue de Fripiers 29 in Brüssel ist über die Uhrmacherwerkstatt Vanderveken nichts weiter zu finden. Porzellanmarke der Manufaktur Michel-Isaac Aaron. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Ziffernblatt mit Aufschrift Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz, „B. J.Vanderveken, à Bruxelles“. Foto: Eva Schneider. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Samm- lung Poignard im Landesmuseum Koblenz Foto: Eva Schneider Gehäuse und Sockel bestehen aus Porzellan und stammen aus der Werk- statt von Michel-Isaac Aaron in Chantilly, welche nach der Schließung der dortigen herzöglichen Porzellanmanufaktur im Zuge der Französischen Re- volution die Herstellung von Porzellan und Fayencen weiterführte. Über die Werkstatt ist ansonsten ebenfalls nur wenig bekannt. 4
Durch seine ursprüngliche Herkunft war die Nutzung von Porzellan, aber auch imitierende Techniken wie die Fayence, für Chinoiserie-Dekorationen eine natürliche Entwicklung und so wurden früh chinesische oder japani- sche Originale imitiert oder deren Motivik mit westlichen Schmuckorna- menten vermischt. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen vollkom- men frei erfundene Darstellungen auf, wie sie beispielsweise bei der Konsolenuhr aus der Sammlung Alex Poignard zu sehen ist und so nie in Asien zu finden wäre. Der Fokus des Objektes liegt auf dem chinesischen Mann, der sich gerade über einen großen, pflanzenbewachsenen Stein lehnt. Dabei stützt er sich mit der Linken und hat den rechten Arm geradezu mahnend in Richtung des Betrachters ausgestreckt, den Blick hingegen hinab zum Ziffernblatt gerichtet, welches weiß aus dem bräunlichen Stein hervorsticht. Das Ziffernblatt wird von Pflanzen mit langen, breiten Blättern eingerahmt; unterhalb strömt Wasser aus einer Quelle, an der sich zwei Vögel erfrischen. Das Wasser fließt auf den Betrachter zu und wird nur vom Sockel abgefangen. Bei den Vögeln könnte es sich um Tiere aus der Ordnung der Racken- vögel handelt, zu denen auch der Eisvogel gehört. Sie sind bekannt für ihr buntes Gefieder, das sie in Kombinationen aus Blau,Violett und Orange zur Schau stellen und viele ihrer Gattungen sind unter Anderem über den ost- asiatischen Raum verbreitet. Andererseits kann es sich auch um Fantasie- vögel handeln, die von Darstellungen in originaler asiatischer Kunst oder Reisezeichnungen inspiriert wurden. Das Nebeneinander (vermeintlich) ostasiatischer und europäischer Äs- thetik ist auch an der Uhr selbst zu sehen: Während das eigentliche Ge- häuse chinesische Motive zitiert, weist der Sockel auch barocken Einfluss auf: Das schwarze, blütenverzierte Band um den Sockel soll chinesische Chinoise Konsolenuhr, Detailansicht des Sockels. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz, Foto: Eva Schneider. 5
Lackkunst imitieren, wird aber von klassisch westlichen Elementen wie der goldenen Leiste am oberen Rand oder den weißlichen Blattornamenten, welche als Füße dienen, umrahmt. Die Kleidung des Manns soll auf die Man- dschu verweisen, eines Volks aus dem Nordosten Chinas, das während der Qing-Dynastie (1644-1912) in China regierte. Im Gegensatz dazu sind die goldenen Verzierungen und Borten sowie die an klassizistische Zierrahmen erinnernden Blüten eher westlich geprägt. Chinoise Konsolenuhr, Detailansicht: Kleidung der Figur. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz, Foto: Eva Schneider Beide Stile bilden hier ein zusammenhängendes Ganzes, was eine Integra- tion des Exotischen in die klassische Einrichtung europäischer Räume, wie zum Beispiel im Esszimmer des 19. Jahrhunderts erlaubt. Die Zusammen- kunft zur Einnahme eines gemeinsamen Mahls, vorgegeben durch die An- zeige der Zeit und vor dem Hintergrund einer ästhetisch ausgearbeiteten Zurschaustellung einer fremden und faszinierenden Kultur, die das Alltägli- che zu einem besonderen Moment macht. Der Trend das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden ist also nicht erst in neuerer Zeit zu finden, sondern lässt sich schon früh an Beispielen wie der Uhr zurückverfolgen. Die Uhr vereint somit nicht nur den Samm- lungsraum Poignards mit Europas langer Faszination mit Ostasien, sondern sie selbst verwebt den zeitlich klar geregelten Alltag mit phantastischen Träumereien und einem gewissen Fernweh. 6
Literatur: Alain Gruber, Chinoiserie – Der Einfluss Chinas auf die europäische Kunst 17.-19. Jahrhundert, Bern 1984. Willy Richard Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln/ Wien 1990. Ernst Bassermann-Jordan, Die Geschichte der Räderuhr unter besonderer Berücksichtigung der Uhren des Bayerischen Nationalmuseums, Frankfurt 1905. Indicateur belge, ou Guide commercial et industriel de l‘habitant et de l‘étranger dans Bruxelles et la Belgique, pour l‘an 1840, contenant plus de 60.000 adresses ou renseignements administratifs, commerciaux, etc, Gent 1840. Dieter Kuhn, Kleidung zur Zeit der Qing-Dynastie, in: Die Verbotene Stadt. Aus dem Leben der letzten Kaiser von China (Ausstellungskatalog), Mainz 1997. Internetquellen: https://ac-antique.com/histoire/ (Zugriff 15.08.2020). https://de.wikipedia.org/wiki/Rackenv%C3%B6gel (Zugriff 20.08.2020). 7
Ina Tanita Burda (Universität Koblenz-Landau) Stillen – Zeit – Essen. Mahl-Zeiten zwischen Struktur und Störung Mehrere informelle Gespräche liegen dem Aufbau und den Fragen des In- terviews zugrunde, das ich im Sommer 2020 mit Blick auf die Abfassung meines Beitrags für die vorliegende Ausgabe des Bulletins geführt habe. Diese Gespräche ergeben sich häufig auch deswegen, weil sich mein Dis- sertationsprojekt Leiblichkeit ohne körperliche Ko-Präsenz – eine ethnologische Untersuchung von online Stillen und Stillgruppen in Zeiten von Corona mit allen Aspekten des Stillens von Säuglingen an der mütterlichen Brust – online wie offline – beschäftigt. Die Namen sind anonymisiert. E.B: Ich heiße Emmi Blau, bin zweifache Mama. Von zwei Jungs. Der Maxi ist vier, der Mini ist eins. Ich bin dreiunddreißig, komme aus [einer westdeut- schen Stadt] und bin glücklich verheiratet. I.T.B.: Wie sieht euer Alltag aus und inwiefern spielt Essen da eine Rolle? (Während des gesamten Interviews spielt Mini im Hintergrund und isst genüsslich den einen oder anderen Keks mit Schokolade.) E.B.: Eine große Rolle. Im Alltag – ich geh jetzt auch wieder arbeiten – ste- hen wir früh auf. Mein Wecker geht so um halb sechs/Viertel nach sechs, dann mach ich mich fertig und um sechs Uhr/Viertel nach sechs meldet sich Mini. Dann bekommt er als erstes nochmal eine Milch. Der steht immer noch auf seine Milch. Und dann machen wir uns fertig. Maxi frühstückt nicht bei uns.Wir machen aber sein Brot fertig für die Kita. Und da bekommt der um 11:30 Uhr/12 Uhr Mittagessen. Das ist uns wichtig: eine warme Mahlzeit schon mal um 12:00 Uhr für Maxi. Abends wird dann noch einmal gekocht, wenn ich von der Arbeit komme. Uns ist einfach wichtig, dass wir nochmal zusammen als Familie am Tisch sitzen und gemeinsam essen. Am Wochen- ende sieht es halt anders aus.Wenn du dann irgendwo eingeladen bist, dann fällt das Mittagessen mal aus. Ich finde, die Kids können essen, wenn sie Hunger haben. Aber ich koche auch, so ist das nicht. Aber jetzt nicht um eine feste Uhrzeit, so: um zwölf Uhr steht das Essen auf dem Tisch, nee, das gibt es bei uns nicht. 1
I.T.B.: Ok, kannst du nochmal ein bisschen genauer sagen, inwiefern du glaubst, dass es wichtig ist, feste Zeiten oder einen festen Essensrhythmus zu haben? E.B.: Ich habe festgestellt, für mich ist das nicht so wichtig. Aber als Mama stellt man dann fest: ‚Hey, für die Kids ist es echt wichtig.‘ (Emmi Blau über- legt etwas.) Irgendwie bekommt man das ja auch von seinen Eltern so ein- gebläut. Also was man früher so erlebt hat als Kind, was positiv war, das gibst du ja auch deinen Kids mit und wenn ich jetzt so arbeiten bin, dann bin ich bis 13:00 Uhr arbeiten. Bis ich zu hause bin und Maxi dann abgeholt und gekocht habe, dann wäre es schon zu spät und so bin ich froh, dass er in der Kita um 12:00 Uhr seine erste warme Mahlzeit bekommt. Und da mit sei- nen Freunden zusammen am Tisch sitzt und dann isst. Für Kids ist so ein Rhythmus, feste Zeiten schon eine ganz, ganz tolle Sache. Ja, außer jetzt am Wochenende, da lass ich fünf gerade sein, auch weil du manchmal Dates hast. I.T.B.: Und wie war das als die Kids noch kleiner waren? Du hast ja gestillt?! Wie lange bei beiden? E.B.: Bei beiden habe ich fast zehn Monate gestillt. Und tja, immer wenn ich essen wollte, wollten die Kinder essen. Ich habe nach Bedarf gestillt, nicht nach Uhrzeit. Und wenn sie Hunger hatten, als Baby, haben sie dann die Muttermilch bekommen. Wann ich dann mal gegessen habe? Ich glaube, wenn die geschlafen haben. Weil ich dann mal in Ruhe essen konnte und keiner wollte was von mir, keiner wollte von meinem Teller essen. I.T.B.: Und wie oft hast du sie dann am Tag gestillt? So ungefähr? E.B.: Bestimmt zwölf, dreizehn Mal. Die haben ja nicht lange an meiner Brust gegessen. Immer nur ein paar Minütchen. I.T.B.: Und wann kommt das deiner Meinung nach: dass sie dann feste Mahl- zeiten haben oder brauchen? E.B.: Ja, ich finde ja immer, dass der Milchverbrauch anders ist. Also ich glaub das ist auch das Gefühl des Zusammenseins, so als Familie am Tisch zu sit- zen. Das ist ja auch gesellig, zusammen zu sitzen, zu essen, zu kochen. Wir beziehen Maxi auch schon mit ein beim Kochen, dass der auch weiß, was er da isst. […] 2
I.T.B.: Und inwiefern war das Stillen vereinbar mit euren Essenszeiten? E.B.: Gar nicht, und das war immer so, und als ich dann abgestillt und mehr Flasche gegeben habe, da war es auch noch so: zum Beispiel, wenn du ir- gendwo essen warst, weil man sich sagt ‚hey, jetzt möchte ich mal raus, was anderes essen‘, dann war es immer so, dass mein Essen auf dem Tisch stand und pünktlich hat das Kind sich gemeldet. Hunger. Milch. I.T.B.: Kollidiert das mit den Essenszeiten von Deinem Mann auch? Er hat ja dann auch die Flasche gegeben. Weil du das gerade angesprochen hast, dass ihr das dann ersetzt habt, hat er auch mal auf sein Essen verzichtet? E.B.: Mh, zu dreißig/vierzig Prozent. I.T.B.: Also beim Stillen ist das ja schwierig… E.B.: Beim Stillen nicht, aber beim Flasche-Geben hat er auch öfter gesagt: ‚So, jetzt setz dich mal hin, iß jetzt in Ruhe. Ich mache eben die Flasche fer- tig. Öfters war es dann so, dann habe ich mir einfach was Kaltes bestellt, weil ich mir gedacht hab ‚hey, nein, eine heiße Suppe brauchst du dir jetzt nicht bestellen. Bestell dir einfach einen Salat. Das ist kalt und kann stehen bleiben.‘ Und ja, gut ist. I.T.B.: Wie war das nachts? E.B.: Ja, wenn er sich gemeldet hat – das ist ja immer, wenn man gerade so eingeschlafen ist – Brust raus, Milch gegeben, wieder hingelegt. I.T.B.: Also bist du dann nicht auch aufgestanden und hattest auf einmal Hunger? E.B.: Nein, nein. Gar nicht. Der Fokus wird auch anders. Du bist eher der Versorger. Man achtet gar nicht mehr auf sich, sondern darauf, dass die Kinder versorgt sind, dass man denen alles besorgt zum Essen und, und, und. Das man manchmal so denkt ‚Oh, 18 Uhr, ich habe noch gar nichts geges- sen. […] Und beim Stillen habe ich gemerkt, das nimmt einfach viel Zeit in Anspruch. Also es gibt ja Frauen, die sagen ‚Ich stille um 10 Uhr, ich stille um 12 Uhr, ich stille um zwei Uhr.‘ Aber ich meine, geil: das war bei mir nie der Fall. Ich habe das immer gemacht, wenn sie sich gemeldet haben. Ich bin auch froh. Ich habe das gerne gemacht, bin aber auch froh, dass das jetzt vorbei ist, weil mittlerweile wird ja ganz normal – in Anführungszeichen – 3
gegessen. Mini bekommt eine Schnitte und isst auch ganz normale Sachen mit uns mit. Und ich bin nicht mehr der alleinige Versorger, sondern komme jetzt auch zum Essen mit meiner Familie. […]. Ja, das [Stillen] nimmt super viel Zeit in Anspruch. Ich kann nur sagen, dass man sein eigenes Essen ver- gisst. Das ist gleichzeitig ein ganz, ganz schönes, intimes Gefühl, dass du dein Kind versorgen kannst allein. Du brauchst nicht in den Supermarkt gehen und irgendwas holen, sondern du bekommst das von Mutter Natur. Man vergisst sich nur mit den Mahlzeiten. Ich persönlich hab mich vergessen. I.T.B.: Also ich habe das so empfunden, dass Essen einen Tag strukturiert. Man steht auf und frühstückt. Dann gibt’s irgendwann Mittagessen und Abendessen. Die Hauptmahlzeiten. Dann zwischendurch vielleicht noch mal Snacks. Also so ohne Kinder. Und für Kleinkinder, so in Maxis Alter vielleicht auch.Aber beim Stillen, das ist total gegenläufig, weil das so irgend- wie nach Bedarf ist, wie du ja auch gesagt hast. Die melden sich und das ist so unmittelbar und du musst das sofort irgendwie befriedigen. Und das ist total entgegen dieser Struktur, die Essen eigentlich schafft. E.B.: Ja, Essen schafft dir einen Zeitablauf. Struktur, genau, wie du gerade ge- sagt hast für die Kids. So das ist morgens, das ist mittags, das ist abends. Das ist so ein Zeitabstand.Wenn wir abends gegessen haben, sagt Maxi auch mal ‚War das jetzt Abendbrot?‘ – ‚Ja, genau‘. Damit weiß er ‚alles klar, nachher werden die Zähne geputzt, Schlafanzug angezogen, eine Geschichte vorge- lesen, dann geht’s ins Bett‘ und aber das Stillen ist da außen vor. Es ist eine ganz andere Nummer. I.T.B.: Ich frag mich immer, wo der Übergang ist. Also, wo für Kinder das auch klar wird. Ist das nur weil wir das vorleben – E.B.: Ich glaube nur, weil wir das so vorleben. I.T.B.: … oder kommt da dann auch mehr Wahrnehmung auf? Vielleicht so von Tag und Nacht und so. Dass das vielleicht anfangs gar nicht so klar ist. E.B.: Richtig, weil am Anfang stillst du und dann ist das Baby wach. Wenn es wach wird, hat es Hunger. Wenn‘s keinen Hunger hat, schläft es. Da ist es egal, ob morgens, abends, nachts und überhaupt was ist. […] 4
Auf die wichtigsten Punkte, die in dem Gespräch im Bezug auf (Familien) Essen – Zeit – Stillen angesprochen wurden, soll nun kurz eingegangen werden, um sie auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive genauer dis- kutieren zu können. Was aber an dieser Stelle bereits klar wird ist, warum die verschiedenen Aspekte der Nahrung kulturwissenschaftlich so interes- sant sind: Essen ist sehr viel mehr als Nahrungsaufnahme und das Stillen physischer Bedürfnisse, es hat mit alltagspraktischen Fragen zu tun. Das wiedergegebene Interview veranschaulicht sehr deutlich, dass es viele so- ziale Komponenten gibt, es funktioniert eindeutig geschlechtsspezifisch und kann auch auf viele erdenkliche andere Arten durchleuchtet und analysiert werden. Mary Douglas versteht Mahlzeiten als Code, der bestimmte Botschaften sendet. Dabei geht sie davon aus, dass Nahrung nicht nur Tage in ihrem Ab- lauf strukturiert, sondern auch die Woche, Monate und das ganze Jahr durch bestimmte Nahrungsereignisse geordnet sind (vgl. Douglas, 93). Ganz praktisch bedeutet dies, dass in traditionellen Ernährungsarrangements zum Beispiel freitags ein fleischfreier Tag ist und es in vielen Familien fest- gelegte Praktiken gibt, was den Festtagsschmaus an Weihnachten betrifft. Was aber passiert, wenn aus diversen Gründen, diese Strukturen nicht ein- gehalten werden können? Auch wäre interessant zu wissen, wann diese Strukturen erlernt und übernommen werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt die Ernährung von Neugeborenen an der mütterlichen Brust. Darüber hinaus spricht sie sich für eine Stilldauer von mindestens sechs Monaten aus und auch unter Bei- gabe von Beikost sollte bis zum zweiten Lebensjahr gestillt werden (vgl. WHO 2020). Ohne hier genaue Zahlen aufzuführen, stellt eine aktuellen Studie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) fest, dass Stillen von Neugeborenen an der mütterlichen Brust auch die bevorzugte Form der Ernährung unter frisch entbundenen Müttern ist (vgl. Kersting et al., V18). Rückblickend auf das oben abgedruckte Interview und den dort be- schriebenen, durch feste Mahl-Zeiten strukturierten Tagesablauf kann Stil- len nur als eine Störung, eine fundamentale Erschütterung der immer da- gewesenen, vermutlich vorwiegend unbewusst reproduzierten Strukturen des Alltags verstanden werden. Meine Interviewpartnerin ist an einer ande- 5
ren Stelle des Gesprächs, die hier aus Gründen des Umfangs nicht wieder- gegeben werden konnte, darauf eingegangen, inwiefern sie durch die Schwangerschaft und Stillzeit in der Wahl ihrer eigenen Nahrungsmittel eingeschränkt war (kein Alkohol, kein rohes Fleisch, kein roher Fisch, etc.). So wird hier auch die Einschränkung deutlich, die zumindest diese stillende Mutter für einen gewissen Zeitraum erfahren hat. Die Verbindung zu den eigenen Essgewohnheiten und -bedürfnissen kann nicht einfach aufgelöst werden und dadurch wird auch die Mahlgemeinschaft unübersehbar, die zwischen Mutter und Kind entsteht. Das mehrfache Stillen nach Bedarf richtet sich dabei allerdings nach dem Bedarf des Kindes, nicht der Mutter. Es scheint also eine klare Prioritätensetzung innerhalb dieser Gemeinschaft zu geben. Doch wann erweitert sich diese Mahlgemeinschaft zwischen Kind und Mutter zu der der ganzen Familie? Und wann erhalten diese Gemein- schaften eine festere Struktur? Bezüglich dieser Frage gibt es sehr früh ansetzende Ratschläge, die von Hebammen und Ärzten bereitgehalten werden. Zuerst wird mittags mit einem Gemüsebrei (Möhre, Kürbis, Pastinake) gestartet, dann wird diesem Kartoffel hinzugefügt, anschließend Fleisch und schlussendlich Fisch. Sollte das Kind die einzelnen Komponenten gut vertragen, kann in Gemüse- und Fleischsorten variiert werden. Anschließend wird am Abend der Milch-Ge- treidebrei eingeführt. Danach wird der Nachmittagssnack durch Obst und/ oder Getreide eingeführt und danach auch das Frühstück. Dabei wird das Essen laut diesem Schema immer stückiger, sodass am Ende das Kind mit etwa einem Jahr die normale Familienkost zu sich nimmt (vgl. Becker). Es gibt auch andere Möglichkeiten, wie beispielsweise das Baby Lead Weaning, bei dem den Kindern von Anfang an festes Essen angeboten wird. Die ver- schiedenen Varianten sollen hier nicht ausführlich diskutiert werden. Was aber ganz klar wird, ist die deutliche Unterteilung des Tages in verschiedene Mahl-Zeiten, die das Stillen nach Bedarf schrittweise ersetzen. Zwei Punkte sollen abschließend festgehalten werden: Zum einen wird die schwierige Situation ersichtlich, in der sich stillende Mütter befinden. Entgegen ihrem eigenen Hungergefühl und einem durch feste Essenszeiten strukturierten Tagesablauf stillen sie in der Regel zunächst den Hunger ih- rer Kinder. Auf der anderen Seite wird klar, dass die Vermittlung von gere- gelten Mahl-Zeiten sehr früh beginnt. Spätestens, wenn die Kinder mit am 6
Familientisch sitzen, wird ihnen die feste Struktur der Mahlzeiten vorgelebt. Feste Mahl-Zeiten sind also sozial vermittelte Praktiken, die immer weiter reproduziert werden. Störungen der gewohnten Muster bringen nicht nur Tagesabläufe durcheinander, sondern können sich auch körperlich nieder- schlagen. Die Vielfältigkeit dieser Störungen kann aufgrund der immer grö- ßer werdenden Mobilität der Menschen, unterschiedlichen Lebensentwürfe und steigenden Schnelllebigkeit vieler Sachverhalte niemals in Gänze abge- bildet werden. Das Stillen eines Säuglings stört aber oder verändert zumin- dest den Tagesablauf und die damit verbundenen Mahl-Zeiten der Mutter, wenn nicht der ganzen Familie. Literatur: Mary Douglas, Das Entziffern einer Mahlzeit, in Theorien des Essens hrsg. von Kikuko Kashiwagi-Wetzel und Anne-Rose Meyer, Berlin 2017, pp. 91-122. Mathilde Kersting et al., Studie zur Erhebung von Daten zum Stillen und zur Säuglings- ernährung in Deutschland – SuSe II, in 14. DGE-Ernährungsbericht, hrsg. von Deutsche Gesellschaft für Ernährung,Vorveröffentlichung Kapitel 3, Bonn 2020,V1-V34. Internetquellen: https://www.who.int/health-topics/breastfeeding#tab=tab_2 [Zugriff 24. September 2020]. https://www.baby-und-familie.de/Beikost/Uebersicht-So-fuehren-Sie-die-Beikost- ein-163073.html [Zugriff 14. September 2020]. 7
Martina Weingärtner (Collège de France, Paris) Von Spontaneität, Freigiebigkeit und Anerkennung. Genesis 18 als Bild einer außergewöhnlichen Tischgemeinschaft Eine Mahlzeit als solche wahrnehmen, sie einordnen und benennen zu kön- nen, ist uns nur möglich, weil ihr eine Zeichenhaftigkeit zukommt. Eine Mahlzeit ist geformt nach kulturellen Codes, in der Abfolge von Handlun- gen, in ihrer spezifischen Positionierung in Zeit und Raum. Dadurch erken- nen wir den Unterschied zwischen einem ausgedehnten Mahl und dem schnellen Happen zwischendurch. Ersteres nennen wir Festmahl, letzteres Snack. Die unterschiedlichen Ess-Zeiten sind darin zumindest ganz grob in lang und kurz den Essenden bewusst und bergen neben einer gewissen Regelhaftigkeit auch eine Erwartungshaltung. Die normierende Kraft dieser Zeiten wird vor allem dann spürbar, wenn sie durchbrochen wird oder wenn ein zeitliches Diktat wegfällt – in anarchischen Momenten kommt dies zu Tage – sei es das genüsslich nach hinten verlagerte Frühstück im Urlaub, sei es das verbrämte Day-Drinking bei einem Brunch. In diesen Codierungen erkennt man einen kommunikativen Akt, der so- mit auch ein sozialer ist. Mit den Worten Mary Douglas‘: Wenn Nahrung ein Code ist, wo ist dann die vorcodierte Boschaft? […] Ein Code stellt ein allgemeines Set von Möglichkeiten zur Aussendung bestimmter Botschaf- ten bereit.Wenn Nahrung als ein Code betrachtet wird, dann werden sich die durch ihn codierten Botschaften in den Strukturen erkennbarer sozialer Beziehungen en- kodieren lassen (91). Gegenstände wie Speisen bilden Zeichensysteme ab, die sich in ihrer kom- munikativen Potentialität zu Symbolsystemen formen. Das gemeinsame Mahl spiegelt eine wesentliche soziale Komponente wider: „Mahlzeiten [sind] für die Familie, enge Freunde und Ehrengäste. Der bestimmende Fak- tor des Systems ist die Grenze zwischen Intimität und Distanz” (100). Wird dann der „Snack“ zum Metonym einer Fast-Food-Kultur und in kulturpessimistischer Sicht zum Syndrom einer a-sozialen Entwicklung der 1
eigenen Esskultur (la malbouff)? Dieses Urteil möchte eine Theologin nicht fällen. Was ihr aber obliegt ist beispielhaft zu erzählen, wann eine reine Mahlzeit, verstanden als institutionalisiertes Regelwerk, zur leiblichen Tisch- gemeinschaft wird: dann, wenn ein Begegnungsraum mit der fremden Sitz- nachbarin entsteht, der soziale Bande knüpft und wenn ein Zustand ent- steht, der offen ist für den Einbruch des Extraordinären. Dann, wenn profane zeitliche Ordnungen durchbrochen werden, wenn sich spannungs- voll ein Moment des kairos einstellt und die Tischgemeinschaft zum (heili- gen) Ereignis erhöht wird. Aus dem Fundus religiöser Zeichensysteme sei hier die Erzählung in Ge- nesis 18 gewählt – Die drei Männer bei Abraham. Diese Erzählung wurde nicht selten als das Paradigma für Gastfreundschaft rezipiert. Sie beginnt wie folgt: Und der HERR erschien ihm – Abraham – bei den Terebinthen von Mamre, während er am Eingang des Zelts saß, als der Tag am heißesten war. Er blickte auf und schau- te sich um, sieh, da standen drei Männer vor ihm. Und er sah sie und lief ihnen vom Eingang des Zelts entgegen und warf sich nieder zur Erde. Und er sprach: Herr, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, so geh nicht vorüber an deinem Diener. In der Mitte des Tages sitzt Abraham an der Öffnung seines Zeltes. Es sind die heißesten Stunden, in denen geruht wird, kaum an eine Mahlzeit zu denken ist oder Aufregendes erwartet würde. In diese Ruhe hinein, erschei- nen drei Männer. Unvermittelt und fest stehen sie plötzlich da. Wer sind diese drei? Einfache Reisende? Engel? Gott selbst? Wir können es nicht ein- deutig entscheiden, der Text changiert in geheimnisvoller Weise bei der Benennung des Gegenübers. Abraham selbst fragt nicht danach. Vor jeder Identifizierung dieser Fremden, vor jeder Klassifizierung dieses „Anderen“, lädt Abraham zum Verweilen ein: Es soll etwas Wasser geholt werden, dann wascht eure Füße und ruht euch aus unter dem Baum. Ich will einen Bissen Brot holen, daß ihr euch stärken könnt, da- nach mögt ihr weiterziehen. Denn deswegen seid ihr bei eurem Diener vorbeige- kommen […]. 2
Wiederholt betont Abraham, dass die Reisenden nicht vorüberziehen kön- nen, ohne einzutreten. Der zentrale Begriff der „Überquerung“ (abar in V. 3 und zweimal in V. 5) verstärkt den Eindruck, dass dieser Besuch nicht ledig- lich ein Abweichen vom Weg darstellt, es ist der terminus technicus für Grenz- oder Flussüberschreitungen, für das Jenseitige, das erreicht werden möchte (auch im Hinblick auf das verheißene Land jenseits des Jordans). Die Semantik zielt auf ein wahres Überschreiten von Grenzen, auf eine Statusveränderung: Unbekannte treten ein, überschreiten die Schwelle, die Grenze von der Distanz zur Intimität. Der Eintritt ist nicht allein eine räum- liche Handlung, er wird zur leiblichen Erfahrung. Jacques Derrida beschreibt in Schritt der Gastfreundschaft diesen Übergang als Sehnsucht: „Tritt rasch ein“, rasch, das heißt unverzüglich und ohne zu warten. Das Begehren ist die Erwartung dessen, was nicht wartet. Der Gast muss sich beeilen. Das Begeh- ren misst die Zeit ausgehend von seiner Annullierung in der Bewegung des eintre- tenden Fremden: Der Fremde, hier der erwartete Gast, ist nicht nur jemand, zu dem man sagt „kommt“, sondern auch „tritt ein“, tritt ein ohne zu warten, mache Halt bei uns ohne zu warten, beeile dich einzutreten, „komm herein“, „komm in mich“, nicht nur zu mir, sondern in mich […]. Die Schwelle zu überschreiten, bedeutet ein- zutreten und nicht nur sich zu nähern oder zu kommen. Die Erzählung gewinnt an Fahrt. Abraham eilt, die Vorbereitungen zu treffen, Sara eilt, Kuchen zu kneten, ein Diener eilt, ein zartes Kalb zuzubereiten. In rasanter Dringlichkeit werden alle Ressourcen aktiviert, um ein opulentes Mahl zu bereiten. Nachdem alles vor das Angesicht des Gegenübers gestellt ist, gesellt sich auch Abraham zu den Gästen, stellt sich in aller Ruhe zu ih- nen. Das Mahl beginnt. Entspannt niedergelassen, bequem aufgestützt, in einer Situation der Vertrautheit, speisen sie im Schatten des Baumes. Der Wechsel zwischen Ruhe und Rasanz bereitet dynamisch vor, was gleichsam als Gastgeschenk präsentiert wird, indem der Gast spricht: „Fürwahr, übers Jahr werde ich wieder zu dir kommen. Dann hat Sara, deine Frau, einen Sohn.“ Wieder zeigt sich eine zeitliche Irritation, so grotesk, dass sie Sara ein Lachen abnötigt. Alt, ja hochbetagt sind Sara und Abraham, wie sollte in dieser Chronologie noch die Geburt eines Kindes vorstellbar sein? 3
Die Nachkommensverheißung durchbricht die regelhafte Ordnung, sie zeigt Räume des Möglichen auf. Worüber der Mensch nur schmunzeln kann, das wird für Gott wohl kaum unmöglich sein. Dieser theologische Topos der Extraordinarität drückt sich gleichermaßen symbolisch in der Mahlzeit an sich aus. In Mengen, Zutaten und Zubereitungsweise steht das offerierte Mahl sinnbildlich für eine Durchbrechung des Gewohnten. Paradigmatisch lässt sich dies an der ungeheuren Fülle an Speisen ablesen. Drei Maß Mehl versprechen ausreichend Kuchen, dazu Fleisch, Butter und Milch. In der syntagmatischen Betrachtung zeigen sich die qualitativen Be- sonderheiten. Es ist feinstes Mehl, das zu einem speziellen Brotkuchen ge- knetet wird. Diese spezifische Backhandlung findet sich in biblischen Ver- gleichsstellen in Kontexten der Fürsorge oder Stärkung angesichts nicht alltäglicher Anforderungen. Ebenso erscheint die fleischliche Komponente extra-ordinär. Es wird ein bestimmtes Fleisch gewählt, ein junges Kalb wird geschlachtet, zart und schön. Es ist das vollmundig gute, das beste seiner Art, was hier dargereicht wird. Damit drückt sich die Dimension der Opu- lenz, des Luxuriösen aus, ebenso wie eine Komponente des Geschmacks. Womit das Mahl nun vollends zum Widerspruch erhöht wird, ist die Zu- sammenstellung dessen, was eigentlich nicht zusammengestellt sein darf, wenn es in Vers 8 heißt: „Dann nahm er Butter und Milch und das Kalb, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor. Er selbst wartete ihnen auf unter dem Baum, und sie aßen.“ Milch und Fleisch auf einem Tisch! Es ist eine der wichtigsten jüdischen Speisegebote, Milchiges und Fleischiges zu trennen (zum Beispiel: „Ein Böcklein sollst du nicht in der Milch seiner Mutter kochen“, Dtn 14,21), so dass gerade die rabbinische Tradition aus- gefeilt darum rang, diesen Vers zu erläutern. Doch der Text selbst nimmt keinerlei Anstoß. Erst in der Zusammenstellung von Essen und Trinken drückt sich ein festlicher Charakter aus, ein saturierter Lebensmoment. Diesem hätte auch Wasser genüge getan. Doch mit Milch ist eine andere Symbolik verbunden.Als fettes, reiches Nahrungsmittel zeugt sie von Reich- tum und Überschwang. Und ihre Konsistenz hat eine umschließende, be- ruhigende Wirkung. Milch wird zum Heilstopos schlechthin in der Beschrei- bung des verheißenen Landes, in dem Milch und Honig fließt.Als Muttermilch wird sie zum Sinnbild der Unschuld, auch der Naivität. Ein Motiv, das den 4
Konnex zur Verheißung des Kindes herstellt. Roland Barthes beschreibt diese Morphologie der Milch, im Gegensatz zum Blutigen (wie Wein oder Fleisch) wie folgt: […] ihre cremige und also lindernde Beschaffenheit […]; die Milch ist kosmetisch, sie bindet, bedeckt, stellt wieder her. Außerdem ist ihre Reinheit in Verbindung mit der kindlichen Unschuld, ein Zeichen von Kraft, Zeichen einer unverzerrten, unge- hemmten, vielmehr ruhigen, makellosen, durchsichtigen Kraft in voller Harmonie mit der Wirklichkeit. Was sich in dieser Mahlzeit zeigt, ist mehr als die Pflichterfüllung eines Ethos der Gastfreundschaft. Abraham reicht weder nur etwas, noch irgend- etwas. Die Speisen dienen nicht dazu, den Reisenden ihren Hunger und Durst zu stillen. Zwar sprach er noch in der Einladung aus, etwas Wasser, einen Bissen Brot zu bringen, dies wäre noch business as usual. Doch Abra- ham schafft eine Form der Tischgemeinschaft, die über jegliche Normierung in Zeit und Raum hinweggeht. Sei es die Spontaneität, die alle chronolo- gisch-präzise Planung stillstehen lässt, sei es die Speisenfolge, durch die alle räumlich-sondierte Normierung überschritten wird. Tischgemeinschaft stellt sich ein, insofern eine Mahlzeit über ihren reinen Zweckcharakter der Sättigung hinaus Genuss und Muße ihren Platz ein- räumt. Diese zeigen sich besonders darin, dass sie eine Sozialität ausdrü- cken, die den Tischnachbarn nicht nur räumlich erfassen, sondern den An- deren leiblich wahrnehmen. Nachdem alles bereitet ist, blieb Abraham bei den Anderen stehen. Nach all der Hektik kommt er zur Ruhe, steht still vor ihrem Angesicht, er steht in der Wahrnehmung ihrer persona. Es folgt eine weitreichende Unterhaltung, er teilt Zeit mit ihnen, von Angesicht zu Ange- sicht. Selbst der Abschied in Vers 16 ist durch Gemeinschaft geformt: „Und die Männer machten sich auf […], und Abraham ging mit ihnen, um ihnen das Geleit zu geben.“ Die Fremden gingen nicht vorüber oder näherten sich bloß. Sie über- schritten die Schwelle und kehrten tatsächlich ein. Dieser Transit von Dis- tanz zu Nähe, zwischen Eile und Ruhe, ermöglichte genau jenen oben ge- nannten, notwendigen kairos, in den ein Ereignis eintreten konnte. Der biblische Diskurs bietet dies in Form einer Sohnesverheißung, die, bar jeder 5
physiologischen Vernunft, erfüllt wird. In metaphorischer Lesart vermittelt dieses Mahl den Geschmack des Außergewöhnlichen. Im Verteilen der Spei- sen wird eine Beziehung gestiftet, das geteilte Essen wird zum Zeichen der Gemeinschaft und die Tischgemeinschaft wird zur Einverleibung des Extra-Ordinären, zum Ereignis über den regelhaften Chronos hinweg. Die Textwelt von Genesis 18 präsentiert, dass Anerkennung, Freigiebig- keit und Unvorhersehbarkeit wesentlich sind, um den Geschmack für eine ereignishafte Tischgemeinschaft zu vermitteln, in die der Einbruch des Hei- ligen möglich wird. Erzählt wird von der Begegnung mit dem Fremden als Begegnung mit dem ganz Anderen, dem impulsiv mit Furcht begegnet wer- den könnte. Doch Abraham begegnet diesen Fremden mit freudigem Ent- gegenlaufen. Es beschreibt die Anerkennung des ganz Anderen vor jeder Benennung, vor jeder ökonomischen Beziehung. Noch bevor der Empfan- gende Begehr oder Gegenleistung des Ankömmlings kennt, lädt er ein und nimmt auf. Auch das Essen als Geschehen muss nicht benannt werden. Der Text bezeichnet dieses Mahl nicht durch einen terminus technicus als Fest- mahl (mištæh). Würde man es benennen, wäre der Ereignischarakter schon verflogen. Der Aspekt der Freigiebigkeit wird in der Differenz zwischen Ansage und Ausführung deutlich. Der versprochene Bissen Brot und das Tröpfchen Wasser werden weit überboten. Hier werden keine Erbsen gezählt, son- dern in enormer Überfülle wird der Tisch gedeckt. Reichlich und auserlesen ist die Bewirtung, sie bietet viel mehr als zu erwarten wäre und transzen- diert so eine rein reziproke Beziehung. Zu dieser Spannung zwischen der Pflicht zur Gabe und der Freigiebigkeit lesen wir bei Derrida: Denn wenn ich Gastfreundschaft aus Pflicht übe […], ist diese Gastfreund- schaft-aus-Pflichterfüllung keine absolute Gastfreundschaft mehr, wird sie nicht mehr jenseits von Pflicht und Ökonomie freundlich, freiwillig und unentgeltlich ge- währt, wird sie nicht mehr dem Anderen geschenkt, ist sie keine Gastfreundschaft mehr, die für die Singularität des Ankömmlings, des unerwarteten Besuchers erfun- den wurde. Diese Irritation ökonomischer Gleichungen bildet Genesis 18 ab. Abraham agiert über die Norm hinaus und übersteigt alles Übliche und Vertraute. 6
Sein Verhalten korrespondiert gleichsam mit der Ansage des Gegenübers. Denn über alles Übliche hinweg stellt sich das unerwartete Ereignis der Schwangerschaft ein. Damit wird das Moment der Unvorhersehbarkeit zu einem weiteren Kenn- zeichen außergewöhnlicher Mahlzeiten. Kein von langer Hand geplantes Diner, keine ausgefeilte Tischordnung, keine Abstimmung der Speisen auf ein implizites Regelwerk – im Moment der Wahrnehmung des Fremden, der als Gast die Schwelle übertritt, gilt es, tätig zu werden. Ohne auf die Uhr zu blicken, ohne eine Identifizierung des Woher oder Wozu. Befreit von Zielsetzung, Zweck und ökonomischer Ordnung werden Ort und Zeit geschaffen, die eine leibhaftige und im Zeichen der wechselseitig anerkennenden Gabe stehende Tischgemeinschaft möglich werden lassen. Wo diese Vergemeinschaftung erfahren wird, steht das gemeinsame Essen als Ereignis vor dem Gegessenen selbst. Mit den Worten Bernhard Walden- fels‘: „Nur ein Essen und Trinken, das in sich selbst mehr ist als bloßes Essen und Trinken, hat teil an der Ordnung der Dinge, an der Bildung des Selbst und an der Herkunft des Selbst aus dem Anderen.“ Offen bleibt, ob die Mahlzeit als wahre Tischgemeinschaft in Zukunft noch die Bedingungen ihrer Möglichkeit finden wird: Wenn epidemiologisch Dis- tanz geboten und ökotrophologisch Differenzierung gesucht wird.Vielleicht fordert heutzutage ein Mahl über die in Gen 18 definierten Voraussetzun- gen, wie Zeit, Freigiebigkeit, Spontaneität, etc., hinaus noch mehr von uns: Mut. Oder wenigstens eine kleine Neugier auf das Extraordinäre. Literatur: Sämtliche Bibelzitate sind der Zürcher Bibel (2007) entnommen. Mary Douglas, Das Entziffern einer Mahlzeit (1972), in Theorien des Essens, hrsg. von Kikuko Kashiwagi-Wetzel und A.-R. Meyer, Frankfurt/ Main 2017, pp. 91-122. Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 20164. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 20104. Bernhard Waldenfels, Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken, in Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, hrsg. von Iris Därmann und Harald Lemke, Bielefeld 2008, pp. 171-199. 7
Marion Steinicke (Universität Koblenz-Landau) Die Zeit, die Uhren und die Speisen des Kaisers. Nachrichten aus dem Reich der Mitte In China tickt die Zeit nicht, sie fließt in Wachs, Sand und Wasser. Anstelle von Uhren, wie man sie in Europa kennt – so weiß der britische Gesandte zu berichten, der 1793 das Reich der Mitte aufsucht, um dessen Grenzen dem imperialen Welthandel zu öffnen – zeigt eine brennende Kerze so ziemlich genau das Maß der Stunden an. Dergleichen Ker- zen brennen ausnehmend gleichförmig; sie werden aus dem Mark eines großen Baums gemacht, und an der Außenseite werden 12 Teile von gleicher Länge daran angedeutet, doch sind, außer dieser Art von Zeitmessern, auch Sanduhren und Was- seruhren in Gebrauch. (Macartney, 473) Die Zeit fließt, doch sind europäische Uhren am chinesischen Hof keines- wegs unbekannt. Um die Vorzüge christlicher Religion und westlicher techne zu demonstrieren, hatte bereits Matteo Ricci, der Ende des 16. Jahrhun- derts als erster Jesuitenmissionar am chinesischen Hof vorstellig wurde, dem Kaiser unterschiedliche mechanische Gerätschaften, Gemälde und Uhren aus dem Westen überbracht. Von den Glaubenssätzen zeigte der Himmelssohn sich wenig beeindruckt; wenn überhaupt, so interessierten ihn die Kuriositäten, mit denen die westlichen Barbaren ihm Tribut zollten: die optischen Geräte, pneumatischen Maschinen, Automaten, Spieluhren, ja auch die fremdartige Malerei mit ihren verwirrenden perspektivischen Dar- stellungen. Zum Leidwesen der Jesuiten sollte sich in den folgenden 200 Jahren daran kaum etwas ändern. Die einzelnen Herrscher lösen einander ab, auf die Dynastie der Ming folgt die der Qing, doch die kaiserlichen Vor- lieben bleiben bestehen. Immer wieder schreiben die Missionare nach Rom: dass man Uhrmacher und Maler, doch keine Theologen nach China schicken möge. Die Zeit tickt anders im Reich der Mitte. An den europäischen Höfen haben im ausgehenden 17. und 18. Jahrhun- dert Chinoiserien Konjunktur. Filigrane Blumen,Vögel, Fische, Drachen und andere Fabelwesen zieren Seidenstoffe, Tapisserien und Tapeten aus Papier; chinesische Fischer, Akrobaten, Musikanten, Teehändler und Gassenjungen 1
tummeln sich auf Fayencen und Gefäßen aus Porzellan oder tragen bereit- willig Leuchter, Uhren und andere nützliche Gegenstände; zierliche Edel- damen scharen sich um rundliche Potentaten unter dem Baldachin oder trippeln mit kleinen Schritten von Fächern, Schirmen und Dienerinnen um- geben auf den Schalen, Tellern, Tassen der Services à la Meißen. Lackierte Wandschirme und Möbel zeigen idyllische Landschaften: bizarr geformte Felsen, knorrige Bäume, von Brücken durchzogene Wasserläufe und in der Ferne verschwimmende Seen, an deren Ufer sich hohe Pagoden und ele- gante Pavillons mit geschwungenen Dächern im leichten Morgennebel ab- zeichnen. Das europäische China-Bild der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- derts ist von dieser lyrischen Stimmung geprägt. Anmut und Eleganz sind die vorherrschenden Züge eines arkadischen Reichs, dessen Konturen weich und fließend wie Wasser erscheinen. Die allgemeine China-Mode, zu der bald auch die beliebten ‚anglo-chinoi- sen‘ Landschaftsgärten gehören, wird wesentlich von den in Peking tätigen Missionaren befördert, deren umfangreiche Episteln über die chinesische Kultur und insbesondere über das Leben am kaiserlichen Hof sich nach ein- gehender Redaktion durch die in Rom ansässige Propaganda Fide in ganz Europa verbreiten. 1743 beschreibt der Jesuitenmaler Jean Denis Attiret den nördlich der Stadt gelegenen kaiserlichen Sommerpalast und die ihn umgebenden ‚natürlichen‘ Landschaftselemente, die sich von den streng symmetrischen barocken Gärten seiner französischen Heimat wesentlich unterscheiden: Lieblich anzusehen sind insbesondere die zahlreichen kleinen Lusthäuser, die auf einem weitläufigen Gelände errichtet wurden, wo man kunstfertig allerlei Berge aufgeworfen hat. Diese Hügel sind zwanzig bis fünfzig oder sogar sechzig Fuß hoch und bilden unzählige, von Kanälen durchzogene kleinere Täler oder Niederungen. [...] In jedem Tal sowie an den Ufern der Kanäle befinden sich Gebäude, die auf ganz wunderbare Art zu verschiedenen Gruppen geordnet und mit Höfen, offenen und überdachten Galerien, Gärten, Wasserbecken und dergleichen mehr versehen sind, so dass alles in allem ein Ensemble entsteht, dessen Anblick entzückt. (LE 22, 493) Zur Vorbereitung und Durchführung hoher Opferzeremonien – etwa zur Sonnen- und Winterwende oder auch zur Inauguration des neuen Jahres – muss der Qianlong-Kaiser sich jedoch hinter die hohen Mauern der Ver- 2
botenen Stadt begeben, die außer der kaiserlichen Familie, den zahlreichen Konkubinen und den hohen Beamten niemand betreten darf. Drei Tage und Nächte hat der Himmelssohn dann im Zhai Gong zu verbringen, im „Palast der Enthaltsamkeit“ oder „Fastenpalast“, wie die Jesuiten ihn nennen. Auf Fleisch, Fisch und andere tierische Produkte wie Eier und Milch muss der Kaiser während dieser Zeit verzichten, auch würzige Speisen wie „Knob- lauch, Zwiebeln und Lauch“ sind verboten; lediglich Reis, Teig und Gemüse darf der Himmelssohn zu sich nehmen. Zwar verspricht der Anblick der Speisen kulinarischen Hochgenuss, doch wird diese Erwartung bitter ent- täuscht, es handelt sich um reinen Augenschmaus: Die aufgetragenen Mahlzeiten sind dem Augenschein nach appetitlich, die Speisen in unterschiedlichen Farben, teils golden und silbern gefärbt und kunstvoll zu symme- trischen Figuren geordnet, doch da es keine Brühe, keine Butter, kein Öl gibt, um sie schmackhaft zu machen, vermögen sie trotz des goldgelben Glanzes und der leb- haften Farben den Geschmackssinn nicht zu befriedigen. (LE 24, 319) „Zhai“ bedeute, so Pater Benoist, dem wir diese Beschreibung verdanken, nicht allein „fasten“, sondern ganz allgemein „Sammlung“ und somit die „Entfernung aller äußeren Dinge, welche die Reinheit des Herzens befle- cken oder verderben können“. Selbst die ungläubigen Chinesen wüssten nämlich „wie sehr Enthaltsamkeit dazu beiträgt, diese Reinheit zu erhalten“. Als der Missionar diese Zeilen schreibt, ist er bereits seit fast 30 Jahren in China; die Fastenzeiten seiner Religion hält er strikt ein und begnügt sich dann mit „trockenem Reis und salzigen Kräutern“. Auf diesen Umstand, der eine kulturelle Übereinstimmung zwischen Chinesen und Christen an- deutet, legt der Pater Wert: Nicht nur Essen, auch Fasten verbindet. Derlei Gemeinsamkeiten könnten, so darf man zwischen den Zeilen lesen, die Mis- sion begünstigen. Nicht zuletzt zielen die Briefe der Jesuiten darauf ab, in Europa finanzielle Mittel zur Fortsetzung ihrer Arbeit einzuwerben. Im Gegensatz zu den chinoisen Fantasien eines müßigen Herrscherlebens en plein air ist der Tagesablauf des Himmelssohns auch in seinem Sommer- palast streng geregelt: Aufstehen vor Sonnenaufgang, Audienzen im Thron- saal, Rückkehr in die Privatgemächer, Entgegennahme und Prüfung von Ge- suchen, Bittschriften, Eingaben, Urteilen, amtlichen Vorlagen. Auch auf 3
Bootsfahrten und Sänftengängen, die der Kaiser zu seinen weit auseinan- derliegenden Palastgebäuden und Pavillons unternimmt, sei es um bauliche Veränderungen zu begutachten, sei es um seine diversen Kunstsammlungen zu betrachten, ist er unermüdlich beschäftigt: Seine Arbeit folgt ihm überall hin; nie wird etwas auf den nächsten Tag verschoben. Wenn eine Angelegenheit es erforderlich macht, erteilt er seine Anweisungen, wo immer er sich befindet. Der Kaiser muss so zahlreichen Zeremonien, Sitzungen und repräsentativen Angelegenheiten nachkommen, dass trotz all der Besorgungen, die auch in seinen Gartenanlagen zu tätigen sind, diese Spazierfahrten noch eine verita- ble Erholung darstellen. (LE 24, 413) Die Mahlzeiten scheinen kaum Abwechslung zu bringen. Auch im Sommer- palast speist der Kaiser stets allein, nur die aufwartenden Eunuchen sind zugegen. Die Essenszeiten sind genau festgelegt, die Speisen werden in klei- ne Stücke geschnitten serviert, es gibt nur einen Gang. Die Speisezeiten sind fest geregelt: Der Kaiser frühstückt morgens zur achten Stunde, zur vierzehnten Stunde wird ihm nachmittags das dîner serviert. Außerhalb die- ser beiden Mahlzeiten nimmt er lediglich Getränke zu sich, gelegentlich auch ein leichtes Dessert, Früchte oder Gebäck. Im Unterschied zu den Speise-Zeiten sind die Speise-Orte nicht festgelegt: Alle Räumlichkeiten, ob innen oder außen, verwandeln sich in kaiserliche Speisezimmer, sobald der Herrscher dort zur festgesetzten Essenszeit präsent ist. So hat Pater Be- noist in den Vorzimmern der kaiserlichen Gemächer „oder auch an ande- ren Orten“ oftmals die lange Prozession von Speisen verfolgen können, die dem Kaiser gebracht werden, damit: Ihre Majestät, wenn Sie sich in Ihren Palastgebäuden oder Gärten ergeht und die Essenszeit gekommen ist, Ihre Mahlzeiten an jedem Ort zu sich nehmen kann, wo Sie sich gerade befindet. (LE 24, 394) Die Zeit mag fließen, doch die Mahlzeiten des Kaisers skandieren präzis den Tagesablauf. Um zu verhindern, dass die Speisen auf ihren langen Wegen durch die Palastanlage abkühlen, werden sie in goldene oder silberne Gefäße mit dop- peltem Boden gefüllt, die zugleich als Teller und Rechaud dienen. In den Hohlräumen befinden sich glühende Kohlen, die durch einen Schlauch Luft 4
erhalten. Das Essen bleibt so für beträchtliche Zeit warm, und um es zu- sätzlich vor Wind und Wetter zu schützen, werden die Speisen in große Lackkästen mit teilweise mehreren Etagen verpackt. Der Kaiser ist stets in Bewegung, die Speisen folgen ihm. Unbeschadet des aufwendigen Caterings und der offenbar großen Quantität und Qualität der kredenzten Speisen ist die Zeit, die der Kaiser dem Essen widmet, jedoch gering: Trotz der großen Anzahl und Herrlichkeit der Speisen, die Ihrer Majestät aufgetra- gen werden, verwendet Sie niemals mehr als eine Viertelstunde auf Ihre Mahlzeiten. (LE 24, 394) Der Kaiser kennt europäische Uhren, doch hat er noch nie einen künstli- chen Springbrunnen gesehen. Nachdem er auf einer Illustration eines jener Wasserspiele erblickt hat, die so häufig die Vor- oder Rückseiten europäi- scher Barockpaläste zieren, befiehlt er den Jesuitenmissionaren, etwas Vergleichbares zu konstruieren. Für die technischen Belange soll Pater Benoist verantwortlich zeichnen, der als Astronom und Mathematiker aller- dings nur wenig von Brunnenbau versteht. Doch ist der Wunsch des Kaisers Befehl, und so entstehen in einem eingefriedeten Bereich im Osten des Sommerpalasts die Xi Yang Lou, die „Westlichen Paläste“ mit ihren Auffahr- ten, Toren, Gärten, Prospekten und einem Labyrinth, alles „in europäischer Manier“. Ausgangs- und Zielpunkt dieser umfangreichen architektonischen européerie sind die Fontänen und Wasserbecken. Das Kernstück der gesam- ten Anlage bildet der „Palast des ruhigen Meeres“. Palast des ruhigen Meeres, von Westen gesehen, Kupferstich, um 1783 5
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