Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS

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Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Mahl-Zeiten.
Chronometrie und Störung

    Bulletin Esskulturen
       3. Jahrgang 2021
    Mappe VI, Faszikel 31-36
Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Esskulturen
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Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Mahl-Zeiten.

Chronometrie und Störung
Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Inhalt
_______________________________________________
Eva Schneider
Mahlzeiten und Chronometrie.
Eine chinoise Konsolenuhr aus der Sammlung Poignard
_______________________________________________
Ina Tanita Burda
Stillen – Zeit – Essen.
Mahl-Zeiten zwischen Struktur und Störung
_______________________________________________
Martina Weingärtner
Von Spontaneität, Freigiebigkeit und Anerkennung.
Genesis 18 als Bild einer außergewöhnlichen Tischgemeinschaft
_______________________________________________
Marion Steinicke
Die Zeit, die Uhren und die Speisen des Kaisers.
Nachrichten aus dem Reich der Mitte
_______________________________________________
Nicole Hoffmann
La durée poignardée.
Aus der europäischen Lerngeschichte der getakteten Mahl-Zeit
_______________________________________________
Kulinarisches Kino.
Andreas Ackermann im online-Gespräch mit Thomas Struck
_______________________________________________
Impressum
_______________________________________________

Vordere Umschlagklappe:
Chinoise Konsolenuhr (gedruckt auf Esspapier)
unter Verwendung eines Fotos der Deutschen Stiftung Denkmalschutz
Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz © GDKE, Pfeuffer
Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Eva Schneider (Stiftung Bürgerliche Wohnkultur, Sammlung Alex Poignard)
Mahlzeiten und Chronometrie.
Eine chinoise Konsolenuhr aus der Sammlung Poignard

MahlZEIT
Wer kennt es nicht, dass Frühstück,
Mittag- und Abendessen, manchmal
auch die Kaffeezeiten, mit ganz be-
stimmten Uhrzeiten verbunden sind
Zwar sind die Zeiträume, in denen
wir die jeweilige Mahlzeit zu uns neh-
men, kulturell verschieden, doch be-
steht dennoch ein auf Tradition beru-
hendes Gefühl, wann es Zeit für eine
Mahlzeit ist.
Während es früher noch üblich war,
zu jeder Mahlzeit pünktlich auf den
Glockenschlag und in bürgerlichen
Familien gemeinsam am Tisch einzu-
nehmen, sieht es heutzutage – beson-
ders unter der Woche - jedoch ganz
anders aus: Frühstück und Mittages-
sen werden heute meist unabhängig
voneinander in Mensen, Pausenräu-               Chinoise Konsolenuhr.
men oder am Arbeitsplatz, teilweise          Deutsche Stiftung Denkmalschutz,
auch überhaupt nicht eingenommen. Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
                                               Foto: Ulrich Pfeuffer, GDKE.
Auch wenn die Zeiträume hier noch
die Gleichen sind, ist das klassische
Prinzip vom (warmen) Familienessen am Tisch zu festen Uhrzeiten in die
Abendstunden, beziehungsweise auf das Wochenende verschoben worden.
Und trotzdem sind bestimmte Uhrzeiten weiterhin fest an gewisse Mahl-
zeiten gekoppelt, weshalb beispielsweise in kaum einer Küche oder einem
Esszimmer die Uhr als Einrichtungsgegenstand fehlen würde.

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Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Werbekarte der Firma Huxley.
                         Deutsche Stiftung Denkmalschutz,
                    Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
                                Foto: Eva Schneider

Die Uhr im Kontext der Sammlung Alex Poignard
Mit weit über 50.000 Objekten zeigt die Sammlung des ehemaligen belgi-
schen Süßwarenhändlers Alexandre Poignard ein breites Spektrum von Ob-
jekten bürgerlicher Alltags- und Wohnkultur.
  In der umfangreichen Sammlung machen Uhren zahlenmäßig nur einen
kleinen Teil aus, jedoch hat sich Alex Poignard hier auf besonders gut er-
haltene und für die ästhetischen Vorlieben des 18. und 19. Jahrhunderts
charakteristische Stücke konzentriert. Im Stil des Barocks, Rokoko und ver-
einzelt des Klassizismus sind zahlreiche Tisch- und Kaminuhren mit ver-
spielten Formen und verschiedensten Motiven und Figuren aus Porzellan,
aber auch aus Metall zu finden. Neben Kompositionen wie beispielsweise
einem nachdenklichen Napoleon oder einem Ritter hoch zu Ross gibt es
aber auch außergewöhnliche Stücke wie die chinoise Konsolenuhr, denn
obwohl der Sammlungsfokus auf westeuropäischer Kultur liegt, sind dem
Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, aber bestimmt auch dem Geschmack des
Sammlers geschuldet, dass sich viele ostasiatische Objekte in der Sammlung
wiederfinden. Neben Puppenhäusern, Spielkarten und kleinen Schreinen,
die aus Japan und China importiert worden sind, gehören zum Bestand der
Sammlung auch Porzellangegenstände, die in Europa hergestellt wurden.
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Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Es ist daher angemessen, die hier vorliegende Uhr etwas näher im Kon-
text von Entstehungszeit, Gestaltung und Bedeutung zu betrachten.

Zeitmesser und die Kunst des Exotismus
Das Streben des Menschen, Zeit zu messen, einzuteilen und zu verwalten,
spielt gerade zur heutigen Zeit eine immer wichtigere Rolle. Meetings,
Deadlines und Termine müssen eingehalten werden, die sog. „Work-Li-
fe-Balance“ wird immer wichtiger. Uhren, egal ob auf dem Smartphone
oder am Handgelenk, begleiten uns tagtäglich nicht nur als Zeitmesser, son-
dern eben auch als ästhetische Accessoires und Statussymbol.
  Praktische kleine Uhren, die man beispielsweise auf Tische, Regalbretter
oder Simse stellen konnte, kamen bereits im 15. Jahrhundert auf und kom-

                                                    Gruppe von Konsolenuhren.
                                                   Deutsche Stiftung Denkmalschutz,
                                                                 Sammlung Poignard
                                                        im Landesmuseum Koblenz,
                                                                 Foto: Eva Schneider.

binierten schnell ihre Funktion als Zeitmesser und die Ästhetik der jeweili-
gen Zeit miteinander. Uhrgehäuse wie die chinoise Konsolenuhr sind be-
reits früh nach der Erfindung des europäischen Porzellans Anfang des 18.
Jahrhunderts hergestellt worden. Als nützliche Dekoration zierten sie Ka-
minsimse, an Wände angebrachte Sockel oder Regale, aber auch (Beistell-)
Tische. Bereits vor dem 18. Jahrhundert wurde der Einrichtung eines Haus-
halts als Ausdruck sozialen Prestiges großer Stellenwert beigemessen. Der

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Mahl-Zeiten. Chronometrie und Störung - Bulletin Esskulturen 3. Jahrgang 2021 Mappe VI, Faszikel 31-36 - OPUS
Trend, sich als weltoffen und dem Exotischen zugeneigt zu präsentieren,
wird jedoch an dem Interesse an asiatischen Motiven in dieser Zeit beson-
ders greifbar. Mit der Erfindung des europäischen Hartporzellans in Meißen
war es auch möglich, die sonst nur schwer bezahlbaren Importe zu imitie-
ren und frei zu interpretieren, sodass die sogenannten Chinoiserien ihren
Weg mit der Zeit auch in bürgerliche Haushalte fanden. So ist auch bei der
hier zur Diskussion stehenden Uhr aus der Sammlung Alex Poignard deut-
lich die Verbindung zwischen zwei Funktionsweisen zu erkennen: die Uhr als
solche, nämlich als reine Informationsquelle, sowie als informatives Dekor
und Prestigeobjekt.
  Die auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datierte Uhr aus der Samm-
lung Alex Poignard besteht aus drei Teilen: Dem Uhrwerk, dem Uhrgehäuse
und dem Sockel. Das Uhrwerk stammt aus der Werkstatt des Uhrmachers
B. J. Vanderveken in Brüssel und nimmt nur wenig Platz innerhalb des Ge-
häuses ein. Ziffern, Zeiger und Signatur der Werkstatt sind zierlich gehalten
und nehmen sich im Kontext der sonst satten Farben des Gehäuses optisch
stark zurück. Abgesehen vom Namen und einstigen Standort in der Rue de
Fripiers 29 in Brüssel ist über die Uhrmacherwerkstatt Vanderveken nichts
weiter zu finden.

     Porzellanmarke der
     Manufaktur Michel-Isaac Aaron.
     Deutsche Stiftung Denkmalschutz,
                                         Ziffernblatt mit Aufschrift
     Sammlung Poignard im
     Landesmuseum Koblenz,               „B. J.Vanderveken, à Bruxelles“.
     Foto: Eva Schneider.                Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Samm-
                                         lung Poignard im Landesmuseum Koblenz
                                         Foto: Eva Schneider

Gehäuse und Sockel bestehen aus Porzellan und stammen aus der Werk-
statt von Michel-Isaac Aaron in Chantilly, welche nach der Schließung der
dortigen herzöglichen Porzellanmanufaktur im Zuge der Französischen Re-
volution die Herstellung von Porzellan und Fayencen weiterführte. Über die
Werkstatt ist ansonsten ebenfalls nur wenig bekannt.
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Durch seine ursprüngliche Herkunft war die Nutzung von Porzellan, aber
auch imitierende Techniken wie die Fayence, für Chinoiserie-Dekorationen
eine natürliche Entwicklung und so wurden früh chinesische oder japani-
sche Originale imitiert oder deren Motivik mit westlichen Schmuckorna-
menten vermischt. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen vollkom-
men frei erfundene Darstellungen auf, wie sie beispielsweise bei der
Konsolenuhr aus der Sammlung Alex Poignard zu sehen ist und so nie in
Asien zu finden wäre.
  Der Fokus des Objektes liegt auf dem chinesischen Mann, der sich gerade
über einen großen, pflanzenbewachsenen Stein lehnt. Dabei stützt er sich
mit der Linken und hat den rechten Arm geradezu mahnend in Richtung des
Betrachters ausgestreckt, den Blick hingegen hinab zum Ziffernblatt
gerichtet, welches weiß aus dem bräunlichen Stein hervorsticht. Das
Ziffernblatt wird von Pflanzen mit langen, breiten Blättern eingerahmt;
unterhalb strömt Wasser aus einer Quelle, an der sich zwei Vögel erfrischen.
Das Wasser fließt auf den Betrachter zu und wird nur vom Sockel
abgefangen.
  Bei den Vögeln könnte es sich um Tiere aus der Ordnung der Racken-
vögel handelt, zu denen auch der Eisvogel gehört. Sie sind bekannt für ihr
buntes Gefieder, das sie in Kombinationen aus Blau,Violett und Orange zur
Schau stellen und viele ihrer Gattungen sind unter Anderem über den ost-
asiatischen Raum verbreitet. Andererseits kann es sich auch um Fantasie-
vögel handeln, die von Darstellungen in originaler asiatischer Kunst oder
Reisezeichnungen inspiriert wurden.
  Das Nebeneinander (vermeintlich) ostasiatischer und europäischer Äs-
thetik ist auch an der Uhr selbst zu sehen: Während das eigentliche Ge-
häuse chinesische Motive zitiert, weist der Sockel auch barocken Einfluss
auf: Das schwarze, blütenverzierte Band um den Sockel soll chinesische

   Chinoise Konsolenuhr, Detailansicht des
                                  Sockels.
            Deutsche Stiftung Denkmalschutz,
 Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
                          Foto: Eva Schneider.

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Lackkunst imitieren, wird aber von klassisch westlichen Elementen wie der
goldenen Leiste am oberen Rand oder den weißlichen Blattornamenten,
welche als Füße dienen, umrahmt. Die Kleidung des Manns soll auf die Man-
dschu verweisen, eines Volks aus dem Nordosten Chinas, das während der
Qing-Dynastie (1644-1912) in China regierte. Im Gegensatz dazu sind die
goldenen Verzierungen und Borten sowie die an klassizistische Zierrahmen
erinnernden Blüten eher westlich geprägt.

                                             Chinoise Konsolenuhr, Detailansicht:
                                                             Kleidung der Figur.
                                                   Deutsche Stiftung Denkmalschutz,
                                        Sammlung Poignard im Landesmuseum Koblenz,
                                                                 Foto: Eva Schneider

Beide Stile bilden hier ein zusammenhängendes Ganzes, was eine Integra-
tion des Exotischen in die klassische Einrichtung europäischer Räume, wie
zum Beispiel im Esszimmer des 19. Jahrhunderts erlaubt. Die Zusammen-
kunft zur Einnahme eines gemeinsamen Mahls, vorgegeben durch die An-
zeige der Zeit und vor dem Hintergrund einer ästhetisch ausgearbeiteten
Zurschaustellung einer fremden und faszinierenden Kultur, die das Alltägli-
che zu einem besonderen Moment macht.
   Der Trend das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden ist also nicht
erst in neuerer Zeit zu finden, sondern lässt sich schon früh an Beispielen
wie der Uhr zurückverfolgen. Die Uhr vereint somit nicht nur den Samm-
lungsraum Poignards mit Europas langer Faszination mit Ostasien, sondern
sie selbst verwebt den zeitlich klar geregelten Alltag mit phantastischen
Träumereien und einem gewissen Fernweh.

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Literatur:

Alain Gruber, Chinoiserie – Der Einfluss Chinas auf die europäische Kunst 17.-19.
      Jahrhundert, Bern 1984.
Willy Richard Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung,
      Köln/ Wien 1990.
Ernst Bassermann-Jordan, Die Geschichte der Räderuhr unter besonderer
      Berücksichtigung der Uhren des Bayerischen Nationalmuseums,
      Frankfurt 1905.
Indicateur belge, ou Guide commercial et industriel de l‘habitant et de l‘étranger dans
       Bruxelles et la Belgique, pour l‘an 1840, contenant plus de 60.000 adresses ou
       renseignements administratifs, commerciaux, etc, Gent 1840.
Dieter Kuhn, Kleidung zur Zeit der Qing-Dynastie, in: Die Verbotene Stadt.
      Aus dem Leben der letzten Kaiser von China (Ausstellungskatalog),
      Mainz 1997.

Internetquellen:

https://ac-antique.com/histoire/ (Zugriff 15.08.2020).
https://de.wikipedia.org/wiki/Rackenv%C3%B6gel (Zugriff 20.08.2020).

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Ina Tanita Burda (Universität Koblenz-Landau)
Stillen – Zeit – Essen.
Mahl-Zeiten zwischen Struktur und Störung

Mehrere informelle Gespräche liegen dem Aufbau und den Fragen des In-
terviews zugrunde, das ich im Sommer 2020 mit Blick auf die Abfassung
meines Beitrags für die vorliegende Ausgabe des Bulletins geführt habe.
Diese Gespräche ergeben sich häufig auch deswegen, weil sich mein Dis-
sertationsprojekt Leiblichkeit ohne körperliche Ko-Präsenz – eine ethnologische
Untersuchung von online Stillen und Stillgruppen in Zeiten von Corona mit allen
Aspekten des Stillens von Säuglingen an der mütterlichen Brust – online
wie offline – beschäftigt. Die Namen sind anonymisiert.
E.B: Ich heiße Emmi Blau, bin zweifache Mama. Von zwei Jungs. Der Maxi ist
vier, der Mini ist eins. Ich bin dreiunddreißig, komme aus [einer westdeut-
schen Stadt] und bin glücklich verheiratet.
I.T.B.: Wie sieht euer Alltag aus und inwiefern spielt Essen da eine Rolle?
(Während des gesamten Interviews spielt Mini im Hintergrund und isst genüsslich
den einen oder anderen Keks mit Schokolade.)
E.B.: Eine große Rolle. Im Alltag – ich geh jetzt auch wieder arbeiten – ste-
hen wir früh auf. Mein Wecker geht so um halb sechs/Viertel nach sechs,
dann mach ich mich fertig und um sechs Uhr/Viertel nach sechs meldet sich
Mini. Dann bekommt er als erstes nochmal eine Milch. Der steht immer
noch auf seine Milch. Und dann machen wir uns fertig. Maxi frühstückt nicht
bei uns.Wir machen aber sein Brot fertig für die Kita. Und da bekommt der
um 11:30 Uhr/12 Uhr Mittagessen. Das ist uns wichtig: eine warme Mahlzeit
schon mal um 12:00 Uhr für Maxi. Abends wird dann noch einmal gekocht,
wenn ich von der Arbeit komme. Uns ist einfach wichtig, dass wir nochmal
zusammen als Familie am Tisch sitzen und gemeinsam essen. Am Wochen-
ende sieht es halt anders aus.Wenn du dann irgendwo eingeladen bist, dann
fällt das Mittagessen mal aus. Ich finde, die Kids können essen, wenn sie
Hunger haben. Aber ich koche auch, so ist das nicht. Aber jetzt nicht um
eine feste Uhrzeit, so: um zwölf Uhr steht das Essen auf dem Tisch, nee, das
gibt es bei uns nicht.
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I.T.B.: Ok, kannst du nochmal ein bisschen genauer sagen, inwiefern du
glaubst, dass es wichtig ist, feste Zeiten oder einen festen Essensrhythmus
zu haben?
E.B.: Ich habe festgestellt, für mich ist das nicht so wichtig. Aber als Mama
stellt man dann fest: ‚Hey, für die Kids ist es echt wichtig.‘ (Emmi Blau über-
legt etwas.) Irgendwie bekommt man das ja auch von seinen Eltern so ein-
gebläut. Also was man früher so erlebt hat als Kind, was positiv war, das
gibst du ja auch deinen Kids mit und wenn ich jetzt so arbeiten bin, dann bin
ich bis 13:00 Uhr arbeiten. Bis ich zu hause bin und Maxi dann abgeholt und
gekocht habe, dann wäre es schon zu spät und so bin ich froh, dass er in der
Kita um 12:00 Uhr seine erste warme Mahlzeit bekommt. Und da mit sei-
nen Freunden zusammen am Tisch sitzt und dann isst. Für Kids ist so ein
Rhythmus, feste Zeiten schon eine ganz, ganz tolle Sache. Ja, außer jetzt am
Wochenende, da lass ich fünf gerade sein, auch weil du manchmal Dates
hast.
I.T.B.: Und wie war das als die Kids noch kleiner waren? Du hast ja gestillt?!
Wie lange bei beiden?
E.B.: Bei beiden habe ich fast zehn Monate gestillt. Und tja, immer wenn ich
essen wollte, wollten die Kinder essen. Ich habe nach Bedarf gestillt, nicht
nach Uhrzeit. Und wenn sie Hunger hatten, als Baby, haben sie dann die
Muttermilch bekommen. Wann ich dann mal gegessen habe? Ich glaube,
wenn die geschlafen haben. Weil ich dann mal in Ruhe essen konnte und
keiner wollte was von mir, keiner wollte von meinem Teller essen.
I.T.B.: Und wie oft hast du sie dann am Tag gestillt? So ungefähr?
E.B.: Bestimmt zwölf, dreizehn Mal. Die haben ja nicht lange an meiner Brust
gegessen. Immer nur ein paar Minütchen.
I.T.B.: Und wann kommt das deiner Meinung nach: dass sie dann feste Mahl-
zeiten haben oder brauchen?
E.B.: Ja, ich finde ja immer, dass der Milchverbrauch anders ist. Also ich glaub
das ist auch das Gefühl des Zusammenseins, so als Familie am Tisch zu sit-
zen. Das ist ja auch gesellig, zusammen zu sitzen, zu essen, zu kochen. Wir
beziehen Maxi auch schon mit ein beim Kochen, dass der auch weiß, was er
da isst. […]
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I.T.B.: Und inwiefern war das Stillen vereinbar mit euren Essenszeiten?
E.B.: Gar nicht, und das war immer so, und als ich dann abgestillt und mehr
Flasche gegeben habe, da war es auch noch so: zum Beispiel, wenn du ir-
gendwo essen warst, weil man sich sagt ‚hey, jetzt möchte ich mal raus, was
anderes essen‘, dann war es immer so, dass mein Essen auf dem Tisch stand
und pünktlich hat das Kind sich gemeldet. Hunger. Milch.
I.T.B.: Kollidiert das mit den Essenszeiten von Deinem Mann auch? Er hat ja
dann auch die Flasche gegeben. Weil du das gerade angesprochen hast, dass
ihr das dann ersetzt habt, hat er auch mal auf sein Essen verzichtet?
E.B.: Mh, zu dreißig/vierzig Prozent.
I.T.B.: Also beim Stillen ist das ja schwierig…
E.B.: Beim Stillen nicht, aber beim Flasche-Geben hat er auch öfter gesagt:
‚So, jetzt setz dich mal hin, iß jetzt in Ruhe. Ich mache eben die Flasche fer-
tig. Öfters war es dann so, dann habe ich mir einfach was Kaltes bestellt,
weil ich mir gedacht hab ‚hey, nein, eine heiße Suppe brauchst du dir jetzt
nicht bestellen. Bestell dir einfach einen Salat. Das ist kalt und kann stehen
bleiben.‘ Und ja, gut ist.
I.T.B.: Wie war das nachts?
E.B.: Ja, wenn er sich gemeldet hat – das ist ja immer, wenn man gerade so
eingeschlafen ist – Brust raus, Milch gegeben, wieder hingelegt.
I.T.B.: Also bist du dann nicht auch aufgestanden und hattest auf einmal
Hunger?
E.B.: Nein, nein. Gar nicht. Der Fokus wird auch anders. Du bist eher der
Versorger. Man achtet gar nicht mehr auf sich, sondern darauf, dass die
Kinder versorgt sind, dass man denen alles besorgt zum Essen und, und, und.
Das man manchmal so denkt ‚Oh, 18 Uhr, ich habe noch gar nichts geges-
sen. […] Und beim Stillen habe ich gemerkt, das nimmt einfach viel Zeit in
Anspruch. Also es gibt ja Frauen, die sagen ‚Ich stille um 10 Uhr, ich stille um
12 Uhr, ich stille um zwei Uhr.‘ Aber ich meine, geil: das war bei mir nie der
Fall. Ich habe das immer gemacht, wenn sie sich gemeldet haben. Ich bin
auch froh. Ich habe das gerne gemacht, bin aber auch froh, dass das jetzt
vorbei ist, weil mittlerweile wird ja ganz normal – in Anführungszeichen –
                                        3
gegessen. Mini bekommt eine Schnitte und isst auch ganz normale Sachen
mit uns mit. Und ich bin nicht mehr der alleinige Versorger, sondern komme
jetzt auch zum Essen mit meiner Familie. […]. Ja, das [Stillen] nimmt super
viel Zeit in Anspruch. Ich kann nur sagen, dass man sein eigenes Essen ver-
gisst. Das ist gleichzeitig ein ganz, ganz schönes, intimes Gefühl, dass du dein
Kind versorgen kannst allein. Du brauchst nicht in den Supermarkt gehen
und irgendwas holen, sondern du bekommst das von Mutter Natur. Man
vergisst sich nur mit den Mahlzeiten. Ich persönlich hab mich vergessen.
I.T.B.: Also ich habe das so empfunden, dass Essen einen Tag strukturiert.
Man steht auf und frühstückt. Dann gibt’s irgendwann Mittagessen und
Abendessen. Die Hauptmahlzeiten. Dann zwischendurch vielleicht noch
mal Snacks. Also so ohne Kinder. Und für Kleinkinder, so in Maxis Alter
vielleicht auch.Aber beim Stillen, das ist total gegenläufig, weil das so irgend-
wie nach Bedarf ist, wie du ja auch gesagt hast. Die melden sich und das ist
so unmittelbar und du musst das sofort irgendwie befriedigen. Und das ist
total entgegen dieser Struktur, die Essen eigentlich schafft.
E.B.: Ja, Essen schafft dir einen Zeitablauf. Struktur, genau, wie du gerade ge-
sagt hast für die Kids. So das ist morgens, das ist mittags, das ist abends. Das
ist so ein Zeitabstand.Wenn wir abends gegessen haben, sagt Maxi auch mal
‚War das jetzt Abendbrot?‘ – ‚Ja, genau‘. Damit weiß er ‚alles klar, nachher
werden die Zähne geputzt, Schlafanzug angezogen, eine Geschichte vorge-
lesen, dann geht’s ins Bett‘ und aber das Stillen ist da außen vor. Es ist eine
ganz andere Nummer.
I.T.B.: Ich frag mich immer, wo der Übergang ist. Also, wo für Kinder das
auch klar wird. Ist das nur weil wir das vorleben –
E.B.: Ich glaube nur, weil wir das so vorleben.
I.T.B.: … oder kommt da dann auch mehr Wahrnehmung auf? Vielleicht so
von Tag und Nacht und so. Dass das vielleicht anfangs gar nicht so klar ist.
E.B.: Richtig, weil am Anfang stillst du und dann ist das Baby wach. Wenn es
wach wird, hat es Hunger. Wenn‘s keinen Hunger hat, schläft es. Da ist es
egal, ob morgens, abends, nachts und überhaupt was ist. […]

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Auf die wichtigsten Punkte, die in dem Gespräch im Bezug auf (Familien)
Essen – Zeit – Stillen angesprochen wurden, soll nun kurz eingegangen
werden, um sie auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive genauer dis-
kutieren zu können. Was aber an dieser Stelle bereits klar wird ist, warum
die verschiedenen Aspekte der Nahrung kulturwissenschaftlich so interes-
sant sind: Essen ist sehr viel mehr als Nahrungsaufnahme und das Stillen
physischer Bedürfnisse, es hat mit alltagspraktischen Fragen zu tun. Das
wiedergegebene Interview veranschaulicht sehr deutlich, dass es viele so-
ziale Komponenten gibt, es funktioniert eindeutig geschlechtsspezifisch und
kann auch auf viele erdenkliche andere Arten durchleuchtet und analysiert
werden.
  Mary Douglas versteht Mahlzeiten als Code, der bestimmte Botschaften
sendet. Dabei geht sie davon aus, dass Nahrung nicht nur Tage in ihrem Ab-
lauf strukturiert, sondern auch die Woche, Monate und das ganze Jahr
durch bestimmte Nahrungsereignisse geordnet sind (vgl. Douglas, 93). Ganz
praktisch bedeutet dies, dass in traditionellen Ernährungsarrangements
zum Beispiel freitags ein fleischfreier Tag ist und es in vielen Familien fest-
gelegte Praktiken gibt, was den Festtagsschmaus an Weihnachten betrifft.
Was aber passiert, wenn aus diversen Gründen, diese Strukturen nicht ein-
gehalten werden können? Auch wäre interessant zu wissen, wann diese
Strukturen erlernt und übernommen werden.
  Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt die Ernährung von
Neugeborenen an der mütterlichen Brust. Darüber hinaus spricht sie sich
für eine Stilldauer von mindestens sechs Monaten aus und auch unter Bei-
gabe von Beikost sollte bis zum zweiten Lebensjahr gestillt werden (vgl.
WHO 2020). Ohne hier genaue Zahlen aufzuführen, stellt eine aktuellen
Studie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) fest, dass Stillen
von Neugeborenen an der mütterlichen Brust auch die bevorzugte Form
der Ernährung unter frisch entbundenen Müttern ist (vgl. Kersting et al.,
V18). Rückblickend auf das oben abgedruckte Interview und den dort be-
schriebenen, durch feste Mahl-Zeiten strukturierten Tagesablauf kann Stil-
len nur als eine Störung, eine fundamentale Erschütterung der immer da-
gewesenen, vermutlich vorwiegend unbewusst reproduzierten Strukturen
des Alltags verstanden werden. Meine Interviewpartnerin ist an einer ande-

                                      5
ren Stelle des Gesprächs, die hier aus Gründen des Umfangs nicht wieder-
gegeben werden konnte, darauf eingegangen, inwiefern sie durch die
Schwangerschaft und Stillzeit in der Wahl ihrer eigenen Nahrungsmittel
eingeschränkt war (kein Alkohol, kein rohes Fleisch, kein roher Fisch, etc.).
So wird hier auch die Einschränkung deutlich, die zumindest diese stillende
Mutter für einen gewissen Zeitraum erfahren hat. Die Verbindung zu den
eigenen Essgewohnheiten und -bedürfnissen kann nicht einfach aufgelöst
werden und dadurch wird auch die Mahlgemeinschaft unübersehbar, die
zwischen Mutter und Kind entsteht. Das mehrfache Stillen nach Bedarf
richtet sich dabei allerdings nach dem Bedarf des Kindes, nicht der Mutter.
Es scheint also eine klare Prioritätensetzung innerhalb dieser Gemeinschaft
zu geben. Doch wann erweitert sich diese Mahlgemeinschaft zwischen Kind
und Mutter zu der der ganzen Familie? Und wann erhalten diese Gemein-
schaften eine festere Struktur?
  Bezüglich dieser Frage gibt es sehr früh ansetzende Ratschläge, die von
Hebammen und Ärzten bereitgehalten werden. Zuerst wird mittags mit
einem Gemüsebrei (Möhre, Kürbis, Pastinake) gestartet, dann wird diesem
Kartoffel hinzugefügt, anschließend Fleisch und schlussendlich Fisch. Sollte
das Kind die einzelnen Komponenten gut vertragen, kann in Gemüse- und
Fleischsorten variiert werden. Anschließend wird am Abend der Milch-Ge-
treidebrei eingeführt. Danach wird der Nachmittagssnack durch Obst und/
oder Getreide eingeführt und danach auch das Frühstück. Dabei wird das
Essen laut diesem Schema immer stückiger, sodass am Ende das Kind mit
etwa einem Jahr die normale Familienkost zu sich nimmt (vgl. Becker). Es
gibt auch andere Möglichkeiten, wie beispielsweise das Baby Lead Weaning,
bei dem den Kindern von Anfang an festes Essen angeboten wird. Die ver-
schiedenen Varianten sollen hier nicht ausführlich diskutiert werden. Was
aber ganz klar wird, ist die deutliche Unterteilung des Tages in verschiedene
Mahl-Zeiten, die das Stillen nach Bedarf schrittweise ersetzen.
  Zwei Punkte sollen abschließend festgehalten werden: Zum einen wird
die schwierige Situation ersichtlich, in der sich stillende Mütter befinden.
Entgegen ihrem eigenen Hungergefühl und einem durch feste Essenszeiten
strukturierten Tagesablauf stillen sie in der Regel zunächst den Hunger ih-
rer Kinder. Auf der anderen Seite wird klar, dass die Vermittlung von gere-
gelten Mahl-Zeiten sehr früh beginnt. Spätestens, wenn die Kinder mit am

                                     6
Familientisch sitzen, wird ihnen die feste Struktur der Mahlzeiten vorgelebt.
Feste Mahl-Zeiten sind also sozial vermittelte Praktiken, die immer weiter
reproduziert werden. Störungen der gewohnten Muster bringen nicht nur
Tagesabläufe durcheinander, sondern können sich auch körperlich nieder-
schlagen. Die Vielfältigkeit dieser Störungen kann aufgrund der immer grö-
ßer werdenden Mobilität der Menschen, unterschiedlichen Lebensentwürfe
und steigenden Schnelllebigkeit vieler Sachverhalte niemals in Gänze abge-
bildet werden. Das Stillen eines Säuglings stört aber oder verändert zumin-
dest den Tagesablauf und die damit verbundenen Mahl-Zeiten der Mutter,
wenn nicht der ganzen Familie.

Literatur:

Mary Douglas, Das Entziffern einer Mahlzeit, in Theorien des Essens hrsg. von Kikuko
     Kashiwagi-Wetzel und Anne-Rose Meyer, Berlin 2017, pp. 91-122.
Mathilde Kersting et al., Studie zur Erhebung von Daten zum Stillen und zur Säuglings-
      ernährung in Deutschland – SuSe II, in 14. DGE-Ernährungsbericht, hrsg. von
      Deutsche Gesellschaft für Ernährung,Vorveröffentlichung Kapitel 3, Bonn
      2020,V1-V34.

Internetquellen:

https://www.who.int/health-topics/breastfeeding#tab=tab_2 [Zugriff 24. September
       2020].
https://www.baby-und-familie.de/Beikost/Uebersicht-So-fuehren-Sie-die-Beikost-
       ein-163073.html [Zugriff 14. September 2020].

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Martina Weingärtner (Collège de France, Paris)
Von Spontaneität, Freigiebigkeit und Anerkennung.
Genesis 18 als Bild einer außergewöhnlichen Tischgemeinschaft

Eine Mahlzeit als solche wahrnehmen, sie einordnen und benennen zu kön-
nen, ist uns nur möglich, weil ihr eine Zeichenhaftigkeit zukommt. Eine
Mahlzeit ist geformt nach kulturellen Codes, in der Abfolge von Handlun-
gen, in ihrer spezifischen Positionierung in Zeit und Raum. Dadurch erken-
nen wir den Unterschied zwischen einem ausgedehnten Mahl und dem
schnellen Happen zwischendurch. Ersteres nennen wir Festmahl, letzteres
Snack. Die unterschiedlichen Ess-Zeiten sind darin zumindest ganz grob in
lang und kurz den Essenden bewusst und bergen neben einer gewissen
Regelhaftigkeit auch eine Erwartungshaltung. Die normierende Kraft dieser
Zeiten wird vor allem dann spürbar, wenn sie durchbrochen wird oder
wenn ein zeitliches Diktat wegfällt – in anarchischen Momenten kommt
dies zu Tage – sei es das genüsslich nach hinten verlagerte Frühstück im
Urlaub, sei es das verbrämte Day-Drinking bei einem Brunch.
 In diesen Codierungen erkennt man einen kommunikativen Akt, der so-
mit auch ein sozialer ist. Mit den Worten Mary Douglas‘:

Wenn Nahrung ein Code ist, wo ist dann die vorcodierte Boschaft? […] Ein Code
stellt ein allgemeines Set von Möglichkeiten zur Aussendung bestimmter Botschaf-
ten bereit.Wenn Nahrung als ein Code betrachtet wird, dann werden sich die durch
ihn codierten Botschaften in den Strukturen erkennbarer sozialer Beziehungen en-
kodieren lassen (91).

Gegenstände wie Speisen bilden Zeichensysteme ab, die sich in ihrer kom-
munikativen Potentialität zu Symbolsystemen formen. Das gemeinsame
Mahl spiegelt eine wesentliche soziale Komponente wider: „Mahlzeiten
[sind] für die Familie, enge Freunde und Ehrengäste. Der bestimmende Fak-
tor des Systems ist die Grenze zwischen Intimität und Distanz” (100).
   Wird dann der „Snack“ zum Metonym einer Fast-Food-Kultur und in
kulturpessimistischer Sicht zum Syndrom einer a-sozialen Entwicklung der

                                       1
eigenen Esskultur (la malbouff)? Dieses Urteil möchte eine Theologin nicht
fällen. Was ihr aber obliegt ist beispielhaft zu erzählen, wann eine reine
Mahlzeit, verstanden als institutionalisiertes Regelwerk, zur leiblichen Tisch-
gemeinschaft wird: dann, wenn ein Begegnungsraum mit der fremden Sitz-
nachbarin entsteht, der soziale Bande knüpft und wenn ein Zustand ent-
steht, der offen ist für den Einbruch des Extraordinären. Dann, wenn
profane zeitliche Ordnungen durchbrochen werden, wenn sich spannungs-
voll ein Moment des kairos einstellt und die Tischgemeinschaft zum (heili-
gen) Ereignis erhöht wird.
   Aus dem Fundus religiöser Zeichensysteme sei hier die Erzählung in Ge-
nesis 18 gewählt – Die drei Männer bei Abraham. Diese Erzählung wurde
nicht selten als das Paradigma für Gastfreundschaft rezipiert. Sie beginnt
wie folgt:

Und der HERR erschien ihm – Abraham – bei den Terebinthen von Mamre, während
er am Eingang des Zelts saß, als der Tag am heißesten war. Er blickte auf und schau-
te sich um, sieh, da standen drei Männer vor ihm. Und er sah sie und lief ihnen vom
Eingang des Zelts entgegen und warf sich nieder zur Erde. Und er sprach: Herr,
wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, so geh nicht vorüber an deinem
Diener.

In der Mitte des Tages sitzt Abraham an der Öffnung seines Zeltes. Es sind
die heißesten Stunden, in denen geruht wird, kaum an eine Mahlzeit zu
denken ist oder Aufregendes erwartet würde. In diese Ruhe hinein, erschei-
nen drei Männer. Unvermittelt und fest stehen sie plötzlich da. Wer sind
diese drei? Einfache Reisende? Engel? Gott selbst? Wir können es nicht ein-
deutig entscheiden, der Text changiert in geheimnisvoller Weise bei der
Benennung des Gegenübers. Abraham selbst fragt nicht danach. Vor jeder
Identifizierung dieser Fremden, vor jeder Klassifizierung dieses „Anderen“,
lädt Abraham zum Verweilen ein:

Es soll etwas Wasser geholt werden, dann wascht eure Füße und ruht euch aus
unter dem Baum. Ich will einen Bissen Brot holen, daß ihr euch stärken könnt, da-
nach mögt ihr weiterziehen. Denn deswegen seid ihr bei eurem Diener vorbeige-
kommen […].

                                         2
Wiederholt betont Abraham, dass die Reisenden nicht vorüberziehen kön-
nen, ohne einzutreten. Der zentrale Begriff der „Überquerung“ (abar in V. 3
und zweimal in V. 5) verstärkt den Eindruck, dass dieser Besuch nicht ledig-
lich ein Abweichen vom Weg darstellt, es ist der terminus technicus für
Grenz- oder Flussüberschreitungen, für das Jenseitige, das erreicht werden
möchte (auch im Hinblick auf das verheißene Land jenseits des Jordans).
Die Semantik zielt auf ein wahres Überschreiten von Grenzen, auf eine
Statusveränderung: Unbekannte treten ein, überschreiten die Schwelle, die
Grenze von der Distanz zur Intimität. Der Eintritt ist nicht allein eine räum-
liche Handlung, er wird zur leiblichen Erfahrung. Jacques Derrida beschreibt
in Schritt der Gastfreundschaft diesen Übergang als Sehnsucht:

„Tritt rasch ein“, rasch, das heißt unverzüglich und ohne zu warten. Das Begehren
ist die Erwartung dessen, was nicht wartet. Der Gast muss sich beeilen. Das Begeh-
ren misst die Zeit ausgehend von seiner Annullierung in der Bewegung des eintre-
tenden Fremden: Der Fremde, hier der erwartete Gast, ist nicht nur jemand, zu dem
man sagt „kommt“, sondern auch „tritt ein“, tritt ein ohne zu warten, mache Halt
bei uns ohne zu warten, beeile dich einzutreten, „komm herein“, „komm in mich“,
nicht nur zu mir, sondern in mich […]. Die Schwelle zu überschreiten, bedeutet ein-
zutreten und nicht nur sich zu nähern oder zu kommen.

Die Erzählung gewinnt an Fahrt. Abraham eilt, die Vorbereitungen zu treffen,
Sara eilt, Kuchen zu kneten, ein Diener eilt, ein zartes Kalb zuzubereiten. In
rasanter Dringlichkeit werden alle Ressourcen aktiviert, um ein opulentes
Mahl zu bereiten. Nachdem alles vor das Angesicht des Gegenübers gestellt
ist, gesellt sich auch Abraham zu den Gästen, stellt sich in aller Ruhe zu ih-
nen. Das Mahl beginnt. Entspannt niedergelassen, bequem aufgestützt, in
einer Situation der Vertrautheit, speisen sie im Schatten des Baumes. Der
Wechsel zwischen Ruhe und Rasanz bereitet dynamisch vor, was gleichsam
als Gastgeschenk präsentiert wird, indem der Gast spricht: „Fürwahr, übers
Jahr werde ich wieder zu dir kommen. Dann hat Sara, deine Frau, einen
Sohn.“ Wieder zeigt sich eine zeitliche Irritation, so grotesk, dass sie Sara
ein Lachen abnötigt. Alt, ja hochbetagt sind Sara und Abraham, wie sollte in
dieser Chronologie noch die Geburt eines Kindes vorstellbar sein?

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Die Nachkommensverheißung durchbricht die regelhafte Ordnung, sie
zeigt Räume des Möglichen auf. Worüber der Mensch nur schmunzeln
kann, das wird für Gott wohl kaum unmöglich sein. Dieser theologische
Topos der Extraordinarität drückt sich gleichermaßen symbolisch in der
Mahlzeit an sich aus. In Mengen, Zutaten und Zubereitungsweise steht das
offerierte Mahl sinnbildlich für eine Durchbrechung des Gewohnten.
   Paradigmatisch lässt sich dies an der ungeheuren Fülle an Speisen ablesen.
Drei Maß Mehl versprechen ausreichend Kuchen, dazu Fleisch, Butter und
Milch. In der syntagmatischen Betrachtung zeigen sich die qualitativen Be-
sonderheiten. Es ist feinstes Mehl, das zu einem speziellen Brotkuchen ge-
knetet wird. Diese spezifische Backhandlung findet sich in biblischen Ver-
gleichsstellen in Kontexten der Fürsorge oder Stärkung angesichts nicht
alltäglicher Anforderungen. Ebenso erscheint die fleischliche Komponente
extra-ordinär. Es wird ein bestimmtes Fleisch gewählt, ein junges Kalb wird
geschlachtet, zart und schön. Es ist das vollmundig gute, das beste seiner
Art, was hier dargereicht wird. Damit drückt sich die Dimension der Opu-
lenz, des Luxuriösen aus, ebenso wie eine Komponente des Geschmacks.
  Womit das Mahl nun vollends zum Widerspruch erhöht wird, ist die Zu-
sammenstellung dessen, was eigentlich nicht zusammengestellt sein darf,
wenn es in Vers 8 heißt: „Dann nahm er Butter und Milch und das Kalb, das
er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor. Er selbst wartete ihnen auf
unter dem Baum, und sie aßen.“ Milch und Fleisch auf einem Tisch! Es ist
eine der wichtigsten jüdischen Speisegebote, Milchiges und Fleischiges zu
trennen (zum Beispiel: „Ein Böcklein sollst du nicht in der Milch seiner
Mutter kochen“, Dtn 14,21), so dass gerade die rabbinische Tradition aus-
gefeilt darum rang, diesen Vers zu erläutern. Doch der Text selbst nimmt
keinerlei Anstoß. Erst in der Zusammenstellung von Essen und Trinken
drückt sich ein festlicher Charakter aus, ein saturierter Lebensmoment.
Diesem hätte auch Wasser genüge getan. Doch mit Milch ist eine andere
Symbolik verbunden.Als fettes, reiches Nahrungsmittel zeugt sie von Reich-
tum und Überschwang. Und ihre Konsistenz hat eine umschließende, be-
ruhigende Wirkung. Milch wird zum Heilstopos schlechthin in der Beschrei-
bung des verheißenen Landes, in dem Milch und Honig fließt.Als Muttermilch
wird sie zum Sinnbild der Unschuld, auch der Naivität. Ein Motiv, das den

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Konnex zur Verheißung des Kindes herstellt. Roland Barthes beschreibt
diese Morphologie der Milch, im Gegensatz zum Blutigen (wie Wein oder
Fleisch) wie folgt:

[…] ihre cremige und also lindernde Beschaffenheit […]; die Milch ist kosmetisch,
sie bindet, bedeckt, stellt wieder her. Außerdem ist ihre Reinheit in Verbindung mit
der kindlichen Unschuld, ein Zeichen von Kraft, Zeichen einer unverzerrten, unge-
hemmten, vielmehr ruhigen, makellosen, durchsichtigen Kraft in voller Harmonie
mit der Wirklichkeit.

Was sich in dieser Mahlzeit zeigt, ist mehr als die Pflichterfüllung eines
Ethos der Gastfreundschaft. Abraham reicht weder nur etwas, noch irgend-
etwas. Die Speisen dienen nicht dazu, den Reisenden ihren Hunger und
Durst zu stillen. Zwar sprach er noch in der Einladung aus, etwas Wasser,
einen Bissen Brot zu bringen, dies wäre noch business as usual. Doch Abra-
ham schafft eine Form der Tischgemeinschaft, die über jegliche Normierung
in Zeit und Raum hinweggeht. Sei es die Spontaneität, die alle chronolo-
gisch-präzise Planung stillstehen lässt, sei es die Speisenfolge, durch die alle
räumlich-sondierte Normierung überschritten wird.
   Tischgemeinschaft stellt sich ein, insofern eine Mahlzeit über ihren reinen
Zweckcharakter der Sättigung hinaus Genuss und Muße ihren Platz ein-
räumt. Diese zeigen sich besonders darin, dass sie eine Sozialität ausdrü-
cken, die den Tischnachbarn nicht nur räumlich erfassen, sondern den An-
deren leiblich wahrnehmen. Nachdem alles bereitet ist, blieb Abraham bei
den Anderen stehen. Nach all der Hektik kommt er zur Ruhe, steht still vor
ihrem Angesicht, er steht in der Wahrnehmung ihrer persona. Es folgt eine
weitreichende Unterhaltung, er teilt Zeit mit ihnen, von Angesicht zu Ange-
sicht. Selbst der Abschied in Vers 16 ist durch Gemeinschaft geformt: „Und
die Männer machten sich auf […], und Abraham ging mit ihnen, um ihnen
das Geleit zu geben.“
  Die Fremden gingen nicht vorüber oder näherten sich bloß. Sie über-
schritten die Schwelle und kehrten tatsächlich ein. Dieser Transit von Dis-
tanz zu Nähe, zwischen Eile und Ruhe, ermöglichte genau jenen oben ge-
nannten, notwendigen kairos, in den ein Ereignis eintreten konnte. Der
biblische Diskurs bietet dies in Form einer Sohnesverheißung, die, bar jeder
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physiologischen Vernunft, erfüllt wird. In metaphorischer Lesart vermittelt
dieses Mahl den Geschmack des Außergewöhnlichen. Im Verteilen der Spei-
sen wird eine Beziehung gestiftet, das geteilte Essen wird zum Zeichen der
Gemeinschaft und die Tischgemeinschaft wird zur Einverleibung des
Extra-Ordinären, zum Ereignis über den regelhaften Chronos hinweg.
   Die Textwelt von Genesis 18 präsentiert, dass Anerkennung, Freigiebig-
keit und Unvorhersehbarkeit wesentlich sind, um den Geschmack für eine
ereignishafte Tischgemeinschaft zu vermitteln, in die der Einbruch des Hei-
ligen möglich wird. Erzählt wird von der Begegnung mit dem Fremden als
Begegnung mit dem ganz Anderen, dem impulsiv mit Furcht begegnet wer-
den könnte. Doch Abraham begegnet diesen Fremden mit freudigem Ent-
gegenlaufen. Es beschreibt die Anerkennung des ganz Anderen vor jeder
Benennung, vor jeder ökonomischen Beziehung. Noch bevor der Empfan-
gende Begehr oder Gegenleistung des Ankömmlings kennt, lädt er ein und
nimmt auf. Auch das Essen als Geschehen muss nicht benannt werden. Der
Text bezeichnet dieses Mahl nicht durch einen terminus technicus als Fest-
mahl (mištæh). Würde man es benennen, wäre der Ereignischarakter schon
verflogen.
   Der Aspekt der Freigiebigkeit wird in der Differenz zwischen Ansage und
Ausführung deutlich. Der versprochene Bissen Brot und das Tröpfchen
Wasser werden weit überboten. Hier werden keine Erbsen gezählt, son-
dern in enormer Überfülle wird der Tisch gedeckt. Reichlich und auserlesen
ist die Bewirtung, sie bietet viel mehr als zu erwarten wäre und transzen-
diert so eine rein reziproke Beziehung. Zu dieser Spannung zwischen der
Pflicht zur Gabe und der Freigiebigkeit lesen wir bei Derrida:

Denn wenn ich Gastfreundschaft aus Pflicht übe […], ist diese Gastfreund-
schaft-aus-Pflichterfüllung keine absolute Gastfreundschaft mehr, wird sie nicht
mehr jenseits von Pflicht und Ökonomie freundlich, freiwillig und unentgeltlich ge-
währt, wird sie nicht mehr dem Anderen geschenkt, ist sie keine Gastfreundschaft
mehr, die für die Singularität des Ankömmlings, des unerwarteten Besuchers erfun-
den wurde.

Diese Irritation ökonomischer Gleichungen bildet Genesis 18 ab. Abraham
agiert über die Norm hinaus und übersteigt alles Übliche und Vertraute.
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Sein Verhalten korrespondiert gleichsam mit der Ansage des Gegenübers.
Denn über alles Übliche hinweg stellt sich das unerwartete Ereignis der
Schwangerschaft ein.
Damit wird das Moment der Unvorhersehbarkeit zu einem weiteren Kenn-
zeichen außergewöhnlicher Mahlzeiten. Kein von langer Hand geplantes
Diner, keine ausgefeilte Tischordnung, keine Abstimmung der Speisen auf ein
implizites Regelwerk – im Moment der Wahrnehmung des Fremden, der als
Gast die Schwelle übertritt, gilt es, tätig zu werden. Ohne auf die Uhr zu
blicken, ohne eine Identifizierung des Woher oder Wozu.
   Befreit von Zielsetzung, Zweck und ökonomischer Ordnung werden Ort
und Zeit geschaffen, die eine leibhaftige und im Zeichen der wechselseitig
anerkennenden Gabe stehende Tischgemeinschaft möglich werden lassen.
Wo diese Vergemeinschaftung erfahren wird, steht das gemeinsame Essen
als Ereignis vor dem Gegessenen selbst. Mit den Worten Bernhard Walden-
fels‘: „Nur ein Essen und Trinken, das in sich selbst mehr ist als bloßes Essen
und Trinken, hat teil an der Ordnung der Dinge, an der Bildung des Selbst
und an der Herkunft des Selbst aus dem Anderen.“
  Offen bleibt, ob die Mahlzeit als wahre Tischgemeinschaft in Zukunft noch
die Bedingungen ihrer Möglichkeit finden wird: Wenn epidemiologisch Dis-
tanz geboten und ökotrophologisch Differenzierung gesucht wird.Vielleicht
fordert heutzutage ein Mahl über die in Gen 18 definierten Voraussetzun-
gen, wie Zeit, Freigiebigkeit, Spontaneität, etc., hinaus noch mehr von uns:
Mut. Oder wenigstens eine kleine Neugier auf das Extraordinäre.

Literatur:
Sämtliche Bibelzitate sind der Zürcher Bibel (2007) entnommen.
Mary Douglas, Das Entziffern einer Mahlzeit (1972), in Theorien des Essens, hrsg. von
     Kikuko Kashiwagi-Wetzel und A.-R. Meyer, Frankfurt/ Main 2017, pp. 91-122.
Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 20164.
Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 20104.
Bernhard Waldenfels, Fremdspeise. Zur Phänomenologie von Essen und Trinken, in Die
     Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, hrsg.
     von Iris Därmann und Harald Lemke, Bielefeld 2008, pp. 171-199.

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Marion Steinicke (Universität Koblenz-Landau)
Die Zeit, die Uhren und die Speisen des Kaisers.
Nachrichten aus dem Reich der Mitte

In China tickt die Zeit nicht, sie fließt in Wachs, Sand und Wasser. Anstelle
von Uhren, wie man sie in Europa kennt – so weiß der britische Gesandte
zu berichten, der 1793 das Reich der Mitte aufsucht, um dessen Grenzen
dem imperialen Welthandel zu öffnen – zeigt

eine brennende Kerze so ziemlich genau das Maß der Stunden an. Dergleichen Ker-
zen brennen ausnehmend gleichförmig; sie werden aus dem Mark eines großen
Baums gemacht, und an der Außenseite werden 12 Teile von gleicher Länge daran
angedeutet, doch sind, außer dieser Art von Zeitmessern, auch Sanduhren und Was-
seruhren in Gebrauch. (Macartney, 473)

Die Zeit fließt, doch sind europäische Uhren am chinesischen Hof keines-
wegs unbekannt. Um die Vorzüge christlicher Religion und westlicher techne
zu demonstrieren, hatte bereits Matteo Ricci, der Ende des 16. Jahrhun-
derts als erster Jesuitenmissionar am chinesischen Hof vorstellig wurde,
dem Kaiser unterschiedliche mechanische Gerätschaften, Gemälde und
Uhren aus dem Westen überbracht. Von den Glaubenssätzen zeigte der
Himmelssohn sich wenig beeindruckt; wenn überhaupt, so interessierten
ihn die Kuriositäten, mit denen die westlichen Barbaren ihm Tribut zollten:
die optischen Geräte, pneumatischen Maschinen, Automaten, Spieluhren, ja
auch die fremdartige Malerei mit ihren verwirrenden perspektivischen Dar-
stellungen. Zum Leidwesen der Jesuiten sollte sich in den folgenden 200
Jahren daran kaum etwas ändern. Die einzelnen Herrscher lösen einander
ab, auf die Dynastie der Ming folgt die der Qing, doch die kaiserlichen Vor-
lieben bleiben bestehen. Immer wieder schreiben die Missionare nach Rom:
dass man Uhrmacher und Maler, doch keine Theologen nach China schicken
möge. Die Zeit tickt anders im Reich der Mitte.
  An den europäischen Höfen haben im ausgehenden 17. und 18. Jahrhun-
dert Chinoiserien Konjunktur. Filigrane Blumen,Vögel, Fische, Drachen und
andere Fabelwesen zieren Seidenstoffe, Tapisserien und Tapeten aus Papier;
chinesische Fischer, Akrobaten, Musikanten, Teehändler und Gassenjungen
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tummeln sich auf Fayencen und Gefäßen aus Porzellan oder tragen bereit-
willig Leuchter, Uhren und andere nützliche Gegenstände; zierliche Edel-
damen scharen sich um rundliche Potentaten unter dem Baldachin oder
trippeln mit kleinen Schritten von Fächern, Schirmen und Dienerinnen um-
geben auf den Schalen, Tellern, Tassen der Services à la Meißen. Lackierte
Wandschirme und Möbel zeigen idyllische Landschaften: bizarr geformte
Felsen, knorrige Bäume, von Brücken durchzogene Wasserläufe und in der
Ferne verschwimmende Seen, an deren Ufer sich hohe Pagoden und ele-
gante Pavillons mit geschwungenen Dächern im leichten Morgennebel ab-
zeichnen. Das europäische China-Bild der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts ist von dieser lyrischen Stimmung geprägt. Anmut und Eleganz sind
die vorherrschenden Züge eines arkadischen Reichs, dessen Konturen
weich und fließend wie Wasser erscheinen.
  Die allgemeine China-Mode, zu der bald auch die beliebten ‚anglo-chinoi-
sen‘ Landschaftsgärten gehören, wird wesentlich von den in Peking tätigen
Missionaren befördert, deren umfangreiche Episteln über die chinesische
Kultur und insbesondere über das Leben am kaiserlichen Hof sich nach ein-
gehender Redaktion durch die in Rom ansässige Propaganda Fide in ganz
Europa verbreiten. 1743 beschreibt der Jesuitenmaler Jean Denis Attiret
den nördlich der Stadt gelegenen kaiserlichen Sommerpalast und die ihn
umgebenden ‚natürlichen‘ Landschaftselemente, die sich von den streng
symmetrischen barocken Gärten seiner französischen Heimat wesentlich
unterscheiden:

Lieblich anzusehen sind insbesondere die zahlreichen kleinen Lusthäuser, die auf
einem weitläufigen Gelände errichtet wurden, wo man kunstfertig allerlei Berge
aufgeworfen hat. Diese Hügel sind zwanzig bis fünfzig oder sogar sechzig Fuß hoch
und bilden unzählige, von Kanälen durchzogene kleinere Täler oder Niederungen.
[...] In jedem Tal sowie an den Ufern der Kanäle befinden sich Gebäude, die auf ganz
wunderbare Art zu verschiedenen Gruppen geordnet und mit Höfen, offenen und
überdachten Galerien, Gärten, Wasserbecken und dergleichen mehr versehen sind,
so dass alles in allem ein Ensemble entsteht, dessen Anblick entzückt. (LE 22, 493)

Zur Vorbereitung und Durchführung hoher Opferzeremonien – etwa zur
Sonnen- und Winterwende oder auch zur Inauguration des neuen Jahres –
muss der Qianlong-Kaiser sich jedoch hinter die hohen Mauern der Ver-

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botenen Stadt begeben, die außer der kaiserlichen Familie, den zahlreichen
Konkubinen und den hohen Beamten niemand betreten darf. Drei Tage und
Nächte hat der Himmelssohn dann im Zhai Gong zu verbringen, im „Palast
der Enthaltsamkeit“ oder „Fastenpalast“, wie die Jesuiten ihn nennen. Auf
Fleisch, Fisch und andere tierische Produkte wie Eier und Milch muss der
Kaiser während dieser Zeit verzichten, auch würzige Speisen wie „Knob-
lauch, Zwiebeln und Lauch“ sind verboten; lediglich Reis, Teig und Gemüse
darf der Himmelssohn zu sich nehmen. Zwar verspricht der Anblick der
Speisen kulinarischen Hochgenuss, doch wird diese Erwartung bitter ent-
täuscht, es handelt sich um reinen Augenschmaus:

Die aufgetragenen Mahlzeiten sind dem Augenschein nach appetitlich, die Speisen in
unterschiedlichen Farben, teils golden und silbern gefärbt und kunstvoll zu symme-
trischen Figuren geordnet, doch da es keine Brühe, keine Butter, kein Öl gibt, um sie
schmackhaft zu machen, vermögen sie trotz des goldgelben Glanzes und der leb-
haften Farben den Geschmackssinn nicht zu befriedigen. (LE 24, 319)

„Zhai“ bedeute, so Pater Benoist, dem wir diese Beschreibung verdanken,
nicht allein „fasten“, sondern ganz allgemein „Sammlung“ und somit die
„Entfernung aller äußeren Dinge, welche die Reinheit des Herzens befle-
cken oder verderben können“. Selbst die ungläubigen Chinesen wüssten
nämlich „wie sehr Enthaltsamkeit dazu beiträgt, diese Reinheit zu erhalten“.
Als der Missionar diese Zeilen schreibt, ist er bereits seit fast 30 Jahren in
China; die Fastenzeiten seiner Religion hält er strikt ein und begnügt sich
dann mit „trockenem Reis und salzigen Kräutern“. Auf diesen Umstand,
der eine kulturelle Übereinstimmung zwischen Chinesen und Christen an-
deutet, legt der Pater Wert: Nicht nur Essen, auch Fasten verbindet. Derlei
Gemeinsamkeiten könnten, so darf man zwischen den Zeilen lesen, die Mis-
sion begünstigen. Nicht zuletzt zielen die Briefe der Jesuiten darauf ab, in
Europa finanzielle Mittel zur Fortsetzung ihrer Arbeit einzuwerben.
  Im Gegensatz zu den chinoisen Fantasien eines müßigen Herrscherlebens
en plein air ist der Tagesablauf des Himmelssohns auch in seinem Sommer-
palast streng geregelt: Aufstehen vor Sonnenaufgang, Audienzen im Thron-
saal, Rückkehr in die Privatgemächer, Entgegennahme und Prüfung von Ge-
suchen, Bittschriften, Eingaben, Urteilen, amtlichen Vorlagen. Auch auf

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Bootsfahrten und Sänftengängen, die der Kaiser zu seinen weit auseinan-
derliegenden Palastgebäuden und Pavillons unternimmt, sei es um bauliche
Veränderungen zu begutachten, sei es um seine diversen Kunstsammlungen
zu betrachten, ist er unermüdlich beschäftigt:

Seine Arbeit folgt ihm überall hin; nie wird etwas auf den nächsten Tag verschoben.
Wenn eine Angelegenheit es erforderlich macht, erteilt er seine Anweisungen, wo
immer er sich befindet. Der Kaiser muss so zahlreichen Zeremonien, Sitzungen und
repräsentativen Angelegenheiten nachkommen, dass trotz all der Besorgungen, die
auch in seinen Gartenanlagen zu tätigen sind, diese Spazierfahrten noch eine verita-
ble Erholung darstellen. (LE 24, 413)

Die Mahlzeiten scheinen kaum Abwechslung zu bringen. Auch im Sommer-
palast speist der Kaiser stets allein, nur die aufwartenden Eunuchen sind
zugegen. Die Essenszeiten sind genau festgelegt, die Speisen werden in klei-
ne Stücke geschnitten serviert, es gibt nur einen Gang. Die Speisezeiten
sind fest geregelt: Der Kaiser frühstückt morgens zur achten Stunde, zur
vierzehnten Stunde wird ihm nachmittags das dîner serviert. Außerhalb die-
ser beiden Mahlzeiten nimmt er lediglich Getränke zu sich, gelegentlich
auch ein leichtes Dessert, Früchte oder Gebäck. Im Unterschied zu den
Speise-Zeiten sind die Speise-Orte nicht festgelegt: Alle Räumlichkeiten, ob
innen oder außen, verwandeln sich in kaiserliche Speisezimmer, sobald der
Herrscher dort zur festgesetzten Essenszeit präsent ist. So hat Pater Be-
noist in den Vorzimmern der kaiserlichen Gemächer „oder auch an ande-
ren Orten“ oftmals die lange Prozession von Speisen verfolgen können, die
dem Kaiser gebracht werden, damit:

Ihre Majestät, wenn Sie sich in Ihren Palastgebäuden oder Gärten ergeht und die
Essenszeit gekommen ist, Ihre Mahlzeiten an jedem Ort zu sich nehmen kann, wo
Sie sich gerade befindet. (LE 24, 394)

Die Zeit mag fließen, doch die Mahlzeiten des Kaisers skandieren präzis
den Tagesablauf.
  Um zu verhindern, dass die Speisen auf ihren langen Wegen durch die
Palastanlage abkühlen, werden sie in goldene oder silberne Gefäße mit dop-
peltem Boden gefüllt, die zugleich als Teller und Rechaud dienen. In den
Hohlräumen befinden sich glühende Kohlen, die durch einen Schlauch Luft

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erhalten. Das Essen bleibt so für beträchtliche Zeit warm, und um es zu-
sätzlich vor Wind und Wetter zu schützen, werden die Speisen in große
Lackkästen mit teilweise mehreren Etagen verpackt. Der Kaiser ist stets in
Bewegung, die Speisen folgen ihm. Unbeschadet des aufwendigen Caterings
und der offenbar großen Quantität und Qualität der kredenzten Speisen ist
die Zeit, die der Kaiser dem Essen widmet, jedoch gering:
Trotz der großen Anzahl und Herrlichkeit der Speisen, die Ihrer Majestät aufgetra-
gen werden, verwendet Sie niemals mehr als eine Viertelstunde auf Ihre Mahlzeiten.
(LE 24, 394)

Der Kaiser kennt europäische Uhren, doch hat er noch nie einen künstli-
chen Springbrunnen gesehen. Nachdem er auf einer Illustration eines jener
Wasserspiele erblickt hat, die so häufig die Vor- oder Rückseiten europäi-
scher Barockpaläste zieren, befiehlt er den Jesuitenmissionaren, etwas
Vergleichbares zu konstruieren. Für die technischen Belange soll Pater
Benoist verantwortlich zeichnen, der als Astronom und Mathematiker aller-
dings nur wenig von Brunnenbau versteht. Doch ist der Wunsch des Kaisers
Befehl, und so entstehen in einem eingefriedeten Bereich im Osten des
Sommerpalasts die Xi Yang Lou, die „Westlichen Paläste“ mit ihren Auffahr-
ten, Toren, Gärten, Prospekten und einem Labyrinth, alles „in europäischer
Manier“. Ausgangs- und Zielpunkt dieser umfangreichen architektonischen
européerie sind die Fontänen und Wasserbecken. Das Kernstück der gesam-
ten Anlage bildet der „Palast des ruhigen Meeres“.

         Palast des ruhigen Meeres, von Westen gesehen, Kupferstich, um 1783

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