UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel

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UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
UNI NOVA
    Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°134 / November 2019

                                                                   Augenforschung

                                                       Sehkraft
                                                       erneuern.

 Gespräch                       Debatte                         Album                    Essay
Schule und                   Die Schweiz                   Tigermücken –            Buddha und die
Geschlecht.                  in Europa.                     eine Gefahr?            ersten Christen.
UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
Work.
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    In der neuen UB Rosenta l
    Mattenstrasse 42 4058 Basel

2                          UNI NOVA 134 / 2019
UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
Editorial

                  Team
     An dieser Ausgabe ­haben
          mitgearbeitet:
                                                                     Neue Einblicke.

                                               Sehen ist visuelle Wahrnehmung: Ins Auge fallende
                                               Lichtstrahlen werden über verschiedene Mechanismen
                                               in Signale umgewandelt, die das Gehirn verarbeiten
         1
                                               kann. Viele von uns haben ab einem bestimmten Mo­
                                               ment in ihrem Leben ein Problem mit den Augen,
                                               und bei einigen Erkrankungen droht der Verlust der Seh­
                                               kraft. Vollständig zu erblinden geben zahlreiche Men­
                                               schen als das am meisten befürchtete Übel an. Schliess­
                                               lich ist das Auge eines unserer wichtigsten Sinnes­
         2
                                               organe und zentral für die Orientierung im Raum – und
                                               damit für unsere Selbständigkeit. Grüner und grauer
                                               Star, Makuladegeneration, Netzhauterkrankungen, Binde­
                                               hautentzündung, extreme Kurz- und Weitsichtigkeit:
                                               Verschiedene Augenkrankheiten sind weltweit auf dem
         3
                                               Vormarsch, im benachteiligten globalen Süden wie
                                               in den alternden Gesellschaften des Nordens.

1	Suren Manvelyan hat die Nahaufnah-          Nun haben vor zwei Jahren die Universität Basel,
  men des menschlichen Auges auf der           das Universitätsspital Basel und Novartis das Institut für
  Titelseite und im Dossier dieser Ausgabe     Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB)
  gemacht. Seine Bilder wurden weltweit        gegründet. Hier arbeiten Expertinnen und Experten in
  veröffentlicht. Der 43-jährige Profifoto-
                                               Grundlagenforschung, angewandter Forschung und
  graf aus Armenien war an der Yerevan
  State University in Theoretischer Physik     neuen Technologien daran, Augenkrankheiten zu verste­
  promoviert worden und unterrichtet           hen und in Zukunft wirksame Therapien zu entwickeln.
  daneben auch naturwissenschaftliche          Das Institut ist weiter im Aufbau, Forschungsteams aus
  Fächer. Seiten 1, 4, 14 –35                  dem In- und Ausland kommen laufend dazu. Als welt­
                                               weit eines der ersten Institute seiner Art wird das IOB
2 	Samanta Siegfried arbeitet nach ihrem
  Studium und einer Ausbildung in
                                               eine Brücke zwischen Labor und Klinik schlagen. Die
  Deutschland seit 2017 in ihrer Wahlhei-      Augenheilkunde gehört zu den medizinischen Fächern,
  mat Basel als freie Journalistin für ver-    die sich derzeit am schnellsten entwickeln.
  schiedene Zeitungen und Zeitschriften.
  Für UNI NOVA sprach sie mit der Bil-
                                               Im Schwerpunkt dieses Hefts werden einige ausge­
  dungswissenschaftlerin Prof. Dr. Elena
  Markarova und Forschenden am IOB.
                                               wählte Projekte der Augenforschung in Basel vorgestellt.
  Seiten 8–11, 34 –35                          Gemeinsam ist ihnen das Ziel, die genauen Mechanis­
                                               men des Sehens noch besser zu erkennen – um immer
3	Pie Müller gilt in der Schweiz als ausge-   mehr Augenkrankheiten besser heilen zu können. Wir
  wiesener Experte in Sachen Stechmü-          wünschen Ihnen bei der Lektüre viele neue Einblicke!
  cken. Als Gruppenleiter am Schweizeri-
  schen Tropen- und Public Health-Institut
  (Swiss TPH) hat sich der Zoologe und         Christoph Dieffenbacher,
  Insektenforscher dieses Jahr an der Uni-     Redaktion UNI NOVA
  versität Basel in Medizinischer Parasito-
  logie habilitiert. Seiten 40 – 49

                                               UNI NOVA 134 / 2019                                        3
UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
Inhalt

                                                                                   Für eine geschlechtergerechte Schule:                                                                                                                                                                      Im Life-Science-Cluster Basel ist das Auge Gegenstand
                                                                                   Elena Makarova im Gespräch, Seite 8                                                                                                                                                                             intensiver Forschung – vom Labor zur Klinik.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Dossier

                                                     6                      Kaleidoskop                                                                                                                                                                                                       Sehkraft
                                                     8                      Gespräch
                                                     	Für die neue Professorin für Bildungs-
                                                       wissenschaften, Elena Makarova,
                                                                                                                                                                                                                                                                                              erneuern.
                                                       gibt es im Schulunterricht zu wenig
                                                       zeitgemässe weibliche Vorbilder.
                                                       Lehrbücher zeigen etwa ein stereo-                                                                                                                                                                                  16 Die Augenforschung                            Augenlicht dank Gentherapie.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          25	
                                                       typ männliches Image der Natur­                                                                                                                                                                                       vorwärtsbringen.                             	Wissenschaftler und Kliniker
                                                       wissenschaften.                                                                                                                                                                                                     	Innovative Therapien können das                 ent­wickeln gemeinsam eine Gen­
                                                                                                                                                                                                                                                                             Fortschreiten eines Sehverlusts                 therapie gegen die erbliche Star-
                                                     12 Nachrichten                                                                                                                                                                                                          verlangsamen oder das Sehvermö-                 gardt-Krankheit. Sie führt bereits
                                                     	Spatenstich auf dem Sport-Campus,                                                                                                                                                                                     gen nach einem Verlust wieder­                  bei Jugendlichen zum Verlust
                                                       Strategie & Leitbild, Eucor-Jubiläum,                                                                                                                                                                                 herstellen.                                     des scharfen Sehens.
                                                       ERC Starting Grants.
                                                                                                                                                                                                                                                                           18 Wie das Auge sieht.                         29 	Mehr Durchblick dank Genatlas.
                                                                                                                                                                                                                                                                           	Aus welchen Bestandteilen sich               	Retinagewebe, das mittels Stamm-
                                                                                                                                                                                                                                                                              unser Auge zusammensetzt und wie                 zellen gezüchtet wurde, kann
                                                                                                                                                                                                                                                                              sie funktionieren – ein Schaubild.               als Modell für die Medikamenten­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               forschung dienen.
                                                                                                                                                                       UNI NOVA
                                                                                                                                                                        Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°134 / November 2019
                                                                                                                                                                                                                                                                           20 Wissen sammeln.
                                                                                                                                                                                                                                                                           	Forscher konnten zeigen, dass die            31 	Therapien gegen den grünen Star.
               Make an impact.
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                                                                                                                                                                                                                                                                              Netzhaut wie ein Biocomputer                	Bei einem Glaukom werden die
                                                     Have you ever wondered what we could achieve
                                                     if we bring together the best expertise in molecular
                                                     biology, modern diagnostics and smart analytics?

                                                     How might patients’ lives be changed for the better?

                                                                                                                                                                                                                                                                              funktioniert und Zellen ihre Rollen           Sehnerven irreversibel geschädigt
                                                               Or go directly to: go.roche.com/lisas_story
                                                                                                                              N°134 / November 2019

                                                     In addition to our existing strengths in oncology,
                                                     immunology, infectious diseases, ophthalmology and
                                                     neuroscience, we are investing into cutting-edge
                                                     applications of artificial intelligence and data science                                                                                                                          Augenforschung
                                                                                                                              UNI NOvA — Das Wissenschaftsmagazin

                                                                                                                                                                                                                                                                              wechseln können.                              und sterben langsam ab.
                                                     to make truly Personalised Healthcare a reality.

                                                     Explore your future career in Personalised
                                                     Healthcare at Roche.
                                                                                                                                                                                                                           Sehkraft
                                                     The next step is yours.
                                                     genext.roche.com
                                                     code4life.roche.com
                                                                                                                                                                                                                           erneuern.
                                                                                                                              Universität Basel

                                                                                                                                                                                                                                                                           23 Netzhaut aus Hautprobe.                     34 Keine Heilung in Sicht.
                                                                                                                                                                     Gespräch                       Debatte                         Album                    Essay
                                                                                                                                                                    Schule und                   Die Schweiz                   Tigermücken –            Buddha und die
                                                                                                                                                                    Geschlecht.                  in Europa.                     eine Gefahr?            ersten Christen.

01_ROC_37_219_Ad_210x280_Code4Life_13.09.19.indd 1                                                           13.09.19 13:53

                                                                                                                                                                                                                                                                           	Einem Basler Team ist es gelungen,           	Die Makuladegeneration ist die
                                                                                             Titelbild                                                                                                                                                                        hoch organisierte Formen der                   häufigste Ursache für eine Seh­
                                                                                 «Your beautiful eyes» nennt der                                                                                                                                                              menschlichen Netzhaut im Labor                 behinderung im Alter. Die meisten
                                                                              armenische Fotograf Suren Manvelyan
                                                                                 seine viel beachtete Bilderserie                                                                                                                                                             heranwachsen zu lassen.                        Fälle sind nicht therapierbar.
                                                                                   von der menschlichen Iris.

                                                     4                                                                                                                                                                                                                               UNI NOVA 134 / 2019
UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
Inhalt

                                                                                         Impressum
                                                                                         UNI NOVA,
                                                                                         Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel.
                                                                                         Herausgegeben von der Universität Basel,
                                                                                         ­Kommunikation & Marketing (Leitung: Matthias
                                                                                          Geering).
                                                                                         UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr, die
                                                                                         nächste Ausgabe im Mai 2020. Das Heft kann
                                                                                         kostenlos abonniert werden; Bestellungen
                                                                                         per E-Mail an uni-nova@unibas.ch. Exemplare
                                                                                         liegen an mehreren Orten innerhalb der
                                                                                         Universität Basel und an weiteren Institutionen
                                                                                         in der Region Basel auf.
                                                                                         KONZEPT: Matthias Geering, Reto Caluori,
                                                                                         Urs Hafner
                                                                                         REDAKTION: Reto Caluori, Christoph
                                                                                         Dieffenbacher, Michelle Isler
                                                                                         ADRESSE: Universität Basel, Kommunikation &
                                                                                         Marketing, Postfach, 4001 Basel.
                                                                                         Tel. +41 61 207 30 17
                                                                                         E-­Mail: uni­-nova@unibas.ch
                                                                                         GESTALTUNGSKONZEPT UND GESTALTUNG:
                                                                                         New Identity Ltd., Basel
                                                                                         ÜBERSETZUNGEN: Sheila Regan und Team,
                                                                                         ­U NIWORKS (uni-works.org)
                                                                                         BILDER: S. 5: FotoshopTofs/Pixabay; S. 6: Oliver
                                                                                         Hochstrasser; S. 7: Thomas Schirmer; Swiss
                                                                                         Nanoscience Institute; S. 12: Jürgen Gocke/
                  Die Tigermücke schickt sich an, hier heimisch zu werden.               Eucor – The European Campus; Dominik Plüss;
                   Forscher beobachten ihre Ausbreitung genau, Seite 40                  S. 21: IOB/Frederike Asael; S. 24: IOB; S. 25:
                                                                                         IOB; S. 30: IOB/ETH Zürich, Departement Bio-
                                                                                         systeme; S. 40: GordZam/Istock by Getty
                                                                                         Images; S. 51: Biozentrum; S. 52: John Heart-
                                                                                         field, Titelblatt der AIZ vom 7. September
                                                                                         1933, Jg. 12, Nr. 35. Studienbibliothek Pinkus-
                                                                                         stiftung; FLIT-Inserat, Seitenausschnitt aus
                                                                                         der Schweizer Illustrierte Zeitung vom 27. Juni
                                                                                         1929, Jg. 18, Nr. 26. Universitäts­bibliothek
                                                                                         Basel; S. 56: Christiane Büttner; S. 65: Beth
                                                                                         Payne; S. 67: Gerd Eichmann/Wikimedia
                                                                                         (CC BY-SA 4.0); Kate Trysh/Unsplash.
36 Mein Arbeitsplatz                           54 Forschung                              ILLUSTRATION: Studio Nippoldt, Berlin
                                                                                         KORREKTORAT: Birgit Althaler, Basel (deutsche
	Kulturwissenschaftlerinnen und                 Atemluft verrät Krankheiten.            Ausgabe), Supertext AG (englische Ausgabe).
                                                                                         DRUCK: Birkhäuser+GBC AG, Reinach BL
  -wissenschaftler nehmen ein                  	Die ausgeatmete Luft jedes Menschen     INSERATE: Universität Basel, Leitung Marketing
  Musikfestival in Augenschein.                  zeigt seinen persönlichen Stoff­        & Event, E­Mail: bea.gasser@unibas.ch
                                                                                         AUFLAGE DIESER AUSGABE:
                                                 wechsel. Damit lassen sich Krank­       14 000 Exemplare deutsch
                                                                                         1300 Exemplare englisch
38 Debatte                                       heiten erkennen.                        Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit
                                                                                         Genehmigung der Herausgeberin.
	Europa und wir.                                                                        ISSN 1661-3147 (gedruckte Ausgabe deutsch)
	Ansichten zum Stand der Dinge                57 Bücher                                 ISSN 1661-3155 (Online­Ausgabe deutsch)
                                                                                         ISSN 1664-5669 (gedruckte Ausgabe englisch)
  von der Juristin Christa Tobler              	Neuerscheinungen von Forschenden        ISSN 1664-5677 (Online­Ausgabe englisch)
                                                                                         ONLINE:
  und dem Ökonomen Rolf Weder.                   der Universität Basel.                  unibas.ch/uninova
                                                                                         facebook.com/unibasel
                                                                                         instagram.com/unibasel
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40 Album                                       58 Essay
	Tigermücke auf dem Vormarsch.                  Buddha und die Urchristen.
                                                                                                                                PERFORMAN CE

  Mit Fallen für die Eiablage lässt            	Hat der Buddhismus aus Indien die
                                                                                                                                       neutral

  sich untersuchen, wie sich                     ersten Christen im Vorderen Orient                                                 Drucksache
                                                                                                       No. 01-19-537225 – www.myclimate.org
                                                                                                       © myclimate – The Climate Protection Partnership

  die Stechmücke in der Region Basel             beeinflusst?
  ausbreitet.
                                               60 Porträt
50 Forschung                                   	Teilnehmende Beobachterin.
  Bakterien mit Viren bekämpfen.               	Die Ethnologin Rita Kesselring
	Phagen sind auf Bakterien speziali-            forscht über die Folgen der Apartheid
  sierte Viren, die ein grosses Poten-           und den Rohstoffabbau im südlichen
  zial für die Therapie von Infektionen          Afrika.
  haben.
                                               62 Alumni
52 Forschung                                                                                            Uni Nova
	Montagen zwischen Kunst                      66 Meine Bücher                                   gibt es auch in Englisch.
                                                                                                     Und im Internet:
  und Politik.                                 	Molekularbiologe Jan Pieter Abrahams.            issuu.com/unibasel
	Der deutsche Künstler John Heart-                                                                unibas.ch/uninova
  field hat sich in der Zwischenkriegs-        67 Agenda
  zeit kritisch mit gesellschaftlichen
  Themen auseinandergesetzt.

                                                             UNI NOVA 134 / 2019                                                                          5
UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
Kaleidoskop

                                                     Computing

          Abstrakte Technologie
                begreifen.

    66 Einplatinencomputer, 64 Touchscreens, eine Hülle     Ursprünglich entstand das µ-Cluster als Resultat einer
    aus Acryl sowie Kabel und Netzteile zur Strom­­ver­     Bachelorarbeit am Departement Mathematik und
    sorgung bilden diesen Kubus namens µ-Cluster. Solche    Informatik. Durch die Arbeit der Forschungsgruppe
    High Performance Computing Cluster können eine          High Performance Computing um Prof. Florina
    grosse Datenmenge in kurzer Zeit verarbeiten, weswe-    Ciorba wächst und verändert es sich laufend und wird
    gen sie unter anderem in der Filmindustrie oder in      auch immer wieder ausgestellt. So zum Beispiel
    der Astrophysik eingesetzt werden. Meist befinden sie   im Rahmen des Festivals «Fantasy Basel» und am
    sich in versteckten Serverräumen. Nicht so dieses       Infotag der Universität im Januar 2020.
    Exemplar: Es soll parallele Prozesse in der Computer-   hpc.dmi.unibas.ch
    technik sichtbar und in Echtzeit erlebbar machen.

6                                                UNI NOVA 134 / 2019
UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
Kaleidoskop

                                                                                Technik

                                                                                Neuartige
                                                                                Magnetanordnung.
                                                                                Diese Magnetschwebebahn ist das Resul-
                                                                                tat eines preisgekrönten Projektes zweier
                                                                                Jugendlicher. Für ihre Entwicklung gewan-
                                                                                nen sie nicht nur den deutschen Bundes-
                                                                                preis «Jugend forscht» im Bereich Technik,
                                                                                sondern auch einen ersten Preis am «Euro-
                                                                                pean Contest for Young Scientists». Das
                                                                                Swiss Nanoscience Institute und das
                                                                                Departement Physik der Universität Basel
                                                                                unterstützten die beiden Jung­forscher
                                                                                bei ihrem Vorhaben, durch rotierende Per-
                                                                                manentmagnete einen Magnetzug über
                                                                                einer metallischen Oberfläche zum Schwe-
Migration                                                                       ben zu bringen. Einer der beiden, Alex
                                                                                Korocencev, begann im September sein
Hotspots an der                                                                 Physikstudium – an der Universität Basel.

Aussengrenze.
                                                                                bit.ly/uninova-hoverboard

Die Stadt Zarzis im Südosten Tunesiens ist einer der
Ausgangspunkte, von wo tunesische Migranten
nach Italien aufbrechen. Gleichzeitig nimmt die Stadt
auch Migranten aus Libyen auf, und in ihr findet
sich ein Cimetière des Inconnus für die Ertrunkenen,
die an die Ufer der Küstenstadt angespült werden.
Wie geht eine lokale Gemeinschaft mit den Auswir­
kungen der Migration um?
   2015 hatte die EU beschlossen, sogenannte «Hot-
spots» an den europäischen Aussengrenzen mit
Infrastrukturmassnahmen zu unterstützen. Wie sich
die Migrationspolitik vor Ort auswirkt, untersucht
ein interdisziplinäres Team unter der Leitung der Poli-
tikwissenschaftlerin Prof. Bilgin Ayata und des Archi­
tekturhistorikers Prof. Kenny Cupers. Dazu reisten
die Forschenden an Orte, die meist nicht im Blickfeld
der europäischen Öffentlichkeit liegen, von der tune-
sisch-libyschen Grenze bis nach Sizilien und den
griechischen Inseln, auf denen die Hotspots errichtet
wurden.
bit.ly/uninova-eu-hotspots

                                                          UNI NOVA 134 / 2019                                            7
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Gespräch

                «  Das Individuum
            und nicht das Geschlecht
              soll im Vordergrund
                      stehen. »
               Wie geschlechtergerecht ist der Schulunterricht in der Schweiz?
            Nicht allzu sehr, wie eine aktuelle Studie der Bildungswissenschaftlerin
               Elena Makarova zeigt. Auch für das Ziel einer gleichberechtigten
                         Berufswelt sieht sie noch viel Handlungsbedarf.

                                            Interview: Samanta Siegfried   Foto: Basile Bornand

UNI NOVA:  Frau Makarova, was haben Sie       MAKAROVA: Ja, im Vergleich zur Schweiz              besser als Jungen in Mathe und verlieren
für eigene Erinnerungen an den Mathe-         war das Schulsystem der Sowjetunion be-             diesen Vorsprung erst später. Auch ist er-
matikunterricht?                              reits damals auf den sogenannten koedu-             wiesen, dass sich Unterschiede im Leis-
ELENA MAKAROVA: Dazu muss ich zuerst          kativen Unterricht ausgerichtet, der beide          tungsbereich durch gezielte Interventio-
sagen, dass ich meine Schulzeit in der        Geschlechter gleichermassen einbezieht.             nen ausgleichen lassen: Zum Beispiel
damaligen Sowjetunion absolvierte. Dort       In der Schweiz wurden die Mädchen frü-              zeigt eine Studie, dass Mädchen nach ei-
hatten mathematisch-naturwissenschaft-        her ja noch in die Hauswirtschaft ge-               ner kurzen Trainingsphase den zunächst
liche Fächer eine wichtige Bedeutung, um      schickt und waren teilweise vom natur-              existierenden Vorsprung von Jungen im
die Vormachtstellung des Landes im Kal-       wissenschaftlichen Unterricht ausge-                räumlichen Vorstellungsvermögen und in
ten Krieg zu sichern. Mathematik wurde        schlossen.                                          mentalen Rotationen aufholen. Das bestä-
in meiner Schulzeit sehr stark gewichtet,     UNI NOVA: Hält sich deswegen die An-                tigt die Vermutung, dass geschlechtsspe-
auch in Informatik und in Grundlagen          nahme bei uns so hartnäckig, Jungen                 zifische Unterschiede nicht auf evoluti-
des Programmierens wurden wir unter-          seien besser in Mathe als Mädchen?                  onsbiologische, sondern auf sogenannt
richtet. Ich erinnere mich an weibliche       MAKAROVA: Wenn nach PISA-Testergebnis-              sozialisatorische Ursachen zurückzufüh-
wie männliche Lehrpersonen. Ich mochte        sen Überschriften zu lesen sind wie «Mäd-           ren sind.
mathematisch-naturwissenschaftliche           chen haben Angst vor Mathe» oder Ähnli-             UNI NOVA: Das heisst, wir werden so erzo-
Fächer gerne und hatte eigentlich immer       ches, dann befördert das diese Annahme              gen?
gute Noten. Zwischen Jungen und Mäd-          natürlich. Dabei werden die Unterschiede,           MAKAROVA: Der sozialisatorische Ansatz
chen wurden keine Unterschiede ge-            meist unbewusst, an das biologische Ge-             geht davon aus, dass Unterschiede auf-
macht.                                        schlecht gekoppelt. Diverse Studien zei-            grund von Erfahrungen entstehen. Diese
UNI NOVA: Das klingt nach einer ganz an-      gen aber, dass eine solche Erklärung zu             Erfahrungen wiederum sind eng mit sozi-
deren Erfahrung, als sie viele Frauen in      kurz greift. So sind Mädchen oft in den             alen Erwartungen verknüpft, die vom fa-
der Schweiz gemacht haben dürften …           ersten Schuljahren noch gleich gut oder             miliären und sozialen Umfeld an einen

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Gespräch

    «In Mathematik verlieren
Mädchen den Vorsprung der ersten
     Schuljahre oft wieder.»
             Elena Makarova

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Gespräch

herangetragen werden. Konkret: Kinder                        Elena Makarova                 Eidgenössischen Büro für die Gleichstel-
merken früh, ob ihnen eine Begabung in                 studierte Sonderpädagogik            lung von Frau und Mann unterstützt
                                                  und Logopädie an der Nationalen
Naturwissenschaften zugeschrieben wird                                                      wurde, zusammen mit einer Autorin und
                                                     Pädagogischen Universität in
oder nicht. Diese Zuschreibungen werden           Kiew. Darauf nahm sie in Bern ein         einem Autor ein Physik-Lehrbuch. Das
verinnerlicht und haben wiederum eine             Studium in Pädagogik, Slavischer          war ein sehr arbeitsintensiver Prozess.
Auswirkung auf die Selbstbeurteilung der              sowie Russischer Philologie           Zahlreiche Vorgaben mussten berücksich-
eigenen Begabung, fachliche Interessen             auf und wurde 2007 an der Philo-         tigt werden: Die Inhalte mussten dem
                                                    sophisch-humanwissenschaftli-
und die Freude am Schulfach. Und die                                                        schulischen Curriculum entsprechen,
                                                  chen Fakultät der Universität Bern
Motivation, auch das ist vielseitig belegt,          promoviert. Von 2003 bis 2015          thematisch zu den Aufgabenbeispielen
spielt eine grosse Rolle für die Leistung.        war sie Assistentin und Oberassis-        passen und einen bestimmten Umfang
Zwar werden die meisten Menschen mit                tentin an der Abteilung Pädago­         nicht überschreiten. Weiter geht es nicht
einem eindeutigen biologischen Ge-                gische Psychologie der Universität        nur darum, einfach mehr Frauen als Na-
                                                     Bern. Nach der Habilitation in
schlecht geboren. Was es aber bedeutet,                                                     turwissenschaftlerinnen abzubilden, son-
                                                   Erziehungswissenschaft 2014 war
«Mann» oder «Frau» zu sein, lernt man                sie für zwei Jahre Professorin         dern im Allgemeinen mehr zeitgenössi-
erst im sozialen Umfeld von den Eltern,            für Schulpädagogik mit besonde-          sche Kontexte und Vorbilder in den Na-
den Geschwistern, den Freunden. Aber                 rer Berücksichtigung sozialer,         turwissenschaften zu zeigen, das heisst,
auch in der Schule als einem wichtigen            kultureller und sprachlicher Vielfalt     auch Männer und wissenschaftliche
                                                    an der Universität Wien, darauf
soziokulturellen Umfeld.                                                                    Teams, die aktuell forschen und arbeiten.
                                                  Professorin für Erziehungswissen-
UNI NOVA: Für ein aktuelles Projekt haben                                                   Die rein sprachliche Überarbeitung über-
                                                      schaft am Institut Forschung
Sie schulische Lehrmittel in Naturwissen-           und Entwicklung der Pädagogi-           nahm in diesem Fall der Verlag, ein Auf-
schaften der Sekundarstufe II auf ihre               schen Hochschule der FHNW.             wand, für den nicht alle Verlage bereit
Geschlechtergerechtigkeit geprüft. Was               Seit Anfang 2019 ist Makarova          sind.
                                                    Professorin für Bildungswissen-
sind die wichtigsten Ergebnisse?                                                            UNI NOVA: Neben einem geeigneten Lehr-
                                                       schaften und Direktorin des
MAKAROVA: Zum einen haben wir ein                                                           mittel können bestimmt auch Lehrperso-
                                                  Instituts für Bildungswissenschaf-
sprachliches Ungleichgewicht festge-                  ten an der Universität Basel.         nen viel mit ihrer Unterrichtsgestaltung
stellt. In den analysierten Lehrmitteln                                                     bewirken. Was raten Sie dabei Ihren Stu-
gibt es praktisch keine weiblichen Prota-                                                   dierenden?
gonistinnen, und es wird fast nur das ge-                                                   MAKAROVA: Ja, die Unterrichtsgestaltung
nerische Maskulinum angewendet: Die                                                         ist zentral. In meinem Seminar zur Be-
Rede ist vom Physiker oder vom Natur-                                                       deutung des Geschlechts im Sozialisa-
wissenschaftler. Wie Studien aber zeigen,     man Marie Curie an, selten noch Lise          tions- und Bildungsprozess lasse ich die
löst das generische Maskulinum eine stär-     Meitner. Das wars. Ansonsten werden           Studierenden gerne die eigenen unbe-
kere mentale Repräsentierung von männ-        überwiegend Frauen jüngeren Alters ab-        wussten Vorurteile aufdecken. Zum Bei-
lichen Personen aus als Schreibweisen         gebildet, meist beim Ausüben eines Hob-       spiel mit dem sogenannten impliziten
wie Binnen-I und Schrägstrich. Auch           bys, nicht aber bei einer Erwerbstätigkeit.   Assoziationstest, der an der Harvard-Uni-
wenn steht, «Personen des weiblichen          Die Männer in den Abbildungen dagegen         versität entwickelt wurde und Vorurteile
Geschlechts sind mitgemeint», dann sind       sind älter und werden bei einer prestige-     gegenüber verschiedenen sozialen Kate-
sie vielleicht mitgemeint, aber nicht re-     trächtigen beruflichen Tätigkeit darge-       gorien testet, die mit Stereotypen verbun-
präsentiert. Weil Sprache verkörpert! Und     stellt, etwa als Wissenschaftler. So repro-   den sein können wie Geschlecht, Alter
mit der Bezeichnung Physiker werden           duzieren Lehrmittel bis heute ein stereo-     oder Ethnie. Es geht dabei nicht darum,
Personen männlichen Geschlechts ver-          types Image der Naturwissenschaft als         zu sagen «Erwischt, Sie haben Vorur-
körpert. Eine andere Studie hat unter-        männliche Domäne. Das ist einfach nicht       teile!», sondern zu zeigen, dass unsere
sucht, ob geschlechtergerechte Sprache        mehr aktuell. Das Problem ist, dass Lehr-     Vorurteile oft unbewusster Natur sind.
schwerfällig ist. Das Resultat: Weder die     mittel vor allem inhaltlich überarbeitet      Und von da aus zu überlegen, inwiefern
Lesbarkeit eines Textes noch das Textver-     werden. Aber schaut man ihre sozialisato-     sie das pädagogische Handeln von Lehr-
ständnis wird beeinträchtigt. Ich staune      rische Wirkung an, tradieren sie Ge-          personen im Unterricht beeinflussen kön-
ehrlich gesagt, dass wir heute die Diskus-    schlechterrollen aus den 1960er-Jahren.       nen. Zum Beispiel das Feedback: Es gibt
sion überhaupt führen müssen, ob weib-        Da sehe ich grossen Handlungsbedarf.          Studien, die zeigen, dass Lehrpersonen
liche und männliche Protagonisten             UNI NOVA: Warum wurden die Lehrmittel         dazu neigen, Mädchen mehr für ihren
sprachlich gleichmässig abgebildet wer-       nicht längst auf diese Punkte hin überar-     Fleiss zu loben, etwa für ihre schöne
den sollten.                                  beitet?                                       Schrift, Jungen dagegen für ihre fachliche
UNI NOVA: Gab es noch andere Unter-           MAKAROVA: Zum einen, weil es noch zu          Leistung. Die Art und Weise, wie ein Feed-
schiede in den untersuchten Lehrmitteln?      wenig im Bewusstsein ist. Zum andern ist      back gegeben wird, hat einen grossen
MAKAROVA: Ja, es fehlen etwa auch zeitge-     es sicher sehr aufwendig. Kürzlich über-      Einfluss auf die Selbstwahrnehmung von
mässe weibliche Vorbilder. Meist trifft       arbeitete ich in einem Projekt, das vom       Schülerinnen und Schülern.

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Gespräch

UNI NOVA: Ich nehme aber an, vieles spielt    (Mathematik, Informatik, Naturwissen-         MAKAROVA:   Das Fehlen von Männern in
sich bereits vor dem Schuleintritt ab. Wo     schaften, Technik), nach dem Studium          sozialen und pädagogischen Berufen
sehen Sie die Aufgaben der Eltern?            selten für eine berufliche Tätigkeit in       habe ich in meinen bisherigen For-
MAKAROVA: Klar, Zuschreibungen zu ei-         diesem Bereich entscheiden. Und wenn          schungsprojekten weniger berücksich-
nem Geschlecht und damit zu assoziier-        doch, steigen sie viel häufiger wieder aus    tigt. Interessant in diesem Zusammen-
ten Geschlechterrollen beginnen bereits       als Männer. Das hat auch mit der Famili-      hang sind Studien, die zeigen, dass Män-
ab der Geburt. So werden die Wahl der         enpolitik zu tun. Denken wir nur an die       ner in einem geschlechtsuntypischen Ar-
Kleider oder das Spielverhalten von El-       UNICEF-Studie von diesem Sommer, bei          beitsumfeld eher bewundert werden und
tern oft dem Geschlecht des Kindes ange-      der die Schweiz in Sachen Familien-           dass ihnen hohe Kompetenzen zuge-
passt. Aber auch ausserhalb der Familie,      freundlichkeit in Europa den letzten          schrieben werden, während Frauen in
zum Beispiel wenn es später um die be-        Platz belegt. Da ist der fehlende Vater-      männerdominierten Berufen oft diskri-
rufliche Orientierung geht, signalisieren     schaftsurlaub, der zu kurze Mutter-           minierende Erfahrungen machen. Klar
verbreitete Bezeichnungen wie «Feuer-         schaftsurlaub, die zu teure Fremdbetreu-      ist: Egalitäre Verhältnisse können nur
wehrmann» und «Arztgehilfin», dass sich       ung und so weiter. Es gibt Studien, die       dann erreicht werden, wenn sich Vorur-
gewisse Berufe nur für ein Geschlecht         zeigen, dass Teilzeitstellen oft in soge-     teile über beide Geschlechter wandeln.
eignen. Deshalb würde ich auch den El-        nannten Frauenberufen zu finden sind,         Aber solange wir weiterhin in zweige-
tern raten, die eigenen Vorurteile zu ent-    also in der Pflege, in sozialen oder päda-    schlechtlichen Kategorien denken, wird
larven und zu versuchen, das Kind unab-       gogischen Berufen. Der MINT-Bereich ge-       das nicht so einfach sein.
hängig vom Geschlecht mit verschiede-         hört definitiv nicht dazu. Dort ist die an-   UNI NOVA: Wie meinen Sie das?
nen Bereichen und Erfahrungen vertraut        tizipierte Familie-Beruf-Vereinbarkeit viel   MAKAROVA: Ich gebe Ihnen ein Beispiel.
zu machen.                                    schwieriger. Und schon sind wir im Teu-       Sehr oft werde ich von Studierenden ge-
UNI NOVA: Sollte ich meinen Sohn also         felskreis: Weil Frauen in den frauentypi-     fragt: «Was, wenn wir es einfach umkeh-
zum Ballett schicken?                         schen Teilzeitberufen überrepräsentiert       ren und beispielsweise nur noch Frauen
MAKAROVA: Natürlich, wenn ihn das inter-      sind, schreibt man ihnen die Eigenschaf-      in der Informatik haben und nur noch
essiert! Die Frage nach der Förderung von     ten zu, die es dort braucht. Nach dem         Männer in der Pflege?» Genau das ist aber
individuellen potenziellen Begabungen         Motto: Das liegt Frauen mehr. So koppelt      nicht gemeint. Gemeint ist, dass die Be-
und Interessen sollte nicht vom Ge-           man strukturelle Einflüsse mit dem biolo-     rufswahl von Jugendlichen nicht davon
schlecht abhängig sein. Aber es ist nicht     gischen Geschlecht und reproduziert Vor-      abhängen sollte, was sie als typisch weib-
einfach, entgegen von sozial geteilten        urteile.                                      lich und typisch männlich betrachten,
Vorstellungen und Stereotypen zu han-         UNI NOVA: Bisher sprachen wir nur über        auch nicht unbewusst. Alle sollten ihre
deln. Wir alle reproduzieren Geschlech-       die negativen Auswirkungen auf die            Berufswahl aufgrund von individuellen
terunterschiede immer aufs Neue im Sinn       Frauen. Aber was ist mit den Männern?         Interessen treffen können. Daher sollte
des «Doing-Gender-Prozesses».                 Auch sie sind ja von bestimmten Zu-           bereits von der Geburt an das Individuum
UNI NOVA: Was heisst das?                     schreibungen durch ihr Geschlecht be-         und nicht die Zuschreibung zu einem Ge-
MAKAROVA: Wer sich nicht den sozialen         troffen.                                      schlecht im Vordergrund stehen.
Erwartungen, die mit seiner oder ihrer
Kategorie verbunden sind, entsprechend
verhält, hat mit Sanktionen zu rechnen.
Diese können sehr subtil sein, da reicht
es, wenn jemand sagt: «Für ein Mädchen
spielst du aber gut Fussball.» Unterschwel-
lig bedeutet das: Du wirst dich nie mit                      « Für ein Mädchen spielst
den Jungen messen können, da du als
Frau nicht die richtigen Voraussetzungen                        du aber gut Fussball
dafür hast, Fussball zu spielen. Das kann                     heisst: Du wirst dich nie
ein Mädchen entmutigen, ihr Interesse
am Fussballspielen weiterzuentwickeln.                            mit den Jungen
Daher braucht es einen gesellschaftlichen                        messen können.»
Wandel, um die sozial geteilten Vorstel-
                                                                                 Elena Makarova
lungen über Geschlechter zu ändern,
auch strukturell.
UNI NOVA: Was sind da die Probleme?
MAKAROVA: Die Zahlen zeigen, dass sich
auch jene Frauen, die über einen Ab-
schluss in einem MINT-Fach verfügen

                                                         UNI NOVA 134 / 2019                                                        11
Nachrichten

                Sport-Neubau, Strategie
                 und Starting Grants.

Eucor-Jubiläum

30 Jahre
Zusammenarbeit.
Dieses Jahr feiert Eucor sein dreissigjähri-
ges Bestehen. Was 1989 als Europäische
Konföderation der Oberrheinischen Uni-
versitäten begann, ist seit 2013 ein Euro-
pean Campus, der von den Universitäten
Basel, Freiburg, Haute-Alsace, Strasbourg
und dem Karlsruher Institut für Techno-
logie getragen wird. Im europäischen
Forschungsraum ist Eucor ein einzigarti-
ges Projekt, das Tausenden von Studieren-
den die Möglichkeit gibt, ein grenzüber-
schreitendes Studium zu verfolgen. Auch
für die Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler der Universitäten soll Mobilität
jenseits der Landesgrenzen eine Alltagser-
fahrung sein und die Kooperation im For-
schungsbereich vereinfachen.
eucor-uni.org

                                                                      Campus Sport

                                                              Spatenstich zu
                                                                St. Jakob.
                                               Die symbolische Grundsteinlegung des Neubaus für das Depar-        Gemeinsam
                                               tement Sport, Bewegung und Gesundheit wurde im September        bauen: Die Regie-
                                               mit einem Festakt gefeiert. Der Trägerkanton Basel-Landschaft       rungsräte
                                                                                                               Conradin Cramer
                                               erhält mit diesem Bau erstmals einen Uni-Standort auf dem ei-
                                                                                                                  und Monica
                                               genen Kantonsgebiet. Ab dem Wintersemester 2021/22 wird das      Gschwind legen
                                               Departement an einem einzigen Standort seinen erhöhten           den Grundstein
                                               Raumbedarf decken, welcher auf ein Wachstum der Sportwis-         für den Sport-
                                               senschaft, der Sportmedizin sowie der Trainingswissenschaft          Neubau.
                                               zurückzuführen ist. Das neue Gebäude wird Platz für rund 600
                                               Studierende und 100 Mitarbeitende bieten.

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Strategie & Leitbild

Entwicklung der
                                                                                                                                                 Das Magazin
Universität.                                                                                                                                       für noch
                                                                                                                                                mehr Wissen.
Über den Tisch des Universitätsrats gingen dieses
Jahr gleich zwei für die Universität richtungswei-
sende Dokumente: Das neue Leitbild und die Strate-

                                                                                                                                               Gratis abonnieren.
gie 2022–2030. Ein Kernpunkt des Leitbilds liegt in
der Betonung der profilierten Volluniversität, unter
deren Dach innovative geistes- und sozialwissen-
schaftliche sowie naturwissenschaftliche Fakultäten
vereint sind. Weiter betont das Grundlagenpapier
die regionale Verankerung der Universität und ihre
internationale Vernetzung. Diese Identität kommt
auch in der neuen Strategie zum Ausdruck. So for-
muliert eine der strategischen Leitlinien den Aus-                                                                                                                                                       UNI NOVA
                                                                                                                                                                                                          Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°134 / November 2019

bau der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen,
                                     Make an impact.
                                     Code4life
politischen und wirtschaftlichen Akteuren        sowie                                 Have you ever wondered what we could achieve

Partnerinstitutionen. Weitere Leitlinien unterstrei-
                                                                                       if we bring together the best expertise in molecular
                                                                                       biology, modern diagnostics and smart analytics?

                                                                                       How might patients’ lives be changed for the better?

chen die Bestrebungen, die Identifikation mit der                                                Or go directly to: go.roche.com/lisas_story
                                                                                                                                                                N°134 / November 2019

Universität zu stärken, ihre Agilität zu fördern und                                   In addition to our existing strengths in oncology,
                                                                                       immunology, infectious diseases, ophthalmology and
                                                                                       neuroscience, we are investing into cutting-edge
                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Das Wissenschafts­magazin
                                                                                       applications of artificial intelligence and data science                                                                                                                          Augenforschung
                                                                                                                                                                UNI NOvA — Das Wissenschaftsmagazin

die einzigartigen Standortvorteile im Dreiländereck                                    to make truly Personalised Healthcare a reality.

                                                                                       Explore your future career in Personalised
                                                                                       Healthcare at Roche.
                                                                                                                                                                                                                                                             Sehkraft                                        der ­Universität Basel
zu nutzen.                                                                             The next step is yours.
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                                                                                                                                                                Universität Basel

                                                                                                                                                                                                       Gespräch                       Debatte                         Album                    Essay
                                                                                                                                                                                                      Schule und                   Die Schweiz                   Tigermücken –            Buddha und die
                                                                                                                                                                                                      Geschlecht.                  in Europa.                     eine Gefahr?            ersten Christen.

                                  01_ROC_37_219_Ad_210x280_Code4Life_13.09.19.indd 1                                                           13.09.19 13:53
                                                                                                                                                                                                                                                                                                             unibas.ch/uninova

ERC Starting Grants

Förderzusprachen für
                                                                                                                                          Coupon ausschneiden und ­senden an:
Basler Forschende.                                                                                                                        Universität Basel, Kommunikation, Petersgraben 35, Postfach, 4001 Basel

                                                                                                                                          UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr.
Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat gleich drei
Basler Forschenden einen der begehrten Starting                                                                                           Bitte senden Sie mir UNI NOVA in folgender Sprache:

Grants zugesprochen. Dr. Marloes Eeftens vom
                                                                                                                                                    Deutsch                                                                      Englisch
Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut
wird in den kommenden fünf Jahren erforschen,
                                                                                                                                          Bitte senden Sie UNI NOVA an:
wie sich Pollen auf Herz, Atmung und Allergien aus-
wirken. Der Neurobiologe Prof. Dr. Flavio Donato
erhielt für seine Untersuchung zur Entwicklung des                                                                                        Name, Vorname
frühkindlichen Gehirns ebenfalls eine Förderzu-
sprache. Ein weiterer Preisträger ist der neue Profes-
sor für Data Analytics, Prof. Dr. Ivan Dokmanić. Der                                                                                      Strasse, Hausnummer oder Postfach
ERC vergibt die hochdotierten Starting Grants an
exzellente Forschende, die sich am Anfang ihrer
                                                                                                                                          PLZ, Ort
Karriere befinden und deren Forschung innovative
Ideen verfolgt.
                                                                                                                                          E-Mail

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Dossier

14   UNI NOVA 134 / 2019
Dossier

             Sehkraft
             erneuern.
                             Fotos: Suren Manvelyan

             Weil die Menschen immer älter
                 werden, nehmen auch
           Augenkrankheiten weltweit zu – und
              parallel dazu die Forschung.
            In Basel sollen die theoretischen
                   Erkenntnisse direkt
                zu den Patientinnen und
                   Patienten gelangen.

Seite 20                 Seite 23                     Seite 31
Ererbte Sehkrankheiten   Die meisten Augen-           Gegen den grünen
zu behandeln ist         krankheiten beginnen         Star gibt es noch
am ehesten durch den     an der Netzhaut.             keine direkte Behand-
Ersatz der defekten      Diese lässt sich jetzt       lung. Entwickelt
Gene zu erreichen.       für die Forschung            werden neue Medika-
                         künstlich züchten.           mente zum Schutz
                                                      der Sehnerv­zellen.

                               UNI NOVA 134 / 2019                            15
Dossier

           Die Augenforschung
            vorwärtsbringen.
        In Basel arbeiten mehrere Forschungsteams an Therapien für
             Patienten und Patientinnen, die weltweit an Augen­-
     erkrankungen leiden. Das neue Institut für Molekulare und Klinische
             Ophthalmologie Basel (IOB) ist mit der Universität
          Basel assoziiert und trägt zu ihrem internationalen Ruf bei.

                                      Text: Botond Roska und Hendrik Scholl

           D
                   as Augenlicht ist ein kostbares Gut. Bei einer      Basel (IOB) gegründet. Hier arbeiten Grundlagenfor-
                   in den USA durchgeführten Umfrage, bei der          scher und Kliniker täglich Hand in Hand, um neue
                   die Menschen gefragt wurden, was ihr                Therapien für die Augenheilkunde zu entwickeln.
           schlimmster Krankheitszustand wäre, stand Blind-            Als wesentliche Innovation gegenüber früheren For-
           sein an erster Stelle. Weltweit nimmt die Häufigkeit        schungsansätzen wird der Fokus auf Zelltypen und
           von Augenerkrankungen weiter zu. 36 Millionen               nicht auf das Gewebe gelegt. Verschiedene Diszipli-
           Menschen sind blind, und mehr als eine Milliarde            nen und Technologien werden miteinander kombi-
           Menschen leiden an einer erheblichen Sehbehinde-            niert, so etwa Genetik, Virologie, Molekularbiologie,
           rung. Viele Erkrankungen, die zu einer Erblindung           Organoidforschung, Elektrophysiologie, Zwei-Photo-
           führen, können heute nicht oder nur unzureichend            nen-Bildgebung und Computerprogramme. Zusam-
           behandelt werden.                                           mengenommen ermöglichen es diese Methoden, die
               Das Auge eignet sich besonders für die diagnos-         Struktur und die Funktion des Auges und des Sehvor-
           tische und therapeutische Forschung, da das Organ           gangs in verschiedenen Stadien der Verarbeitung zu
           leicht zugänglich ist, ein kleines Volumen hat sowie        verstehen – und damit auch die Mechanismen von
           im Innern klar voneinander abgegrenzte Bereiche             Augenerkrankungen. Damit können innovative The-
           sowie stabile Zellpopulationen aufweist. Weiter ist es      rapien entwickelt werden, um zum Beispiel das Fort-
           für die Auswertung optisch transparent und zeigt            schreiten eines Sehverlusts zu verlangsamen oder
           wegen der günstigen Immunsituation wenig uner-              das Sehvermögen nach seinem Verlust wiederherzu-
           wünschte Reaktionen auf injizierte Medikamente.             stellen.
           Dennoch gehen in der Augenheilkunde Innovatio-                   Die meisten Seherkrankungen haben ihren Ur-
           nen oft frustrierend langsam voran: Selten können           sprung in der Netzhaut. Die Wiederherstellung des
           Grundlagenforschende die unerfüllten medizini-              Sehvermögens von Blinden durch eine Reparatur der
           schen Bedürfnisse nachvollziehen, da ihnen die Er-          Netzhaut ist seit Jahrhunderten ein Wunsch der Me-
           fahrung des Feedbacks der Patientinnen und Patien-          dizin geblieben. Mit dem Ersatz und der Verände-
           ten fehlt. Und in der Klinik tätige Forschende wissen       rung von Genen lässt sich nun jedoch der Sehverlust
           meist nur unzureichend über die neuesten Fort-              verlangsamen, stoppen oder sogar rückgängig ma-
           schritte in der Grundlagenforschung Bescheid.               chen – erste erfolgreiche Verfahren sind kürzlich
                                                                       bekannt geworden.
           Ein medizinischer Traum                                          Bei jüngeren Menschen sind erblich bedingte
           Um diese Lücke zu schliessen, wurde 2017 das Insti-         Netzhautdystrophien die häufigsten Ursachen für
           tut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie             eine Erblindung. So beginnen die Stargardt-Erkran-

16                                           UNI NOVA 134 / 2019
Dossier

kung und die Retinitis pigmentosa – Degenerationen                                 haut oder im Gehirn anzuwenden. Die gezielte Ex-
der Netzhaut, bei der die Lichtrezeptoren zerstört                                 pression in bestimmten Zelltypen bleibt jedoch im-
werden – das Sehvermögen bereits in der Kindheit zu                                mer noch eine Herausforderung. Die Forschenden
beeinträchtigen und können bereits im frühen Er-                                   am IOB haben eine Bibliothek von 230 AAV-Vektoren
wachsenenalter zur Blindheit führen. Einer von 8 000                               mit jeweils einem anderen synthetischen Promoter
                                                               Hendrik Scholl
Menschen leidet an der Stargardt-Erkrankung, und                                   entwickelt. Diese Bibliothek ermöglicht eine schnelle
                                                               ist Chefarzt der
Retinitis pigmentosa betrifft weltweit fast 1,5 Millionen     Augenklinik am       und effiziente Ausrichtung der Genexpression in
Menschen. Diese beiden Augenkrankheiten bilden               Universitätsspital    neuronalen und glialen Zelltypen. Dies ist ein Mei-
Schwerpunkte der translationalen Forschung am               Basel und ebenfalls    lenstein, sowohl für die Grundlagenforschung als
IOB, also der Projekte, die zur schnellen und effizien-         Mitbegründer       auch für die Gentherapie. Vektorbibliotheken ma-
                                                              und Co-Direktor
ten Umsetzung präklinischer Forschung in die Klinik                                chen auch die In-vitro-Untersuchung von Zelltypen
                                                                 des IOB. Der
führen sollen.                                              Professor für Oph-     in der menschlichen Netzhaut möglich. Dies erhöht
                                                            thalmologie wurde      erheblich die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimm-
Die Netzhaut als Computer                                     1969 in Deutsch-     ter Vektor bei Patienten in-vivo den gewünschten
Um eine degenerierte Netzhaut wieder für sichtba-            land geboren und      Zelltyp anspricht.
                                                               ist spezialisiert
res Licht empfindlich zu machen, wird derzeit die                                      Am IOB wurde auch eine neuartige Methode des
                                                            auf die Behandlung
sogenannte optogenetische Therapie entwickelt. Die            von Netzhauter-      «Virus-Stempelns» entwickelt, um Gene effizient zu
Expression eines Optogens, das einen lichtaktivier-              krankungen.       erforschen. Dafür werden einzelne Zellen in Kultu-
ten Kanal in den verbleibenden inneren Netzhaut-                                   ren, aus Gehirngewebe, Versuchstieren und Organo-
zellen kodiert, macht diese lichtempfindlich, und                                  iden mit einem Virus infiziert – oder auch mit meh-
zwar unabhängig von der Mutation, die den Verlust                                  reren, entweder gleichzeitig oder zu verschiedenen
der Fotorezeptorzellen verursacht hat. Die mensch-                                 Zeitpunkten. Das «Virus-Stempeln» macht es mög-
liche Netzhaut ist wie ein leistungsfähiger Rechner                                lich, die Rolle spezifischer Gene in klar definierten
für die visuelle Wahrnehmung. Am IOB wurde ein                                     Zellen zu untersuchen – eine vielseitige Lösung für
Computermodell der Netzhaut erstellt, das die ver-                                 die biomedizinische Grundlagenforschung und mög-
schiedenen Wege simuliert, die ein Lichtsignal                                     licherweise auch für die Gentherapie.
durch die Netzhaut nehmen kann. Für die mensch-                 Botond Roska
                                                               ist Professor an
liche Netzhaut angepasst, könnte das Modell in Zu-                                 Kurzsichtigkeit nimmt zu
                                                             der Medizinischen
kunft erlauben, die Folgen von Augenerkrankungen            Fakultät der Univer-   Weltweit, und besonders in Asien, nimmt die Kurz-
vorherzusagen.                                                sität Basel sowie    sichtigkeit rasant zu. In einigen Regionen sind bis
    Mit der Stammzelltechnologie lassen sich Haut-           Mitbegründer und      zu 90 % der Jugendlichen betroffen, verglichen etwa
proben von Patienten und Patientinnen mit den ge-              Co-Direktor des     mit 10 bis 20 % in der chinesischen Bevölkerung vor
                                                            IOB. Der Neurowis-
netischen Merkmalen des Spenders in hochgradig                                     60 Jah­ren. Das Hauptproblem bei der Kurzsichtigkeit
                                                            senschaftler wurde
organisierte In-vitro-Retinas umwandeln. Solche                1969 in Ungarn      ist nicht das nötige Brillentragen, sondern ein häufi-
menschlichen retinalen Kleinorgane (Organoide)              geboren. Seine For-    ger Sehverlust durch daraus resultierende Komplika-
weisen bereits viele der Zelltypen der normalen             schungsergebnisse      tionen wie myope Makuladegeneration, Glaukom
Netzhaut im lebenden Menschen auf und können                    zum visuellen      oder Netzhautablösung. Die Neurodegeneration der
                                                               System und zur
einen primitiven Sehnerv bilden. Damit lassen sich                                 Netzhaut – wie etwa bei trockener, altersbedingter
                                                             Wiedererstellung
die Auswirkungen von Mutationen auf die Netzhaut-           des Sehvermögens       Makuladegeneration, diabetischer Augenerkran-
zellen direkt in einer Kulturschale untersuchen. Ge-          gelten als bahn­     kung, Netzhautdystrophien und Glaukom – ist der-
züchtete Organoide bieten auch die Möglichkeit,                    brechend.       zeit noch nicht therapierbar. In demografisch altern-
Krankheitsmodelle im Labor zu entwickeln, etwa                                     den Gesellschaften sind solche Störungen eine der
von Netzhaut- und Makuladystrophien wie der Star-                                  Hauptursachen für Invalidität und Verlust einer ei-
gardt-Krankheit. Nun können Gentherapien entwi-                                    genständigen Lebensweise. Am IOB wird daher auch
ckelt werden, die punktgenau verschiedene Zellty-                                  die Wachstumsregulation des Auges untersucht, um
pen mit spezifischen Vektoren ansprechen. Neue                                     die Kurzsichtigkeit zu bekämpfen, und das Wissen
Therapien könnten bald an den eigenen retinalen                                    im Bereich Glaukom ausgebaut.
Organoiden von Patientinnen und Patienten gezielt
getestet werden.
    Wenn Gentherapien nicht auf bestimmte Zellty-
pen ausgerichtet sind, können sie wirkungslos oder
sogar schädlich wirken. Sogenannte Adeno-assozi-
ierte virale (AAV) Vektoren sind der vielverspre-
chendste Ansatz, um die Gentherapie in der Netz-

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Dossier

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Dossier

                 Wie das Auge sieht.
              Wir schauen einen Gegenstand an und
       sehen ihn – augenblicklich. Was einfach klingt, ist ein
            komplexer Prozess mit vielen aufeinander
       abgestimmten Schritten. Dieser beginnt, wenn Licht
          vom betrachteten Gegenstand reflektiert wird.
         Es erreicht dann innert Sekundenbruchteilen das
            Auge, wird verarbeitet und schliesslich bis
                      zum Hirn weitergeleitet.

    1   Das Licht trifft auf die Hornhaut     6   Die Netzhaut (Retina) nimmt das
        (Cornea). Sie ist durchsichtig            Licht schliesslich wahr. Das
        und von Tränenflüssigkeit benetzt.        bedeutet, Fotorezeptoren wandeln
        Dank dieser Voraussetzungen               die Lichtinformationen in elek­
        kann sie das Licht brechen, wel-          trische Impulse um, die vom Ge-
        ches dann gebündelt seinen                hirn verarbeitet werden können.
        Weg durch das Auge fortsetzt.             Die Stäbchen und Zapfen auf der
                                                  Netzhaut sorgen beispielsweise
    2   Ins Innere des Auges gelangt             dafür, dass wir Farben wahr­
        das Licht durch die Pupille. Auch         nehmen und bei verschiedenen
        sie ist durchsichtig, wirkt jedoch        Lichtverhältnissen sehen können.
        schwarz, da die dahinterliegende
        Netzhaut das Licht komplett            7   Im Zentrum der Netzhaut befindet
        absorbiert. Die Grösse der Pupille        sich der gelbe Fleck (Makula)
8
        passt sich je nach Helligkeit so          mit einem Durchmesser von etwa
        an, dass mehr oder weniger Licht          sechs Millimetern. In ihrem Zent-
        auf die Netzhaut fällt.                   rum liegt der nochmals sehr
                                                  viel kleinere Bereich des schärfs-
    3   Von den Pigmentzellen in der Iris        ten Sehens, die Sehgrube (Fovea
        hängt die Augenfarbe ab: Ein              centralis). Fotografisch gespro-
        hoher Pigmentanteil färbt die Iris        chen ist hier die Auflösung
        braun, ein geringer blau. Die             am höchsten: Bei Tageslicht ist
        Irismuskulatur verändert zudem            der Gegenstand der Betrachtung
        die Pupillengrösse.                       am schärfsten sichtbar, wenn
                                                  er sich im Zentrum unserer Blick-
    4   Hinter der Pupille liegt die Linse.      richtung befindet, weil das
        Sie ist ebenfalls durchsichtig            Licht im Auge direkt auf die Seh-
        und bricht das einfallende Licht          grube fällt.
        erneut. Je nachdem, ob sich
        der betrachtete Gegenstand nah         8   D er Sehnerv (Nervus opticus)
        oder fern befindet, verformt              leitet die elektrischen Signale, die
        sich die Linse durch die An- oder         von der Netzhaut kommen, an
        Entspannung eines Muskels.                das Sehzentrum in der Grosshirn-
        So trägt die Linse dazu bei, dass         rinde weiter. Erst dort werden
        ein scharfes Bild entstehen kann.         sie als Bilder interpretiert.

    5   Das Weisse, das wir beim
        Betrachten eines Auges sehen,
        ist die Lederhaut (Sclera).
        Sie schützt den Augapfel und
        ist gemeinsam mit dem Augen-
        druck verantwortlich für die
        Form des Auges. Mit dem Licht-
        einfall hat sie nicht direkt zu
        tun. Dort, wo das Licht vom Auge
        aufgenommen wird, ist eine
        Lücke in der Lederhaut: die
        Hornhaut.

          UNI NOVA 134 / 2019                                                       19
Dossier

                  Wissen sammeln über
                   Augenkrankheiten.
                    In Basel werden verschiedene Augenkrankheiten auf
                     der Suche nach möglichen Behandlungen erforscht.
                  Botond Roska konzentriert sich dabei auf die Netzhaut und
                                  mögliche Gentherapien.

                   N
                           ur gerade einmal eineinhalb Millimeter misst       zwang ihn jedoch, das Musik- gegen ein Medizinstu-
     Text:                 das Grübchen, das sich bei uns allen hinten        dium zu tauschen. In Berkeley und Harvard wandte
 Martin Hicklin            in der Netzhaut – der Retina – inmitten des        er sich dann der Neurobiologie und besonders der
                   sogenannten gelben Flecks (Macula lutea) befindet.         Retina zu. Zahlreiche Auszeichnungen, wie im Früh-
                   150 000 farbempfindliche Zäpfchen pro Quadratmil-          jahr 2019 der Louis-Jeantet-Preis für Medizin, belegen
                   limeter drängeln sich in dieser Fovea centralis – und      seinen Ruf als führender Retina-Forscher. Mit Hend-
                   das, was sie registrieren, wird umgerechnet, aufbe-        rik Scholl, Direktor des Klinischen Zentrums am IOB,
                   reitet und in Signalen über den optischen Nerv ins         hat Roska einen kongenialen Partner und Freund.
                   Gehirn geleitet. Es ist der Ort des scharfen Sehens. Ist        Es sieht ganz so aus, als habe sich den beiden und
                   er beschädigt, ist Schluss mit einigen Alltagstätigkei-    ihren Mitstreitenden eben das Tor zu einer neuen
                   ten wie zum Beispiel Lesen – keine Brille hilft mehr.      Ära der Ophthalmologie weit geöffnet. Der Fort-
                       «Diese eineinhalb Millimeter beschäftigen das          schritt scheint gerade Riesensätze zu machen. 2018
                   halbe Grosshirn», sagt Botond Roska, Direktor des          ist es zum ersten Mal gelungen, die gespendete Re-
                   Molekularen Zentrums am Institut für Molekulare            tina eines Verstorbenen einen ganzen Tag in «un-
                   und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB), und un-          glaublich gutem Zustand» zu erhalten. Mit feinen
                   terstreicht damit, wie faszinierend das Wunderwerk         Elektroden war es möglich, dem elektrischen Geflüs-
                   Retina funktioniert. Zu verstehen, was da genau ge-        ter der Zellen zuzuhören – eine Wende. Inzwischen
                   schieht, ist seine Mission. Das Ziel ist es, Erblinden     versteht man es, Teile einer Retina bis zu 14 Wochen
                   zu verhindern und Betroffenen das Augenlicht zu-           funktionsfähig zu halten und gar eine Netzhaut mit
                   rückzugeben.                                               eingeschleusten Genen «optogenetisch» wieder licht-
                       Roska, 1969 in Ungarn geboren, hatte die Retina        empfindlich zu machen. «Es funktioniert bemerkens-
                   in doppeltem Sinn schon im Auge, als er 2005 von           wert gut», freut sich Roska.
                   Harvard nach Basel ans Friedrich-Miescher-Institut              Der Zugriff auf lebensfähige Netzhaut erlaubte
                   kam. Seitdem erforscht er mit seiner Gruppe die            es nun auch, die rund 100 verschiedenen Zellarten,
                   dünne Auskleidung des Auges. So konnte er etwa             die da zusammenwirken, einzeln auf Gene zu unter-
                   zeigen, dass die Retina wie ein Biocomputer funktio-       suchen und festzuhalten, welches davon abgelesen
                   niert, dass Zellen ihre Rollen wechseln können und         wird und den Bau von Eiweissen steuert. Diese soge-
                   wie komplex die Schaltkreise aufgebaut sind.               nannte «Einzelzelltranskriptomik», von erheblichem
                                                                              rechnerischem Aufwand begleitet, liefert neue Ein-
                   Neue Ära in Sicht?                                         blicke in die Entwicklung und Funktion des «Bildpro-
                   Hätte sich Roska nicht die Hand verletzt, wäre er          zessors» Retina und erlaubt es, Gendefekte zu lokali-
                   vielleicht als Cellist berühmt geworden. Ein Unfall        sieren und zu kartieren.

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Dossier

Ersatz von defekten Genen                                  über nachgedacht, wie man bei einem totalen Ausfall
Geradezu ins Schwärmen kommt Roska, wenn er                des optischen Nervs in einer Zwischenstation zum
von den neu erlangten Fähigkeiten erzählt, Netzhaut        Grosshirn Zellen lichtempfindlich machen könnte,
künstlich zu züchten und an solchen «Organoiden»           um dann Sehinformationen durch die Schädeldecke
Versuche anzustellen. Heute kann man Stammzellen           statt über das Auge ins Grosshirn zu bringen. Denk-
dazu bringen, sich in Netzhaut zu differenzieren. Als      bar wäre es nun auch, Infrarot-Sehen zu vermitteln.
Ausgangsmaterial dienen Hautzellen, die dazu ge-               «Meine Forschung konzentriert sich zu 70 Pro-
bracht werden, sich wieder in pluripotente Stamm-          zent auf Grundlagen und ist zu 30 Prozent klinisch
zellen zurückzuverwandeln. Diese wiederum wach-            orientiert», rechnet der Forscher vor. Er fügt hinzu,
sen in geeignetem Milieu zu Netzhaut-Organoiden            dass seine Arbeit immer mögliche Anwendungen
heran. Jetzt lässt sich sogar die Netzhaut eines be-       als Ziel hat und wie diese als Nutzen für Patientin-
stimmten Patienten im Labor nachzüchten, mit allen         nen und Patienten umgesetzt werden können. Viel-
Defekten und Besonderheiten – eine perfekte Voraus-        leicht lassen sich mit wachsenden Erkenntnissen
setzung für personalisierte Medizin. Neu lassen sich       auch Behandlungswege für weit verbreitete Erkran-
jetzt auch Wirkstoffe mit Hochdurchsatz-Techniken          kungen wie die altersbedingte Makuladegeneration
an beliebig vielen Organoiden testen.                      finden.
    Will man ererbte Sehkrankheiten wie zum Bei-
spiel die Retinitis pigmentosa behandeln, so ist dies am
ehesten durch Ersatz der defekten Gene zu errei-
chen. Dazu braucht es Genfähren oder Vektoren, die
einen funktionsfähigen Ersatz in die erloschenen
Zellen bringen können. Die besten Kandidaten sind
«Adenoviren-assoziierte Viren» oder AAVs. Sie ver-
mehren sich nur in Anwesenheit von Adenoviren,
machen nicht krank und lösen auch kaum eine Im-
munabwehr aus. «Mit AAVs haben wir schon gearbei-
tet, als noch niemand gross davon sprach», sagt
Roska.
    Heute sind die Vektoren stark gefragt. Gerade
eben wurde unter führender Beteiligung des IOB
eine Bibliothek von 230 AAVs publiziert, die für ver-
schiedene Zellen passen und allenfalls auch für eine
Gentherapie eingesetzt werden könnten. Mit dem
Basler ETH-Departement D-BSSE wurde eine Me-
thode entwickelt, die Viren an magnetische Nano­
partikel befestigt und sie so effizienter an den ge-
wünschten Ort bringt. Für die Stargardt-Krankheit,
bei der nur ein einzelner Buchstabe in der geneti-
schen Information ausgetauscht ist, wird ein genauer
«redaktioneller» Eingriff geplant.                                                      Die rund 100 verschiedenen
                                                                                    Zellarten in der Netzhaut lassen sich
                                                                                       einzeln auf Gene untersuchen.
Sehen durch die Schädeldecke
Ein seit Dezember 2018 laufender klinischer Versuch
mit GenSight Biologics in Paris verwendet einen
AAV-Vektor aus Roskas Labor für die optogenetische
Behandlung von fortgeschrittener Retinitis pigmentosa.
Das Ziel ist es, den Patientinnen und Patienten wie-
der etwas von der verlorenen Lichtempfindlichkeit
zurückzugeben und die Netzhaut genetisch aufzu-
rüsten. Die Behandelten tragen eine Brille, die das
Licht verstärkt.
    «In meiner Gruppe arbeiten 30 Leute. Da gibt es
Tausende von Ideen», stellt Roska fest. So werde dar-

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Dossier

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Dossier

                 Neue Netzhaut
              aus einer Hautprobe.
    Um bestimmte Augenkrankheiten zu verstehen, bauen Forschende
  die menschliche Netzhaut im Labor nach. Dafür stellen sie sogenannte
       Organoide mit körpereigenen Zellen aus Haut und Blut her.

                                              Text: Christoph Dieffenbacher

                                      D
                                              as Spezialgebiet der jungen Öster-   sich zwischen den Nervenzellen Synap-
                                              reicherin Magdalena Renner sind      sen befinden. In Organoiden wie in der
                                              sogenannte Organoide. Das sind       menschlichen Retina sind die Fotorezep-
                                      Kleinstorgane aus wenigen Zellen, die in     toren in der obersten Zellkörperschicht.
                                      einer Kultur mittels umprogrammierter        Die Fotorezeptoren beim Menschen neh-
                                      Stammzellen künstlich erzeugt werden         men jeweils die einfallenden Lichtsignale
                                      und heranwachsen. Für ihr Doktorat in        auf und leiten sie als Impulse ans Gehirn
                                      Wien hatte die Molekularbiologin mit         weiter.
        Magdalena Renner
   beschäftigt sich als Gruppen­      Gehirnorganoiden gearbeitet, aus weni-            Eine solche komplexe Struktur macht
leiterin am Institut für Molekulare   gen Zellen kleinste Gehirne nachgebaut       die Netzhaut, lateinisch Retina («Netz»),
  und Klinische Ophthalmologie        und ihre Entwicklung beobachtet.             denn auch besonders sensibel – die meis-
   (IOB) mit sogenannten Orga­            Heute leitet sie am Institut für Mole-   ten Augenkrankheiten nehmen hier ih-
noiden der Netzhaut. Zuvor hatte
                                      kulare und Klinische Ophthalmologie in       ren Anfang. Zu den häufigsten Krankhei-
    die promovierte Molekular­
     biologin einfache Gehirne        Basel (IOB) eine Gruppe, die sich mit Or-    ten, von denen ein Teil vererbbar ist, ge-
            nachgebaut.               ganoiden der Netzhaut beschäftigt. Ziel      hören etwa die altersbedingte Makulade-
                                      ihrer Arbeiten zwischen Grundlagenfor-       generation, die diabetische Retinopathie,
                                      schung und angewandter Forschung ist         Gefässverschlüsse und die Netzhautablö-
                                      es, verschiedene Augenkrankheiten bes-       sung. Die grosse Anfälligkeit der Netz-
                                      ser zu verstehen. Ihrem Team ist es be-      haut illustriert Renner an einem Beispiel:
                                      reits gelungen, relativ hoch organisierte    «Bereits wenn ein einziges Gen in den
                                      Formen der menschlichen Netzhaut im          Fotorezeptoren nicht funktionsfähig ist,
                                      Labor heranwachsen zu lassen.                kann jemand erblinden.» Falls sich nun
                                                                                   die Entwicklung der Netzhaut und die
                                      Kompliziertes Nervengewebe                   möglichen Genmutationen bei bestimm-
                                      Nun ist die Netzhaut, eine Art mehrlagige    ten Krankheiten im Labor modellieren
                                      Tapete an der Innenseite des Auges, alles    liessen, wäre das ein wichtiger Schritt in
                                      andere als ein einfaches Organ, sondern      Richtung neue Therapien – davon sind
                                      ein äusserst komplexes Gewebe: «Hier         viele Forschende überzeugt.
                                      finden sich zahlreiche Zelltypen mit un-          «Unsere Organoide der Netzhaut glei-
                                      terschiedlichen Funktionen, die erst noch    chen dreidimensionalen Miniorganen,
                                      in fünf verschiedenen Schichten angeord-     die fast so aussehen und ähnlich aufge-
                                      net sind», erklärt Renner. Genauer gesagt    baut sind wie die Originale», erläutert die
                                      sind es drei Schichten mit Zellkörpern       Forscherin in ihrem Labor. Nur etwa zwei
                                      und zwei Zwischenschichten, in denen         mal zwei Millimeter messen die Kleinst-

                                                 UNI NOVA 134 / 2019                                                       23
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