UNI NOVA - Sehkraft erneuern - Universität Basel
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UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°134 / November 2019 Augenforschung Sehkraft erneuern. Gespräch Debatte Album Essay Schule und Die Schweiz Tigermücken – Buddha und die Geschlecht. in Europa. eine Gefahr? ersten Christen.
Editorial Team An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet: Neue Einblicke. Sehen ist visuelle Wahrnehmung: Ins Auge fallende Lichtstrahlen werden über verschiedene Mechanismen in Signale umgewandelt, die das Gehirn verarbeiten 1 kann. Viele von uns haben ab einem bestimmten Mo ment in ihrem Leben ein Problem mit den Augen, und bei einigen Erkrankungen droht der Verlust der Seh kraft. Vollständig zu erblinden geben zahlreiche Men schen als das am meisten befürchtete Übel an. Schliess lich ist das Auge eines unserer wichtigsten Sinnes 2 organe und zentral für die Orientierung im Raum – und damit für unsere Selbständigkeit. Grüner und grauer Star, Makuladegeneration, Netzhauterkrankungen, Binde hautentzündung, extreme Kurz- und Weitsichtigkeit: Verschiedene Augenkrankheiten sind weltweit auf dem 3 Vormarsch, im benachteiligten globalen Süden wie in den alternden Gesellschaften des Nordens. 1 Suren Manvelyan hat die Nahaufnah- Nun haben vor zwei Jahren die Universität Basel, men des menschlichen Auges auf der das Universitätsspital Basel und Novartis das Institut für Titelseite und im Dossier dieser Ausgabe Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB) gemacht. Seine Bilder wurden weltweit gegründet. Hier arbeiten Expertinnen und Experten in veröffentlicht. Der 43-jährige Profifoto- Grundlagenforschung, angewandter Forschung und graf aus Armenien war an der Yerevan State University in Theoretischer Physik neuen Technologien daran, Augenkrankheiten zu verste promoviert worden und unterrichtet hen und in Zukunft wirksame Therapien zu entwickeln. daneben auch naturwissenschaftliche Das Institut ist weiter im Aufbau, Forschungsteams aus Fächer. Seiten 1, 4, 14 –35 dem In- und Ausland kommen laufend dazu. Als welt weit eines der ersten Institute seiner Art wird das IOB 2 Samanta Siegfried arbeitet nach ihrem Studium und einer Ausbildung in eine Brücke zwischen Labor und Klinik schlagen. Die Deutschland seit 2017 in ihrer Wahlhei- Augenheilkunde gehört zu den medizinischen Fächern, mat Basel als freie Journalistin für ver- die sich derzeit am schnellsten entwickeln. schiedene Zeitungen und Zeitschriften. Für UNI NOVA sprach sie mit der Bil- Im Schwerpunkt dieses Hefts werden einige ausge dungswissenschaftlerin Prof. Dr. Elena Markarova und Forschenden am IOB. wählte Projekte der Augenforschung in Basel vorgestellt. Seiten 8–11, 34 –35 Gemeinsam ist ihnen das Ziel, die genauen Mechanis men des Sehens noch besser zu erkennen – um immer 3 Pie Müller gilt in der Schweiz als ausge- mehr Augenkrankheiten besser heilen zu können. Wir wiesener Experte in Sachen Stechmü- wünschen Ihnen bei der Lektüre viele neue Einblicke! cken. Als Gruppenleiter am Schweizeri- schen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) hat sich der Zoologe und Christoph Dieffenbacher, Insektenforscher dieses Jahr an der Uni- Redaktion UNI NOVA versität Basel in Medizinischer Parasito- logie habilitiert. Seiten 40 – 49 UNI NOVA 134 / 2019 3
Inhalt Für eine geschlechtergerechte Schule: Im Life-Science-Cluster Basel ist das Auge Gegenstand Elena Makarova im Gespräch, Seite 8 intensiver Forschung – vom Labor zur Klinik. Dossier 6 Kaleidoskop Sehkraft 8 Gespräch Für die neue Professorin für Bildungs- wissenschaften, Elena Makarova, erneuern. gibt es im Schulunterricht zu wenig zeitgemässe weibliche Vorbilder. Lehrbücher zeigen etwa ein stereo- 16 Die Augenforschung Augenlicht dank Gentherapie. 25 typ männliches Image der Natur vorwärtsbringen. Wissenschaftler und Kliniker wissenschaften. Innovative Therapien können das entwickeln gemeinsam eine Gen Fortschreiten eines Sehverlusts therapie gegen die erbliche Star- 12 Nachrichten verlangsamen oder das Sehvermö- gardt-Krankheit. Sie führt bereits Spatenstich auf dem Sport-Campus, gen nach einem Verlust wieder bei Jugendlichen zum Verlust Strategie & Leitbild, Eucor-Jubiläum, herstellen. des scharfen Sehens. ERC Starting Grants. 18 Wie das Auge sieht. 29 Mehr Durchblick dank Genatlas. Aus welchen Bestandteilen sich Retinagewebe, das mittels Stamm- unser Auge zusammensetzt und wie zellen gezüchtet wurde, kann sie funktionieren – ein Schaubild. als Modell für die Medikamenten forschung dienen. UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°134 / November 2019 20 Wissen sammeln. Forscher konnten zeigen, dass die 31 Therapien gegen den grünen Star. Make an impact. Code4life Netzhaut wie ein Biocomputer Bei einem Glaukom werden die Have you ever wondered what we could achieve if we bring together the best expertise in molecular biology, modern diagnostics and smart analytics? How might patients’ lives be changed for the better? funktioniert und Zellen ihre Rollen Sehnerven irreversibel geschädigt Or go directly to: go.roche.com/lisas_story N°134 / November 2019 In addition to our existing strengths in oncology, immunology, infectious diseases, ophthalmology and neuroscience, we are investing into cutting-edge applications of artificial intelligence and data science Augenforschung UNI NOvA — Das Wissenschaftsmagazin wechseln können. und sterben langsam ab. to make truly Personalised Healthcare a reality. Explore your future career in Personalised Healthcare at Roche. Sehkraft The next step is yours. genext.roche.com code4life.roche.com erneuern. Universität Basel 23 Netzhaut aus Hautprobe. 34 Keine Heilung in Sicht. Gespräch Debatte Album Essay Schule und Die Schweiz Tigermücken – Buddha und die Geschlecht. in Europa. eine Gefahr? ersten Christen. 01_ROC_37_219_Ad_210x280_Code4Life_13.09.19.indd 1 13.09.19 13:53 Einem Basler Team ist es gelungen, Die Makuladegeneration ist die Titelbild hoch organisierte Formen der häufigste Ursache für eine Seh «Your beautiful eyes» nennt der menschlichen Netzhaut im Labor behinderung im Alter. Die meisten armenische Fotograf Suren Manvelyan seine viel beachtete Bilderserie heranwachsen zu lassen. Fälle sind nicht therapierbar. von der menschlichen Iris. 4 UNI NOVA 134 / 2019
Inhalt Impressum UNI NOVA, Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel. Herausgegeben von der Universität Basel, Kommunikation & Marketing (Leitung: Matthias Geering). UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr, die nächste Ausgabe im Mai 2020. Das Heft kann kostenlos abonniert werden; Bestellungen per E-Mail an uni-nova@unibas.ch. Exemplare liegen an mehreren Orten innerhalb der Universität Basel und an weiteren Institutionen in der Region Basel auf. KONZEPT: Matthias Geering, Reto Caluori, Urs Hafner REDAKTION: Reto Caluori, Christoph Dieffenbacher, Michelle Isler ADRESSE: Universität Basel, Kommunikation & Marketing, Postfach, 4001 Basel. Tel. +41 61 207 30 17 E-Mail: uni-nova@unibas.ch GESTALTUNGSKONZEPT UND GESTALTUNG: New Identity Ltd., Basel ÜBERSETZUNGEN: Sheila Regan und Team, U NIWORKS (uni-works.org) BILDER: S. 5: FotoshopTofs/Pixabay; S. 6: Oliver Hochstrasser; S. 7: Thomas Schirmer; Swiss Nanoscience Institute; S. 12: Jürgen Gocke/ Die Tigermücke schickt sich an, hier heimisch zu werden. Eucor – The European Campus; Dominik Plüss; Forscher beobachten ihre Ausbreitung genau, Seite 40 S. 21: IOB/Frederike Asael; S. 24: IOB; S. 25: IOB; S. 30: IOB/ETH Zürich, Departement Bio- systeme; S. 40: GordZam/Istock by Getty Images; S. 51: Biozentrum; S. 52: John Heart- field, Titelblatt der AIZ vom 7. September 1933, Jg. 12, Nr. 35. Studienbibliothek Pinkus- stiftung; FLIT-Inserat, Seitenausschnitt aus der Schweizer Illustrierte Zeitung vom 27. Juni 1929, Jg. 18, Nr. 26. Universitätsbibliothek Basel; S. 56: Christiane Büttner; S. 65: Beth Payne; S. 67: Gerd Eichmann/Wikimedia (CC BY-SA 4.0); Kate Trysh/Unsplash. 36 Mein Arbeitsplatz 54 Forschung ILLUSTRATION: Studio Nippoldt, Berlin KORREKTORAT: Birgit Althaler, Basel (deutsche Kulturwissenschaftlerinnen und Atemluft verrät Krankheiten. Ausgabe), Supertext AG (englische Ausgabe). DRUCK: Birkhäuser+GBC AG, Reinach BL -wissenschaftler nehmen ein Die ausgeatmete Luft jedes Menschen INSERATE: Universität Basel, Leitung Marketing Musikfestival in Augenschein. zeigt seinen persönlichen Stoff & Event, EMail: bea.gasser@unibas.ch AUFLAGE DIESER AUSGABE: wechsel. Damit lassen sich Krank 14 000 Exemplare deutsch 1300 Exemplare englisch 38 Debatte heiten erkennen. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin. Europa und wir. ISSN 1661-3147 (gedruckte Ausgabe deutsch) Ansichten zum Stand der Dinge 57 Bücher ISSN 1661-3155 (OnlineAusgabe deutsch) ISSN 1664-5669 (gedruckte Ausgabe englisch) von der Juristin Christa Tobler Neuerscheinungen von Forschenden ISSN 1664-5677 (OnlineAusgabe englisch) ONLINE: und dem Ökonomen Rolf Weder. der Universität Basel. unibas.ch/uninova facebook.com/unibasel instagram.com/unibasel twitter.com/unibasel 40 Album 58 Essay Tigermücke auf dem Vormarsch. Buddha und die Urchristen. PERFORMAN CE Mit Fallen für die Eiablage lässt Hat der Buddhismus aus Indien die neutral sich untersuchen, wie sich ersten Christen im Vorderen Orient Drucksache No. 01-19-537225 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership die Stechmücke in der Region Basel beeinflusst? ausbreitet. 60 Porträt 50 Forschung Teilnehmende Beobachterin. Bakterien mit Viren bekämpfen. Die Ethnologin Rita Kesselring Phagen sind auf Bakterien speziali- forscht über die Folgen der Apartheid sierte Viren, die ein grosses Poten- und den Rohstoffabbau im südlichen zial für die Therapie von Infektionen Afrika. haben. 62 Alumni 52 Forschung Uni Nova Montagen zwischen Kunst 66 Meine Bücher gibt es auch in Englisch. Und im Internet: und Politik. Molekularbiologe Jan Pieter Abrahams. issuu.com/unibasel Der deutsche Künstler John Heart- unibas.ch/uninova field hat sich in der Zwischenkriegs- 67 Agenda zeit kritisch mit gesellschaftlichen Themen auseinandergesetzt. UNI NOVA 134 / 2019 5
Kaleidoskop Computing Abstrakte Technologie begreifen. 66 Einplatinencomputer, 64 Touchscreens, eine Hülle Ursprünglich entstand das µ-Cluster als Resultat einer aus Acryl sowie Kabel und Netzteile zur Stromver Bachelorarbeit am Departement Mathematik und sorgung bilden diesen Kubus namens µ-Cluster. Solche Informatik. Durch die Arbeit der Forschungsgruppe High Performance Computing Cluster können eine High Performance Computing um Prof. Florina grosse Datenmenge in kurzer Zeit verarbeiten, weswe- Ciorba wächst und verändert es sich laufend und wird gen sie unter anderem in der Filmindustrie oder in auch immer wieder ausgestellt. So zum Beispiel der Astrophysik eingesetzt werden. Meist befinden sie im Rahmen des Festivals «Fantasy Basel» und am sich in versteckten Serverräumen. Nicht so dieses Infotag der Universität im Januar 2020. Exemplar: Es soll parallele Prozesse in der Computer- hpc.dmi.unibas.ch technik sichtbar und in Echtzeit erlebbar machen. 6 UNI NOVA 134 / 2019
Kaleidoskop Technik Neuartige Magnetanordnung. Diese Magnetschwebebahn ist das Resul- tat eines preisgekrönten Projektes zweier Jugendlicher. Für ihre Entwicklung gewan- nen sie nicht nur den deutschen Bundes- preis «Jugend forscht» im Bereich Technik, sondern auch einen ersten Preis am «Euro- pean Contest for Young Scientists». Das Swiss Nanoscience Institute und das Departement Physik der Universität Basel unterstützten die beiden Jungforscher bei ihrem Vorhaben, durch rotierende Per- manentmagnete einen Magnetzug über einer metallischen Oberfläche zum Schwe- Migration ben zu bringen. Einer der beiden, Alex Korocencev, begann im September sein Hotspots an der Physikstudium – an der Universität Basel. Aussengrenze. bit.ly/uninova-hoverboard Die Stadt Zarzis im Südosten Tunesiens ist einer der Ausgangspunkte, von wo tunesische Migranten nach Italien aufbrechen. Gleichzeitig nimmt die Stadt auch Migranten aus Libyen auf, und in ihr findet sich ein Cimetière des Inconnus für die Ertrunkenen, die an die Ufer der Küstenstadt angespült werden. Wie geht eine lokale Gemeinschaft mit den Auswir kungen der Migration um? 2015 hatte die EU beschlossen, sogenannte «Hot- spots» an den europäischen Aussengrenzen mit Infrastrukturmassnahmen zu unterstützen. Wie sich die Migrationspolitik vor Ort auswirkt, untersucht ein interdisziplinäres Team unter der Leitung der Poli- tikwissenschaftlerin Prof. Bilgin Ayata und des Archi tekturhistorikers Prof. Kenny Cupers. Dazu reisten die Forschenden an Orte, die meist nicht im Blickfeld der europäischen Öffentlichkeit liegen, von der tune- sisch-libyschen Grenze bis nach Sizilien und den griechischen Inseln, auf denen die Hotspots errichtet wurden. bit.ly/uninova-eu-hotspots UNI NOVA 134 / 2019 7
Gespräch « Das Individuum und nicht das Geschlecht soll im Vordergrund stehen. » Wie geschlechtergerecht ist der Schulunterricht in der Schweiz? Nicht allzu sehr, wie eine aktuelle Studie der Bildungswissenschaftlerin Elena Makarova zeigt. Auch für das Ziel einer gleichberechtigten Berufswelt sieht sie noch viel Handlungsbedarf. Interview: Samanta Siegfried Foto: Basile Bornand UNI NOVA: Frau Makarova, was haben Sie MAKAROVA: Ja, im Vergleich zur Schweiz besser als Jungen in Mathe und verlieren für eigene Erinnerungen an den Mathe- war das Schulsystem der Sowjetunion be- diesen Vorsprung erst später. Auch ist er- matikunterricht? reits damals auf den sogenannten koedu- wiesen, dass sich Unterschiede im Leis- ELENA MAKAROVA: Dazu muss ich zuerst kativen Unterricht ausgerichtet, der beide tungsbereich durch gezielte Interventio- sagen, dass ich meine Schulzeit in der Geschlechter gleichermassen einbezieht. nen ausgleichen lassen: Zum Beispiel damaligen Sowjetunion absolvierte. Dort In der Schweiz wurden die Mädchen frü- zeigt eine Studie, dass Mädchen nach ei- hatten mathematisch-naturwissenschaft- her ja noch in die Hauswirtschaft ge- ner kurzen Trainingsphase den zunächst liche Fächer eine wichtige Bedeutung, um schickt und waren teilweise vom natur- existierenden Vorsprung von Jungen im die Vormachtstellung des Landes im Kal- wissenschaftlichen Unterricht ausge- räumlichen Vorstellungsvermögen und in ten Krieg zu sichern. Mathematik wurde schlossen. mentalen Rotationen aufholen. Das bestä- in meiner Schulzeit sehr stark gewichtet, UNI NOVA: Hält sich deswegen die An- tigt die Vermutung, dass geschlechtsspe- auch in Informatik und in Grundlagen nahme bei uns so hartnäckig, Jungen zifische Unterschiede nicht auf evoluti- des Programmierens wurden wir unter- seien besser in Mathe als Mädchen? onsbiologische, sondern auf sogenannt richtet. Ich erinnere mich an weibliche MAKAROVA: Wenn nach PISA-Testergebnis- sozialisatorische Ursachen zurückzufüh- wie männliche Lehrpersonen. Ich mochte sen Überschriften zu lesen sind wie «Mäd- ren sind. mathematisch-naturwissenschaftliche chen haben Angst vor Mathe» oder Ähnli- UNI NOVA: Das heisst, wir werden so erzo- Fächer gerne und hatte eigentlich immer ches, dann befördert das diese Annahme gen? gute Noten. Zwischen Jungen und Mäd- natürlich. Dabei werden die Unterschiede, MAKAROVA: Der sozialisatorische Ansatz chen wurden keine Unterschiede ge- meist unbewusst, an das biologische Ge- geht davon aus, dass Unterschiede auf- macht. schlecht gekoppelt. Diverse Studien zei- grund von Erfahrungen entstehen. Diese UNI NOVA: Das klingt nach einer ganz an- gen aber, dass eine solche Erklärung zu Erfahrungen wiederum sind eng mit sozi- deren Erfahrung, als sie viele Frauen in kurz greift. So sind Mädchen oft in den alen Erwartungen verknüpft, die vom fa- der Schweiz gemacht haben dürften … ersten Schuljahren noch gleich gut oder miliären und sozialen Umfeld an einen 8 UNI NOVA 134 / 2019
Gespräch «In Mathematik verlieren Mädchen den Vorsprung der ersten Schuljahre oft wieder.» Elena Makarova UNI NOVA 134 / 2019 9
Gespräch herangetragen werden. Konkret: Kinder Elena Makarova Eidgenössischen Büro für die Gleichstel- merken früh, ob ihnen eine Begabung in studierte Sonderpädagogik lung von Frau und Mann unterstützt und Logopädie an der Nationalen Naturwissenschaften zugeschrieben wird wurde, zusammen mit einer Autorin und Pädagogischen Universität in oder nicht. Diese Zuschreibungen werden Kiew. Darauf nahm sie in Bern ein einem Autor ein Physik-Lehrbuch. Das verinnerlicht und haben wiederum eine Studium in Pädagogik, Slavischer war ein sehr arbeitsintensiver Prozess. Auswirkung auf die Selbstbeurteilung der sowie Russischer Philologie Zahlreiche Vorgaben mussten berücksich- eigenen Begabung, fachliche Interessen auf und wurde 2007 an der Philo- tigt werden: Die Inhalte mussten dem sophisch-humanwissenschaftli- und die Freude am Schulfach. Und die schulischen Curriculum entsprechen, chen Fakultät der Universität Bern Motivation, auch das ist vielseitig belegt, promoviert. Von 2003 bis 2015 thematisch zu den Aufgabenbeispielen spielt eine grosse Rolle für die Leistung. war sie Assistentin und Oberassis- passen und einen bestimmten Umfang Zwar werden die meisten Menschen mit tentin an der Abteilung Pädago nicht überschreiten. Weiter geht es nicht einem eindeutigen biologischen Ge- gische Psychologie der Universität nur darum, einfach mehr Frauen als Na- Bern. Nach der Habilitation in schlecht geboren. Was es aber bedeutet, turwissenschaftlerinnen abzubilden, son- Erziehungswissenschaft 2014 war «Mann» oder «Frau» zu sein, lernt man sie für zwei Jahre Professorin dern im Allgemeinen mehr zeitgenössi- erst im sozialen Umfeld von den Eltern, für Schulpädagogik mit besonde- sche Kontexte und Vorbilder in den Na- den Geschwistern, den Freunden. Aber rer Berücksichtigung sozialer, turwissenschaften zu zeigen, das heisst, auch in der Schule als einem wichtigen kultureller und sprachlicher Vielfalt auch Männer und wissenschaftliche an der Universität Wien, darauf soziokulturellen Umfeld. Teams, die aktuell forschen und arbeiten. Professorin für Erziehungswissen- UNI NOVA: Für ein aktuelles Projekt haben Die rein sprachliche Überarbeitung über- schaft am Institut Forschung Sie schulische Lehrmittel in Naturwissen- und Entwicklung der Pädagogi- nahm in diesem Fall der Verlag, ein Auf- schaften der Sekundarstufe II auf ihre schen Hochschule der FHNW. wand, für den nicht alle Verlage bereit Geschlechtergerechtigkeit geprüft. Was Seit Anfang 2019 ist Makarova sind. Professorin für Bildungswissen- sind die wichtigsten Ergebnisse? UNI NOVA: Neben einem geeigneten Lehr- schaften und Direktorin des MAKAROVA: Zum einen haben wir ein mittel können bestimmt auch Lehrperso- Instituts für Bildungswissenschaf- sprachliches Ungleichgewicht festge- ten an der Universität Basel. nen viel mit ihrer Unterrichtsgestaltung stellt. In den analysierten Lehrmitteln bewirken. Was raten Sie dabei Ihren Stu- gibt es praktisch keine weiblichen Prota- dierenden? gonistinnen, und es wird fast nur das ge- MAKAROVA: Ja, die Unterrichtsgestaltung nerische Maskulinum angewendet: Die ist zentral. In meinem Seminar zur Be- Rede ist vom Physiker oder vom Natur- deutung des Geschlechts im Sozialisa- wissenschaftler. Wie Studien aber zeigen, man Marie Curie an, selten noch Lise tions- und Bildungsprozess lasse ich die löst das generische Maskulinum eine stär- Meitner. Das wars. Ansonsten werden Studierenden gerne die eigenen unbe- kere mentale Repräsentierung von männ- überwiegend Frauen jüngeren Alters ab- wussten Vorurteile aufdecken. Zum Bei- lichen Personen aus als Schreibweisen gebildet, meist beim Ausüben eines Hob- spiel mit dem sogenannten impliziten wie Binnen-I und Schrägstrich. Auch bys, nicht aber bei einer Erwerbstätigkeit. Assoziationstest, der an der Harvard-Uni- wenn steht, «Personen des weiblichen Die Männer in den Abbildungen dagegen versität entwickelt wurde und Vorurteile Geschlechts sind mitgemeint», dann sind sind älter und werden bei einer prestige- gegenüber verschiedenen sozialen Kate- sie vielleicht mitgemeint, aber nicht re- trächtigen beruflichen Tätigkeit darge- gorien testet, die mit Stereotypen verbun- präsentiert. Weil Sprache verkörpert! Und stellt, etwa als Wissenschaftler. So repro- den sein können wie Geschlecht, Alter mit der Bezeichnung Physiker werden duzieren Lehrmittel bis heute ein stereo- oder Ethnie. Es geht dabei nicht darum, Personen männlichen Geschlechts ver- types Image der Naturwissenschaft als zu sagen «Erwischt, Sie haben Vorur- körpert. Eine andere Studie hat unter- männliche Domäne. Das ist einfach nicht teile!», sondern zu zeigen, dass unsere sucht, ob geschlechtergerechte Sprache mehr aktuell. Das Problem ist, dass Lehr- Vorurteile oft unbewusster Natur sind. schwerfällig ist. Das Resultat: Weder die mittel vor allem inhaltlich überarbeitet Und von da aus zu überlegen, inwiefern Lesbarkeit eines Textes noch das Textver- werden. Aber schaut man ihre sozialisato- sie das pädagogische Handeln von Lehr- ständnis wird beeinträchtigt. Ich staune rische Wirkung an, tradieren sie Ge- personen im Unterricht beeinflussen kön- ehrlich gesagt, dass wir heute die Diskus- schlechterrollen aus den 1960er-Jahren. nen. Zum Beispiel das Feedback: Es gibt sion überhaupt führen müssen, ob weib- Da sehe ich grossen Handlungsbedarf. Studien, die zeigen, dass Lehrpersonen liche und männliche Protagonisten UNI NOVA: Warum wurden die Lehrmittel dazu neigen, Mädchen mehr für ihren sprachlich gleichmässig abgebildet wer- nicht längst auf diese Punkte hin überar- Fleiss zu loben, etwa für ihre schöne den sollten. beitet? Schrift, Jungen dagegen für ihre fachliche UNI NOVA: Gab es noch andere Unter- MAKAROVA: Zum einen, weil es noch zu Leistung. Die Art und Weise, wie ein Feed- schiede in den untersuchten Lehrmitteln? wenig im Bewusstsein ist. Zum andern ist back gegeben wird, hat einen grossen MAKAROVA: Ja, es fehlen etwa auch zeitge- es sicher sehr aufwendig. Kürzlich über- Einfluss auf die Selbstwahrnehmung von mässe weibliche Vorbilder. Meist trifft arbeitete ich in einem Projekt, das vom Schülerinnen und Schülern. 10 UNI NOVA 134 / 2019
Gespräch UNI NOVA: Ich nehme aber an, vieles spielt (Mathematik, Informatik, Naturwissen- MAKAROVA: Das Fehlen von Männern in sich bereits vor dem Schuleintritt ab. Wo schaften, Technik), nach dem Studium sozialen und pädagogischen Berufen sehen Sie die Aufgaben der Eltern? selten für eine berufliche Tätigkeit in habe ich in meinen bisherigen For- MAKAROVA: Klar, Zuschreibungen zu ei- diesem Bereich entscheiden. Und wenn schungsprojekten weniger berücksich- nem Geschlecht und damit zu assoziier- doch, steigen sie viel häufiger wieder aus tigt. Interessant in diesem Zusammen- ten Geschlechterrollen beginnen bereits als Männer. Das hat auch mit der Famili- hang sind Studien, die zeigen, dass Män- ab der Geburt. So werden die Wahl der enpolitik zu tun. Denken wir nur an die ner in einem geschlechtsuntypischen Ar- Kleider oder das Spielverhalten von El- UNICEF-Studie von diesem Sommer, bei beitsumfeld eher bewundert werden und tern oft dem Geschlecht des Kindes ange- der die Schweiz in Sachen Familien- dass ihnen hohe Kompetenzen zuge- passt. Aber auch ausserhalb der Familie, freundlichkeit in Europa den letzten schrieben werden, während Frauen in zum Beispiel wenn es später um die be- Platz belegt. Da ist der fehlende Vater- männerdominierten Berufen oft diskri- rufliche Orientierung geht, signalisieren schaftsurlaub, der zu kurze Mutter- minierende Erfahrungen machen. Klar verbreitete Bezeichnungen wie «Feuer- schaftsurlaub, die zu teure Fremdbetreu- ist: Egalitäre Verhältnisse können nur wehrmann» und «Arztgehilfin», dass sich ung und so weiter. Es gibt Studien, die dann erreicht werden, wenn sich Vorur- gewisse Berufe nur für ein Geschlecht zeigen, dass Teilzeitstellen oft in soge- teile über beide Geschlechter wandeln. eignen. Deshalb würde ich auch den El- nannten Frauenberufen zu finden sind, Aber solange wir weiterhin in zweige- tern raten, die eigenen Vorurteile zu ent- also in der Pflege, in sozialen oder päda- schlechtlichen Kategorien denken, wird larven und zu versuchen, das Kind unab- gogischen Berufen. Der MINT-Bereich ge- das nicht so einfach sein. hängig vom Geschlecht mit verschiede- hört definitiv nicht dazu. Dort ist die an- UNI NOVA: Wie meinen Sie das? nen Bereichen und Erfahrungen vertraut tizipierte Familie-Beruf-Vereinbarkeit viel MAKAROVA: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. zu machen. schwieriger. Und schon sind wir im Teu- Sehr oft werde ich von Studierenden ge- UNI NOVA: Sollte ich meinen Sohn also felskreis: Weil Frauen in den frauentypi- fragt: «Was, wenn wir es einfach umkeh- zum Ballett schicken? schen Teilzeitberufen überrepräsentiert ren und beispielsweise nur noch Frauen MAKAROVA: Natürlich, wenn ihn das inter- sind, schreibt man ihnen die Eigenschaf- in der Informatik haben und nur noch essiert! Die Frage nach der Förderung von ten zu, die es dort braucht. Nach dem Männer in der Pflege?» Genau das ist aber individuellen potenziellen Begabungen Motto: Das liegt Frauen mehr. So koppelt nicht gemeint. Gemeint ist, dass die Be- und Interessen sollte nicht vom Ge- man strukturelle Einflüsse mit dem biolo- rufswahl von Jugendlichen nicht davon schlecht abhängig sein. Aber es ist nicht gischen Geschlecht und reproduziert Vor- abhängen sollte, was sie als typisch weib- einfach, entgegen von sozial geteilten urteile. lich und typisch männlich betrachten, Vorstellungen und Stereotypen zu han- UNI NOVA: Bisher sprachen wir nur über auch nicht unbewusst. Alle sollten ihre deln. Wir alle reproduzieren Geschlech- die negativen Auswirkungen auf die Berufswahl aufgrund von individuellen terunterschiede immer aufs Neue im Sinn Frauen. Aber was ist mit den Männern? Interessen treffen können. Daher sollte des «Doing-Gender-Prozesses». Auch sie sind ja von bestimmten Zu- bereits von der Geburt an das Individuum UNI NOVA: Was heisst das? schreibungen durch ihr Geschlecht be- und nicht die Zuschreibung zu einem Ge- MAKAROVA: Wer sich nicht den sozialen troffen. schlecht im Vordergrund stehen. Erwartungen, die mit seiner oder ihrer Kategorie verbunden sind, entsprechend verhält, hat mit Sanktionen zu rechnen. Diese können sehr subtil sein, da reicht es, wenn jemand sagt: «Für ein Mädchen spielst du aber gut Fussball.» Unterschwel- lig bedeutet das: Du wirst dich nie mit « Für ein Mädchen spielst den Jungen messen können, da du als Frau nicht die richtigen Voraussetzungen du aber gut Fussball dafür hast, Fussball zu spielen. Das kann heisst: Du wirst dich nie ein Mädchen entmutigen, ihr Interesse am Fussballspielen weiterzuentwickeln. mit den Jungen Daher braucht es einen gesellschaftlichen messen können.» Wandel, um die sozial geteilten Vorstel- Elena Makarova lungen über Geschlechter zu ändern, auch strukturell. UNI NOVA: Was sind da die Probleme? MAKAROVA: Die Zahlen zeigen, dass sich auch jene Frauen, die über einen Ab- schluss in einem MINT-Fach verfügen UNI NOVA 134 / 2019 11
Nachrichten Sport-Neubau, Strategie und Starting Grants. Eucor-Jubiläum 30 Jahre Zusammenarbeit. Dieses Jahr feiert Eucor sein dreissigjähri- ges Bestehen. Was 1989 als Europäische Konföderation der Oberrheinischen Uni- versitäten begann, ist seit 2013 ein Euro- pean Campus, der von den Universitäten Basel, Freiburg, Haute-Alsace, Strasbourg und dem Karlsruher Institut für Techno- logie getragen wird. Im europäischen Forschungsraum ist Eucor ein einzigarti- ges Projekt, das Tausenden von Studieren- den die Möglichkeit gibt, ein grenzüber- schreitendes Studium zu verfolgen. Auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler der Universitäten soll Mobilität jenseits der Landesgrenzen eine Alltagser- fahrung sein und die Kooperation im For- schungsbereich vereinfachen. eucor-uni.org Campus Sport Spatenstich zu St. Jakob. Die symbolische Grundsteinlegung des Neubaus für das Depar- Gemeinsam tement Sport, Bewegung und Gesundheit wurde im September bauen: Die Regie- mit einem Festakt gefeiert. Der Trägerkanton Basel-Landschaft rungsräte Conradin Cramer erhält mit diesem Bau erstmals einen Uni-Standort auf dem ei- und Monica genen Kantonsgebiet. Ab dem Wintersemester 2021/22 wird das Gschwind legen Departement an einem einzigen Standort seinen erhöhten den Grundstein Raumbedarf decken, welcher auf ein Wachstum der Sportwis- für den Sport- senschaft, der Sportmedizin sowie der Trainingswissenschaft Neubau. zurückzuführen ist. Das neue Gebäude wird Platz für rund 600 Studierende und 100 Mitarbeitende bieten. 12 UNI NOVA 134 / 2019
Strategie & Leitbild Entwicklung der Das Magazin Universität. für noch mehr Wissen. Über den Tisch des Universitätsrats gingen dieses Jahr gleich zwei für die Universität richtungswei- sende Dokumente: Das neue Leitbild und die Strate- Gratis abonnieren. gie 2022–2030. Ein Kernpunkt des Leitbilds liegt in der Betonung der profilierten Volluniversität, unter deren Dach innovative geistes- und sozialwissen- schaftliche sowie naturwissenschaftliche Fakultäten vereint sind. Weiter betont das Grundlagenpapier die regionale Verankerung der Universität und ihre internationale Vernetzung. Diese Identität kommt auch in der neuen Strategie zum Ausdruck. So for- muliert eine der strategischen Leitlinien den Aus- UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°134 / November 2019 bau der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen, Make an impact. Code4life politischen und wirtschaftlichen Akteuren sowie Have you ever wondered what we could achieve Partnerinstitutionen. Weitere Leitlinien unterstrei- if we bring together the best expertise in molecular biology, modern diagnostics and smart analytics? How might patients’ lives be changed for the better? chen die Bestrebungen, die Identifikation mit der Or go directly to: go.roche.com/lisas_story N°134 / November 2019 Universität zu stärken, ihre Agilität zu fördern und In addition to our existing strengths in oncology, immunology, infectious diseases, ophthalmology and neuroscience, we are investing into cutting-edge Das Wissenschaftsmagazin applications of artificial intelligence and data science Augenforschung UNI NOvA — Das Wissenschaftsmagazin die einzigartigen Standortvorteile im Dreiländereck to make truly Personalised Healthcare a reality. Explore your future career in Personalised Healthcare at Roche. Sehkraft der Universität Basel zu nutzen. The next step is yours. genext.roche.com code4life.roche.com erneuern. bequem nach Hause erhalten. unibas.ch/strategie Einfach und kostenlos im Internet bestellen. Universität Basel Gespräch Debatte Album Essay Schule und Die Schweiz Tigermücken – Buddha und die Geschlecht. in Europa. eine Gefahr? ersten Christen. 01_ROC_37_219_Ad_210x280_Code4Life_13.09.19.indd 1 13.09.19 13:53 unibas.ch/uninova ERC Starting Grants Förderzusprachen für Coupon ausschneiden und senden an: Basler Forschende. Universität Basel, Kommunikation, Petersgraben 35, Postfach, 4001 Basel UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr. Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat gleich drei Basler Forschenden einen der begehrten Starting Bitte senden Sie mir UNI NOVA in folgender Sprache: Grants zugesprochen. Dr. Marloes Eeftens vom Deutsch Englisch Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut wird in den kommenden fünf Jahren erforschen, Bitte senden Sie UNI NOVA an: wie sich Pollen auf Herz, Atmung und Allergien aus- wirken. Der Neurobiologe Prof. Dr. Flavio Donato erhielt für seine Untersuchung zur Entwicklung des Name, Vorname frühkindlichen Gehirns ebenfalls eine Förderzu- sprache. Ein weiterer Preisträger ist der neue Profes- sor für Data Analytics, Prof. Dr. Ivan Dokmanić. Der Strasse, Hausnummer oder Postfach ERC vergibt die hochdotierten Starting Grants an exzellente Forschende, die sich am Anfang ihrer PLZ, Ort Karriere befinden und deren Forschung innovative Ideen verfolgt. E-Mail Datum, Unterschrift 13
Dossier 14 UNI NOVA 134 / 2019
Dossier Sehkraft erneuern. Fotos: Suren Manvelyan Weil die Menschen immer älter werden, nehmen auch Augenkrankheiten weltweit zu – und parallel dazu die Forschung. In Basel sollen die theoretischen Erkenntnisse direkt zu den Patientinnen und Patienten gelangen. Seite 20 Seite 23 Seite 31 Ererbte Sehkrankheiten Die meisten Augen- Gegen den grünen zu behandeln ist krankheiten beginnen Star gibt es noch am ehesten durch den an der Netzhaut. keine direkte Behand- Ersatz der defekten Diese lässt sich jetzt lung. Entwickelt Gene zu erreichen. für die Forschung werden neue Medika- künstlich züchten. mente zum Schutz der Sehnervzellen. UNI NOVA 134 / 2019 15
Dossier Die Augenforschung vorwärtsbringen. In Basel arbeiten mehrere Forschungsteams an Therapien für Patienten und Patientinnen, die weltweit an Augen- erkrankungen leiden. Das neue Institut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB) ist mit der Universität Basel assoziiert und trägt zu ihrem internationalen Ruf bei. Text: Botond Roska und Hendrik Scholl D as Augenlicht ist ein kostbares Gut. Bei einer Basel (IOB) gegründet. Hier arbeiten Grundlagenfor- in den USA durchgeführten Umfrage, bei der scher und Kliniker täglich Hand in Hand, um neue die Menschen gefragt wurden, was ihr Therapien für die Augenheilkunde zu entwickeln. schlimmster Krankheitszustand wäre, stand Blind- Als wesentliche Innovation gegenüber früheren For- sein an erster Stelle. Weltweit nimmt die Häufigkeit schungsansätzen wird der Fokus auf Zelltypen und von Augenerkrankungen weiter zu. 36 Millionen nicht auf das Gewebe gelegt. Verschiedene Diszipli- Menschen sind blind, und mehr als eine Milliarde nen und Technologien werden miteinander kombi- Menschen leiden an einer erheblichen Sehbehinde- niert, so etwa Genetik, Virologie, Molekularbiologie, rung. Viele Erkrankungen, die zu einer Erblindung Organoidforschung, Elektrophysiologie, Zwei-Photo- führen, können heute nicht oder nur unzureichend nen-Bildgebung und Computerprogramme. Zusam- behandelt werden. mengenommen ermöglichen es diese Methoden, die Das Auge eignet sich besonders für die diagnos- Struktur und die Funktion des Auges und des Sehvor- tische und therapeutische Forschung, da das Organ gangs in verschiedenen Stadien der Verarbeitung zu leicht zugänglich ist, ein kleines Volumen hat sowie verstehen – und damit auch die Mechanismen von im Innern klar voneinander abgegrenzte Bereiche Augenerkrankungen. Damit können innovative The- sowie stabile Zellpopulationen aufweist. Weiter ist es rapien entwickelt werden, um zum Beispiel das Fort- für die Auswertung optisch transparent und zeigt schreiten eines Sehverlusts zu verlangsamen oder wegen der günstigen Immunsituation wenig uner- das Sehvermögen nach seinem Verlust wiederherzu- wünschte Reaktionen auf injizierte Medikamente. stellen. Dennoch gehen in der Augenheilkunde Innovatio- Die meisten Seherkrankungen haben ihren Ur- nen oft frustrierend langsam voran: Selten können sprung in der Netzhaut. Die Wiederherstellung des Grundlagenforschende die unerfüllten medizini- Sehvermögens von Blinden durch eine Reparatur der schen Bedürfnisse nachvollziehen, da ihnen die Er- Netzhaut ist seit Jahrhunderten ein Wunsch der Me- fahrung des Feedbacks der Patientinnen und Patien- dizin geblieben. Mit dem Ersatz und der Verände- ten fehlt. Und in der Klinik tätige Forschende wissen rung von Genen lässt sich nun jedoch der Sehverlust meist nur unzureichend über die neuesten Fort- verlangsamen, stoppen oder sogar rückgängig ma- schritte in der Grundlagenforschung Bescheid. chen – erste erfolgreiche Verfahren sind kürzlich bekannt geworden. Ein medizinischer Traum Bei jüngeren Menschen sind erblich bedingte Um diese Lücke zu schliessen, wurde 2017 das Insti- Netzhautdystrophien die häufigsten Ursachen für tut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie eine Erblindung. So beginnen die Stargardt-Erkran- 16 UNI NOVA 134 / 2019
Dossier kung und die Retinitis pigmentosa – Degenerationen haut oder im Gehirn anzuwenden. Die gezielte Ex- der Netzhaut, bei der die Lichtrezeptoren zerstört pression in bestimmten Zelltypen bleibt jedoch im- werden – das Sehvermögen bereits in der Kindheit zu mer noch eine Herausforderung. Die Forschenden beeinträchtigen und können bereits im frühen Er- am IOB haben eine Bibliothek von 230 AAV-Vektoren wachsenenalter zur Blindheit führen. Einer von 8 000 mit jeweils einem anderen synthetischen Promoter Hendrik Scholl Menschen leidet an der Stargardt-Erkrankung, und entwickelt. Diese Bibliothek ermöglicht eine schnelle ist Chefarzt der Retinitis pigmentosa betrifft weltweit fast 1,5 Millionen Augenklinik am und effiziente Ausrichtung der Genexpression in Menschen. Diese beiden Augenkrankheiten bilden Universitätsspital neuronalen und glialen Zelltypen. Dies ist ein Mei- Schwerpunkte der translationalen Forschung am Basel und ebenfalls lenstein, sowohl für die Grundlagenforschung als IOB, also der Projekte, die zur schnellen und effizien- Mitbegründer auch für die Gentherapie. Vektorbibliotheken ma- und Co-Direktor ten Umsetzung präklinischer Forschung in die Klinik chen auch die In-vitro-Untersuchung von Zelltypen des IOB. Der führen sollen. Professor für Oph- in der menschlichen Netzhaut möglich. Dies erhöht thalmologie wurde erheblich die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimm- Die Netzhaut als Computer 1969 in Deutsch- ter Vektor bei Patienten in-vivo den gewünschten Um eine degenerierte Netzhaut wieder für sichtba- land geboren und Zelltyp anspricht. ist spezialisiert res Licht empfindlich zu machen, wird derzeit die Am IOB wurde auch eine neuartige Methode des auf die Behandlung sogenannte optogenetische Therapie entwickelt. Die von Netzhauter- «Virus-Stempelns» entwickelt, um Gene effizient zu Expression eines Optogens, das einen lichtaktivier- krankungen. erforschen. Dafür werden einzelne Zellen in Kultu- ten Kanal in den verbleibenden inneren Netzhaut- ren, aus Gehirngewebe, Versuchstieren und Organo- zellen kodiert, macht diese lichtempfindlich, und iden mit einem Virus infiziert – oder auch mit meh- zwar unabhängig von der Mutation, die den Verlust reren, entweder gleichzeitig oder zu verschiedenen der Fotorezeptorzellen verursacht hat. Die mensch- Zeitpunkten. Das «Virus-Stempeln» macht es mög- liche Netzhaut ist wie ein leistungsfähiger Rechner lich, die Rolle spezifischer Gene in klar definierten für die visuelle Wahrnehmung. Am IOB wurde ein Zellen zu untersuchen – eine vielseitige Lösung für Computermodell der Netzhaut erstellt, das die ver- die biomedizinische Grundlagenforschung und mög- schiedenen Wege simuliert, die ein Lichtsignal licherweise auch für die Gentherapie. durch die Netzhaut nehmen kann. Für die mensch- Botond Roska ist Professor an liche Netzhaut angepasst, könnte das Modell in Zu- Kurzsichtigkeit nimmt zu der Medizinischen kunft erlauben, die Folgen von Augenerkrankungen Fakultät der Univer- Weltweit, und besonders in Asien, nimmt die Kurz- vorherzusagen. sität Basel sowie sichtigkeit rasant zu. In einigen Regionen sind bis Mit der Stammzelltechnologie lassen sich Haut- Mitbegründer und zu 90 % der Jugendlichen betroffen, verglichen etwa proben von Patienten und Patientinnen mit den ge- Co-Direktor des mit 10 bis 20 % in der chinesischen Bevölkerung vor IOB. Der Neurowis- netischen Merkmalen des Spenders in hochgradig 60 Jahren. Das Hauptproblem bei der Kurzsichtigkeit senschaftler wurde organisierte In-vitro-Retinas umwandeln. Solche 1969 in Ungarn ist nicht das nötige Brillentragen, sondern ein häufi- menschlichen retinalen Kleinorgane (Organoide) geboren. Seine For- ger Sehverlust durch daraus resultierende Komplika- weisen bereits viele der Zelltypen der normalen schungsergebnisse tionen wie myope Makuladegeneration, Glaukom Netzhaut im lebenden Menschen auf und können zum visuellen oder Netzhautablösung. Die Neurodegeneration der System und zur einen primitiven Sehnerv bilden. Damit lassen sich Netzhaut – wie etwa bei trockener, altersbedingter Wiedererstellung die Auswirkungen von Mutationen auf die Netzhaut- des Sehvermögens Makuladegeneration, diabetischer Augenerkran- zellen direkt in einer Kulturschale untersuchen. Ge- gelten als bahn kung, Netzhautdystrophien und Glaukom – ist der- züchtete Organoide bieten auch die Möglichkeit, brechend. zeit noch nicht therapierbar. In demografisch altern- Krankheitsmodelle im Labor zu entwickeln, etwa den Gesellschaften sind solche Störungen eine der von Netzhaut- und Makuladystrophien wie der Star- Hauptursachen für Invalidität und Verlust einer ei- gardt-Krankheit. Nun können Gentherapien entwi- genständigen Lebensweise. Am IOB wird daher auch ckelt werden, die punktgenau verschiedene Zellty- die Wachstumsregulation des Auges untersucht, um pen mit spezifischen Vektoren ansprechen. Neue die Kurzsichtigkeit zu bekämpfen, und das Wissen Therapien könnten bald an den eigenen retinalen im Bereich Glaukom ausgebaut. Organoiden von Patientinnen und Patienten gezielt getestet werden. Wenn Gentherapien nicht auf bestimmte Zellty- pen ausgerichtet sind, können sie wirkungslos oder sogar schädlich wirken. Sogenannte Adeno-assozi- ierte virale (AAV) Vektoren sind der vielverspre- chendste Ansatz, um die Gentherapie in der Netz- UNI NOVA 134 / 2019 17
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Dossier Wie das Auge sieht. Wir schauen einen Gegenstand an und sehen ihn – augenblicklich. Was einfach klingt, ist ein komplexer Prozess mit vielen aufeinander abgestimmten Schritten. Dieser beginnt, wenn Licht vom betrachteten Gegenstand reflektiert wird. Es erreicht dann innert Sekundenbruchteilen das Auge, wird verarbeitet und schliesslich bis zum Hirn weitergeleitet. 1 Das Licht trifft auf die Hornhaut 6 Die Netzhaut (Retina) nimmt das (Cornea). Sie ist durchsichtig Licht schliesslich wahr. Das und von Tränenflüssigkeit benetzt. bedeutet, Fotorezeptoren wandeln Dank dieser Voraussetzungen die Lichtinformationen in elek kann sie das Licht brechen, wel- trische Impulse um, die vom Ge- ches dann gebündelt seinen hirn verarbeitet werden können. Weg durch das Auge fortsetzt. Die Stäbchen und Zapfen auf der Netzhaut sorgen beispielsweise 2 Ins Innere des Auges gelangt dafür, dass wir Farben wahr das Licht durch die Pupille. Auch nehmen und bei verschiedenen sie ist durchsichtig, wirkt jedoch Lichtverhältnissen sehen können. schwarz, da die dahinterliegende Netzhaut das Licht komplett 7 Im Zentrum der Netzhaut befindet absorbiert. Die Grösse der Pupille sich der gelbe Fleck (Makula) 8 passt sich je nach Helligkeit so mit einem Durchmesser von etwa an, dass mehr oder weniger Licht sechs Millimetern. In ihrem Zent- auf die Netzhaut fällt. rum liegt der nochmals sehr viel kleinere Bereich des schärfs- 3 Von den Pigmentzellen in der Iris ten Sehens, die Sehgrube (Fovea hängt die Augenfarbe ab: Ein centralis). Fotografisch gespro- hoher Pigmentanteil färbt die Iris chen ist hier die Auflösung braun, ein geringer blau. Die am höchsten: Bei Tageslicht ist Irismuskulatur verändert zudem der Gegenstand der Betrachtung die Pupillengrösse. am schärfsten sichtbar, wenn er sich im Zentrum unserer Blick- 4 Hinter der Pupille liegt die Linse. richtung befindet, weil das Sie ist ebenfalls durchsichtig Licht im Auge direkt auf die Seh- und bricht das einfallende Licht grube fällt. erneut. Je nachdem, ob sich der betrachtete Gegenstand nah 8 D er Sehnerv (Nervus opticus) oder fern befindet, verformt leitet die elektrischen Signale, die sich die Linse durch die An- oder von der Netzhaut kommen, an Entspannung eines Muskels. das Sehzentrum in der Grosshirn- So trägt die Linse dazu bei, dass rinde weiter. Erst dort werden ein scharfes Bild entstehen kann. sie als Bilder interpretiert. 5 Das Weisse, das wir beim Betrachten eines Auges sehen, ist die Lederhaut (Sclera). Sie schützt den Augapfel und ist gemeinsam mit dem Augen- druck verantwortlich für die Form des Auges. Mit dem Licht- einfall hat sie nicht direkt zu tun. Dort, wo das Licht vom Auge aufgenommen wird, ist eine Lücke in der Lederhaut: die Hornhaut. UNI NOVA 134 / 2019 19
Dossier Wissen sammeln über Augenkrankheiten. In Basel werden verschiedene Augenkrankheiten auf der Suche nach möglichen Behandlungen erforscht. Botond Roska konzentriert sich dabei auf die Netzhaut und mögliche Gentherapien. N ur gerade einmal eineinhalb Millimeter misst zwang ihn jedoch, das Musik- gegen ein Medizinstu- Text: das Grübchen, das sich bei uns allen hinten dium zu tauschen. In Berkeley und Harvard wandte Martin Hicklin in der Netzhaut – der Retina – inmitten des er sich dann der Neurobiologie und besonders der sogenannten gelben Flecks (Macula lutea) befindet. Retina zu. Zahlreiche Auszeichnungen, wie im Früh- 150 000 farbempfindliche Zäpfchen pro Quadratmil- jahr 2019 der Louis-Jeantet-Preis für Medizin, belegen limeter drängeln sich in dieser Fovea centralis – und seinen Ruf als führender Retina-Forscher. Mit Hend- das, was sie registrieren, wird umgerechnet, aufbe- rik Scholl, Direktor des Klinischen Zentrums am IOB, reitet und in Signalen über den optischen Nerv ins hat Roska einen kongenialen Partner und Freund. Gehirn geleitet. Es ist der Ort des scharfen Sehens. Ist Es sieht ganz so aus, als habe sich den beiden und er beschädigt, ist Schluss mit einigen Alltagstätigkei- ihren Mitstreitenden eben das Tor zu einer neuen ten wie zum Beispiel Lesen – keine Brille hilft mehr. Ära der Ophthalmologie weit geöffnet. Der Fort- «Diese eineinhalb Millimeter beschäftigen das schritt scheint gerade Riesensätze zu machen. 2018 halbe Grosshirn», sagt Botond Roska, Direktor des ist es zum ersten Mal gelungen, die gespendete Re- Molekularen Zentrums am Institut für Molekulare tina eines Verstorbenen einen ganzen Tag in «un- und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB), und un- glaublich gutem Zustand» zu erhalten. Mit feinen terstreicht damit, wie faszinierend das Wunderwerk Elektroden war es möglich, dem elektrischen Geflüs- Retina funktioniert. Zu verstehen, was da genau ge- ter der Zellen zuzuhören – eine Wende. Inzwischen schieht, ist seine Mission. Das Ziel ist es, Erblinden versteht man es, Teile einer Retina bis zu 14 Wochen zu verhindern und Betroffenen das Augenlicht zu- funktionsfähig zu halten und gar eine Netzhaut mit rückzugeben. eingeschleusten Genen «optogenetisch» wieder licht- Roska, 1969 in Ungarn geboren, hatte die Retina empfindlich zu machen. «Es funktioniert bemerkens- in doppeltem Sinn schon im Auge, als er 2005 von wert gut», freut sich Roska. Harvard nach Basel ans Friedrich-Miescher-Institut Der Zugriff auf lebensfähige Netzhaut erlaubte kam. Seitdem erforscht er mit seiner Gruppe die es nun auch, die rund 100 verschiedenen Zellarten, dünne Auskleidung des Auges. So konnte er etwa die da zusammenwirken, einzeln auf Gene zu unter- zeigen, dass die Retina wie ein Biocomputer funktio- suchen und festzuhalten, welches davon abgelesen niert, dass Zellen ihre Rollen wechseln können und wird und den Bau von Eiweissen steuert. Diese soge- wie komplex die Schaltkreise aufgebaut sind. nannte «Einzelzelltranskriptomik», von erheblichem rechnerischem Aufwand begleitet, liefert neue Ein- Neue Ära in Sicht? blicke in die Entwicklung und Funktion des «Bildpro- Hätte sich Roska nicht die Hand verletzt, wäre er zessors» Retina und erlaubt es, Gendefekte zu lokali- vielleicht als Cellist berühmt geworden. Ein Unfall sieren und zu kartieren. 20 UNI NOVA 134 / 2019
Dossier Ersatz von defekten Genen über nachgedacht, wie man bei einem totalen Ausfall Geradezu ins Schwärmen kommt Roska, wenn er des optischen Nervs in einer Zwischenstation zum von den neu erlangten Fähigkeiten erzählt, Netzhaut Grosshirn Zellen lichtempfindlich machen könnte, künstlich zu züchten und an solchen «Organoiden» um dann Sehinformationen durch die Schädeldecke Versuche anzustellen. Heute kann man Stammzellen statt über das Auge ins Grosshirn zu bringen. Denk- dazu bringen, sich in Netzhaut zu differenzieren. Als bar wäre es nun auch, Infrarot-Sehen zu vermitteln. Ausgangsmaterial dienen Hautzellen, die dazu ge- «Meine Forschung konzentriert sich zu 70 Pro- bracht werden, sich wieder in pluripotente Stamm- zent auf Grundlagen und ist zu 30 Prozent klinisch zellen zurückzuverwandeln. Diese wiederum wach- orientiert», rechnet der Forscher vor. Er fügt hinzu, sen in geeignetem Milieu zu Netzhaut-Organoiden dass seine Arbeit immer mögliche Anwendungen heran. Jetzt lässt sich sogar die Netzhaut eines be- als Ziel hat und wie diese als Nutzen für Patientin- stimmten Patienten im Labor nachzüchten, mit allen nen und Patienten umgesetzt werden können. Viel- Defekten und Besonderheiten – eine perfekte Voraus- leicht lassen sich mit wachsenden Erkenntnissen setzung für personalisierte Medizin. Neu lassen sich auch Behandlungswege für weit verbreitete Erkran- jetzt auch Wirkstoffe mit Hochdurchsatz-Techniken kungen wie die altersbedingte Makuladegeneration an beliebig vielen Organoiden testen. finden. Will man ererbte Sehkrankheiten wie zum Bei- spiel die Retinitis pigmentosa behandeln, so ist dies am ehesten durch Ersatz der defekten Gene zu errei- chen. Dazu braucht es Genfähren oder Vektoren, die einen funktionsfähigen Ersatz in die erloschenen Zellen bringen können. Die besten Kandidaten sind «Adenoviren-assoziierte Viren» oder AAVs. Sie ver- mehren sich nur in Anwesenheit von Adenoviren, machen nicht krank und lösen auch kaum eine Im- munabwehr aus. «Mit AAVs haben wir schon gearbei- tet, als noch niemand gross davon sprach», sagt Roska. Heute sind die Vektoren stark gefragt. Gerade eben wurde unter führender Beteiligung des IOB eine Bibliothek von 230 AAVs publiziert, die für ver- schiedene Zellen passen und allenfalls auch für eine Gentherapie eingesetzt werden könnten. Mit dem Basler ETH-Departement D-BSSE wurde eine Me- thode entwickelt, die Viren an magnetische Nano partikel befestigt und sie so effizienter an den ge- wünschten Ort bringt. Für die Stargardt-Krankheit, bei der nur ein einzelner Buchstabe in der geneti- schen Information ausgetauscht ist, wird ein genauer «redaktioneller» Eingriff geplant. Die rund 100 verschiedenen Zellarten in der Netzhaut lassen sich einzeln auf Gene untersuchen. Sehen durch die Schädeldecke Ein seit Dezember 2018 laufender klinischer Versuch mit GenSight Biologics in Paris verwendet einen AAV-Vektor aus Roskas Labor für die optogenetische Behandlung von fortgeschrittener Retinitis pigmentosa. Das Ziel ist es, den Patientinnen und Patienten wie- der etwas von der verlorenen Lichtempfindlichkeit zurückzugeben und die Netzhaut genetisch aufzu- rüsten. Die Behandelten tragen eine Brille, die das Licht verstärkt. «In meiner Gruppe arbeiten 30 Leute. Da gibt es Tausende von Ideen», stellt Roska fest. So werde dar- UNI NOVA 134 / 2019 21
Dossier 22 UNI NOVA 134 / 2019
Dossier Neue Netzhaut aus einer Hautprobe. Um bestimmte Augenkrankheiten zu verstehen, bauen Forschende die menschliche Netzhaut im Labor nach. Dafür stellen sie sogenannte Organoide mit körpereigenen Zellen aus Haut und Blut her. Text: Christoph Dieffenbacher D as Spezialgebiet der jungen Öster- sich zwischen den Nervenzellen Synap- reicherin Magdalena Renner sind sen befinden. In Organoiden wie in der sogenannte Organoide. Das sind menschlichen Retina sind die Fotorezep- Kleinstorgane aus wenigen Zellen, die in toren in der obersten Zellkörperschicht. einer Kultur mittels umprogrammierter Die Fotorezeptoren beim Menschen neh- Stammzellen künstlich erzeugt werden men jeweils die einfallenden Lichtsignale und heranwachsen. Für ihr Doktorat in auf und leiten sie als Impulse ans Gehirn Wien hatte die Molekularbiologin mit weiter. Magdalena Renner beschäftigt sich als Gruppen Gehirnorganoiden gearbeitet, aus weni- Eine solche komplexe Struktur macht leiterin am Institut für Molekulare gen Zellen kleinste Gehirne nachgebaut die Netzhaut, lateinisch Retina («Netz»), und Klinische Ophthalmologie und ihre Entwicklung beobachtet. denn auch besonders sensibel – die meis- (IOB) mit sogenannten Orga Heute leitet sie am Institut für Mole- ten Augenkrankheiten nehmen hier ih- noiden der Netzhaut. Zuvor hatte kulare und Klinische Ophthalmologie in ren Anfang. Zu den häufigsten Krankhei- die promovierte Molekular biologin einfache Gehirne Basel (IOB) eine Gruppe, die sich mit Or- ten, von denen ein Teil vererbbar ist, ge- nachgebaut. ganoiden der Netzhaut beschäftigt. Ziel hören etwa die altersbedingte Makulade- ihrer Arbeiten zwischen Grundlagenfor- generation, die diabetische Retinopathie, schung und angewandter Forschung ist Gefässverschlüsse und die Netzhautablö- es, verschiedene Augenkrankheiten bes- sung. Die grosse Anfälligkeit der Netz- ser zu verstehen. Ihrem Team ist es be- haut illustriert Renner an einem Beispiel: reits gelungen, relativ hoch organisierte «Bereits wenn ein einziges Gen in den Formen der menschlichen Netzhaut im Fotorezeptoren nicht funktionsfähig ist, Labor heranwachsen zu lassen. kann jemand erblinden.» Falls sich nun die Entwicklung der Netzhaut und die Kompliziertes Nervengewebe möglichen Genmutationen bei bestimm- Nun ist die Netzhaut, eine Art mehrlagige ten Krankheiten im Labor modellieren Tapete an der Innenseite des Auges, alles liessen, wäre das ein wichtiger Schritt in andere als ein einfaches Organ, sondern Richtung neue Therapien – davon sind ein äusserst komplexes Gewebe: «Hier viele Forschende überzeugt. finden sich zahlreiche Zelltypen mit un- «Unsere Organoide der Netzhaut glei- terschiedlichen Funktionen, die erst noch chen dreidimensionalen Miniorganen, in fünf verschiedenen Schichten angeord- die fast so aussehen und ähnlich aufge- net sind», erklärt Renner. Genauer gesagt baut sind wie die Originale», erläutert die sind es drei Schichten mit Zellkörpern Forscherin in ihrem Labor. Nur etwa zwei und zwei Zwischenschichten, in denen mal zwei Millimeter messen die Kleinst- UNI NOVA 134 / 2019 23
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