MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt

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MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
mmm.verdi.de
                                                                            E 2814
                                                                       Jahrgang 72

                     MENSCHEN
                     MACHEN                        Bundesfachgruppe Medien
                     MEDIEN                        Gewählt und neu aufgestellt

                                                   Springer-Umbau
Medienpolitisches ver.di-Magazin März 2023 Nr. 1   In Zukunft „Digital only“

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                                         Konstruktiver Journalismus
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
INHALT

IM FOKUS: KONSTRUKTIVER JOURNALISMUS                                     MEDIEN UND RECHT                 BERUF

                                                                         4    WAS SIND TEXTE, FOTOS       24   EXPLOSIONSWELLE
                                                                              UND VIDEOS EIGENTLICH            IN ZEITLUPE
                                                                              WERT?                            ChatGPT: Demokratisie-
                                                                                                               rung oder Fehlleitung der
                                                                                                               Massen?
                                                                         MEINUNG

                                                                                                          MEDIENWIRTSCHAFT
                                               Fotos: Kay Herschelmann   5    RECHT AUF GLEICHEN
35. Journalismustag zu
                                                                              LOHN MUSS BRINGSCHULD
Konstruktivem Journalismus
                                                                              SEIN                        25   BALD BEI SPRINGER
                                                                                                               „DIGITAL ONLY“
6    GUTER JOURNALISMUS             13   DIE MACHT DER SPRACHE                                                 Umbau der Redaktionen
     IST KONSTRUKTIV                     Wie eine tendenziöse            VER.DI UNTERWEGS                      und Verschiebung von
     Von Bärbel Röben                    Wortwahl die Leser*innen                                              Personal und Kosten
                                         beeinflusst
9    BUCHTIPP:                                                           18   MEDIEN, JOURNALISMUS        27   AUFRÄUMEN IM EILTEMPO
     KONSTRUKTIV ÜBER               13   UMGANG MIT GEWALT                    UND FILM                         Stellenabbau und Pro-
     KRIEGE BERICHTEN                    Angriffe auf Journalist*in-          NEU AUFGESTELLT                  grammkürzungen im RBB
                                         nen erneut gestiegen                 Für eine freie Presse
9    FILMTIPP:                                                                und einen zukunftsfesten
     PROPAGANDASCHLACHT             14   TRAU DICH                            öffentlich-rechtlichen      TARIFE UND HONORARE
     UM DIE UKRAINE                      ZU VERHANDELN!                       Rundfunk
                                         Konstruktiv mit finanziel-
10   KONSTRUKTIVES IM                    len Herausforderungen           20 MANFRED KLOIBER               28 GESETZ OHNE
     GOLDFISCHGLAS                       als Freiberufler umgehen           Nimmt gern das Ruder             RECHTS­FOLGEN
     Unterschiede aushalten                                                 in die Hand                      Journalistin muss wegen
     und Gemeinsamkeiten            15   QUALITÄT WICHTIGER                                                  der Klage gegen das ZDF
     benennen                            ALS DAS LABEL                   20 CARMEN SALAS                     nochmals vor das Arbeits-
                                         Diskussion mit Redakteur           Respekt vor der                  gericht
12   VERMEIDEN SIE                       von „Perspective Daily“            Verantwortung
     FAKTENDISKUSSIONEN!                 über die Prinzipien des                                          29   STREIKS BEIM ZDF
     Verschwörungsmythen                 Magazins                        21   PETER FREITAG                    Deutlich mehr Geld
     und Fake News kontern                                                    „Gesinnungskölner“ mit           gefordert
                                    16   JENSEITS BLOSSER                     Liebe zum Landleben
                                         PROBLEMSCHILDERUNG                                               30 AKTIVE GEWERKSCHAFTER
                                         Bereits bei den Themen          22   KREATIV SEIN,                  ABGESTRAFT
Foto Cover:                              einen konstruktiven Fokus            SICH EINMISCHEN                Warnstreiks bei den
Shutterstock/Patty Chan [M]              setzen                               Jugend des neuen Fach-         Yorck-Kinos in Berlin und
                                                                              bereiches geht mit vielen      bei UCI bundesweit
                                                                              Vorhaben in die nächsten
                                                                              vier Jahre
                              AKTUELLER PODCAST:                                                          INTERNATIONAL
                              KONSTRUKTIV BERICHTEN                      23   KONSTRUKTIV UND
                                                                              SELBSTBEWUSST
                                                                              Frauen wählten eigenen      31   AKTION FÜR FLORIANE
                              Alle M-Podcast unter                            Vorstand und fassten             IRANGABIYE, BURUNDI
                              https://mmm.verdi.de/podcast/                   konkrete Beschlüsse         31   IMPRESSUM

2 M 1.2023
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
Das Recht von Frauen auf gleichen Lohn
wie für Männer muss eine Bringschuld
sein, fordert Tina Groll, Vorsitzende des
Bundesvorstandes der dju in ver.di (S. 5).
Gegen Lohndiskriminierung wehrt sich
seit Jahren Birte Meier mit einer Klage
gegen das ZDF (S. 28/29).

                                                                                                                             Karikatur: Thomas Plaßmann

                                             Chancenreich
                                             und lösungsorientiert
                                                Er geistert schon länger durch die Debattenwelt der Medienschaffenden, der „Konstruktive Jour­
                                                nalismus“. Zunehmende Kritik an dem, was zum Lesen, Hören und Sehen über Politik und Gesell­
                                                schaft angeboten wird, befeuert die Diskussion: zu viel Negatives, Einseitiges, Oberflächliches, Ver­
                       rschelmann
           Foto: Kay He                    lautbartes, … letztlich Depressives. Rezipienten verweigern sich und schalten ab. Somit war das Thema
                                         des 35. Journalismustages von ver.di Anfang März brandaktuell. Konstruktiven Journalismus als „Ein­
                                         ladung“ zu verstehen, „neu über Journalismus nachzudenken“, wie es Keynote-Speakerin Sham Jaff for­
                                         mulierte, wurde 200fach angenommen. Positiv besetztes Vokabular prägte die vielfältigen Diskussions­
                                         formate: chancenreich, lösungsorientiert, verlässlich, gesprächsbereit, gemeinschaftlich, analytisch ….
                                         Das erkennbare Ziel: ein besserer Journalismus durch Konstruktivität. Zum Nachlesen für die Teilneh­
                                         mer*innen und für alle, die nicht dabei sein konnten, gibt M in seiner aktuellen Ausgabe die Tagung
                                         nahezu dokumentarisch wieder (S. 6–17). Ergänzend lohnt es, den M Medienpodcast im Gespräch mit
                                         Sham Jaff auf mmm.verdi.de anzuhören.

                                         Die Delegierten der Medienschaffenden in ver.di haben ihren neuen Bundesfachgruppenvorstand und den
                                         Bundesvorstand der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) gewählt. Die Arbeitspakete
                                         der Gremien sind auch für die nächsten vier Jahre prall gefüllt. Dazu gehört eine gewerkschaftlich gestal­
                                         tete Medienpolitik, die dazu beiträgt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zukunftsfest zu machen, auch
                                         indem Transparenz, Mitbestimmung und Gremienarbeit gestärkt werden. Weitere Stichpunkte sind
                                         Tarifpolitik, Redaktionsumbauten mit Stellenabbau, Pressefreiheit, Schutz von Journalist*innen, das
                                         Urheberrecht für Feste und Freie (S. 18/19). Konkret heißt es bereits bald bei Springer: „Digital only“
                                         (S. 25/26) oder bei Gruner+Jahr: „Massive Einschnitte“ (ein Beitrag auf M Online und in der aktuellen
                                         Publik) sowie beim RBB: „Stellenabbau und Programmkürzungen“ (S. 27).

                                         Kurz porträtiert hat M den Vorsitzenden der Bundesfachgruppe „Medien Journalismus und Film“,
                                         Manfred Kloiber, und seine zwei Stellvertreter*innen Carmen Salas und Peter Freitag (S. 20/21). Weitere
                                         Mitglieder des Vorstandes sollen in den nächsten M-Ausgaben vorgestellt werden.

                                         Karin Wenk, verantwortliche Redakteurin

                                                                                                                                          1.2023 M 3
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MEDIEN UND RECHT

                                 Was sind Texte, Fotos und
                                 Videos eigentlich wert?
                                 W
                                                 elche Vergütung für ein Werk ist an­        darf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des
                                                  gemessen und wie hoch ist sie, wenn        Einzelfalls, unter anderem Dauer, Häufigkeit, Aus­
                                                  das Urheberrecht verletzt wurde?           maß und Zeitpunkt der Nutzung. Gegenüber einer
                                                   Das Urheberrechtsgesetz (UrhG)            einmaligen rechtfertigt eine langjährige oder wieder­
                                                   soll das Einkommen von Kreativen          holte Verwendung somit eine höhere Vergütung.
                                 sichern, indem es verhindert, dass Werke wie Texte,
                                 Fotos oder Videos ohne Erlaubnis verwendet werden.          Gibt es eine Vergütung, die in der jeweiligen Branche
                                 Denn bei geistigen Leistungen ist die Gefahr groß, dass     üblicherweise gezahlt wird, ist dies zwar nicht ver­
                                 sich andere einfach an ihnen bedienen und die Ur­           bindlich, kann aber als Ausgangspunkt für die Ver­
                                 heber*innen leer ausgehen. Aber selbst wenn eine            gütung im Einzelfall dienen. An dieser Stelle können
                                 Erlaubnis erteilt wurde, ein Werk zu nutzen, muss die       beispielsweise die Bildhonorare der Mittelstands­
                                 Vergütung „angemessen“ sein. Ist dies nicht der Fall,       gemeinschaft Foto-Marketing (MFM) herangezogen
                                 können Urheber*innen verlangen, dass der Vertrag            werden. Sie zählen zwar nicht zu den gemeinsamen
                                 dahingehend geändert wird, dass sie eine angemessene        Vergütungsregeln, weil sie von den Urheber*innen
                                 Vergütung erhalten, selbst wenn im Vertrag etwas an­        einseitig vorgelegt werden. Dennoch bieten sie eine
                                 deres vereinbart wurde.                                     Orientierung, eine Vergütung nach den MFM-Emp­
                                                                                             fehlungen ist in vielen Fällen insoweit auch ange­
                                                                                             messen.

                                                                                             Vergütung muss angemessen sein

                                  §
                                                                                             Die Gerichte schauen bei der Ermittlung einer ange­
                                                                                             messenen Vergütung aber auch darauf, welche Preise
                                                                                             von Urheber*innen selbst durchgesetzt werden. Wer
              Jasper Prigge                                                                  also als Fotograf wegen Urheberrechtsverletzung eine
       ist Rechtsanwalt für                                                                  Vergütung verlangt, kann sich nicht darauf verlassen,
 Urheber- und Medienrecht                                                                    dass er am Ende auch die Sätze der MFM erhält. Vor
              in Düsseldorf                                                                  allem, wenn er seine Leistungen sonst zu deutlich
        Foto: Kay Herschelmann
                                                                                             günstigeren Konditionen am Markt anbietet, z.B. in
                                                                                             Stockfoto-Archiven, muss er gegebenenfalls Abschläge
                                                                                             hinnehmen. Kann dauerhafte Nutzung für weniger als
                                                                                             hundert Euro bei einer Agentur lizenziert werden,
     Die Gerichte schauen bei der Ermittlung einer                                           würden sich vernünftige Nutzer*innen wohl kaum da­
                                                                                             rauf einlassen, wenn nach den MFM-Empfehlungen
angemessenen Vergütung aber auch darauf, welche Preise                                       nach einigen Jahren mehrere Tausend Euro fällig wer­
von Urheber*innen selbst durchgesetzt werden.                                                den.

                                                                                             Die „angemessene Vergütung“ ist also nicht schema­
                                 Die Frage ist nur: Das Gesetz nennt hier eine Rang­         tisch zu berechnen, sondern immer auch abhängig von
                                 folge. Immer angemessen sind gemeinsame Ver­                der Person der Urheberin oder dem Urheber. Wer gute
                                 gütungsregeln, wie es sie beispielsweise für freie          Preise am Markt durchsetzen und entsprechende
                                 hauptberufliche Journalist*innen gibt, die für Tages­       Rechnungen vorlegen kann, wird bei einer Urheber­
                                 zeitungen arbeiten. Sie werden von den Gewerkschaf­         rechtsverletzung auch eine entsprechende Lizenz­
                                 ten ausgehandelt und sind ein guter Grund, sich auch        gebühr verlangen können.­
                                 dann gewerkschaftlich zu organisieren, wenn man
                                 nicht fest in einer Redaktion angestellt ist.               Übrigens: Auch wenn nach dem Urheberrechtsgesetz
                                                                                             verpflichtend eine angemessene Vergütung zu zahlen
                                 Gibt es keine gemeinsame Vergütungsregel, kommt es          ist, können Urheber*innen ihre Werke auch kosten­
                                 darauf an, „was im Geschäftsverkehr nach Art und            frei lizenzieren, etwa für gemeinnützige Organisatio­
                                 Umfang der eingeräumten Nutzungsmöglichkeit, [...]          nen oder im Sinne von Creative Commons. Gesetzlich
                                 üblicher- und redlicherweise zu leisten ist“ (§ 32 Abs. 2   ist dies aber nur in Bezug auf einfache Nutzungsrechte
                                 Satz 2 UrhG). Es ist dann zu ermitteln, worauf sich         möglich. Ansonsten gilt der Grundsatz: Exklusiv­
                                 vernünftige Vertragspartner geeinigt hätten. Dazu be­       rechte nur gegen Vergütung.          Jasper Prigge ‹‹

4 M 1.2023
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
MEINUNG

Recht auf gleichen Lohn
muss Bringschuld sein
D
               as Bundesarbeitsgericht hat mit einem      Doch nun hat das Bundesarbeitsgericht mit einem
               Paukenschlag das Recht von Frauen          richtungsweisenden Urteil den Anspruch von Frauen
                auf gleichen Lohn wie für männliche       auf gleiche Bezahlung gestärkt. Demnach müssen Ar­
                Kollegen gestärkt – ein Gesetz wäre       beitgeber, wenn sie höheren Lohnforderungen von
                aber noch besser als ein Urteil.          Mitarbeitern nachgeben, diesen Lohnzuwachs auch
                                                          den gleich qualifizierten Mitarbeiterinnen zugestehen
Kürzlich war es wieder so weit: Einen Tag vor dem         (Az: 8 AZR 450/21). Zwar ging es im konkreten Fall
Internationalen Frauentag am 8. März wurde in             um eine Vertriebsmitarbeiterin bei einem Metall­
Deutschland am 7. März der Equal Pay Day gefeiert.        unternehmen – übertragbar ist das Urteil dennoch auf
Gefeiert ist dabei das falsche Wort, denn der Tag mar­    andere Branchen, denn die höchsten Arbeitsrichterin­
kiert ja bekanntlich die Lohnlücke zwischen den Ge­       nen und -richter entschieden, dass ein angeblich bes­
schlechtern und damit die Zeit seit Jahresbeginn, in      seres Verhandlungsgeschick eines Mitarbeiters keine
der Frauen quasi unbezahlt arbeiten, vergleicht man       Diskriminierung einer anderen Mitarbeiterin bedeu­
ihre Einkommen in Vollzeitjobs mit den Einkommen          ten dürfe.
der Männer. Es hat allerdings schon einige Verbesse­
rungen gegeben: Vor einigen Jahren noch fiel der          Verhandlungsgeschick ist daher kein Argument mehr,
Equal Pay Day auf einen Tag Ende März. Der Gender         um Frauen schlechter zu vergüten als Männer – das
Pay Gap ist kleiner geworden und betrug im vergan­        gilt für Festangestellte wie für Freie. Das Urteil ist
genen Jahr 18 Prozent.                                    richtig und wichtig. Aber es braucht noch mehr: ein
                                                          Gesetz für gleichen Lohn zum Beispiel. Die bisherigen
Frauen bekamen mit durchschnittlich 20,05 Euro ei­        gesetzlichen Grundlagen sind keineswegs ausreichend.
nen um 4,31 Euro geringeren Bruttostundenverdienst        Das Entgelttransparenzgesetz etwa, das vor einigen                Foto: Stephanie von Becker
als Männer mit 24,36 Euro. Jedoch taugt der Vergleich     Jahren eingeführt wurde, gilt nur für große Unterneh­
                                                                                                                    Tina Groll, Redakteurin bei
des sogenannten unbereinigten Gender Pay Gaps nicht       men mit mehr als 200 Beschäftigten und gibt den Mit­
                                                                                                                    Zeit Online und Vorsitzende
so viel – weil Frauen bekanntlich seltener in Füh­        arbeitenden auch nur einen Auskunftsanspruch, so­
                                                                                                                    des Bundesvorstandes der
rungspositionen und häufiger in strukturell schlecht      fern es eine größere Anzahl an Kolleginnen und Kol­
                                                                                                                    Deutschen Journalistinnen-
bezahlten Berufen arbeiten. Und wenn man sich die         legen mit vergleichbarer Tätigkeit gibt. Es ist un­
                                                                                                                    und Journalisten-Union (dju)
Monatslöhne von Männern und Frauen ansieht, dann          brauchbar für die meisten Redaktionen.
                                                                                                                    in ver.di
ist der Gender Pay Gap aufgrund der überwiegenden
Teilzeitarbeit von Frauen noch viel höher. Das Ganze      Besser mit Tariflöhnen
setzt sich fort mit dem Gender Wealth Gap – Frauen
haben weniger Vermögen als Männer, dem Gender             Gäbe es ein Gesetz für gleichen Lohn, wären Arbeit­
Pension Gap – Frauen bekommen die niedrigere Rente        geber zudem in der Bringschuld – sie müssten dann
und sind häufiger von Altersarmut betroffen. Und          erklären, warum eine Mitarbeiterin weniger Geld be­
nicht zu vergessen der Gender Care Gap – Männer           kommen soll als ein Mitarbeiter mit dem gleichen Job.
verrichten quasi nur in homöopathischen Dosen un­         Was es aber außerdem braucht, ist eine stärkere Tarif­
bezahlte Sorge- und Hausarbeit.                           bindung: Denn da wo Tariflöhne bezahlt werden, kommt
                                                          es viel seltener zu Lohndiskriminierung. Tarife schüt­
Das ist auch im Journalismus nicht anders. Frauen feh­    zen Beschäftigte außerdem davor, dass ihr vermeint­
len an der Spitze der Redaktionen, arbeiten häufiger      liches Verhandlungsgeschick maßgeblich für den Er­
Teilzeit und sind auch im Jahr 2023 häufiger in den       folg in der Gehaltsverhandlung ist. Gut untersucht ist,
vermeintlich “weichen” Ressorts und Medien zu fin­        dass Frauen sich in der Regel schlechtere Verhand­
den. Und sie haben aus all diesen Gründen auch die        lungskompetenzen zuschreiben, ihren Marktwert ge­
geringeren Löhne. Im Journalismus kommt noch              ringer einschätzen als Männer und ihnen zudem hohe
hinzu: Frauen arbeiten häufiger als freie Journalistin    Forderungen eher negativ ausgelegt werden – in der
– und haben, auch weil die Honorare für Freie oft         Regel aufgrund unbewusster tradierter Rollenmuster.
nicht üppig sind, ein geringeres Einkommen. Das Ar­
beitsverhältnis als Freie war auch im Fall der Kollegin   Gewerkschaften sollten sich daher neben der Tarif­
und Investigativjournalistin Birte Meier, die seit Jah­   arbeit auch für ein Recht auf gleiche Bezahlung stark
ren einen aufsehenerregenden Prozess für Lohngleich­      machen und Frauen noch stärker empowern. Damit
heit gegen das ZDF führt, immer wieder Argument           wir den Equal Pay Day mit Silvester feiern oder ganz
der Arbeitgeberseite, nicht den gleichen Lohn zahlen      abschaffen können.                     Tina Groll ‹‹
zu müssen.

                                                                                                                                       1.2023 M 5
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
IM FOKUS

                                 „Konstruktiver Journalismus ist guter Journalismus, nichts anderes!“ So Key-
                                 note-Sprecherin Sham Jaff auf dem 35. ver.di-Journalismustag am 4. März in
                                 Berlin, der danach fragte, wie wir „mit Constructive News durch die Krise“
                                 kommen. Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Klimanotstand – angesichts ge­
                                 ballter schlechter Nachrichten schalten viele Rezipient*innen ab und Medien
                                 setzen große Hoffnungen in konstruktiven Journalismus.
                                 Die Konzepte sind facettenreich.

                                 Guter Journalismus
                                 ist konstruktiv
                                 Von Bärbel Röben

               S
                                 eit 2014 schreibt Sham Jaff, freie Journalistin in Ber­     „Gesellschaften brauchen Journalist*innen, um ver­
                                  lin, den Newsletter „what happened last week“ mit          lässliche Informationen und den Bezugsrahmen für
                                  Nachrichten aus dem globalen Süden. Außerdem               eine gemeinsame Realität zu schaffen“, sagte sie und
                                   moderiert, redigiert und produziert sie zahlreiche        betonte die große Verantwortung, die damit verbun­
                                   Podcasts. Für „190220 – Ein Jahr nach Hanau“              den ist – besonders in Krisenzeiten. Viele Menschen
                                                                                             meiden die schlechten Nachrichten, weil sie sich da­
                                                                                             mit „schlecht fühlen“. „Wir können nicht dafür sor­
                                                                                             gen, dass der Krieg in der Ukraine aufhört oder dass
                                                                                             die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei in den
                                                                                             nächsten 15 Minuten alles bekommen, was sie brau­
                                                                                             chen. Aber eine Lösung liegt darin, wie wir weiterhin
                                                                                             Nachrichten produzieren“, so Jaff.

                                                                                             Der konstruktive Journalismus solle da „als Einladung
                                                                                             verstanden werden, neu über Journalismus nachzu­
                                                                                             denken, über die veränderten Situationen und wie wir
                                                                                             darauf reagieren könnten“. Wir hätten die Verantwor­
                                                                                             tung, Menschen so zu informieren, dass sie nicht „ihre
                                                                                             mentale Gesundheit gefährden oder gar ihre Zeit ver­
                                                                                             schwenden.“ „Wir sind ja jeden Tag in der luxuriösen
                                                                                             Situation, völlig frei zu entscheiden, über welches
                                                                                             Thema wir berichten“ und „ob wir Konflikte verschär­
                                                                                             fen oder Menschen ins Gespräch bringen“. Wir könn­
                                                                                             ten über die Katastrophen dieser Welt berichten und
                                                                                             gleichzeitig den Blick für Lösungen weiten, sagte Sham
                                                                                             Jaff und fuhr fort: „Wir können unsere Perspektive für
Sham Jaff (freie Journalistin,   wurde sie 2021 mit dem Grimme Online Award aus­             die sogenannte normale halten oder Vielfalt wertschät­
Bonn Institute) hielt beim       gezeichnet. Auf dem Journalismustag erläuterte Jaff,        zen und neugierig suchen.“ Das gelte sowohl für Me­
Journalismustag „Bye bye         welche Chancen konstruktiver Journalismus für Me­           dienprodukte als auch für die wenig diversen Redak­
bad news – mit Constructive      dienschaffende bietet. Gleichzeitig distanzierte sie sich   tionen. Konstruktiver Journalismus biete das Hand­
Journalism durch die Krise?“     von der „unnötigen Debatte“ über „Labels“ wie Wohl­         werkszeug, „zukunftsorientierte Debattenformate“ zu
die Keynote                      fühljournalismus mit „nur guten Nachrichten“ oder           entwickeln, etwa Talkshows mit mehr Vielfalt, die
                                 „Schönfärberei“ und räumte mit Aktivismusvorwür­            unterschied­liche Stimmen präsentieren und dadurch
                                 fen auf.                                                    zu mehr Erkenntnisgewinn beitragen.

6 M 1.2023
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
KONSTRUKTIVER JOURNALISMUS

                                                                                                                             Fotos: Kay Herschelmann
Impressionen vom 35. Journalismustag: zugehört, kommentiert, gefragt, diskutiert

Wenn man Betroffenen zuhöre und ihre Forderungen          Beim konstruktiven Journalismus gehe es nicht da­
an die Politik in den Vordergrund stelle, sei das nicht   rum, Lösungen „zu verkaufen“, sondern sie zur Dis­
aktivistisch, sondern diene der Suche nach Lösungen,      kussion zu stellen. Journalismus dürfe sich nicht von
die genauso kritisch analysiert werden wie Probleme.      Clickbaiting verleiten lassen, sondern müsse als vierte
Für ihren „Hanau“-Podcast habe sie mit den Familien       Gewalt Missstände aufdecken und dann „etwas bewir­
der Ermordeten gesprochen und eine Beziehung zu ih­       ken, aber dabei kann man was besser
nen aufgebaut, die auf Vertrauen und Empathie ba­         machen“. Das sei auch ihr Motiv ge­
siert, erzählte sie. Die Betroffenen dürften sich nicht   wesen, Journalistin zu werden. Wir
viktimisiert oder ausgenutzt fühlen. Den Kontakt halte    müssten uns unserer Verantwortung
sie seit 2021 und verfolge, wie es den Menschen geht      bewusst sein, Lösungsansätze recher­
und was aus ihren Forderungen an die Politik wird.        chieren, „den Menschen Handlungs­
Ihr sei es dabei wichtig, die Betroffenenperspektive      optionen zeigen und ihnen ein Gefühl
auf eine strukturelle Ebene zu heben und zu zeigen,       der Selbstwirksamkeit geben“. Viel­
wie sich die Hanau-Berichterstattung einreiht in den      leicht kämen sie dann auf neue Ideen
Umgang mit Rechtsextremismus und Gewalt. Die Ge­          und „wir können dem furchtbaren
schichte möchte sie auch Menschen, die nicht von          Trend der Nachrichtenvermeidung
Rassismus betroffen sind, nahbar machen.                  entgegenwirken!“

Globale Zusammenhänge aufzeigen                           Sham Jaff gehört zum Kuratorium des
                                                          Bonn Institute für Journalismus und
Lösungsorientierter Journalismus zeige auf, was noch      konstruktiven Dialog, das 2022 in
nicht funktioniert und wie es funktionieren könnte,       der deutschen Ex-Hauptstadt ge­
indem er in andere Länder, auf andere Kulturen blickt     gründet wurde – von einer Allianz
und globale Zusammenhänge aufzeigt. So frage sie,         aus Deutscher Welle, Rheinischer
was an den europäischen Grenzen schiefläuft, warum        Post Mediengruppe, RTL Deutsch­
dort so viele Geflüchtete sterben und was Deutschland     land und dem dänischen Constructive
damit zu tun hat? Warum ist die Arbeitslosigkeit in       Institute an der Universität Aarhus. „Gerade in Kri­      Tagesmoderatorin
anderen Ländern niedriger und warum werden deren          senzeiten sehen wir, wie wichtig es ist, dass Redakti­    Mirjam Kid (freie Journalistin,
Lösungen hier nicht umgesetzt?“ Auf ihren News­           onen ihr Publikum mit den Problemen nicht allein las­     DLF) während einer Pause im
letter „what happened last week“ angesprochen, be­        sen und den Menschen einen echten Mehrwert durch          Gespräch
kräftigte sie, dass es „absolut“ wichtig sei, den euro­   faktenbasierten und konstruktiven Journalismus bie­
zentristischen Blick auf Länder in Asien, Afrika und      ten“, sagte Ellen Heinrichs, Geschäftsführerin des In­
Zentralamerika aufzubrechen, und damit Stereotype         stituts (Buchrezension S. 9). Im Leitbild wird dieser
abzubauen.                                                definiert als „lösungsorientierter, perspektivenreicher

                                                                                                                                       1.2023 M 7
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
IM FOKUS

und dialogorientierter. Damit Menschen ihm ver­
trauen und gute Entscheidungen für ihr Leben treffen
können.“

Das Institut wendet sich an verschiedene Zielgruppen
und lässt Medienprofis zu Wort kommen, die ihre Er­
fahrungen teilen. Eine von ihnen ist die mehrfach aus­
gezeichnete Journalistin, Filmemacherin und Autorin
Ronja von Wurmb-Seibel, die über den „Sonderfall
Kriegsberichterstattung“ schreibt. Sie war Politik-Re­
dakteurin bei der „Zeit“, bevor sie ab 2013 zwei Jahre                                     Fotos: Kay Herschelmann
lang als Reporterin aus Kabul berichtete. Auf dem
Journalismustag sagte sie im Gespräch mit Manfred
Kloiber und Tagungsteilnehmenden: „Konstruktiver         nen“, schwieriger sei es etwa beim innenpolitischen
Journalismus ist bei jedem einzelnen Thema möglich!“     Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Da hätten die
Während ihrer Zeit in Afghanistan habe sie viel Leid     meisten nicht gelernt, wie sie sich einbringen und wie
und Armut erlebt: „Ich wollte diesen ganzen Horror       sie etwas fordern können“, so von Wurmb-Seibel.
                         nicht so weitergeben, sondern   Das hänge damit zusammen, dass politische Probleme          Manfred Kloiber führte das
                         schauen, wo gibt es einen       in der Berichterstattung oft zum Dauerthema werden          Interview mit Ronja von
                         Hoffnungsschimmer, Pers­        und Lösungsperspektiven fehlen. Es gebe einen               Wurmb-Seibel (Foto oben),
                         pektiven, wie man es besser     Schlagabtausch zwischen den streitenden Parteien und        die dafür in den Journalis-
                         machen kann und bin damit       Bewältigungsstrategien würden als „nicht machbar“           mustag zugeschaltet wurde
                         sehr gut gefahren“, erklärte    oder „alternativlos“ präsentiert. Medien könnten in
                         sie. Bei Recherchen für ihren   dem Fall – etwa mit Verweis auf andere Länder –
                         Dokumentarfilm über einen       Druck auf Politiker*innen und andere Führungsper­
                         Terroranschlag in Kabul sei     sonen ausüben. So sei konstruktiver Journalismus
                         sie auf Studien zur gesund­     nicht nur gut für die mentale Gesundheit der Men­
                         heitsschädlichen Wirkung        schen, sondern verbessere auch die demokratische
                         von negativen Informationen     Kontrollfunktion der Medien als vierte Gewalt.
gestoßen und wollte zeigen, wie Medien Geschichten
so erzählen können, dass sie Mut machen. Das thema­      Wenn es um die Gewichtung von Themen geht, galt
tisiere sie in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen. Was   bisher „Only bad news are good news“. Das bedeutet,
negative Nachrichten mit unserem Denken machen           nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten,
und wie wir uns davon befreien“.                         weil sie mehr Aufmerksamkeit bei den Rezipient*in­
                                                         nen bekommen. Evolutionsbiologisch bedingt schätz­
Nach der Formel „Scheiße plus X“                         ten Menschen negative Informationen als relevanter
                                                         ein, erklärte von Wurmb-Seibel. So achteten sie eher
Wenn Menschen angesichts der vielen Krisen im In­        auf den Tiger, der auf der Wiese steht, als auf die
ternet exzessiv negative Nachrichten konsumieren,        Schafsherde auf der anderen Seite. Da Menschen in           Christoph Schmitz, Mitglied
mache sie – besonders das Doomscrolling im Internet      Deutschland und Europa heute nur noch selten solche         im ver.di Bundesvorstand,
– mental krank und führe zu Gefühlen von Ohnmacht        lebensbedrohlichen Gefahren erlebten, stehe uns die­        eröffnete den 35. Journalis-
und Hilflosigkeit. Sie wollten sich informieren, merk­   ses Reaktionsmuster „heute sehr oft im Weg“. Bei der        mustag
ten aber, dass der Nachrichtenkonsum „ihr ganzes Le­     Gewichtung von Themen solle man immer reflektie­
ben sprengt“ und vermieden ihn. Das wirke sich auf       ren, „ist das jetzt so ein Tiger-Moment und kann ich
die ganze Gesellschaft auf, „wenn so viele Menschen      da noch mal gegensteuern“.
keine Nachrichten mehr konsumieren, nicht mehr
wählen gehen oder sich sozial engagieren“. Diesen        Wie das geht, brachte sie auf die kernige Formel
Trend könne konstruktiver Journalismus umkehren.         „Scheiße plus X“ – das bedeutet, „dass wir bei jedem
                                                         Problem, ob beruflich, journalistisch oder privat, nach
Nach psychologischen Forschungserkenntnissen             dem „X“ suchen“, das Handlungsoptionen aufzeigt.
könnten „wir eigentlich sehr gut mit Krisen umge­        Wenn Rezipient*innen das nicht bekommen, sollten
hen“, die „allermeisten Menschen halten zusammen,        sie andere Medienangebote wählen oder seltener
werden solidarisch, wachsen über sich hinaus und         Nachrichten konsumieren, denn „Ohnmachtsgefühle
werden erfinderisch“, so von Wurmb-Seibel. Das ein­      durchlöchern zu häufig unseren Alltag“ und verfes­
zige, „was wir nicht so gut können“, sei der Umgang      tigten sich dann. Wenn Medien in Krisenzeiten auch          Tip – Aktuell:
mit Ohnmachtsgefühlen und Hilflosigkeit. Da sei es       über einzelne positive Beispiele berichten, führe das       „M Der Medienpodcast“
wichtig, in der Berichterstattung zu vermitteln, dass    nicht dazu, dass Menschen sich weniger ohnmächtig           mmm.verdi.de/podcast/
„wir immer noch Handlungsmöglichkeiten haben“.           fühlten, so von Wurmb-Seibel. Journalist*innen soll­        Sham Jaff im Gespräch mit M
                                                         ten das „X“ deshalb immer mitliefern – in jedem ein­        über die Notwendigkeit,
Bei Katastrophen wie Erdbeben, „wurde uns beige­         zelnen Beitrag!                     Bärbel Röben ‹‹        konstruktiv zu berichten
bracht, dass wir mit einer Spende etwas bewirken kön­

8 M 1.2023
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
KONSTRUKTIVER JOURNALISMUS

                              Konstruktiv über Kriege berichten

                                   S
                                                eit dem russischen Angriff auf die Uk-       warnungen, während andere möchten, dass die Gräuel
                                                raine ist die Zahl der Nachrichtenver-       zur Abschreckung möglichst konkret gezeigt werden.
                                                meider*innen in Deutschland sprung-
                                                haft auf über ein Drittel des Publikums      In einem zweiten Schritt wurden Medienschaffende von
Buchtipp

                                                gestiegen – vor allem wegen der psy-         ARD bis „Zeit“ befragt – unter ihnen feste und freie Jour-
                              chischen Belastung durch den Medienkonsum. In der              nalist*innen, die entweder in deutschen Redaktionen
                              ansprechend gestalteten Publikation des Bonn Institute         arbeiten oder als Reporterinnen und Reporter prakti-
                              für konstruktiven Journalismus werden die Hintergründe         sche Erfahrung in der Krisen- und Kriegsberichterstat-
                              dieser „News Avoidance“ analysiert und Medienschaf-            tung haben. Die meisten halten eine stärker auf Pers-
                              fende erhalten Praxis-Tipps, wie sie Menschen so über          pektivenvielfalt und Lösungsorientierung ausgerichtete
                                          den Krieg informieren können, dass diese           Kriegsberichterstattung für möglich, doch sehen Prob-
                                          sich nicht hilflos fühlen.                         leme bei der praktischen Umsetzung. Sie nennen den
                                                                                             ständigen Zeitdruck, hierarchisch geprägte Redaktions-
                                          Ellen Heinrichs, Gründerin und Geschäfts-          kulturen oder ein tradiertes journalistisches Selbst­
                                          führerin des Bonn Institutes, hat zusammen         verständnis vom „neutralen Beobachter“. Wenn sie
                                          mit Katja Ehrenberg, Pauline Tillmann und          lösungsorientiert berichten, werde ihnen Aktivismus vor-
                                          Chiara Swenson in einer qualitativen Studie        geworfen oder: es sei „zynisch“, konstruktiv über das
                                          erforscht, wie konstruktive Ansätze im Jour-       Thema Krieg zu schreiben. Andere halten dagegen, es
                                          nalismus „einer unangemessen negativen             sei „konstruktiv“, über erfolgreiche Friedensdiplomatie,
                                          Weltsicht und Nachrichtenvermeidung“ ent-          historische Vergleichsfälle und ziviles Engagement zu
                                          gegenwirken können. Sie führten zwischen           berichten.
                                          Mai und Juli 2022 Leitfaden-Interviews mit
                                          16 Mediennutzenden und 12 Journalist*­             Führungskräfte der Medienhäuser müssten mehr Raum
                                          innen.                                             und Zeit bereitstellen, um alte Berichterstattungsmus-
                                                                                             ter zu reflektieren und in konstruktive Ansätze zu verän-
                              Die Rezipient*innen wählten sie möglichst divers nach          dern, sind sich die meisten Befragten einig. Dafür brau-
 Ellen Heinrichs u.a.:        Alter, Geschlecht, Region sowie Lebensumständen aus            che man mehr Fortbildungsangebote und Vernetzung.
 Zwischen Wunsch und          und bezogen auch Menschen mit ein, die selbst Krieg            Dass es bereits zahlreiche Good-Practice-Beispiele für
 Wirklichkeit.                und Flucht erlebt haben. Die meisten Befragten wün-            eine konstruktive Berichterstattung gibt, die den Infor-
 Konstruktiver Journalismus   schen sich außer Berichten über das Kriegsgeschehen            mationsbedürfnissen der Mediennutzenden gerecht
 in Kriegszeiten.             auch mehr Mut machende, persönliche Geschichten –              wird, zeigen die Autorinnen im Anhang mit kommentier-
 Studie des Bonn Institute    etwa von Menschen, die sich für den Frieden einsetzen          ten Beiträgen aus Print, Audio, Video und Multimedia.
 www.bonn-institute.org       – und ungefilterte Einsichten in die Lebensrealität der        Sie sind allerdings nicht alle barrierefrei im Internet ab-
 Dezember 2022, 70 Seiten     Betroffenen. Wichtig sind den Mediennutzenden vor al-          rufbar.
                              lem vielfältige Perspektiven und konstruktive Lösungen:
 Kostenloser Download:        „Wie können wir diesen Krieg am schnellsten beenden?“          Die Studie ist gut lesbar, übersichtlich in neun Abschnitte
 https://kurzelinks.de/       Außerdem solle ausreichend Kontext und Hintergrund-            gegliedert, locker gestaltet mit Grafiken, Bildern, einem
 bonn-inst-kj                 information vermittelt werden, etwa durch weiterfüh-           Quellen- und Abbildungsnachweis sowie Informationen
                              rende Links. Alle wünschen sich eine leicht verständliche      zu den Autorinnen. Sie bietet eine gute Einführung in
                              Sprache. Zur Verwendung von Kriegsbildern gibt es un-          den konstruktiven Journalismus – am Beispiel eines
                              terschiedliche Meinungen. Einige befürworten Trigger-          brandaktuellen Themas!                  Bärbel Röben ‹‹
Filmtipp

                                                                                             ker*innen, die von der Front berichten, stoßen auf rus-
                                                                                             sische Trollarmeen, die auf Instagram posten. Diese
                                                                                             Propagandaschlacht wird in der WDR-ARTE-Dokumen-
                                                                                             tation mit viel Video- und Informationsmaterial aus dem
                                                                                             Netz analysiert – anschaulich und erkenntnisreich, doch
                                                                                             trotz der bunten Bilder inhaltlich etwas schwarz-weiß.
                                                                                                                                              br ‹‹

                                                     Bild: WDR/berlin producers Media GmbH   https://mmm.verdi.de/aktuelle-meldungen/filmtipp-
                                                                                             propagandaschlacht-um-die-ukraine-86951
                              Der Krieg um die Ukraine wird nicht nur militärisch mit
                              Panzern, sondern auch medial mit Propaganda geführt.           Verfügbar in den Mediatheken von ARTE, ARD sowie
                              Er ist der erste, der in Echtzeit in den Medien ausgetra-      den YouTube-Channels von DW Documentaries, z. Bsp:
                              gen wird – vor allem im Internet. Ukrainische WarTo-           https://kurzelinks.de/ard-prop-ua

                                                                                                                                           1.2023 M 9
MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Chancenreich: Konstruktiver Journalismus - Bundesfachgruppe Medien Gewählt und neu aufgestellt
IM FOKUS

Fishbowl im ver.di Atrium mit
Moderatorin Tina Fritsche
(links), Kommunikations­
expertin und Gewerkschafts-
sekretärin „Medien, Journa-
lismus und Film“ bei ver.di
Hamburg

                                                                                                                             Fotos: Kay Herschelmann

                                Konstruktives
                                im Goldfischglas
                                Unterschiede aushalten und Gemeinsamkeiten benennen

                                    Z
                                                ur Auflockerung mal stehen: Die Fish­     was da zum Weitererzählen zurückgekommen ist.“
                                                bowl-Diskussion „Stärken der Debat­       Mit Instagram beispielsweise seien junge Menschen
                                                 tenkultur durch konstruktiven Jour­      konstruktiv zu erreichen.
                                                 nalismus“ lud zum offenen Debat­
                                                 tierkreis ins ver.di Atrium ein. Ins     Menschen zusammenbringen
                                        „Goldfischglas“ der „Fishbowl“ mit Laura
                                                                                          und Offenheit schaffen
                                        Goudkamp, Hanna Israel und Tina Fritsche
                                        auf der Bühne durfte jeder springen, der Fra­     Elisabeth Knetsch, angehende Journalistin, sprang als
                                        gen oder Meinungen zum Thema beisteuern           erste aus dem Publikum ins „Goldfischglas“. Sie be­
                                        wollte.                                           schäftigt die Notwendigkeit, gesellschaftliche Prob­
                                                                                          leme zu lösen und Verständigung zwischen Menschen
                                         Hanna Israels Plattform „My Country Talks“       herzustellen. Wie können sich Menschen austauschen,
                                         hat weltweit bereits eine viertel Million Men­   die das sonst nicht tun. Ist Journalismus dazu bereit?
                                         schen zu Vier-Augen-Gesprächen zusammen­         Kanäle dafür, meint Laura Gouldkamp, „müssen
                                         gebracht mit der Absicht, Unterschiede aus­      divers sein.“ Freie Presse sollte immer mit anderen
                                         zuhalten und Gemeinsamkeiten zu benennen,        Medienpartnern arbeiten. Um Offenheit zu schaffen,
                                         zu fragen, „was vereint und nicht nur, was       so Hanna Israel, sollte eine fragende und nicht eine
                                         trennt“. Das Bedürfnis, sich auszutauschen       endgültig fordernde Haltung eingenommen und Stim­
Hanna Israel, Projektleiterin            sei riesig, wie tausende Bewerbungen zeigten.    men zu unterschiedlichen Perspektiven wiedergege­
von „My Country Talks“          Nach einem Fragebogen werden Gesprächspaare „ge­          ben werden.
bei Zeit Online                 matcht“ – Jung, Alt, Frau, Mann, Divers mit unter­
                                schiedlichen Biografien, Erfahrungen, Positionen.         Felix Huesmann vom Redaktionsnetzwerk Deutsch­
Diese internationale                                                                      land zeigte sich besorgt, wie in Projekten ein Bild ent­
Plattform bringt weltweit       Laura Gouldkamp, die sich seit vier Jahren mit kon­       steht. Sind Meinungen gleich viel wert? Wie war bei­
Menschen zu kontroversen        struktivem Journalismus beschäftigt und die digitale      spielsweise mit wissenschaftsfeindlichen Ansichten in
Vieraugengesprächen zu-         Transformation beim Bayrischen Rundfunk begleitet,        der Corona-Zeit umzugehen? Gibt es rote Linien?
sammen. Zuvor arbeitete         sucht für ihre Formate immer neue Ideen. Gezielt sei      Alle, die sich bei ihrer Plattform anmeldeten, konsta­
Israel als Redakteurin bei      sie auf die Korrespondenten von 30 ARD-Studios            tiert Israel, würden überprüft, wer sich menschenver­
Anne Will. Sie gründete         weltweit zugegangen mit der Frage, welche guten Bei­      achtend zeige, könne kein Gespräch führen. Natür­
das Online Magazin „InPer-      spiele und Lösungsansätze es neben den „harten Fak­       lich gäbe es Graubereiche, aber „wir wollen Menschen
spective“.                      ten“ – die oft als negative Beispiele das Denken beein­   zusammenbringen.“ Und natürlich könne man bei­
                                flussen – aus den Ländern gäbe. „Ich war überrascht,      spielsweise über die Angst vor Impfungen sprechen.

10 M 1.2023
KONSTRUKTIVER JOURNALISMUS

Philipp Neumaier, Journalismusstudent, fragte, wie             Sarra Chaouch-Simsek, Lernende an der deutschen
mit Opferschutz und Traumareaktionen umgegangen                Journalistenschule, fragte, wenn konstruktiver Jour­
werde. Und wie die Meinung zu Influencern sei, die             nalismus in sozialen Medien stattfinde – wie es dann
ohne journalistische Ausbildung Fehler machten? Das            in den öffentlich-rechtlichen Medien sei. Ja, meint
Screening für ihre Gesprächsplattform soll sichern,            Gouldkamp, auch im Fernsehen müsse das geschafft
dass es nicht zu solchen Reaktionen kommt, berichtet           werden. Positive Effekte zeigten sich beispielweise im
Israel. Bisher seien das Einzelfälle. Rückmeldungen            Weltspiegel. Redaktionen müssten Perspektivenviel­
wären in der Regel positiv. Wobei auch ein Gespräch            falt in der Strategie festschreiben und Strukturen än­
abgebrochen werde, wenn es sich als Zeitverschwen­             dern. Noch seien Führungsetagen weiß und männlich
dung erweise. Dass Influencer Erfahrungen nicht fil­           geprägt. Zudem sei Aufklärung nötig, findet Israel.
tern, sondern zusammenwerfen, sei nicht zu verhin­             Viele Journalistinnen und Journalisten wüssten noch
dern. Wichtig sei, so Gouldkamp, dass Qualitätsme­             nicht, was konstruktiver Journalismus ist.
dien präsent sind. „Wir können moderieren und jour­
nalistisch einordnen. Über Social Media machen wir
auch einen guten Job.“                                                                                                    Laura Goudkamp, Reporterin
                                                                                                                          und Digitalexpertin beim
Gefährlich: Schnelle Automatismen                                                                                         Bayrischen Rundfunk

und niedrige Toleranzschwellen
                                                                                                                          Sie entwickelt u.a. Formate
Negative Nachrichten beeinflussen das Denken. Wie,                                                                        für junge Zielgruppen.
so eine Frage der Moderatorin Fritsche, wirkt konst­                                                                      Sammelte über Weltspiegel
ruktiver Journalismus? Sie persönlich könne etwas                                                                         Digital und den gemeinsam
verändern, meint Gouldkamp. „Ich kann gute Bei­                                                                           aufgebauten Kanal@Welt-
spiele suchen, bin offen für Hinweise und sehe, dass                                                                      spiegel erste Erfahrungen
viel zurückkommt.“ So käme man weg von Ohn­                                                                               mit konstruktivem Journa­
machtsgefühlen. Gefährlich seien, so Israel, schnelle                                                                     lismus.
Automatismen und niedrige Toleranzschwellen. Lö­
sungsorientierung zu finden, sei wichtig. „Ohnmacht
ist für niemanden förderlich.“                                 Noch mal nach Beispielen für konstruktiven Journa­
                                                               lismus befragt, verwies Gouldkamp auf amerikanische
Noelia Sanchez-Barón, Redakteurin für den „Stern“,             Plattform „Jubilee“, wo Formate in vielen Nuancen
interessierte, wie die Verbindungen zu Instagram, Tik          zusammenkommen und „Menschen willkommen“
Tok und anderen sozialen Medien aufgebaut seien. Es            sind. Israel sieht Chancen, sich aus unterschiedlichen
gäbe beispielsweise ARD Accounts, erklärt Gould­               Perspektiven anzunähern. Ganz verschiedene Men­
kamp, die von den Sendern mit wöchentlich wechseln­            schen in Interviews zusammenzubringen, sich dabei
den Chefs vom Dienst betreut würden. Aber insgesamt            auch höchst kritischen Fragen zu widmen und be­
gäbe es zu derartigen Verbindungen noch manches zu             dachtsam damit umzugehen, brächte „unfassbare
besprechen.                                                    Expertise“.                     Bettina Erdmann ‹‹

                                                                                                                                                 Anzeige

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IM FOKUS

                                                                                                               rung. Auf keinen Fall sollten Verschwö­
                                                                                                               rungserzählungen und ihre Details wie­
                                                                                                               derholt werden, weil sie sich so festsetz­
                                                                                                               ten. Und: „Interessieren Sie sich für die
                                                                                                               sozialen Bedürfnisse und Gefühle Ihres
                                                                                                               Gesprächspartners.“

                                                                                                               Im Gespräch mit Verschwörungsgläubi­
                                                                                                               gen sollten zunächst immer Ziel – will ich
                                                                                                               Dritte schützen oder mich selbst? –,
                                                                                                               Funktion und Setting definiert werden.
                                                                                                               Meilickes Appell hier: „Vermeiden Sie
                                                                                                               Faktendiskussionen und Debunking! Das
                                                                                                               bringt nichts, weil das Gegenüber das als
                                                                                                               Angriff auf die eigene Person wahr­
                                                                                                               nimmt.“ Er riet zu konkreten Fragen und
                                                                                     Fotos: Kay Herschelmann   klaren Grenzen. „Setzen Sie Grenzen in
                                                                                                               Ich-Botschaften! Nicht: Du bist blöd“,
Tobias Meilicke (li.) von der Beratungsstelle „veritas“
                                                                                                               sondern „Da kommen wir inhaltlich nicht
                                                                                                               zusammen. Das überfordert mich gerade.

Vermeiden Sie
                                                                                                               Bleiben Sie immer auf Augenhöhe und
                                                                                                               verzichten Sie auf Beleidigungen!“ Die
                                                                                                               Gespräche sollten nicht auf der Sach­

Faktendiskussionen!
                                                                                                               ebene, sondern emotionsbasiert geführt
                                                                                                               werden. Etwa bei Corona: „Ich höre ge­
                                                                                                               rade ganz schön viel Angst heraus.“ Sinn
                                                                                                               mache es, gemeinsame Themen zu finden,
                                                                                                               zum Beispiel über Fotos oder Hobbies.
Verschwörungsmythen und Fake News kontern
                                                                                                               Von den Medien wünschte er sich hin und

W
                ie umgehen mit Verschwö­                  schwörungsgläubigen, sei das schon pas­              wieder einen Perspektivwechsel. So soll­
                 rungsgläubigen? Erfah­                   siert. Die Verschwörungsideologen profi­             ten auch Journalist*innen mitdenken, was
                 rungen aus dem Alltag                    tierten davon und nutzen das für den ei­             mit Verschwörungsgläubigen passiere,
                  seiner Beratungsstelle                  genen Aufstieg aus.                                  wenn sich etwa Angehörige abwendeten.
                  veritas teilte Mitgründer
Tobias Meilicke mit einem großen Kreis                    Im Umgang mit der ersten Gruppe geht                 Zugleich warnt Meilicke: Das Stresslevel
Interessierter im Workshop „Konstruk­                     es laut Meilicke vor allem darum, gut zu­            von Verschwörungsgläubigen sei perma­
tiv kontern: Verschwörungsmythen und                      zuhören und Fakten zu hinterfragen, gern             nent erhöht, daraus folgten gesteigerte
Fake News entlarven und entgegnen“. Die                   mit Faktenchecks. Hilfreich sei eine ge­             Aggressionen. Journalist*innen riet er
vom Land Berlin geförderte Anlaufstelle                   meinsame Liste zu seriösen Quellen. Das              dazu, auf sich selbst zu achten. Er verglei­
(www.veritas-berlin.de) hat seit Mai 2021                 könnte auch die Scham des Gegenübers                 che das gern mit der Ansage im Flugzeug:
über 1.000 Anfragen erhalten, wobei                       senken, auf unseriöse Quellen hereinge­              Wenn der Druck abfalle, zuerst sich selbst
90 Prozent aus dem familiären Umfeld                      fallen zu sein. Meilicke warnte vor zu vie­          die Sauerstoffmaske aufsetzen und dann
kamen.                                                    len, letztlich schwächer werdenden Argu­             dem Nachbarn. Bei Recherchen im Mi­
                                                          menten. Es reichten drei gute. Und er riet           lieu könnten „Tut-mir-gut!“-Listen am
„Einsteiger“ erhofften sich, dass ihnen                   von Statistiken ab: „Bringen Sie emotio­             Kühlschrank helfen. Und der Austausch
Verschwörungserzählungen helfen wür­                      nale Geschichten!“, so die veritas-Erfah­            mit Kollegen: „Lass es raus!“
den, persönliche Krisen zu überwinden.                                                                                                   Grace Pönitz ‹‹
Meist träfe es Menschen mit einem gerin­
gen Selbstwertgefühl, auch Angst und              Fünf Workshops fanden zeitgleich in verschiedenen Räumen statt
Ohnmachtsgefühle spielten hier hinein.
Das „Zuwendungsmotiv“ sei in den meis­
ten Fällen Langeweile, das „Bindungsmo­
tiv“ Geborgenheit und Halt, Identität und
Anerkennung.

Meilicke unterschied drei Gruppen: Da
seien zum einen die Verschwörungsinte­
ressierten, die diese Erzählungen noch
nicht in ihr Welt- und Selbstbild integriert
hätten. Bei der zweiten Gruppe, den Ver­

12 M 1.2023
KONSTRUKTIVER JOURNALISMUS

Die Macht der Sprache                                                                          „Massenzustrom“ oder „Flüchtlings­
                                                                                               welle“ untermauert. Solche Metaphern,
                                                                                               die die Ankunft von Menschen in die
                                                                                               Nähe einer Naturkatastrophe rücken,
Wie eine tendenziöse Wortwahl die Leser*innen beeinflusst                                      hätten das Bild einer Gesellschaft impli­
                                                                                               ziert, die einem Phänomen ohnmächtig

    E
                 igentlich sollte es für jede   abgebildeten, mehrheitlich dunkelhaari­        und machtlos ausgeliefert ist, so Bax. Er
                  Journalistin, für jeden       gen Männer abzielen. Bax deckte auf, dass      stellte fest, dass heute anders, weitaus
                  Journalisten eine Selbst­     das Foto im Rahmen einer Preisverleihung       nüchterner darüber gesprochen werde.
                   verständlichkeit sein: Im    entstand, bei der die Männer im Rahmen         Die Sprache im politischen Raum komme
                   Hinblick auf die Reakti­     einer Essener Initiative für ihr soziales      nicht drum herum, Phänomene zu benen­
onen unserer Rezipient*innen geht es            Engagement ausgezeichnet wurden. „Die          nen, ohne sie zu dramatisieren oder zu
nicht nur darum, über was wir berichten.        Wahl der Bildunterschrift prägt, wie man       verharmlosen. Ein „richtig“ oder „falsch“
Ganz entscheidend ist auch ein Bewusst­         ein Foto sieht“, so Bax. Je nachdem, welchen   gebe es nicht, so Bax. Er selbst würde je­
sein dafür, wie wir berichten, also welche      Aspekt man hervorhebt, werden Vorstel­         doch einen Begriff wie „Flüchtlingskrise“
Worte wir wählen. In diesem Sinne führte        lungen oder Wertungen erzeugt, werde           stets in Anführungszeichen setzen – an­
Daniel Bax in seinem Workshop „Sieh´s           die Wahrnehmung in eine eher positive          ders als es beispielsweise 2015 bei der „Ta­
doch mal anders! Wie wir Klischees und          oder eher negative Richtung gelenkt.           gesschau“ der Fall war.
gängige Narrative durchbrechen können“
ein engagiertes Plädoyer dafür, mit Spra­                                                      Anhand von vielen weiteren Beispielen
che sensibel umzugehen. Bax hat lange für                                                      wie „Dönermorde“, „Hassprediger“,
die „taz“ gearbeitet, ist heute am Deut­                                                       „Integrationsverweigerer“ oder „Parallel­
schen Zentrum für Integrations- und Mi­                                                        gesellschaft“ wird im weiteren Verlauf
grationsforschung tätig und engagiert sich                                                     deutlich, wie wichtig es ist, sich als Jour­
bei den „Neuen deutschen Medienma­                                                             nalist*in immer wieder über die eigene
cher*innen“. Im Workshop demonst­                                                              Wortwahl und ihre mögliche Wirkung
rierte er, wie eine tendenziöse Wortwahl                                                       Gedanken zu machen. Um zu vermeiden,
Leser*innen gezielt oder unbeabsichtigt                                                        dass man Rechtspopulisten in die Falle
beeinflusst.                                                                                   geht, sei es nützlich, sich mit Leuten zu
                                                                                               unterhalten, die einen „anderen“ Blick
Er machte dies zunächst an einem Foto                                                          haben. So ließen sich andere Narrative in
deutlich, das mehrere junge Männer ab­                                                         die eigene Wahrnehmung integrieren.
                                                Daniel Bax, u.a. engagiert bei den
bildet. Auf Bax Frage, welche Bildunter­                                                       Bax verwies schließlich auf das NdM-
                                                „Neuen deutsche Medien­macher*­­innen“
schrift dazu passen würde, bot das Audi­                                                       Glossar. Das „Wörterverzeichnis der
torium eine Fülle von Vorschlägen an, die                                                      Neuen deutschen Medienmacher*innen
Bax noch um einige ergänzte: Im Angebot         Genauso funktioniere es bei den Über­          mit Formulierungshilfen, Erläuterungen
waren unter anderem „Ausländer“, „Tür­          schriften. Bax erläuterte dies am Thema        und alternativen Begriffen für die Bericht­
ken und Araber“, „Muslimische Jugend­           der Migration, für das es viele Metaphern      erstattung in der Einwanderungsgesell­
liche“, Geduldete Asylbewerber“, „Ge­           gebe. 2015 habe eine angstbesetzte Kon­        schaft“ könne bei der Suche nach den
flüchtete“, „Streetgang“ oder „Migrati­         notation im Vordergrund gestanden. Die         richtigen Worten Unterstützung leisten.
onshintergrund“ – allesamt Labels, die          sogenannte „Flüchtlingskrise“ wurde mit        https://neuemedienmacher.de
einseitig auf die vermutete Herkunft der        Schlagworten wie „Flüchtlingsstrom“,                           Ute Christina Bauer ‹‹

Umgang mit Gewalt                                                                              Eine kurze Abfrage unter den Teilneh­
                                                                                               menden des Workshops genügt, und
                                                                                               schon wird klar: Es betrifft alle. Nicht alle
                                                                                               anwesenden Journalist*innen machen die
Angriffe auf Journalist*innen erneut gestiegen                                                 gleichen Erfahrungen mit Hass im Netz,
                                                                                               Anfeindungen auf der Straße oder sogar

        J
                ournalist*innen und Me­         von einer hohen Dunkelziffer aus. Heike        Bedrohungen am Wohnort. Aber alle ken­
                dienschaffende sind in          Kleffner vom Verband der Beratungsstel­        nen das Gefühl der Unsicherheit.
                 ihrem Beruf besonderen         len für Betroffene rechter, rassistischer
                 Gefahren ausgesetzt. Im        und antisemitischer Gewalt e.V. erklärte       Insbesondere medienschaffende Frauen,
                  vergangenen Jahr ist die      in ihrem Workshop auf dem Journalis­           People of Color, Jüd*innen und LGBTIQ
Zahl der digitalen, verbalen und physi­         mustag, wie Medienschaffende sich vor          seien Anfeindungen ausgesetzt, betonte
schen Angriffe auf Journalistinnen und          Angriffen und Bedrohungen im Netz und          Kleffner. Aber auch Journalist*innen, die
Journalisten in Deutschland abermals ge­        auf der Straße schützen können und wo          zu bestimmten Themen berichten (z.B.
stiegen. Expert*innen gehen außerdem            es Unterstützung für Betroffene gibt.          Geflüchtete, Migration, AfD, Rechtspo­

                                                                                                                               1.2023 M 13
IM FOKUS

pulismus und Sexis-mus) sind von Hass­        ung oder eine Traumaambulanz der rich­
rede betroffen. Darüber hinaus macht es       tige Anlaufpunkt sein.
einen Unterschied, ob Journalist*innen
vorwiegend in Nachrichtenredaktionen          Auf der Website www.schutzkodex.de
arbeiten oder als Reporter*innen rausge­      finden Journalist*innen und andere Me­
hen. Dennoch betont Kleffer, dass Täter*­     dienschaffende zum Beispiel Unterstüt­
innen meist nicht die Individuen meinten,     zung, wenn sie Gewalt und Hetze erleben.
Angriffe gelten einem abstrakten Feind­       Sie erfahren dort auch, ob ihr Arbeit- oder
bild. Medienschaffende würden als Reprä­      Auftraggeber dem „Schutzkodex für             Heike Kleffner vom Verband der Beratungs­
sentant*innen einer verhassten Gruppe         Medienschaffende in Bedrohungslagen“          stellen für Betroffene rechter, rassistisch­er
wahrgenommen. Rechte und Populisten           beigetreten ist. Für betroffene Journa­       Gewalt e.V..
trügen mit dem Lügenpressenarrativ mas­       list*innen werden über die Website ge­
siv zu einer aggressiven Stimmung bei.        schützte Online-Stammtische angeboten,
                                              damit sie Erfahrungen austauschen kön­        Immer mehr Journalist*innen wollen
Viele Betroffene berichteten Kleffner zu­     nen. Auch staatliche und zivilgesellschaft­   auch ihren Eintrag beim Einwohnermel­
folge von psychischen Belastungen durch       liche Meldestellen (z.B. „Meldestelle ge­     deamt sperren lassen, weil sie bedroht
Hasskampagnen im Netz und von Angrif­         gen Hass im Netz“ oder „Keine Macht           werden. Das sei derzeit in vielen Bundes­
fen in der realen Welt. Kleffner riet, Be­    dem Hass“) bieten Unterstützung bei Be­       ländern jedoch nicht einfach, räumte
drohungen und Angriffe zu melden und          drohungen im Internet. Bei Onlinewa­          Kleffner ein. Doch die Sensibilität der Be­
sich Hilfe bei Arbeitgebern und im sozia­     chen der Polizei und Staatsanwaltschaften     hörden für mögliche Gefahren sei ge­
len Umfeld zu suchen. Je nach Situation       können Vorfälle zur Anzeige gebracht          wachsen und auch rechtlich wurde nach­
könne auch eine psychologische Betreu­        werden.                                       gebessert.           Julia Hoffmann ‹‹

Trau Dich zu verhandeln!
Konstruktiv mit finanziellen Herausforderungen als Freiberufler umgehen

    P
                ascale Müller recherchiert                                                  rungsmodalitäten für Journalismus als das
                 u.a. zur Arbeitsausbeu­                                                    klassische Verlegermodell würden ge­
                 tung für Print, TV und                                                     braucht.
                 Radio und erhielt für ihre
                  2018 bei bei BuzzFeed                                                     Trotzdem gibt es Wege, eine Mischung
und Correctiv publizierte Sozialreportage                                                   fürs freiberufliche Arbeiten zu finden.
zu sexualisierter Gewalt gegenüber Ern­                                                     Müller hält eine Checkliste bereit. Freie
tehelferinnen in Spanien, Marokko und                                                       sollten realistische Erwartungen an den
Italien den Nannen-Preis. Die freie Inves­                                                  Auftrag haben und Mehrfachverwendun­
tigativjournalistin lud zum Erfahrungs­                                                     gen absprechen. Nebenjobs seien in Er­
austausch. Wie können Freie die finan­                                                      wägung ziehen – die KSK akzeptiere auch
ziellen Herausforderungen ihrer Arbeit                                                      520-Euro-Jobs in anderen Metiers. Cor­
bewältigen?                                                                                 porate Jobs und Vernetzungen seien hilf­
                                              Pascale Müller, Investigativreporterin        reich. Und nicht zuletzt Verhandlungs­
Seit zehn Jahren ist Müller Freie und wird                                                  geschick. „Trau dich, zu verhandeln!“ Oft
oft gefragt, wie sie das macht. Angesichts                                                  sei bei Honoraren mehr drin. Es ist gut,
ihres errechneten Nettoeinkommens von         sche Medien – und hier vor allem Print –      dafür Infos – beispielsweise bei den
monatlich 1.145 Euro – die Armutsgrenze       schlecht bezahlen, geben Freie zusätzlich     Freischreibern unter www.wasjournalis-
liegt in Deutschland bei 1.251 Euro für Al­   Seminare, betreiben PR als zweites Stand­     tenverdienen.de – einzuholen. Eine
leinlebende – sei sie „stolz auf die Aus­     bein (was durchaus zu Interessenkonflik­      Schmerzgrenze sei zu ziehen, unter der
dauer, das durchzuhalten.“ Privat hat sie     ten führen kann), arbeiten in Projekten       man den Auftrag ablehnt. Dieses Selbst­
ihren Wohnort nach Brandenburg ver­           bis zu 80 Stunden in der Woche oder           wertgefühl ist wichtig, so Müller. „Sonst
legt, der niedrigeren Mieten und Kosten       gründen eigene kleine Unternehmen.            machen sie mit dir, was sie wollen.“
wegen.                                        Kurz: Sie betreiben weniger Journalismus,
                                              um zu überleben. Prekäres Einkommen           Bei größeren Recherchen – auch das be­
Freie Tätigkeit ist nicht einfach zu finan­   dränge nicht wenige aus dem Beruf. „Es        wegte im Workshop – sollte man eine
zieren. Davon berichtete auch die Runde       liegt nicht an euch“, ermutigt Müller, das    Kostenaufstellung vorlegen. Was wird
in lebhafter Diskussion. Da journalisti­      sei Marktversagen. Andere Finanzie­           gebraucht, um das Thema gut zu recher­

14 M 1.2023
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