Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
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Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V. – KZ-Gedenkstätte – Mitteilungen Heft 69 / November 2018 Jüdisches Leben in Deutschland heute Ausstellung und Ulmer Begleitprogramm Aktueller Antisemitismus 1938: Novemberpogrom in Ulm Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte · So, 18. November 2018 · 11 Uhr
Vorwort Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte für den Widerstand von 1933 bis 1945 und die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Sonntag, 18. November 2018, 11 Uhr Liebe Leserinnen und Leser, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte Gedenken – Lernen – Einmischen auch in Ulm die Synagoge. Die Ulmer Jüdinnen und Juden wurden einem bis heute unfassbaren Gewaltexzess aus- gesetzt. Zum 80. Jahrestag des Pogroms veröffentlichen Rede von Dr. Thomas Lutz das DZOK und das Stadtarchiv Ulm ein neues Buch mit (Stiftung Topographie des Terrors, Berlin) zahlreichen Dokumenten, Fotografien und Zeitzeugen- mit einem Blick auf aktuelle Perspektiven der berichten. Eine Zusammenfassung durch den Autor Ingo Gedenkstättenarbeit am historischen Ort Bergmann sowie ein Interview mit der Überlebenden Ann Dorzback finden Sie in diesem Heft. Herzliche Ein- Ab 12.30 Uhr: Führung durch die KZ-Gedenkstätte ladung aber auch zu Lesung und Buchpräsentation am 8. November im Stadthaus! Heute fürchten viele Mitglieder der neuen Ulmer jüdischen Gemeinde wieder einen erstarkenden Antisemitismus. Offen skandierter Hass, Verschwörungsmythen im Netz und gewaltsame Übergriffe, wie die Beschädigung der Ulmer Synagoge, zeugen von den aktuellen Bedrohungen. Wir fragen den neuen Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, Dr. Michael Blume, nach Inhalt den Gründen. Gastautor Martin Ulmer stellt Handlungs- möglichkeiten der Gedenkstätten vor. Vorwort 2 Ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung von Antise- Sonderausstellung: Jüdische Lebenswelten 3 mitismus ist es, Gelegenheiten zum Kennenlernen, zu Begegnung und Austausch zu schaffen. Deshalb hat das Interview mit Dr. Michael Blume, Antisemi DZOK gemeinsam mit der Stadt Ulm und der jüdischen tismusbeauftragter in Baden-Württemberg 5 Gemeinde die Ausstellung „Jüdische Lebenswelten in Deutschland heute“ nach Ulm geholt. Mehr zur Ausstel- Antisemitismus: Eine Herausforderung, lung und zum Begleitprogramm schreiben Annette Lein für die Gedenkstätten 7 und Mareike Wacha. Die Buchvorstellung von Christof Publikation: 1938 – Novemberpogrom in Ulm 8 Rieber über Albert Einstein rundet unser Schwerpunkt- thema ab. Ann Dorzback über die Folgen des Pogroms 9 Ein Highlight in der aktuellen Arbeit des DZOK war die bundesweite Fachtagung „Gedenkstätten an Orten früher Einstein. Biografie eines Nonkonformisten 10 Konzentrationslager“ vom 24.-26. September bei uns Bundesweite Fachtagung zu frühen KZ 11 im Haus und in Bad Urach. Sie bot ein Forum, sich über gemeinsame Herausforderungen in Forschung, Vermitt- Neue Guides stellen sich vor 12 lung und Denkmalschutz auszutauschen, gerade auch über Geplantes Erinnerungszeichen am Landgericht 13 die Frage, wie an ehemaligen Orten der Demokratiezerstö- rung heutige Demokratiebildung aussehen kann. Wichtige Stolperstein für Friedrich Röcker 14 Impulse für die Diskussion gab Gedenkstättenreferent Thomas Lutz von der Stiftung Topographie des Terrors. Er Neue Unterstützer der Stiftung Erinnerung 15 wird bei der kommenden Gedenkfeier am 18. November in Gedenktafel für Anna Essinger in England 17 der KZ-Gedenkstätte sprechen. Nicht zuletzt gibt es Neuigkeiten über ein starkes Erin- Rückblick 2018 18 nerungsprojekt in Ulm: Wir bringen Sie auf den aktuellen Stand der Planungen für ein Erinnerungszeichen für die Neues in Kürze 22 Ulmer Opfer der NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“, Neue Bücher 25 das im Herbst 2019 am Landgericht eingeweiht wird. Veröffentlichungen des DZOK 30 All diese Aktivitäten leben von Menschen, die sich ein- bringen und einsetzen. Es ist schön, dass einige von ihnen DZOK-Veranstaltungen Winter/Frühjahr 31 sich hier wieder mit Namen und Gesicht vorstellen. Förderer dieser Nummer 32 Es grüßt Sie Beitrittserklärung 32 Ihre Nicola Wenge Titelbild: Bei der Eröffnung der Sonderausstellung „Jüdische Lebenswelten in Deutschland heute“ wird das Ulmer Gemeindealbum der Öffentlichkeit präsentiert, 02.09.2018. Foto: Georg Wodarz 2
Sonderausstellung in Ulm Jüdische Lebenswelten in Deutschland heute Seit dem 2. September 2018 ist dargestellt – während für einige der die Sonderausstellung „Jüdische Porträtierten die Religion ein wesent- Lebenswelten in Deutschland licher Bestandteil ist, stellt das heute“ zu Gast in Ulm. Präsen- Judentum für andere vor allem durch tiert wird die Ausstellung in der kulturelle Aspekte oder Geschichtsbe- KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg, züge einen Teil ihrer Identität dar. Da dem Rathaus und der Synagoge. ist zum Beispiel die Regisseurin Yael Sie stellt junge Menschen und ihre Reuveny, die eine beeindruckende individuellen Lebensläufe vor und filmische Dokumentation über ihre zeigt damit, wie vielfältig jüdisches Familiengeschichte geschaffen hat. Leben in Deutschland heute ist. Aufgewachsen in Israel, lebt sie seit einigen Jahren in Berlin und setzt sich Annette Lein, Mareike Wacha mit der Shoah-Vergangenheit ihrer Familie auseinander. In „Schnee von gestern“ geht es um die Rekonstruk- In Kooperation mit der jüdischen tion ihrer Familiengeschichte und die Gemeinde und der Koordinierungs- Suche nach Verwandten. stelle Internationale Stadt zeigt das Die Shoah und ihre Bedeutung für die Dokumentationszentrum Oberer Kuh- nachfolgenden Generationen klingt berg die Sonderausstellung in Ulm. in der Ausstellung immer wieder an. Sie porträtiert dreizehn junge Men- Darüber hinaus werden viele weitere schen mit jüdischem Hintergrund Verknüpfungen jüdischer Identitäten Prof. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Doku- mentationszentrums München, hält den Eröff- und zeigt die vielseitigen Facetten mit der Gegenwart gezeigt. nungsvortrag am 02.09.2018 in der KZ-Gedenk- jüdischer Identitäten. Dass die Aus- stätte. Foto: A-DZOK stellung in der KZ-Gedenkstätte Die in der Ausstellung präsentierten gezeigt wird, war eine bewusste Menschen haben vor allem einen Entscheidung. Die Gedenkstätte Bezug zu Berlin. Die Sonderausstel- steht als historischer Ort für die Ver- lung bietet aber auch einen Anlass, Mit dabei sind z. B. Christine Grunert nichtung von Freiheit und Vielfalt zu das jüdische Leben in Ulm in den von der Internationalen Stadt, Rab- Beginn des Nationalsozialismus und Blick zu nehmen. Gemeinsam mit biner Trebnik, freie Projektmitarbeite- die Zerstörung heterogener Lebens- der jüdischen Gemeinde wurde als rinnen der Stadt Ulm, Menschen aus welten. Seit den 1980er Jahren Ergänzung der Ausstellung ein Album dem Umfeld der jüdischen Gemeinde gehört die Unterstützung von Ver- über das jüdische Gemeindeleben sowie aus dem DZOK. folgten und ihren Angehörigen, die erarbeitet. Dafür sichtete Rabbiner Erforschung jüdischer Geschichte Trebnik die umfangreiche Fotosamm- und die Aufarbeitung des Antisemi- lung der Gemeinde. Daraus hat das Zur Eröffnung tismus in der Region zu den Arbeits- Ausstellungsteam eine Auswahl Aus Anlass des jährlich stattfindenden schwerpunkten des Dokuzentrums. getroffen, die das Gemeindeleben Europäischen Tags der Jüdischen Materielle Grundlage hierzu ist die möglichst breit in seiner Vielfalt dar- Kultur wurde die Ausstellung am 2. über Jahrzehnte gepflegte Samm- stellt. Zur Entschlüsselung der Bilder September eröffnet. Als besonderer lung und Bewahrung von Material und Bildunterschriften tragen kurze Gast hatte sich der Antisemitismus- zur Ulmer jüdischen Geschichte im Erklärtexte bei, die besondere Begriff- beauftragte der Landesregierung 20. Jahrhundert, das überwiegend lichkeiten verständlich machen. Das Baden-Württemberg, Michael Blume, aus privaten Nachlässen stammt. Wir Album präsentiert Einblicke in die der seit März im neu gegründeten wollen mit dieser Sonderausstellung Ulmer Gemeinde seit 2005. Wichtige Amt ist, angekündigt. Nicola Wenge am historischen Ort und den Füh- Eckpunkte markieren die Eröffnung und Annette Lein führten ihn durch rungen nicht nur ein Nachdenken über der neuen Synagoge am Weinhof die Gedenkstätte und stellten ihm die Zerstörung des jüdischen Lebens 2012 und die Vollendung der neuen die verschiedenen Arbeitsbereiche im Nationalsozialismus ermöglichen, Torarolle im November 2017. Neben des DZOK vor. sondern auch einen Blick auf das diesen bedeutenden Ereignissen heutige wieder entstandene und zeigt das Album Perspektiven des Zur Eröffnung begrüßten Kulturbür- neu entstehende jüdische Leben in Gemeindelebens – von Bar Mizwa- germeisterin Iris Mann und Rabbiner Deutschland – und in Ulm – werfen Feierlichkeiten, öffentlichen Cha- Shneur Trebnik sowie Michael Blume und eine Gelegenheit zu Begegnung nukka-Feiern auf dem Weinhof bis und Nicola Wenge die Gäste. Den und Austausch schaffen. hin zu Begegnungstreffen mit der anschließenden Hauptvortrag hielt Budapester Gemeinde. Prof. Mirjam Zadoff. Nach vierjäh- Zeitgleich zur Produktion des Gemein- riger Lehr- und Forschungstätigkeit Zur Ausstellung dealbums wurde ein Guides-Team am Alvin H. Rosenfeld-Lehrstuhl für Auf jeder Ausstellungstafel wird eine konstituiert, das sich inhaltlich darauf Jüdische Studien an der Indiana Uni- Person vorgestellt. Biografische Eck- vorbereitet hat, Rundgänge durch die versity in Bloomington übernahm daten markieren kurz und knapp die Ausstellung anzubieten. Spannend sie im Mai 2018 die Direktion des Vita und erzählen zusätzlich persön- sind die unterschiedlichen Perspek- NS-Dokumentationszentrums in liche Geschichten. Breit gefächert tiven und Bezüge zum Thema, die die München. Sie gab in ihrem Vortrag wird die Vielfalt jüdischer Identitäten verschiedenen Guides einbringen. einen umfassenden Überblick über DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018 3
terin der vh, einen Abend zu ihrem Leben und ihren literarischen Werken gestalten. Im Jahr 1992 kam sie mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland. In ihren Büchern stellt sie auf vielschichtige und humorvolle Art und Weise Fragen nach Familie, Nähe und Fremdsein. Am 9. Dezember ist Liora Hilb, Enkelin der Ulmer Jüdin Jenny Hilb, mit ihrem Theaterstück „Remem- beRING“ erneut zu Gast, diesmal im Theater Ulm (s. Mitteilungsheft 65). Darin erzählt sie die Geschichte ihrer Familie, die eng mit Ulm ver- knüpft ist: Jenny Hilb wurde 1942 aus Ulm deportiert und in Auschwitz ermordet. Liora Hilb collagiert im Stück die Suche nach ihrer Famili- engeschichte mit Statements junger Menschen zu Antisemitismus und Rabbiner Trebnik führt die Gäste durch die Sonderausstellung. Foto: A-DZOK der Shoah heute. Zwei besondere pädagogische Pro- jekte im Kontext der Ausstellung finden für Schülerinnen und Schüler das jüdische Leben in Deutschland Brückenschlag zum historischen Ort statt: Jugendliche der Organisation v. a. seit dem frühen 19. Jahrhun- und zur Ausstellung, die heutiges „Likrat“ (hebräisch für „aufeinander dert. Um die Vielfalt jüdischer Iden- jüdisches Leben in Deutschland in zu“) werden einer Ulmer Schulklasse titäten innerhalb einer Familie zu den Blick nimmt. in einem zweistündigen Workshop beschreiben, griff sie die Lebensge- Rabbiner Trebnik übernahm danach einen unbefangenen Zugang rund schichte des jüdischen Kommunisten die erste Führung durch die Son- um das Thema Judentum geben. Die und Ultralinken Werner Scholem auf, derausstellung. Schwerpunktmäßig Kinderradiogruppe „Freitagsreporter“ der Reichstagsabgeordneter der sprach er über Identitäten jüdischer der „e.tage Medien und Bildung“ KPD war und später aus dem Zen- Menschen. Diese seien vielfältig des Stadtjugendrings wird sich unter tralkomitee ausgeschlossen wurde. und divers, zum Beispiel in Bezug Anleitung von Claudia Schwarz in Angeklagt wegen Hochverrats, war auf Religionsausübung, gesellschaft- Ulm auf akustische Spurensuche zu er in der NS-Zeit zunächst zwei Mal liches Engagement oder eigene fami- jüdischem Leben heute begeben. in „Schutzhaft“, später im KZ Dachau liäre Erinnerungen und Tradierungen Zum Abschluss der Sonderausstel- und schließlich im KZ Buchenwald der Shoah. Es überrascht, dass viele lung in Ulm wird es in der Syna- inhaftiert. Dort wurde er am 17. Juli der Porträtierten im Zusammenhang goge am Weinhof am 12. Dezember 1940 ermordet. Mit diesem Beispiel, mit der Ausstellungserarbeitung im eine Finissage mit Gesprächen und der Geschichte eines jüdischen Kom- Jahr 2015 äußerten, wie wohl und Begegnungen geben. munisten, gelang Mirjam Zadoff ein sicher sie sich in Berlin fühlen. Daran anknüpfend verwies Rabbiner Trebnik auf die Ereignisse in Chemnitz und hinterfragte kritisch, wie es heute mit dem Lebensgefühl aussehe. Die vermehrten Angriffe auf jüdische, Info Begleitprogramm muslimische und christliche Einrich- Die Sonderausstellung „Jüdische tungen kommentierte er wie folgt: Lebenswelten in Deutschland heute“ Dienstag, 20.11.2018 „Es betrifft uns alle“. Er wies auf wurde von der Zeitbild-Stiftung kon- vh ulm, Club Orange, 19.30 Uhr die Beschädigungen an der Außen- zipiert und durch das Bundesministe- „Autorin im Gespräch Spezial“ fassade der Ulmer Synagoge im rium für Familie, Senioren, Frauen und – Lena Gorelik im Gespräch mit September 2017, den Anschlag auf Jugend gefördert. Dagmar Engels die Ulmer Moschee im März dieses Die Präsentation der Ausstellung in Ulm VVK 6/3 €, AK 8/5 € Jahres und die rassistischen und nati- wurde durch die Stadt Ulm, die Landes- Karten erhältlich in der vh onalsozialistischen Schmierereien im zentrale für politische Bildung Baden- Münster Anfang September hin. Württemberg und die Stiftung Erinne- Sonntag, 9. Dezember 2018 rung Ulm ermöglicht. Theater Ulm, 19.30 Uhr Für die gelungene Gestaltung des RemembeRING. Besser ist, wenn du Zum Begleitprogramm Gemeindealbums danken wir dem nix weißt Das bis Dezember laufende Begleit- Gestaltungsbüro Braun Engels, insbe- Eintritt 20/12 € programm eröffnet mit unterschied- sondere Susanne Jüttner und Gerhard Karten erhältlich im Theater Ulm lichen Veranstaltungsformaten Braun. spannende Perspektiven auf die Zu sehen ist die Ausstellung noch bis Mittwoch, 12. Dezember 2018 Thematik. Am 20. November kommt 23. November 2018 im Rathaus und von Synagoge, 18.30 Uhr die vielfach ausgezeichnete Schrift- 28. November bis 20. Dezember 2018 Finissage stellerin Lena Gorelik nach Ulm. In in der Synagoge (Voranmeldung unter: Anmeldung unter: irgw.ulm.synagogen- der Reihe „Autorin im Gespräch“ irgw.ulm.synagogenfuehrung@gmail. fuehrung@gmail.com wird sie mit Dagmar Engels, Lei- com). 4
Interview mit dem Antisemitismusbeauftragten des Landes, Dr. Michael Blume „Wie schlimm es wird, liegt an uns allen“ Zur Eröffnung der Sonderaus- stellung „Jüdische Lebenswelten in Deutschland heute“ in der KZ- Gedenkstätte Oberer Kuhberg sprach Dr. Blume über seine Ana- lysen und Prognosen im Umgang mit dem Antisemitismus. Das Interview führte DZOK-Vereinsmitglied Michael Joukov. Sie sind seit knapp sechs Monaten im Amt. Was hat Sie bisher am meisten überrascht? Das digitale Anwachsen des anti- semitischen Verschwörungsglau- bens geht sehr viel schneller voran Michael Blume (re.) beim Interview mit Michael Joukov, 02.09.2018. Foto: A-DZOK als zu befürchten war. So erleben wir gerade in Baden-Württemberg bereits gezielte Angriffe auf die regionale Erinnerungskultur, ver- bedrohen unsere Gesellschaft als Fälle nicht mehr automatisch dem bunden mit rassistischen Ausfällen Ganzes. Rechtsextremismus zugeschlagen gegen unsere Landtagspräsidentin werden. Darüber hinaus hat Baden- Muhterem Aras. Die Mehrheit der Sie sind, soweit ich es weiß, der Württemberg eine Meldepflicht für Menschen in Deutschland sorgt sich erste Antisemitismusbeauftragte Fälle ethnischen und religiösen Mob- inzwischen wegen der rechtspopuli- eines Landes, Ihre Einsetzung bings an Schulen eingeführt und wir stischen Angriffe auf unsere Demo- wurde mit großer Mehrheit vom haben mit dem Bund den Aufbau kratie. Diese Mehrheit hat leider Landtag gefordert. Dabei steht eines Bund-Länder-Meldesystems Recht. Baden-Württemberg an vorletzter für antisemitische Vorfälle im öffent- Stelle, was die Anzahl antisemi- lichen und digitalen Raum vereinbart. Sie haben unlängst erklärt: „Anti- tischer Straftaten angeht. Wie Es bräuchte jedoch dringend noch semitismus ist eine Misstrauens- kommt es also, dass dieses Land mehr Kolleginnen und Kollegen in erklärung an die gesamte Gesell- als erstes aktiv wurde? den anderen Ländern, um die Dinge schaft“. Können Sie ausführen, was Die jüdischen Gemeinden hatten den zu beschleunigen. Sie damit meinen? Ministerpräsidenten darum gebeten Der Semitismus bezieht sich auf den und mich – ohne vorher zu fragen – Jüdinnen und Juden machen nicht mythologischen Noah-Sohn Sem als auch vorgeschlagen. Für die breite ganz 0,1 % der Bevölkerung des Begründer des ersten Lehrhauses und überparteiliche Unterstützung Landes aus. Wie entgegnen Sie und der späteren, semitischen Reli- bin ich sehr dankbar. Gerade weil es dem Vorwurf, da wird „wieder eine gionen. Demnach ist es möglich, auf uns in Baden-Württemberg sehr gut Extra-Wurst gebraten“? Basis eines Rechtsstaates in Frieden, geht, Arbeitslosigkeit, Armut und Im Irak habe ich einen gravierenden Freiheit und Vielfalt zusammen zu Kriminalität sehr niedrig sind, ist früh Antisemitismus ganz ohne jüdische leben, die Welt gemeinsam zu erfor- aufgefallen, dass der Verschwörungs- Gemeinden erlebt. Da haben sich schen und zu gestalten. glauben aus dem Netz in die Realität dann Sunniten und Schiiten, Araber, Antisemiten verkünden dagegen kippt. Niemand kann sich hier damit Kurden und Turkmenen gegenseitig Verschwörungsmythen, nach denen herausreden, der Antisemitismus vorgeworfen, Teil der angeblichen die Welt von jüdischen und nichtjü- ginge nur von armen oder zugewan- „jüdischen Weltverschwörung“ zu dischen Verschwörern bedroht werde derten Menschen aus. sein. Ich bekam antisemitische Ver- – in den Religionen, den Medien, den schwörungsmythen zu hören, wie: Parlamenten, Gerichten und Wissen- Im Beschluss des Landtags stand „Der Erdoğan ist doch heimlich schaften. Deswegen läuft Antisemi- auch, dass die Landesregierung Jude und soll die Türkei zerstören.“ tismus immer auf die Zerstörung des aufgefordert wird, „die Erfassung oder „Der Islamische Staat, das ist gesamten Rechtsstaates, den Angriff antisemitischer Straftaten durch doch nur der israelische Geheim- auf Institutionen und Religionen die Sicherheitsbehörden weiter zu dienst Mossad.“ Der Antisemitismus sowie die Verfolgung verschiedenster verbessern. Die Schaffung entspre- bedroht immer auch die gesamte Minderheiten hinaus. Die aktuelle chender Strukturen soll den Betrof- Gesellschaft und wir müssten ihn Schmiererei im Ulmer Münster – fenen das Anzeigen antisemitischer selbst dann bekämpfen, wenn es hier „Hakenkreuz statt Kreuz“ – ist dazu Straftaten erleichtern und damit gar keine Jüdinnen und Juden gäbe! geradezu klassisch. Auch im Konzen- Dunkelziffern reduzieren.“ – Hat Stattdessen können wir dankbar trationslager Oberer Kuhberg waren sich da schon etwas getan? sein, dass viele, wie der Ulmer Rab- ja neben politischen auch christlich- Ja, wir konnten mit dem Innenmini- biner Shneur Trebnik, ganz aktiv mit religiöse NS-Gegner inhaftiert; Anti- sterium bereits vereinbaren, dass die uns dagegen aufklären. semitismus und Rechtsextremismus Erfassung präzisiert wird und unklare DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018 5
Sie waren sechs Jahre lang Zunächst, indem wir anerkennen, es eine neue Entwicklung? Oder Stadtrat in Filderstadt und somit dass es gar keine überprüfbaren The- sorgen die neuen technischen „qua Ehrenamt“ ganz nahe an den orien sind, sondern Verschwörungs- Möglichkeiten nur dafür, dass es Bürgerinnen und Bürgern. Haben mythen. Mit dem Begriff „Verschwö- besser bemerkt wird? Sie Erfahrungen mit Alltagsanti- rungstheorie“ verharmlosen wir die Es stimmt beides: Im Netz wurde der semitismus gemacht? Wenn ja, Erzählung bereits. Die Erzählung ohnehin bestehende Antisemitismus welche? von der jüdischen Weltverschwö- sichtbarer, er radikalisiert sich durch Ja, schon als Gründungsvorsitzender rung funktioniert als dualistischer die gegenseitige Bestätigung in den einer Christlich-Islamischen Gesell- Mythos, in dem sich die Antisemiten digitalen Foren aber auch. Franziska schaft wurden mein muslimischer als vermeintlich bedrohte Gruppe der Schreiber hat diese digital befeuerte Kollege und ich mit Forderungen „Guten“ darstellen, die sich verzwei- Radikalisierung in „Inside AfD“ für konfrontiert, Christen und Muslime felt gegen die Naiven und die „Bösen“ ihre ehemalige Partei sehr eindrucks- gemeinsam gegen Juden in Stel- wehre. Deswegen behaupten Antise- voll beschrieben. Und dieser Prozess lung zu bringen. Stattdessen haben miten auch immer, ihr Hass und ihre läuft leider noch immer weiter. wir den Dialog zum Trialog erweitert. Gewalt diene der Verteidigung, sie Aber ich erlebe es immer wieder, fast seien die eigentlichen Opfer! Es gibt immer wieder die Debatte täglich: Antisemiten versuchen, die Wir können und müssen diese um Abgrenzung zwischen Antise- Religionen und Völker gegeneinander Struktur des Verschwörungsmythos mitismus und Israel-Kritik. Nun auszuspielen. Deswegen müssen konsequent aufdecken, entlarven ist es gewiss völlig legitim, die wir dem Antisemitismus so oft wie und vor allem Kinder davor bewahren. Politik eines Landes zu kritisieren. möglich gemeinsam die Stirn bieten. Auch das Strafrecht sollte früher und Aber zumindest mir ist noch nie härter greifen. der Wunsch begegnet, Papua- Glauben Sie, dass Sie noch die Zeit Neuguinea, Schweiz, Österreich erleben werden, in der jüdische Der Auftrag an die Landesregie- oder Tadschikistan (alles Staaten Einrichtungen ohne besondere rung, also auch an Sie, war es, ähnlicher Größe wie Israel) zu kri- Sicherheitsvorkehrungen arbeiten „Moscheegemeinden und musli- tisieren. Wie kommt also diese können? mische Träger für die Arbeit gegen Fixierung Ihrer Meinung nach Antisemitismus zu gewinnen und zustande? Nein, das glaube ich leider nicht. Ich gezielt Projekte zu fördern, die fürchte, dass wir die Spitze der digi- deren Begegnung und Dialogar- Darüber spreche ich noch im Sep- talen Radikalisierung noch gar nicht beit mit jüdischen Partnern sowie tember einmal bei der Deutsch-Isra- erreicht haben und es noch einige Trägern politischer Bildung gegen elischen Gesellschaft und einmal in Jahre schlimmer werden wird. Wie Antisemitismus vorsehen; den der Evangelischen Akademie Bad schlimm, liegt an uns allen. Antisemitismus in Deutschland und Boll. Denn tatsächlich gibt es keine seine unterschiedlichen Erschei- China- oder Pakistankritik und schon Sie unterscheiden in Ihren Stellung- gar keine großen Boykottbewe- nahmen zwischen dem alten und nungsformen zum Gegenstand einer Befassung durch die Deut- gungen, obwohl beide Länder auch neuen Antisemitismus. Können muslimische Minderheiten brutal Sie diesen Unterschied für unsere sche Islamkonferenz zu machen“, wie kommen Sie hier voran? diskriminieren. Die Israelkritik steht Leser*innen kurz skizzieren? neben der Kirchen- und Islamkritik Wir haben in Deutschland den alten, Bereits jetzt habe ich zahlreiche und bezieht sich auf die Religionen. rechts- und auch linksextremen Einladungen islamischer Verbände Wer behauptet, nur Zionisten zu Antisemitismus, der sich digital aus- und Institutionen erhalten, die die hassen, versucht nur den alten Anti- breitet, sowie einen neuen Antise- Zusammenarbeit bei der Bekämp- semitismus zu tarnen. mitismus unter Migranten. Inhaltlich fung des Antisemitismus suchen. unterscheidet sich dieser kaum, es Zur Neukonzeption der Deutschen Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, sind oft die gleichen Verschwörungs- Islamkonferenz habe ich mich eben- welcher wäre es? mythen. Der Landtagsabgeordnete falls bereits öffentlich geäußert und Ich würde mir wünschen, dass noch Gedeon (AfD) erklärt zum Beispiel die auch Gespräche in Berlin geführt. viel mehr Menschen begreifen, was „Protokolle der Weisen von Zion“ für Neben dem Antisemitismus im Netz neue Medien mit uns machen. Ich echt, ebenso wie es auch arabische und in den Schulen bildet der Anti- selbst nutze auch als Wissenschafts- Antisemiten tun. Letztlich behaupten semitismus unter Muslimen meinen blogger das Internet engagiert, sage sie sogar gemeinsam, die jüdische dritten Arbeitsschwerpunkt. Und ich aber auch, dass seine Nutzung auf- Weltverschwörung habe den Orient stimme meinem Kollegen auf Bun- grund der schnellen Massenwir- destabilisiert und lenke nun Flücht- desebene, Herrn Dr. Klein, zu: Die kung die Welt in Kriege und Kon- linge nach Europa, um auch dieses zu Gedenkstätten werden künftig eine flikte stürzen könnte wie zuletzt der zerstören. Deswegen identifizieren größere Rolle spielen müssen. Daher Buchdruck und die Einführung von sich auch Rechtsextreme etwa in der freue ich mich, dass hier am DZOK Radio und Filmen. Ob wir den anti- NPD mit radikalen Palästinensern und in diesem Bereich schon sehr viel semitischen Verschwörungsglauben Iranern. Juden und westliche Demo- Erfahrung gesammelt wird! diesmal stoppen können, entscheidet kraten sind das gemeinsame Feind- Wir treffen uns einen Tag nach über nicht weniger als die Zukunft bild alter und neuer Antisemiten. dem sog. „Trauermarsch“ der AfD der Demokratien und der Mensch- in Chemnitz. Dabei wurde, Auf- heit insgesamt … Antisemitismus und Nationa- lismus konstruieren immer gerne nahmen belegen es, auch „wir eine Bedrohung, meist sogar eine bauen eine U-Bahn bis nach Ausch witz“ gesungen. In Österreich Info Verschwörung von Juden, der regiert eine Partei mit, deren Spit- Dr. Michael Blume ist Religionswissen- „Lügenpresse“, von Muslimen, zenpersonal „gib Gas, wir schaffen schaftler und Beauftragter der Landes- Freimaurern oder was auch immer. die siebte Million“ in den jewei- regierung gegen Antisemitismus. Er Wie entkräftet man derartige Ver- ligen Liederbüchern abdruckte. Ist forscht, lehrt und publiziert zu Fragen schwörungstheorien? des christlich-islamischen Dialoges. 6
Aktueller Antisemitismus in Deutschland Eine Herausforderung für die Gedenkstätten Die Auseinandersetzung der nungsformen von Antisemitismus Gedenkstätten mit dem wach- zugrunde. Nach der Klärung dieser senden Antisemitismus in Deutsch- Fragen wurde in einem Rollenspiel land steckt vor allem in den eine Gesprächssituation mit Men- überwiegend ehrenamtlich arbei- schen, die sich antisemitisch äußern, tenden Gedenkstätten noch in den simuliert und es wurden Möglich- Anfängen. Dabei ist die Verschrän- keiten zum Umgang mit solchen Kon- kung von historischem Wissen und flikten aufgezeigt. Dabei wurde deut- politischem Lernen für die Gegen- lich, dass viele Gedenkstätten einen wart essentiell. großen Informations- und Handlungs- bedarf beim Thema Antisemitismus Martin Ulmer haben. Ein Weiterbildungsangebot für interessierte Gedenkstätten ist geplant. Die Zurückhaltung der Gedenkstätten Martin Ulmer beim zentralen Jugendguide- in der Auseinandersetzung mit dem treffen in der Stauffenberg-Gedenkstätte, April Bei Schulbesuchen in Gedenk- 2018. Foto: privat aktuellen Antisemitismus liegt zum stätten sind beim Thema aktueller einen am Fokus auf die Vermittlung Antisemitismus vor allem die Syna- historischer Zusammenhänge nicht und Zivilgesellschaft (einschließlich gogengedenkstätten und Gedenk- nur in KZ-Gedenkstätten, sondern Gedenkstätten) bei der Bekämpfung orte jüdischen Lebens die richtige auch bei Synagogengedenkstätten, herausfordern. Adresse, weil dort jüdisches Leben die von der Bedeutung des lokalen bis zur Zerstörung gezeigt wird. Der jüdischen Lebens und der Zerstö- Zwar können Gedenkorte alleine historische Antisemitismus weist rung durch den Nationalsozialismus keine tiefgehenden Fehlentwick- Gemeinsamkeiten und Unterschiede erzählen. Sie liegt zum anderen am lungen wie gruppenbezogene Men- zur aktuellen Judenfeindschaft auf erst entstehenden Problembewusst- schenfeindlichkeit, Antisemitismus, und dieses Verhältnis kann mit den sein, dass historisches Wissen und Rassismus und antidemokratisches Besucher*innen produktiv diskutiert politisches Lernen bei der Konfron- Denken überwinden. Dies kann län- werden. Ebenso geht es in den Syna- tation mit aktuellen Erscheinungs- gerfristig nur in der Zusammenarbeit gogengedenkstätten um Vermitt- formen des Antisemitismus (klas- mit anderen Akteur*innen und dabei lung religiösen Wissens als Teil der sischer Antisemitismus, sekundärer besonders mit Schulen geschehen. interkulturellen Bildung, denn vielen Antisemitismus, Israelfeindschaft, Ein in Schulen und Gedenkstätten Menschen ist das Judentum fremd Verschwörungsmythen) zusammen- herausgebildetes historisches und Nichtwissen stellt ein Einfallstor gehören. Wenn rund 50 Prozent der Bewusstsein kann ein Fundament für antisemitische Projektionen dar. Deutschen laut Umfragen meinen, für die Sensibilisierung gegenüber Mehr noch können Begegnungen dass Israel einen Vernichtungs- Antisemitismus und Demokratiege- mit jüdischen Menschen – sei es in krieg gegen die Palästinenser und fährdung sein. Wo sich Chancen zum Gedenkstätten, bei Veranstaltungen Palästinenserinnen führen würde, politischen Lernen ergeben, sollten oder durch Besuche jüdischer wenn Schüler*innen bei Besuchen diese in den Gedenkstätten aktiv Gemeindeeinrichtungen – wichtige in Gedenkstätten auf angebliche genutzt werden. Beiträge zum Abbau antisemitischer Verschwörungen durch Juden und Stereotype sein. Der aktuelle Antise- Jüdinnen wie Rothschild bzw. auf den Auf der Jahrestagung der Landesar- mitismus sollte durch pädagogische israelischen Geheimdienst Mossad beitsgemeinschaft Gedenkstätten Angebote aufgegriffen werden. Bei als Drahtzieher der Anschläge am und Gedenkstätteninitiativen in mehrstündigen Besuchen gibt es in 11. September 2001 zu sprechen Baden-Württemberg (LAGG) in Bad einzelnen Gedenkstätten die Mög- kommen, braucht es überzeugende Urach im März 2018 wurden des- lichkeit, aktuelle Formen des Anti- Gegenkonzepte. Hinzu kommen die halb vier Workshops (Rechtspopu- semitismus in Workshops vertiefend wachsenden Übergriffe auf jüdische lismus, angemessenes Verhalten zu behandeln. Bei diesem sensiblen Menschen und die Synagogen- und in Gedenkstätten, Antisemitismus Thema scheint es besonders Friedhofsschändungen wie jüngst in und Widerstand) angeboten, um die wichtig, dass moralisch-belehrende Ulm und Hechingen, die den demo- Teilnehmer*innen auf aktuelle poli- Ansätze seitens der Gedenkstätten kratischen Staat und die Bürger- tische Problemlagen hinzuweisen und Lehrer*innenschaft unterlassen sowie mit inhaltlichem und metho- werden und mit Schüler*innen, die dischem Input und Anregungen sich antisemitisch äußern, ernsthaft, Literaturempfehlung für die Gedenkstättenarbeit zu ver- sachlich und kritisch diskutiert und sorgen. diese Äußerungen durch Argumente Christian Brühl/Marcus Meier (Hg.): In dem von mir geleiteten Workshop hinterfragt werden. Bei gezielten, Antisemitismus als Problem in der zum Antisemitismus zeigte sich ein schwerwiegenden und anhaltenden schulischen und außerschulischen großes Informationsbedürfnis: Dem Äußerungen hilft jedoch nur noch der Bildungsarbeit. Pädagogische und lagen Fragen nach der Definition von Hinweis, dass diese mit dem demo- didaktische Handreichungen für Antisemitismus und Wissensdefizite kratischen Rechtsstaat nicht ver- Multiplikatoren und Multiplikato- über das jüdische Leben im heutigen einbar sind und sogar ein Hausverbot rinnen. 3. Auflage, Köln: NS-Dokumen- Deutschland sowie über das große und eine Strafanzeige zur Folge haben tationszentrum 2014. Ausmaß der verschiedenen Erschei- können. DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018 7
Neue Publikation von DZOK und Stadtarchiv 1938: Novemberpogrom in Ulm Zum 80. Jahrestag des Pogroms Mitmenschen nicht wieder. Tausende Männer ins Konzentrationslager erscheint ein Buch mit zahlreichen wurden in dieser Nacht misshan- Dachau verschleppt und mit Rabbiner historischen Dokumenten, Foto- delt, hunderte ermordet und, was Dr. Julius Cohn, Julius Barth und grafien und Zeitzeugenberichten, oftmals verschwiegen wird, Frauen Friedrich Mayer starben drei Ulmer das die Ereignisse in Ulm sowie vergewaltigt. Verzweifelte Menschen an den Folgen der Misshandlungen ihre Vor- und Nachgeschichte nahmen sich in der Nacht und in den noch in der Pogromnacht bzw. später anschaulich darstellt. Es wird am folgenden Wochen und Monaten im Konzentrationslager. Das Pogrom 8. November auf der zentralen das Leben. Das Erlebte war so trau- beendete die Hoffnung vieler, in ihrer Gedenkveranstaltung vorgestellt. matisch, dass viele Augenzeugen geliebten Heimat bleiben zu können. auch nach Jahrzehnten nicht darüber In den folgenden Monaten setzte Ingo Bergmann reden konnten. eine Fluchtwelle ein. Kinder wurden Der Zivilisationsbruch fand dabei mit den Kindertransporten nach Groß- nicht im Geheimen statt, sondern britannien gebracht, in vielen Fällen Die grundlegenden Fakten und Daten unter den Augen von Nachbar*innen waren sie die einzigen Überlebenden. sind bekannt: In der Nacht vom 9. auf und Schaulustigen. Wie spätere Pro- Wie schwierig die Suche nach einem den 10. November 1938 brannten zesse und Forschungen belegten, Aufnahmeland war, belegt eindrucks- nahezu alle Synagogen im Deut- waren die Verbrechen kein spontaner voll die Irrfahrt der St. Louis. Den Aus- schen Reich, jüdische Geschäfte Ausbruch des „Volkszorns“, wie es wanderinnen und Auswanderern an wurden verwüstet und geplündert, Goebbels’ Propagandamaschinerie Bord wurde die Ausschiffung in Kuba tausende Mitmenschen schwer gerne darstellte, sondern vielmehr verwehrt, die USA lehnten ebenfalls misshandelt, hunderte ermordet. eine befohlene Aktion. Die Mehrheit die Aufnahme ab. Nach der Rückkehr In fast jeder deutschen Stadt erin- der Bevölkerung war zwar nicht aktiv nach Europa konnten sich zwar viele nern heute Gedenktafeln an die Ver- beteiligt, Zeichen der Mitmenschlich- der Passagiere über andere Wege brechen der Reichspogromnacht. keit und der Hilfe waren aber rar. retten, darunter der Ulmer Fritz Hilb, Steinerne Mahnmale für ein in der Die Ereignisse rund um den für viele bedeutete die Rückkehr aber Neuzeit nie dagewesenes Gesell- 9. November 1938 stellen den den Beginn der Verfolgung und den schaftsverbrechen. Eine Nacht, die Wandel der nationalsozialistischen späteren Tod in den Konzentrations- wie kaum eine andere für den Verlust Politik gegenüber der jüdischen lagern. von Menschlichkeit und Mitgefühl Bevölkerung von der Vertreibungs- Erhalten gebliebene Briefe und steht. Eine Nacht, deren Schrecken hin zur Vernichtungspolitik dar. Jene Tagebuchaufzeichnungen, die zum durch die Erinnerungstafeln nicht Nacht öffnete das Tor zur Shoah. Teil erstmals präsentiert werden, wiedergegeben werden können. Sie war eine grausame Ouvertüre geben eindrucksvoll die Stimmungs- Die Fotografien von eingeworfenen zu einem der größten Verbrechen lage dieser Zeit wieder. Anhand von Schaufensterscheiben und zerstörten der Menschheitsgeschichte. Dieses Zeitzeugenberichten, Dokumenten Synagogen dokumentieren zwar den nahm unmittelbar nach dem Pogrom und Fotografien fügt dieses Buch beträchtlichen Sachschaden, geben immer klarere Formen an. Es wurde die komplexen Ereignisse der Jahre aber die Verbrechen an den jüdischen nun für alle Welt deutlich, dass die 1938 und 1939 zu einem Gesamt- Nationalsozialisten die jüdische bild zusammen. Zeitzeug*innen und Bevölkerung auch mit physischer Nachgeborene berichten über das Gewalt bekämpften. Fast im Monats Erlebte und über den Umgang mit takt wurden immer aggressivere der eigenen Familiengeschichte. Maßnahmen ergriffen: monatelange Dadurch wird deutlich, dass in dieser Haft in Konzentrationslagern, Zer- Nacht weit mehr zerstört wurde, schlagung nahezu aller jüdischen als es der verniedlichende Ausdruck Betriebe und Geschäfte, Kennzeich- „Kristallnacht“ suggerieren wollte nung der Pässe, Zwangsvergabe der und dass die Folgen bis in die Gegen- Vornamen Israel und Sara, Autofahr- wart reichen. verbot, vollständige Überwachung des Aufenthaltsortes und Beginn der „Konzentration“ in so genannten „Judenhäusern“. Wer konnte, verließ schweren Herzens die angestammte Heimat. Das Gefühl der Schmach und Info Entwurzelung begleitete sie dabei Donnerstag, 8. November 2018 und vor allem die älteren unter den Stadthaus Ulm, 19 Uhr Geflüchteten trugen diesen Schmerz Buchpräsentation und Lesung zum Ingo Bergmann: für immer mit sich. 80. Jahrestag des Novemberpo- 1938. Das Novemberpogrom in Ulm Das Pogrom fand im ganzen Deut- groms – seine Vorgeschichte und Folgen. schen Reich statt, auch in Ulm. Eine Veranstaltung des Arbeitskreises Hg. von DZOK und Stadtarchiv Ulm. Ulm: Auch hier brannte am 9. November 27. Januar Ulm/Neu-Ulm Klemm+Oelschläger 2018. 14,80 € die Synagoge und auch hier wurden Mit Oberbürgermeister Gunter Czisch, Erhältlich im DZOK, im Haus der Stadt- Mitmenschen unter den neugierigen Ingo Bergmann, Schauspielern des The- geschichte, im Buchhandel sowie am Augen von Schaulustigen misshan- ater Ulm und einer Schülerin des Scholl- Veranstaltungsabend im Stadthaus. delt. Auch aus Ulm wurden jüdische Gymnasiums 8
Ann Dorzback über die Folgen des Novemberpogroms für sich und ihre Familie „Wir müssen dieses Land verlassen“ Eine der letzten Überlebenden, die Ingo Bergmann noch zum November- pogrom in Ulm befragen konnte, war Ann Dorzback, geb. Wallersteiner. Sie schickte ihre Antworten im August 2018 aus den USA. Die Reichspogromnacht am 9. November 1938 war ein ein- schneidendes Ereignis. Haben Sie daran Erinnerungen oder gibt es Berichte aus Ihrer Familie über die Ereignisse? Der Ulmer Rabbiner und viele andere wurden misshandelt. Ich selbst (17 Jahre alt) war in Berlin in der Schule und sah dort die Syna- goge in Flammen. Alles, was in den Berichten steht, ist wahr. Mein Vater sagte, „ein Volk, das keinen Respekt hat für ein Gotteshaus, hat auch Ann Dorzback zu Besuch in der DZOK-Geschäftsstelle, 26.07.2013 (v. l.: Theresa Rodewald, Ann Dorz- keinen Respekt für den Menschen.“ back, Nicola Wenge). Foto: A-DZOK Als ich im Dezember von der Schule nach Ulm zurückkam, sagte mein Vater: „Wir müssen dieses Land ver- lassen.“ New York viel einfacher. Wir fanden Ulm eingestanden, welche Sünden eine möblierte Wohnung und meine gegen eine „Minderheit“ begangen Waren Familienangehörige in Schwester und ich gründeten ein wurden. Diese Anstrengungen der Folge im Konzentrationslager „Dressmaking Studio“. Es war nicht müssen anerkannt werden. Dachau inhaftiert? schwer, sich in New York einzuleben. Ja, beide Brüder meiner Mutter, Natürlich mussten meine Eltern viele Gab es innerhalb Ihrer Familie Karl Bergmann aus Ulm und Edwin Entbehrungen überwinden. Nach ein unterschiedliche Meinungen über Bergmann aus Laupheim, waren in paar Jahren gründeten mein Vater Ulm bzw. Deutschland nach dem Dachau. und ich nochmals eine kleine Fabrik Krieg (z.B. wollten manche even- namens L. S. Wallersteiner bis zu tuell nicht mehr zu Besuch kommen Schildern Sie bitte den Weg in die seinem Ableben im Juli 1946. und die alte Heimat ganz hinter neue Heimat. Wie sind Sie und Ihre sich lassen?) Familie nach Amerika gekommen? Sie waren nach dem Krieg sehr Jeder war anders betroffen. Ja, es häufig in Ulm. Was verbindet gab Menschen in der Familie, welche Wir fanden drei verschiedene Bürgen Sie heute im Jahr 2018 mit Ihrer nicht mehr deutsch sprechen wollten, für meine Eltern, Schwester Lotte Geburtsstadt? oder manche, die nur nach vorne und mich für Amerika. Wir mussten auch Bürgen für England haben, Die schönen Erinnerungen an meine schauen wollten, nicht mehr zurück. um dort die Zeit für das Visum abzu- Kindheit und Jugend in der Weimarer Diese Menschen konnten in ihrem warten. Wir konnten unser Geld Republik, an eine harmonische Stadt, Leben keine Ruhe mehr finden. nicht mitnehmen. Wir hatten großes in der sich Menschen aller Konfes- Glück, dass wir Ulm am 7. Mai 1939 sionen unterstützten und respek- verlassen konnten. England war nicht tierten. In dem Buch „Zeugnisse INFO leicht für meine Eltern. Unser drei zur Geschichte der Juden in Ulm“, Die Familie Wallersteiner stammte monatiger Aufenthalt dort verzögerte in dem das Stadtarchiv Zeitzeugen- ursprünglich aus dem Ort Wallerstein sich noch einmal um vier Monate, berichte veröffentlichte, können Sie bei Nördlingen. Unmittelbar vor dem als der Krieg mit Deutschland im meine ausführlichen Erinnerungen Ersten Weltkrieg zogen Leopold und Elsa September begann. Endlich konnten lesen. Wallersteiner von Bad Buchau nach Ulm wir unser Visum erhalten und am und gründeten das Bekleidungsgeschäft 15. Dezember 1939 ein Schiff in die Hat sich Ihre Meinung gegenüber Ulm über die Jahrzehnte hin ver- „L. G. Wallersteiner“. Das erfolgreiche USA bekommen. Geschäft konnte bald um eine Fabrik ändert? erweitert werden und Leopold Waller- Können Sie uns ein wenig über die Ja, natürlich. Die „neue Genera- steiner wurde zu einem ehrenamtlichen ersten Jahre in der neuen Heimat tion“ ist nicht verantwortlich für die Handelsrichter ernannt. Das Ehepaar berichten? Wie war der Start? Ist „Sünden der Väter“. Die Stadt Ulm hatte mehrere Kinder, darunter die 1921 das Einleben schwergefallen? hat vieles getan, um unsere Wunden geborene Anneliese, die sich nach Emi- Gemessen an den schwierigen Zeiten zu heilen. Wir wurden des Öfteren gration und Heirat Ann Dorzback nannte in Ulm und dem ungewohnten neuen nach Ulm eingeladen und mit offenen und ihrer Heimat bis heute freundschaft- Lebensstil in London zusammen mit Armen empfangen. Schon mit Heinz lich verbunden blieb. den Kriegseinschränkungen, war Keils Buch aus dem Jahr 1961 hat DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018 9
Neu erschienen im September Albert Einstein. Biografie eines Nonkonformisten Albert Einstein, geboren 1879 in 36 Jahren die Allgemeine Relativi- des großen Physikers und mit dem Ulm, war der wohl bekannteste tätstheorie 1915 vollenden. Gedenken in New York, Berlin, Mün- Wissenschaftler des 20. Jahrhun- chen und Bern verglichen. derts. Nun liegt eine neue Biografie Nach Exkursen zu Einsteins Famili- In das Buch fließen auch neue gene- vor, die u. a. Verbindungen des enleben und privaten Beziehungen alogische Erkenntnisse ein, etwa zu Physikers mit seiner Heimatstadt widmet sich der Autor Einsteins den Koch-Verwandten der Mutter aus herausarbeitet und die Lebens- politischem Engagement für Pazi- Cannstatt. Neu erklärt wird, warum wege naher Verwandter aus Ulm fismus, für die parlamentarisch- Tante Julie Koch in Genua Einsteins und Region nachzeichnet. demokratische Republik und gegen Unterhalt an der Kantonsschule Rassismus und Nationalismus. Seine Aarau und dem Zürcher Polytech- Christof Rieber politischen Lagebeurteilungen sind nikum zahlt. Einstein ist Empfänger ungewöhnlich hellsichtig. Einstein ist, verwandtschaftlicher Solidarität, obwohl kein Staatsmann, ein großer später auch zunehmend Geber aus Verfechter der Völkerverständigung verwandtschaftlicher Solidarität. Neu und ein großer Europäer. Seitdem erschlossen wird das Leben von Ein- 1919 die Allgemeine Relativitätsthe- steins Onkel Jakob Einstein (+Wien orie empirisch nachgewiesen wird, 1912) und des Sohnes Robert(o) ist Einstein ein „Welt-Star“. Der Autor Einstein (+ Florenz 1945). Bereits in geht dabei auch Einsteins Verhältnis der Generation des Vaters und des zum Berliner Professor für physika- Onkels sind viele international als lische Chemie, Fritz Haber, nach. selbständige Geschäftsleute tätig. Seit 1921 setzt sich Einstein für den In Einsteins Generation fliehen zahl- Zionismus ein. Dafür nutzt er sein reiche Mitglieder der Familie Einstein hohes Ansehen, vor allem in den wegen der nationalsozialistischen USA. 1932/33 erhält er am Institute Judenverfolgung in alle Welt. for Advanced Study in Princeton, wie zuvor, eine Professur ohne Lehrver- Die Biografie ist am Vorbild von Margit pflichtung. Sie ist weit höher dotiert Szöllösi-Janzes Haber-Biografie orien- als in Berlin. tiert und gesellschaftsgeschichtlich geschrieben. Die Publikation zeigt, Von der Machtübernahme der Nati- dass Einsteins Nonkonformismus onalsozialisten erfährt Einstein wäh- stets kritisch die ihn umgebende rend eines Aufenthalts in den Ver- Gesellschaft spiegelte. einigten Staaten und verkündet am 10. März 1933 seine Entscheidung Gewidmet ist die Biografie auch öffentlich, nicht mehr nach Deutsch- Alfred Moos (+ 1997). Ihm verhalf Das Buch widmet sich zunächst dem land zurückzukehren. Er versucht Einstein 1933 zur Emigration nach jungen Einstein und seinen frühen mit großem Engagement seinen England und 1935 nach Palästina. Prägungen durch seine Mutter Pau- schwäbischen Verwandten durch 1953 kehrte Alfred Moos nach Ulm line. Sie vermittelt ihm bereits im Bürgschaften und Empfehlungs- zurück und wurde Promotor Einsteins Vorschulalter Fleiß, Konzentration schreiben die Ausreise in die USA in Ulm. Wäre ihm 1988 die Medizin- und Disziplin und ab sechs Jahren zu ermöglichen. So rettet er etwa fakultät der Universität Ulm gefolgt, das Violinespiel, das eine Quelle der 60 % seiner nahen Verwandten aus dann wäre damals die Namensge- Inspiration für ihn bleibt. Ulm und Berlin. Es ist bitter für ihn zu bung „Albert Einstein-Universität Einstein ist nicht ohne sein Autodi- erfahren, dass acht seiner nahen Ver- Ulm“ gelungen, denn Alfred Moos daktentum zu verstehen. Es ermög- wandten ermordet wurden. Mit deut- erwirkte die Zustimmung des dama- lichte ihm, sich selbst naturwissen- schen Institutionen will Einstein nach ligen Einstein-Nachlassverwalters schaftliches Denken anzueignen. 1945 nun nichts mehr zu tun haben. Otto Nathan in New York. Später beflügelt es ihn dazu, eigen- Die ihm von seiner Geburtsstadt Ulm ständige Lösungen für hochbedeu- 1949 angetragene Ehrenbürgerschaft tende physikalische Probleme zu lehnt er ab wegen der Verbrechen, finden, die epochemachend sind. die im Holocaust begangen wurden. Christof Rieber: Bereits mit 30 Jahren ist er Lehr- Albert Einstein. Biografie eines stuhlinhaber, mit 35 Jahren wechselt Untersucht wird außerdem Ein- Nonkonformisten. Ostfildern: Thor- er nach Berlin und forscht dort ohne steins Wirkungsgeschichte in seiner becke 2018. 240 S., 24,90 € Lehrverpflichtung. Nur so kann er mit Geburtsstadt Ulm nach dem Tod 10
Bestandsaufnahme, Perspektiven und Vernetzung Erste bundesweite Fachtagung zu frühen KZ Mit der Fachtagung vom 24. bis 26. September im Haus auf der Alb in Bad Urach wurde ein Forum für die Gedenkstättenmitarbeiter*innen geschaffen, in dem es Raum zur Bestandsaufnahme, zum fach- lichen Austausch und zur Vernet- zung gab. Mareike Wacha Gedenkstätten an Orten früher Kon- zentrationslager sind besondere historische Lernorte, die zeigen, Die Referent*innen der Tagung in Bad Urach. Foto: LpB/Thomas Stein wie frühe Lager als zentrales Terror- instrument der Nationalsozialisten unterschiedliche Vornutzungen hatten rungsorte eine gewisse „strukturelle dazu benutzt wurden, die Weimarer (u. a. KZ Sachsenburg in einer alten Einsamkeit“ der Gedenkstätten auf Demokratie auszuhebeln und poli- Spinnerei, KZ Neustadt/Weinstraße Landes- bzw. regionaler Ebene hinzu. tische Gegner*innen mundtot zu in einer Kaserne, KZ Lichtenburg in Auch wenn es bundesweit mittler- machen. Mit welchen vielschichtigen einem Schloss). Da die frühen Lager weile weit über 300 Gedenkstätten Herausforderungen die Gedenk- oftmals nur kurze Zeit bestanden, zur NS-Zeit gibt, sind die 15 Gedenk- stätten aktuell konfrontiert sind, the- wurden viele Orte im Nationalsozia- stätten an den Orten früher Kon- matisierte die Tagung. lismus und nach 1945 unterschiedlich zentrationslager doch jeweils oft die Am Beginn stand eine Exkursion in genutzt, z. B. als Internierungslager einzigen in ihrem Bundesland bzw. in die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuh- der Alliierten in Esterwegen oder als ihrer Region, die diese spezifischen berg. Den Teilnehmenden vermittelte Gastwirtschaft am Oberen Kuhberg Probleme haben. Alle benötigen eine Nicola Wenge die Dimensionen des von 1947 bis 1956. Gerade diese bessere finanzielle Ausstattung, die historischen Ortes in einer Führung Nutzung steht sinnbildhaft für die unter anderem Forschung und Ver- und ging dabei auch auf konkrete Erinnerungspolitik der 1950er Jahre. mittlung ermöglicht und langfristig Probleme der Vermittlungsarbeit ein. Überlebende waren die ersten, die sichert. Fragen des Denkmalschutzes Dabei thematisierte sie auch die viel- nach 1945 Gedenkfeiern an Orten werden immer dringlicher, weil die schichtige Nutzungsgeschichte bis in früher Konzentrationslager abhielten, historischen Orte in ihrem Wert als die Gegenwart und stellte die aktuelle so auch in Ulm. Dem historischen Zeitzeugnis nach dem Verstummen Arbeit des DZOK vor. Andrea Hoffend Diskurs, der hier nur in Auszügen der Zeitzeug*innen immer wichtiger und Luisa Lehnen präsentierten im skizziert ist, folgte eine Bestands- werden, aber gleichzeitig die Origi- Anschluss daran die Konzeption des aufnahme der aktuellen Gedenkstät- nalspuren massiv gefährdet sind. Lernorts Zivilcourage & Widerstand tenarbeit, u.a. in einem Podiumsge- Diesem Thema widmete sich auch Kislau. spräch, in dem Eberhard Dittus, Irene einer der drei angebotenen Work- In Bad Urach wurde die Tagung von Götz, Melanie Engler und Anna shops, den Christian Bollacher vom am Abend fortgesetzt. Neben Jörg Schüller als Vertreter*innen noch Landesamt für Denkmalpflege Osterloh (Fritz Bauer Institut, Frank- relativ junger Gedenkstätten bzw. Baden-Württemberg leitete. Er stellte furt/Main), der einen historischen Gedenkstätteninitiativen von ihrer die Situation früher Lager in Baden- Überblick über die frühen national- Arbeit berichteten. Württemberg aus denkmalfachlicher sozialistischen Lager gab, und einer Perspektive vor. Als problematisch Forschungsbilanz der letzten 25 Die derzeit in Deutschland 15 aktiv kennzeichnete er die Überformungen Jahre von Thomas Lutz (Topogra- arbeitenden Gedenkstätten an Orten der Orte, was die „Ablesbarkeit“ phie des Terrors, Berlin), hielt Nicola früher Konzentrationslager (u. a. Fuhls- von Spuren aus der KZ-Zeit verkom- Wenge einen Vortrag zu Problemen büttel, Breitenau, Ahrensbök, Ost pliziert. Eine Würdigung als Kultur- und Potenzialen der Gedenkstätten hofen) haben, neben der Vermittlung denkmal in seinem Zeugniswert als an Orten früher Konzentrationslager. historischen Wissens, vielfältige Auf- frühes Konzentrationslager der NS- Sie zeigte, dass sich die einzelnen gabenfelder. Sie sind Erinnerungs-, Diktatur besteht derzeit nur für den Örtlichkeiten und Gebäude, in denen Forschungs- und Bildungsstätten. In Oberen Kuhberg. frühe Lager eingerichtet waren, sehr Zeiten des erstarkenden Rechtspo- Ein weiterer Workshop, angeboten pulismus in Deutschland und Europa von Gunnar Richter (Leiter der KZ- ist ihre Kompetenz hinsichtlich Auf- Gedenkstätte Breitenau), beschäf- klärungs- und Vermittlungsangeboten tigte sich mit Fragen der Vermittlung INFO wichtiger denn je. Erwartungen von und möglichen Gegenwartstransfers. Die Tagung wurde organisiert von der Gesellschaft und Politik steigen. Die Diskussionen kreisten dabei um Bundeszentrale für politische Bildung, Gleichzeitig stehen sie vor gravie- ziel- und altersgruppenspezifische der Stiftung Topographie des Terrors, renden finanziellen und denkmal- gedenkstättenpädagogische Ange- der Landeszentrale für politische Bil- schützerischen Herausforderungen. bote. Biografisches Arbeiten wurde dung Baden-Württemberg, dem zukünf- Erschwerend kommt wegen der geo- von allen Teilnehmenden als essen- tigen Lernort Kislau und dem DZOK. graphischen Dezentralität der Erinne- ziell angesehen. DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018 11
Der dritte Workshop von Angelika schung. Kooperationen mit Universi- in den Workshops wurden neue Arenz-Morch (Leiterin des NS-Doku- täten sind sehr wünschenswert und Ideen zusammengetragen, die es zentrums Rheinland-Pfalz) befasste werden angestrebt. weiterzuführen gilt. Ein greifbares sich mit Forschung an Gedenk- Bei der Tagung wurden aber nicht Ergebnis der Tagung ist die Grün- stätten. In den letzten fünf bis zehn nur Probleme identifiziert, sondern dung einer AG von Gedenkstätten an Jahren wurden Quellen zugänglich, auch schon kreative Lösungsansätze Orten früher Lager, die sich erstmalig die bis dahin nicht nutzbar waren. angedacht, wie die Arbeit gesichert im Frühjahr 2019 in Berlin treffen In Verbindung mit neuen Fragestel- und ausgebaut werden kann. Nicola wird. Der Gedankenaustausch war lungen steckt darin ein großes Poten- Wenge hatte bereits in ihrem Impuls- ein wichtiger Mutmacher auch für zial, neues Wissen zu generieren vortrag konkrete Vorschläge für die das Ulmer Team, das mit ehren- und – zugleich erschweren fehlende Arbeitsfelder Forschung, Vermittlung hauptamtlichen Mitarbeiter*innen finanziellen Ressourcen die For- und Denkmalschutz gemacht. Auch vertreten war. Neue Guides stellen sich vor „Deshalb möchte ich mitarbeiten …“ Im Juni begann unser neuer Aus- lich angesehen werden. Durch mein bildungskurs zum Guide an der Studium der Politikwissenschaften, KZ-Gedenkstätte Oberer Kuh- welches ich in großen Teilen im berg mit einem Kompaktseminar europäischen Ausland verbringe, in Kooperation mit der vh Ulm. verspüre ich ein starkes Bedürfnis, Neun Interessierte hatten sich mich gegen rechtes Gedankengut dafür angemeldet. Dabei wurden zu positionieren. Ich weiß aus der historische Unrechtsort vorge- eigener Erfahrung, dass politische stellt, wichtige Ausstellungsinhalte Meinungsbildung alles andere als im Überblick erarbeitet und die leicht ist. Aber es könnte bereits ein- unterschiedlichen Motivationen facher werden, wenn jedem Bürger zur Mitarbeit reflektiert. Zwei junge vor Augen geführt werden würde, Frauen, die nun das Guidesteam dass das, was damals geschehen stärken und Führungen machen, ist, unter keinen Umständen wieder schreiben in diesem Heft über ihre passieren darf. Als Guide in der KZ- Motivation. Gedenkstätte habe ich die Möglich- keit Menschen jeden Alters emoti- Pascale-Catherine Kirklies onal zu erreichen, Wissen an nächste Foto: privat In vielen europäischen Ländern Generationen weiterzugeben und ein rücken rechtspopulistische Par- Stück zum Weiterleben der Demo- boten wurde: Die Arbeit des DZOK teien immer mehr in die Mitte der kratie in Europa beizutragen. wollte ich unbedingt unterstützen Gesellschaft. Gerade im Hinblick auf Pascale-Catherine Kirklies studiert und mich ehrenamtlich engagieren. Deutschland frage ich mich deshalb, Politik- und Verwaltungswissen- Dazu habe ich mich entschieden, ob für manche Bürger bereits in Ver- schaften im Master an der Univer- weil die Zeit des Nationalsozialismus, gessenheit geraten ist, was noch sität Konstanz und bei Sciences Po sowie an erster Stelle dessen Opfer, nicht einmal vor einem Jahrhundert Paris. nicht in Vergessenheit geraten in Deutschland unter der NS-Dik- dürfen. Sehr viele Zeitzeugen des tatur geschehen ist. Ich frage mich, Pauline Claas Nationalsozialismus sind bereits ver- ob die Vorzüge unserer wertvollen Auf das Dokumentationszentrum storben und können ihre Geschichte Demokratie als zu selbstverständ- Oberer Kuhberg bin ich aufmerksam nicht mehr selbst erzählen. Umso geworden, als ich mich nach Prakti- wichtiger sind deshalb die histo- kumsplätzen für mein Studium – ich rischen Orte, wie eben auch das studiere Geschichte – umgesehen Konzentrationslager Oberer Kuhberg. habe: Im Februar 2017 habe ich dann Durch Führungen in der Gedenkstätte tatsächlich ein vierwöchiges Prak- möchte ich dazu beitragen, dass die tikum im DZOK gemacht. Es war Geschichte des Konzentrationslagers sehr beeindruckend, dabei die Arbeit weiterhin an Interessierte vermittelt des gesamten Teams sowie der wird. Gleichzeitig schärft Geschichte vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter auch den Blick für die Gegenwart: Es miterleben zu können. Gleichzeitig ist wichtig, sich mit der Vergangen- hat mir das Praktikum auch noch heit zu beschäftigen, um unsere heu- einmal verdeutlicht, wie wichtig das tige Gesellschaft zu gestalten. Auch DZOK als Institution für Ulm und deshalb möchte ich ehrenamtlich im die Umgebung ist. Deshalb habe ich DZOK mitarbeiten. mich wenig später für ein Seminar zur Pauline Claas studiert Geschichte Ausbildung von zukünftigen Gedenk- und Germanistik im Bachelor an der stätten-Guides angemeldet, das in Katholischen Universität Eichstätt- Foto: privat Kooperation mit der vh Ulm ange- Ingolstadt. 12
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