Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte

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Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Dokumentationszentrum
                                                 Oberer Kuhberg Ulm e. V.
                                                   – KZ-Gedenkstätte –

                                                 Mitteilungen
                                                 Heft 69 / November 2018

   Jüdisches Leben in Deutschland heute

                             Ausstellung und Ulmer Begleitprogramm

                             Aktueller Antisemitismus

                             1938: Novemberpogrom in Ulm

Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte · So, 18. November 2018 · 11 Uhr
Vorwort                                                            Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte
                                                                       für den Widerstand von 1933 bis 1945
                                                                                 und die Opfer der
                                                                      nationalsozialistischen Gewaltherrschaft

                                                                     Sonntag, 18. November 2018, 11 Uhr
Liebe Leserinnen und Leser,

in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte          Gedenken – Lernen – Einmischen
auch in Ulm die Synagoge. Die Ulmer Jüdinnen und Juden
wurden einem bis heute unfassbaren Gewaltexzess aus-
gesetzt. Zum 80. Jahrestag des Pogroms veröffentlichen                         Rede von Dr. Thomas Lutz
das DZOK und das Stadtarchiv Ulm ein neues Buch mit                    (Stiftung Topographie des Terrors, Berlin)
zahlreichen Dokumenten, Fotografien und Zeitzeugen-                  mit einem Blick auf aktuelle Perspektiven der
berichten. Eine Zusammenfassung durch den Autor Ingo                  Gedenkstättenarbeit am historischen Ort
Bergmann sowie ein Interview mit der Überlebenden
Ann Dorzback finden Sie in diesem Heft. Herzliche Ein-            Ab 12.30 Uhr: Führung durch die KZ-Gedenkstätte
ladung aber auch zu Lesung und Buchpräsentation am
8. November im Stadthaus!
Heute fürchten viele Mitglieder der neuen Ulmer jüdischen
Gemeinde wieder einen erstarkenden Antisemitismus.
Offen skandierter Hass, Verschwörungsmythen im Netz
und gewaltsame Übergriffe, wie die Beschädigung der
Ulmer Synagoge, zeugen von den aktuellen Bedrohungen.
Wir fragen den neuen Antisemitismusbeauftragten des
Landes Baden-Württemberg, Dr. Michael Blume, nach              Inhalt
den Gründen. Gastautor Martin Ulmer stellt Handlungs-
möglichkeiten der Gedenkstätten vor.                           Vorwort                                                         2
Ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung von Antise-           Sonderausstellung: Jüdische Lebenswelten                        3
mitismus ist es, Gelegenheiten zum Kennenlernen, zu
Begegnung und Austausch zu schaffen. Deshalb hat das           Interview mit Dr. Michael Blume, Antisemi­
DZOK gemeinsam mit der Stadt Ulm und der jüdischen             tismusbeauftragter in Baden-Württemberg                         5
Gemeinde die Ausstellung „Jüdische Lebenswelten in
Deutschland heute“ nach Ulm geholt. Mehr zur Ausstel-          Antisemitismus: Eine Herausforderung,
lung und zum Begleitprogramm schreiben Annette Lein            für die Gedenkstätten                                           7
und Mareike Wacha. Die Buchvorstellung von Christof            Publikation: 1938 – Novemberpogrom in Ulm                       8
Rieber über Albert Einstein rundet unser Schwerpunkt-
thema ab.                                                      Ann Dorzback über die Folgen des Pogroms                        9
Ein Highlight in der aktuellen Arbeit des DZOK war die
bundesweite Fachtagung „Gedenkstätten an Orten früher          Einstein. Biografie eines Nonkonformisten                      10
Konzentrationslager“ vom 24.-26. September bei uns             Bundesweite Fachtagung zu frühen KZ                            11
im Haus und in Bad Urach. Sie bot ein Forum, sich über
gemeinsame Herausforderungen in Forschung, Vermitt-            Neue Guides stellen sich vor                                   12
lung und Denkmalschutz auszutauschen, gerade auch über
                                                               Geplantes Erinnerungszeichen am Landgericht                    13
die Frage, wie an ehemaligen Orten der Demokratiezerstö-
rung heutige Demokratiebildung aussehen kann. Wichtige         Stolperstein für Friedrich Röcker                              14
Impulse für die Diskussion gab Gedenkstättenreferent
Thomas Lutz von der Stiftung Topographie des Terrors. Er       Neue Unterstützer der Stiftung Erinnerung                      15
wird bei der kommenden Gedenkfeier am 18. November in
                                                               Gedenktafel für Anna Essinger in England                       17
der KZ-Gedenkstätte sprechen.
Nicht zuletzt gibt es Neuigkeiten über ein starkes Erin-       Rückblick 2018                                                 18
nerungsprojekt in Ulm: Wir bringen Sie auf den aktuellen
Stand der Planungen für ein Erinnerungszeichen für die         Neues in Kürze                                                22
Ulmer Opfer der NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“,       Neue Bücher                                                   25
das im Herbst 2019 am Landgericht eingeweiht wird.
                                                               Veröffentlichungen des DZOK                                   30
All diese Aktivitäten leben von Menschen, die sich ein-
bringen und einsetzen. Es ist schön, dass einige von ihnen     DZOK-Veranstaltungen Winter/Frühjahr                          31
sich hier wieder mit Namen und Gesicht vorstellen.
                                                               Förderer dieser Nummer                                        32
Es grüßt Sie                                                   Beitrittserklärung                                            32

Ihre Nicola Wenge

                                                             Titelbild: Bei der Eröffnung der Sonderausstellung „Jüdische Lebenswelten
                                                             in Deutschland heute“ wird das Ulmer Gemeindealbum der Öffentlichkeit
                                                             präsentiert, 02.09.2018. Foto: Georg Wodarz

2
Sonderausstellung in Ulm

Jüdische Lebenswelten in Deutschland heute
Seit dem 2. September 2018 ist            dargestellt – während für einige der
die Sonderausstellung „Jüdische           Porträtierten die Religion ein wesent-
Lebenswelten      in    Deutschland       licher Bestandteil ist, stellt das
heute“ zu Gast in Ulm. Präsen-            Judentum für andere vor allem durch
tiert wird die Ausstellung in der         kulturelle Aspekte oder Geschichtsbe-
KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg,           züge einen Teil ihrer Identität dar. Da
dem Rathaus und der Synagoge.             ist zum Beispiel die Regisseurin Yael
Sie stellt junge Menschen und ihre        Reuveny, die eine beeindruckende
individuellen Lebensläufe vor und         filmische Dokumentation über ihre
zeigt damit, wie vielfältig jüdisches     Familiengeschichte geschaffen hat.
Leben in Deutschland heute ist.           Aufgewachsen in Israel, lebt sie seit
                                          einigen Jahren in Berlin und setzt sich
Annette Lein, Mareike Wacha               mit der Shoah-Vergangenheit ihrer
                                          Familie auseinander. In „Schnee von
                                          gestern“ geht es um die Rekonstruk-
In Kooperation mit der jüdischen          tion ihrer Familiengeschichte und die
Gemeinde und der Koordinierungs-          Suche nach Verwandten.
stelle Internationale Stadt zeigt das     Die Shoah und ihre Bedeutung für die
Dokumentationszentrum Oberer Kuh-         nachfolgenden Generationen klingt
berg die Sonderausstellung in Ulm.        in der Ausstellung immer wieder an.
Sie porträtiert dreizehn junge Men-       Darüber hinaus werden viele weitere
schen mit jüdischem Hintergrund           Verknüpfungen jüdischer Identitäten        Prof. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Doku-
                                                                                     mentationszentrums München, hält den Eröff-
und zeigt die vielseitigen Facetten       mit der Gegenwart gezeigt.                 nungsvortrag am 02.09.2018 in der KZ-Gedenk-
jüdischer Identitäten. Dass die Aus-                                                 stätte. Foto: A-DZOK
stellung in der KZ-Gedenkstätte           Die in der Ausstellung präsentierten
gezeigt wird, war eine bewusste           Menschen haben vor allem einen
Entscheidung. Die Gedenkstätte            Bezug zu Berlin. Die Sonderausstel-
steht als historischer Ort für die Ver-   lung bietet aber auch einen Anlass,        Mit dabei sind z. B. Christine Grunert
nichtung von Freiheit und Vielfalt zu     das jüdische Leben in Ulm in den           von der Internationalen Stadt, Rab-
Beginn des Nationalsozialismus und        Blick zu nehmen. Gemeinsam mit             biner Trebnik, freie Projektmitarbeite-
die Zerstörung heterogener Lebens-        der jüdischen Gemeinde wurde als           rinnen der Stadt Ulm, Menschen aus
welten. Seit den 1980er Jahren            Ergänzung der Ausstellung ein Album        dem Umfeld der jüdischen Gemeinde
gehört die Unterstützung von Ver-         über das jüdische Gemeindeleben            sowie aus dem DZOK.
folgten und ihren Angehörigen, die        erarbeitet. Dafür sichtete Rabbiner
Erforschung jüdischer Geschichte          Trebnik die umfangreiche Fotosamm-
und die Aufarbeitung des Antisemi-        lung der Gemeinde. Daraus hat das          Zur Eröffnung
tismus in der Region zu den Arbeits-      Ausstellungsteam eine Auswahl              Aus Anlass des jährlich stattfindenden
schwerpunkten des Dokuzentrums.           getroffen, die das Gemeindeleben           Europäischen Tags der Jüdischen
Materielle Grundlage hierzu ist die       möglichst breit in seiner Vielfalt dar-    Kultur wurde die Ausstellung am 2.
über Jahrzehnte gepflegte Samm-           stellt. Zur Entschlüsselung der Bilder     September eröffnet. Als besonderer
lung und Bewahrung von Material           und Bildunterschriften tragen kurze        Gast hatte sich der Antisemitismus-
zur Ulmer jüdischen Geschichte im         Erklärtexte bei, die besondere Begriff-    beauftragte der Landesregierung
20. Jahrhundert, das überwiegend          lichkeiten verständlich machen. Das        Baden-Württemberg, Michael Blume,
aus privaten Nachlässen stammt. Wir       Album präsentiert Einblicke in die         der seit März im neu gegründeten
wollen mit dieser Sonderausstellung       Ulmer Gemeinde seit 2005. Wichtige         Amt ist, angekündigt. Nicola Wenge
am historischen Ort und den Füh-          Eckpunkte markieren die Eröffnung          und Annette Lein führten ihn durch
rungen nicht nur ein Nachdenken über      der neuen Synagoge am Weinhof              die Gedenkstätte und stellten ihm
die Zerstörung des jüdischen Lebens       2012 und die Vollendung der neuen          die verschiedenen Arbeitsbereiche
im Nationalsozialismus ermöglichen,       Torarolle im November 2017. Neben          des DZOK vor.
sondern auch einen Blick auf das          diesen bedeutenden Ereignissen
heutige wieder entstandene und            zeigt das Album Perspektiven des           Zur Eröffnung begrüßten Kulturbür-
neu entstehende jüdische Leben in         Gemeindelebens – von Bar Mizwa-            germeisterin Iris Mann und Rabbiner
Deutschland – und in Ulm – werfen         Feierlichkeiten, öffentlichen Cha-         Shneur Trebnik sowie Michael Blume
und eine Gelegenheit zu Begegnung         nukka-Feiern auf dem Weinhof bis           und Nicola Wenge die Gäste. Den
und Austausch schaffen.                   hin zu Begegnungstreffen mit der           anschließenden Hauptvortrag hielt
                                          Budapester Gemeinde.                       Prof. Mirjam Zadoff. Nach vierjäh-
                                          Zeitgleich zur Produktion des Gemein-      riger Lehr- und Forschungstätigkeit
Zur Ausstellung                           dealbums wurde ein Guides-Team             am Alvin H. Rosenfeld-Lehrstuhl für
Auf jeder Ausstellungstafel wird eine     konstituiert, das sich inhaltlich darauf   Jüdische Studien an der Indiana Uni-
Person vorgestellt. Biografische Eck-     vorbereitet hat, Rundgänge durch die       versity in Bloomington übernahm
daten markieren kurz und knapp die        Ausstellung anzubieten. Spannend           sie im Mai 2018 die Direktion des
Vita und erzählen zusätzlich persön-      sind die unterschiedlichen Perspek-        NS-Dokumentationszentrums        in
liche Geschichten. Breit gefächert        tiven und Bezüge zum Thema, die die        München. Sie gab in ihrem Vortrag
wird die Vielfalt jüdischer Identitäten   verschiedenen Guides einbringen.           einen umfassenden Überblick über

DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018                                                                                                3
terin der vh, einen Abend zu ihrem
                                                                                              Leben und ihren literarischen Werken
                                                                                              gestalten. Im Jahr 1992 kam sie mit
                                                                                              ihrer russisch-jüdischen Familie nach
                                                                                              Deutschland. In ihren Büchern stellt
                                                                                              sie auf vielschichtige und humorvolle
                                                                                              Art und Weise Fragen nach Familie,
                                                                                              Nähe und Fremdsein.
                                                                                              Am 9. Dezember ist Liora Hilb,
                                                                                              Enkelin der Ulmer Jüdin Jenny Hilb,
                                                                                              mit ihrem Theaterstück „Remem-
                                                                                              beRING“ erneut zu Gast, diesmal
                                                                                              im Theater Ulm (s. Mitteilungsheft
                                                                                              65). Darin erzählt sie die Geschichte
                                                                                              ihrer Familie, die eng mit Ulm ver-
                                                                                              knüpft ist: Jenny Hilb wurde 1942
                                                                                              aus Ulm deportiert und in Auschwitz
                                                                                              ermordet. Liora Hilb collagiert im
                                                                                              Stück die Suche nach ihrer Famili-
                                                                                              engeschichte mit Statements junger
                                                                                              Menschen zu Antisemitismus und
Rabbiner Trebnik führt die Gäste durch die Sonderausstellung. Foto: A-DZOK                    der Shoah heute.

                                                                                              Zwei besondere pädagogische Pro-
                                                                                              jekte im Kontext der Ausstellung
                                                                                              finden für Schülerinnen und Schüler
das jüdische Leben in Deutschland                   Brückenschlag zum historischen Ort        statt: Jugendliche der Organisation
v. a. seit dem frühen 19. Jahrhun-                  und zur Ausstellung, die heutiges         „Likrat“ (hebräisch für „aufeinander
dert. Um die Vielfalt jüdischer Iden-               jüdisches Leben in Deutschland in         zu“) werden einer Ulmer Schulklasse
titäten innerhalb einer Familie zu                  den Blick nimmt.                          in einem zweistündigen Workshop
beschreiben, griff sie die Lebensge-                Rabbiner Trebnik übernahm danach          einen unbefangenen Zugang rund
schichte des jüdischen Kommunisten                  die erste Führung durch die Son-          um das Thema Judentum geben. Die
und Ultralinken Werner Scholem auf,                 derausstellung. Schwerpunktmäßig          Kinderradiogruppe „Freitagsreporter“
der Reichstagsabgeordneter der                      sprach er über Identitäten jüdischer      der „e.tage Medien und Bildung“
KPD war und später aus dem Zen-                     Menschen. Diese seien vielfältig          des Stadtjugendrings wird sich unter
tralkomitee ausgeschlossen wurde.                   und divers, zum Beispiel in Bezug         Anleitung von Claudia Schwarz in
Angeklagt wegen Hochverrats, war                    auf Religionsausübung, gesellschaft-      Ulm auf akustische Spurensuche zu
er in der NS-Zeit zunächst zwei Mal                 liches Engagement oder eigene fami-       jüdischem Leben heute begeben.
in „Schutzhaft“, später im KZ Dachau                liäre Erinnerungen und Tradierungen       Zum Abschluss der Sonderausstel-
und schließlich im KZ Buchenwald                    der Shoah. Es überrascht, dass viele      lung in Ulm wird es in der Syna-
inhaftiert. Dort wurde er am 17. Juli               der Porträtierten im Zusammenhang         goge am Weinhof am 12. Dezember
1940 ermordet. Mit diesem Beispiel,                 mit der Ausstellungserarbeitung im        eine Finissage mit Gesprächen und
der Geschichte eines jüdischen Kom-                 Jahr 2015 äußerten, wie wohl und          Begegnungen geben.
munisten, gelang Mirjam Zadoff ein                  sicher sie sich in Berlin fühlen. Daran
                                                    anknüpfend verwies Rabbiner Trebnik
                                                    auf die Ereignisse in Chemnitz und
                                                    hinterfragte kritisch, wie es heute
                                                    mit dem Lebensgefühl aussehe. Die
                                                    vermehrten Angriffe auf jüdische,           Info
    Begleitprogramm                                 muslimische und christliche Einrich-        Die Sonderausstellung „Jüdische
                                                    tungen kommentierte er wie folgt:           Lebenswelten in Deutschland heute“
    Dienstag, 20.11.2018                            „Es betrifft uns alle“. Er wies auf         wurde von der Zeitbild-Stiftung kon-
    vh ulm, Club Orange, 19.30 Uhr                  die Beschädigungen an der Außen-            zipiert und durch das Bundesministe-
    „Autorin im Gespräch Spezial“                   fassade der Ulmer Synagoge im               rium für Familie, Senioren, Frauen und
    – Lena Gorelik im Gespräch mit                  September 2017, den Anschlag auf            Jugend gefördert.
    Dagmar Engels                                   die Ulmer Moschee im März dieses            Die Präsentation der Ausstellung in Ulm
    VVK 6/3 €, AK 8/5 €                             Jahres und die rassistischen und nati-      wurde durch die Stadt Ulm, die Landes-
    Karten erhältlich in der vh                     onalsozialistischen Schmierereien im        zentrale für politische Bildung Baden-
                                                    Münster Anfang September hin.               Württemberg und die Stiftung Erinne-
    Sonntag, 9. Dezember 2018                                                                   rung Ulm ermöglicht.
    Theater Ulm, 19.30 Uhr                                                                      Für die gelungene Gestaltung des
    RemembeRING. Besser ist, wenn du                Zum Begleitprogramm                         Gemeindealbums danken wir dem
    nix weißt                                       Das bis Dezember laufende Begleit-          Gestaltungsbüro Braun Engels, insbe-
    Eintritt 20/12 €                                programm eröffnet mit unterschied-          sondere Susanne Jüttner und Gerhard
    Karten erhältlich im Theater Ulm                lichen       Veranstaltungsformaten         Braun.
                                                    spannende Perspektiven auf die              Zu sehen ist die Ausstellung noch bis
    Mittwoch, 12. Dezember 2018                     Thematik. Am 20. November kommt             23. November 2018 im Rathaus und von
    Synagoge, 18.30 Uhr                             die vielfach ausgezeichnete Schrift-        28. November bis 20. Dezember 2018
    Finissage                                       stellerin Lena Gorelik nach Ulm. In         in der Synagoge (Voranmeldung unter:
    Anmeldung unter: irgw.ulm.synagogen-            der Reihe „Autorin im Gespräch“             irgw.ulm.synagogenfuehrung@gmail.
    fuehrung@gmail.com                              wird sie mit Dagmar Engels, Lei-            com).

4
Interview mit dem Antisemitismusbeauftragten des Landes, Dr. Michael Blume

„Wie schlimm es wird, liegt an uns allen“
Zur Eröffnung der Sonderaus-
stellung „Jüdische Lebenswelten
in Deutschland heute“ in der KZ-
Gedenkstätte Oberer Kuhberg
sprach Dr. Blume über seine Ana-
lysen und Prognosen im Umgang
mit dem Antisemitismus.

Das Interview führte DZOK-Vereinsmitglied
Michael Joukov.

Sie sind seit knapp sechs Monaten
im Amt. Was hat Sie bisher am
meisten überrascht?
Das digitale Anwachsen des anti-
semitischen      Verschwörungsglau-
bens geht sehr viel schneller voran
                                            Michael Blume (re.) beim Interview mit Michael Joukov, 02.09.2018. Foto: A-DZOK
als zu befürchten war. So erleben
wir gerade in Baden-Württemberg
bereits gezielte Angriffe auf die
regionale Erinnerungskultur, ver-           bedrohen unsere Gesellschaft als                   Fälle nicht mehr automatisch dem
bunden mit rassistischen Ausfällen          Ganzes.                                            Rechtsextremismus zugeschlagen
gegen unsere Landtagspräsidentin                                                               werden. Darüber hinaus hat Baden-
Muhterem Aras. Die Mehrheit der             Sie sind, soweit ich es weiß, der                  Württemberg eine Meldepflicht für
Menschen in Deutschland sorgt sich          erste Antisemitismusbeauftragte                    Fälle ethnischen und religiösen Mob-
inzwischen wegen der rechtspopuli-          eines Landes, Ihre Einsetzung                      bings an Schulen eingeführt und wir
stischen Angriffe auf unsere Demo-          wurde mit großer Mehrheit vom                      haben mit dem Bund den Aufbau
kratie. Diese Mehrheit hat leider           Landtag gefordert. Dabei steht                     eines    Bund-Länder-Meldesystems
Recht.                                      Baden-Württemberg an vorletzter                    für antisemitische Vorfälle im öffent-
                                            Stelle, was die Anzahl antisemi-                   lichen und digitalen Raum vereinbart.
Sie haben unlängst erklärt: „Anti-          tischer Straftaten angeht. Wie                     Es bräuchte jedoch dringend noch
semitismus ist eine Misstrauens-            kommt es also, dass dieses Land                    mehr Kolleginnen und Kollegen in
erklärung an die gesamte Gesell-            als erstes aktiv wurde?                            den anderen Ländern, um die Dinge
schaft“. Können Sie ausführen, was          Die jüdischen Gemeinden hatten den                 zu beschleunigen.
Sie damit meinen?                           Ministerpräsidenten darum gebeten
Der Semitismus bezieht sich auf den         und mich – ohne vorher zu fragen –                 Jüdinnen und Juden machen nicht
mythologischen Noah-Sohn Sem als            auch vorgeschlagen. Für die breite                 ganz 0,1 % der Bevölkerung des
Begründer des ersten Lehrhauses             und überparteiliche Unterstützung                  Landes aus. Wie entgegnen Sie
und der späteren, semitischen Reli-         bin ich sehr dankbar. Gerade weil es               dem Vorwurf, da wird „wieder eine
gionen. Demnach ist es möglich, auf         uns in Baden-Württemberg sehr gut                  Extra-Wurst gebraten“?
Basis eines Rechtsstaates in Frieden,       geht, Arbeitslosigkeit, Armut und                  Im Irak habe ich einen gravierenden
Freiheit und Vielfalt zusammen zu           Kriminalität sehr niedrig sind, ist früh           Antisemitismus ganz ohne jüdische
leben, die Welt gemeinsam zu erfor-         aufgefallen, dass der Verschwörungs-               Gemeinden erlebt. Da haben sich
schen und zu gestalten.                     glauben aus dem Netz in die Realität               dann Sunniten und Schiiten, Araber,
Antisemiten verkünden dagegen               kippt. Niemand kann sich hier damit                Kurden und Turkmenen gegenseitig
Verschwörungsmythen, nach denen             herausreden, der Antisemitismus                    vorgeworfen, Teil der angeblichen
die Welt von jüdischen und nichtjü-         ginge nur von armen oder zugewan-                  „jüdischen Weltverschwörung“ zu
dischen Verschwörern bedroht werde          derten Menschen aus.                               sein. Ich bekam antisemitische Ver-
– in den Religionen, den Medien, den                                                           schwörungsmythen zu hören, wie:
Parlamenten, Gerichten und Wissen-          Im Beschluss des Landtags stand                    „Der Erdoğan ist doch heimlich
schaften. Deswegen läuft Antisemi-          auch, dass die Landesregierung                     Jude und soll die Türkei zerstören.“
tismus immer auf die Zerstörung des         aufgefordert wird, „die Erfassung                  oder „Der Islamische Staat, das ist
gesamten Rechtsstaates, den Angriff         antisemitischer Straftaten durch                   doch nur der israelische Geheim-
auf Institutionen und Religionen            die Sicherheitsbehörden weiter zu                  dienst Mossad.“ Der Antisemitismus
sowie die Verfolgung verschiedenster        verbessern. Die Schaffung entspre-                 bedroht immer auch die gesamte
Minderheiten hinaus. Die aktuelle           chender Strukturen soll den Betrof-                Gesellschaft und wir müssten ihn
Schmiererei im Ulmer Münster –              fenen das Anzeigen antisemitischer                 selbst dann bekämpfen, wenn es hier
„Hakenkreuz statt Kreuz“ – ist dazu         Straftaten erleichtern und damit                   gar keine Jüdinnen und Juden gäbe!
geradezu klassisch. Auch im Konzen-         Dunkelziffern reduzieren.“ – Hat                   Stattdessen können wir dankbar
trationslager Oberer Kuhberg waren          sich da schon etwas getan?                         sein, dass viele, wie der Ulmer Rab-
ja neben politischen auch christlich-       Ja, wir konnten mit dem Innenmini-                 biner Shneur Trebnik, ganz aktiv mit
religiöse NS-Gegner inhaftiert; Anti-       sterium bereits vereinbaren, dass die              uns dagegen aufklären.
semitismus und Rechtsextremismus            Erfassung präzisiert wird und unklare

DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018                                                                                                     5
Sie waren sechs Jahre lang               Zunächst, indem wir anerkennen,         es eine neue Entwicklung? Oder
Stadtrat in Filderstadt und somit        dass es gar keine überprüfbaren The-    sorgen die neuen technischen
„qua Ehrenamt“ ganz nahe an den          orien sind, sondern Verschwörungs-      Möglichkeiten nur dafür, dass es
Bürgerinnen und Bürgern. Haben           mythen. Mit dem Begriff „Verschwö-      besser bemerkt wird?
Sie Erfahrungen mit Alltagsanti-         rungstheorie“ verharmlosen wir die      Es stimmt beides: Im Netz wurde der
semitismus gemacht? Wenn ja,             Erzählung bereits. Die Erzählung        ohnehin bestehende Antisemitismus
welche?                                  von der jüdischen Weltverschwö-         sichtbarer, er radikalisiert sich durch
Ja, schon als Gründungsvorsitzender      rung funktioniert als dualistischer     die gegenseitige Bestätigung in den
einer Christlich-Islamischen Gesell-     Mythos, in dem sich die Antisemiten     digitalen Foren aber auch. Franziska
schaft wurden mein muslimischer          als vermeintlich bedrohte Gruppe der    Schreiber hat diese digital befeuerte
Kollege und ich mit Forderungen          „Guten“ darstellen, die sich verzwei-   Radikalisierung in „Inside AfD“ für
konfrontiert, Christen und Muslime       felt gegen die Naiven und die „Bösen“   ihre ehemalige Partei sehr eindrucks-
gemeinsam gegen Juden in Stel-           wehre. Deswegen behaupten Antise-       voll beschrieben. Und dieser Prozess
lung zu bringen. Stattdessen haben       miten auch immer, ihr Hass und ihre     läuft leider noch immer weiter.
wir den Dialog zum Trialog erweitert.    Gewalt diene der Verteidigung, sie
Aber ich erlebe es immer wieder, fast    seien die eigentlichen Opfer!           Es gibt immer wieder die Debatte
täglich: Antisemiten versuchen, die      Wir können und müssen diese             um Abgrenzung zwischen Antise-
Religionen und Völker gegeneinander      Struktur des Verschwörungsmythos        mitismus und Israel-Kritik. Nun
auszuspielen. Deswegen müssen            konsequent aufdecken, entlarven         ist es gewiss völlig legitim, die
wir dem Antisemitismus so oft wie        und vor allem Kinder davor bewahren.    Politik eines Landes zu kritisieren.
möglich gemeinsam die Stirn bieten.      Auch das Strafrecht sollte früher und   Aber zumindest mir ist noch nie
                                         härter greifen.                         der Wunsch begegnet, Papua-
Glauben Sie, dass Sie noch die Zeit                                              Neuguinea, Schweiz, Österreich
erleben werden, in der jüdische          Der Auftrag an die Landesregie-         oder Tadschikistan (alles Staaten
Einrichtungen ohne besondere             rung, also auch an Sie, war es,         ähnlicher Größe wie Israel) zu kri-
Sicherheitsvorkehrungen arbeiten         „Moscheegemeinden und musli-            tisieren. Wie kommt also diese
können?                                  mische Träger für die Arbeit gegen      Fixierung Ihrer Meinung nach
                                         Antisemitismus zu gewinnen und          zustande?
Nein, das glaube ich leider nicht. Ich   gezielt Projekte zu fördern, die
fürchte, dass wir die Spitze der digi-   deren Begegnung und Dialogar-           Darüber spreche ich noch im Sep-
talen Radikalisierung noch gar nicht     beit mit jüdischen Partnern sowie       tember einmal bei der Deutsch-Isra-
erreicht haben und es noch einige        Trägern politischer Bildung gegen       elischen Gesellschaft und einmal in
Jahre schlimmer werden wird. Wie         Antisemitismus vorsehen; den            der Evangelischen Akademie Bad
schlimm, liegt an uns allen.             Antisemitismus in Deutschland und       Boll. Denn tatsächlich gibt es keine
                                         seine unterschiedlichen Erschei-        China- oder Pakistankritik und schon
Sie unterscheiden in Ihren Stellung-                                             gar keine großen Boykottbewe-
nahmen zwischen dem alten und            nungsformen zum Gegenstand
                                         einer Befassung durch die Deut-         gungen, obwohl beide Länder auch
neuen Antisemitismus. Können                                                     muslimische Minderheiten brutal
Sie diesen Unterschied für unsere        sche Islamkonferenz zu machen“,
                                         wie kommen Sie hier voran?              diskriminieren. Die Israelkritik steht
Leser*innen kurz skizzieren?                                                     neben der Kirchen- und Islamkritik
Wir haben in Deutschland den alten,      Bereits jetzt habe ich zahlreiche       und bezieht sich auf die Religionen.
rechts- und auch linksextremen           Einladungen islamischer Verbände        Wer behauptet, nur Zionisten zu
Antisemitismus, der sich digital aus-    und Institutionen erhalten, die die     hassen, versucht nur den alten Anti-
breitet, sowie einen neuen Antise-       Zusammenarbeit bei der Bekämp-          semitismus zu tarnen.
mitismus unter Migranten. Inhaltlich     fung des Antisemitismus suchen.
unterscheidet sich dieser kaum, es       Zur Neukonzeption der Deutschen         Wenn Sie einen Wunsch frei hätten,
sind oft die gleichen Verschwörungs-     Islamkonferenz habe ich mich eben-      welcher wäre es?
mythen. Der Landtagsabgeordnete          falls bereits öffentlich geäußert und   Ich würde mir wünschen, dass noch
Gedeon (AfD) erklärt zum Beispiel die    auch Gespräche in Berlin geführt.       viel mehr Menschen begreifen, was
„Protokolle der Weisen von Zion“ für     Neben dem Antisemitismus im Netz        neue Medien mit uns machen. Ich
echt, ebenso wie es auch arabische       und in den Schulen bildet der Anti-     selbst nutze auch als Wissenschafts-
Antisemiten tun. Letztlich behaupten     semitismus unter Muslimen meinen        blogger das Internet engagiert, sage
sie sogar gemeinsam, die jüdische        dritten Arbeitsschwerpunkt. Und ich     aber auch, dass seine Nutzung auf-
Weltverschwörung habe den Orient         stimme meinem Kollegen auf Bun-         grund der schnellen Massenwir-
destabilisiert und lenke nun Flücht-     desebene, Herrn Dr. Klein, zu: Die      kung die Welt in Kriege und Kon-
linge nach Europa, um auch dieses zu     Gedenkstätten werden künftig eine       flikte stürzen könnte wie zuletzt der
zerstören. Deswegen identifizieren       größere Rolle spielen müssen. Daher     Buchdruck und die Einführung von
sich auch Rechtsextreme etwa in der      freue ich mich, dass hier am DZOK       Radio und Filmen. Ob wir den anti-
NPD mit radikalen Palästinensern und     in diesem Bereich schon sehr viel       semitischen Verschwörungsglauben
Iranern. Juden und westliche Demo-       Erfahrung gesammelt wird!               diesmal stoppen können, entscheidet
kraten sind das gemeinsame Feind-        Wir treffen uns einen Tag nach          über nicht weniger als die Zukunft
bild alter und neuer Antisemiten.        dem sog. „Trauermarsch“ der AfD         der Demokratien und der Mensch-
                                         in Chemnitz. Dabei wurde, Auf-          heit insgesamt …
Antisemitismus    und   Nationa-
lismus konstruieren immer gerne          nahmen belegen es, auch „wir
eine Bedrohung, meist sogar eine         bauen eine U-Bahn bis nach Ausch­
                                         witz“ gesungen. In Österreich             Info
Verschwörung von Juden, der
                                         regiert eine Partei mit, deren Spit-      Dr. Michael Blume ist Religionswissen-
„Lügenpresse“, von Muslimen,
                                         zenpersonal „gib Gas, wir schaffen        schaftler und Beauftragter der Landes-
Freimaurern oder was auch immer.
                                         die siebte Million“ in den jewei-         regierung gegen Antisemitismus. Er
Wie entkräftet man derartige Ver-
                                         ligen Liederbüchern abdruckte. Ist        forscht, lehrt und publiziert zu Fragen
schwörungstheorien?
                                                                                   des christlich-islamischen Dialoges.

6
Aktueller Antisemitismus in Deutschland

Eine Herausforderung für die Gedenkstätten
Die     Auseinandersetzung     der                                                          nungsformen von Antisemitismus
Gedenkstätten mit dem wach-                                                                 zugrunde. Nach der Klärung dieser
senden Antisemitismus in Deutsch-                                                           Fragen wurde in einem Rollenspiel
land steckt vor allem in den                                                                eine Gesprächssituation mit Men-
überwiegend ehrenamtlich arbei-                                                             schen, die sich antisemitisch äußern,
tenden Gedenkstätten noch in den                                                            simuliert und es wurden Möglich-
Anfängen. Dabei ist die Verschrän-                                                          keiten zum Umgang mit solchen Kon-
kung von historischem Wissen und                                                            flikten aufgezeigt. Dabei wurde deut-
politischem Lernen für die Gegen-                                                           lich, dass viele Gedenkstätten einen
wart essentiell.                                                                            großen Informations- und Handlungs-
                                                                                            bedarf beim Thema Antisemitismus
Martin Ulmer                                                                                haben. Ein Weiterbildungsangebot
                                                                                            für interessierte Gedenkstätten ist
                                                                                            geplant.
Die Zurückhaltung der Gedenkstätten       Martin Ulmer beim zentralen Jugendguide-
in der Auseinandersetzung mit dem         treffen in der Stauffenberg-Gedenkstätte, April   Bei Schulbesuchen in Gedenk-
                                          2018. Foto: privat
aktuellen Antisemitismus liegt zum                                                          stätten sind beim Thema aktueller
einen am Fokus auf die Vermittlung                                                          Antisemitismus vor allem die Syna-
historischer Zusammenhänge nicht          und Zivilgesellschaft (einschließlich             gogengedenkstätten und Gedenk-
nur in KZ-Gedenkstätten, sondern          Gedenkstätten) bei der Bekämpfung                 orte jüdischen Lebens die richtige
auch bei Synagogengedenkstätten,          herausfordern.                                    Adresse, weil dort jüdisches Leben
die von der Bedeutung des lokalen                                                           bis zur Zerstörung gezeigt wird. Der
jüdischen Lebens und der Zerstö-          Zwar können Gedenkorte alleine                    historische Antisemitismus weist
rung durch den Nationalsozialismus        keine tiefgehenden Fehlentwick-                   Gemeinsamkeiten und Unterschiede
erzählen. Sie liegt zum anderen am        lungen wie gruppenbezogene Men-                   zur aktuellen Judenfeindschaft auf
erst entstehenden Problembewusst-         schenfeindlichkeit, Antisemitismus,               und dieses Verhältnis kann mit den
sein, dass historisches Wissen und        Rassismus und antidemokratisches                  Besucher*innen produktiv diskutiert
politisches Lernen bei der Konfron-       Denken überwinden. Dies kann län-                 werden. Ebenso geht es in den Syna-
tation mit aktuellen Erscheinungs-        gerfristig nur in der Zusammenarbeit              gogengedenkstätten um Vermitt-
formen des Antisemitismus (klas-          mit anderen Akteur*innen und dabei                lung religiösen Wissens als Teil der
sischer Antisemitismus, sekundärer        besonders mit Schulen geschehen.                  interkulturellen Bildung, denn vielen
Antisemitismus,     Israelfeindschaft,    Ein in Schulen und Gedenkstätten                  Menschen ist das Judentum fremd
Verschwörungsmythen) zusammen-            herausgebildetes          historisches            und Nichtwissen stellt ein Einfallstor
gehören. Wenn rund 50 Prozent der         Bewusstsein kann ein Fundament                    für antisemitische Projektionen dar.
Deutschen laut Umfragen meinen,           für die Sensibilisierung gegenüber                Mehr noch können Begegnungen
dass Israel einen Vernichtungs-           Antisemitismus und Demokratiege-                  mit jüdischen Menschen – sei es in
krieg gegen die Palästinenser und         fährdung sein. Wo sich Chancen zum                Gedenkstätten, bei Veranstaltungen
Palästinenserinnen führen würde,          politischen Lernen ergeben, sollten               oder durch Besuche jüdischer
wenn Schüler*innen bei Besuchen           diese in den Gedenkstätten aktiv                  Gemeindeeinrichtungen – wichtige
in Gedenkstätten auf angebliche           genutzt werden.                                   Beiträge zum Abbau antisemitischer
Verschwörungen durch Juden und                                                              Stereotype sein. Der aktuelle Antise-
Jüdinnen wie Rothschild bzw. auf den      Auf der Jahrestagung der Landesar-                mitismus sollte durch pädagogische
israelischen Geheimdienst Mossad          beitsgemeinschaft    Gedenkstätten                Angebote aufgegriffen werden. Bei
als Drahtzieher der Anschläge am          und    Gedenkstätteninitiativen    in             mehrstündigen Besuchen gibt es in
11. September 2001 zu sprechen            Baden-Württemberg (LAGG) in Bad                   einzelnen Gedenkstätten die Mög-
kommen, braucht es überzeugende           Urach im März 2018 wurden des-                    lichkeit, aktuelle Formen des Anti-
Gegenkonzepte. Hinzu kommen die           halb vier Workshops (Rechtspopu-                  semitismus in Workshops vertiefend
wachsenden Übergriffe auf jüdische        lismus, angemessenes Verhalten                    zu behandeln. Bei diesem sensiblen
Menschen und die Synagogen- und           in Gedenkstätten, Antisemitismus                  Thema scheint es besonders
Friedhofsschändungen wie jüngst in        und Widerstand) angeboten, um die                 wichtig, dass moralisch-belehrende
Ulm und Hechingen, die den demo-          Teilnehmer*innen auf aktuelle poli-               Ansätze seitens der Gedenkstätten
kratischen Staat und die Bürger-          tische Problemlagen hinzuweisen                   und Lehrer*innenschaft unterlassen
                                          sowie mit inhaltlichem und metho-                 werden und mit Schüler*innen, die
                                          dischem Input und Anregungen                      sich antisemitisch äußern, ernsthaft,
  Literaturempfehlung                     für die Gedenkstättenarbeit zu ver-               sachlich und kritisch diskutiert und
                                          sorgen.                                           diese Äußerungen durch Argumente
  Christian Brühl/Marcus Meier (Hg.):     In dem von mir geleiteten Workshop                hinterfragt werden. Bei gezielten,
  Antisemitismus als Problem in der       zum Antisemitismus zeigte sich ein                schwerwiegenden und anhaltenden
  schulischen und außerschulischen        großes Informationsbedürfnis: Dem                 Äußerungen hilft jedoch nur noch der
  Bildungsarbeit. Pädagogische und        lagen Fragen nach der Definition von              Hinweis, dass diese mit dem demo-
  didaktische Handreichungen für          Antisemitismus und Wissensdefizite                kratischen Rechtsstaat nicht ver-
  Multiplikatoren und Multiplikato-       über das jüdische Leben im heutigen               einbar sind und sogar ein Hausverbot
  rinnen. 3. Auflage, Köln: NS-Dokumen-   Deutschland sowie über das große                  und eine Strafanzeige zur Folge haben
  tationszentrum 2014.                    Ausmaß der verschiedenen Erschei-                 können.

DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018                                                                                                  7
Neue Publikation von DZOK und Stadtarchiv

1938: Novemberpogrom in Ulm
Zum 80. Jahrestag des Pogroms                Mitmenschen nicht wieder. Tausende      Männer ins Konzentrationslager
erscheint ein Buch mit zahlreichen           wurden in dieser Nacht misshan-         Dachau verschleppt und mit Rabbiner
historischen Dokumenten, Foto-               delt, hunderte ermordet und, was        Dr. Julius Cohn, Julius Barth und
grafien und Zeitzeugenberichten,             oftmals verschwiegen wird, Frauen       Friedrich Mayer starben drei Ulmer
das die Ereignisse in Ulm sowie              vergewaltigt. Verzweifelte Menschen     an den Folgen der Misshandlungen
ihre Vor- und Nachgeschichte                 nahmen sich in der Nacht und in den     noch in der Pogromnacht bzw. später
anschaulich darstellt. Es wird am            folgenden Wochen und Monaten            im Konzentrationslager. Das Pogrom
8. November auf der zentralen                das Leben. Das Erlebte war so trau-     beendete die Hoffnung vieler, in ihrer
Gedenkveranstaltung vorgestellt.             matisch, dass viele Augenzeugen         geliebten Heimat bleiben zu können.
                                             auch nach Jahrzehnten nicht darüber     In den folgenden Monaten setzte
Ingo Bergmann                                reden konnten.                          eine Fluchtwelle ein. Kinder wurden
                                             Der Zivilisationsbruch fand dabei       mit den Kindertransporten nach Groß-
                                             nicht im Geheimen statt, sondern        britannien gebracht, in vielen Fällen
Die grundlegenden Fakten und Daten           unter den Augen von Nachbar*innen       waren sie die einzigen Überlebenden.
sind bekannt: In der Nacht vom 9. auf        und Schaulustigen. Wie spätere Pro-     Wie schwierig die Suche nach einem
den 10. November 1938 brannten               zesse und Forschungen belegten,         Aufnahmeland war, belegt eindrucks-
nahezu alle Synagogen im Deut-               waren die Verbrechen kein spontaner     voll die Irrfahrt der St. Louis. Den Aus-
schen Reich, jüdische Geschäfte              Ausbruch des „Volkszorns“, wie es       wanderinnen und Auswanderern an
wurden verwüstet und geplündert,             Goebbels’ Propagandamaschinerie         Bord wurde die Ausschiffung in Kuba
tausende Mitmenschen schwer                  gerne darstellte, sondern vielmehr      verwehrt, die USA lehnten ebenfalls
misshandelt, hunderte ermordet.              eine befohlene Aktion. Die Mehrheit     die Aufnahme ab. Nach der Rückkehr
In fast jeder deutschen Stadt erin-          der Bevölkerung war zwar nicht aktiv    nach Europa konnten sich zwar viele
nern heute Gedenktafeln an die Ver-          beteiligt, Zeichen der Mitmenschlich-   der Passagiere über andere Wege
brechen der Reichspogromnacht.               keit und der Hilfe waren aber rar.      retten, darunter der Ulmer Fritz Hilb,
Steinerne Mahnmale für ein in der            Die Ereignisse rund um den              für viele bedeutete die Rückkehr aber
Neuzeit nie dagewesenes Gesell-              9. November 1938 stellen den            den Beginn der Verfolgung und den
schaftsverbrechen. Eine Nacht, die           Wandel der nationalsozialistischen      späteren Tod in den Konzentrations-
wie kaum eine andere für den Verlust         Politik gegenüber der jüdischen         lagern.
von Menschlichkeit und Mitgefühl             Bevölkerung von der Vertreibungs-       Erhalten gebliebene Briefe und
steht. Eine Nacht, deren Schrecken           hin zur Vernichtungspolitik dar. Jene   Tagebuchaufzeichnungen, die zum
durch die Erinnerungstafeln nicht            Nacht öffnete das Tor zur Shoah.        Teil erstmals präsentiert werden,
wiedergegeben werden können.                 Sie war eine grausame Ouvertüre         geben eindrucksvoll die Stimmungs-
Die Fotografien von eingeworfenen            zu einem der größten Verbrechen         lage dieser Zeit wieder. Anhand von
Schaufensterscheiben und zerstörten          der Menschheitsgeschichte. Dieses       Zeitzeugenberichten, Dokumenten
Synagogen dokumentieren zwar den             nahm unmittelbar nach dem Pogrom        und Fotografien fügt dieses Buch
beträchtlichen Sachschaden, geben            immer klarere Formen an. Es wurde       die komplexen Ereignisse der Jahre
aber die Verbrechen an den jüdischen         nun für alle Welt deutlich, dass die    1938 und 1939 zu einem Gesamt-
                                             Nationalsozialisten    die   jüdische   bild zusammen. Zeitzeug*innen und
                                             Bevölkerung auch mit physischer         Nachgeborene berichten über das
                                             Gewalt bekämpften. Fast im Monats­      Erlebte und über den Umgang mit
                                             takt wurden immer aggressivere          der eigenen Familiengeschichte.
                                             Maßnahmen ergriffen: monatelange        Dadurch wird deutlich, dass in dieser
                                             Haft in Konzentrationslagern, Zer-      Nacht weit mehr zerstört wurde,
                                             schlagung nahezu aller jüdischen        als es der verniedlichende Ausdruck
                                             Betriebe und Geschäfte, Kennzeich-      „Kristallnacht“ suggerieren wollte
                                             nung der Pässe, Zwangsvergabe der       und dass die Folgen bis in die Gegen-
                                             Vornamen Israel und Sara, Autofahr-     wart reichen.
                                             verbot, vollständige Überwachung
                                             des Aufenthaltsortes und Beginn
                                             der „Konzentration“ in so genannten
                                             „Judenhäusern“. Wer konnte, verließ
                                             schweren Herzens die angestammte
                                             Heimat. Das Gefühl der Schmach und        Info
                                             Entwurzelung begleitete sie dabei         Donnerstag, 8. November 2018
                                             und vor allem die älteren unter den       Stadthaus Ulm, 19 Uhr
                                             Geflüchteten trugen diesen Schmerz        Buchpräsentation und Lesung zum
    Ingo Bergmann:                           für immer mit sich.                       80. Jahrestag des Novemberpo-
    1938. Das Novemberpogrom in Ulm          Das Pogrom fand im ganzen Deut-           groms
    – seine Vorgeschichte und Folgen.        schen Reich statt, auch in Ulm.           Eine Veranstaltung des Arbeitskreises
    Hg. von DZOK und Stadtarchiv Ulm. Ulm:   Auch hier brannte am 9. November          27. Januar Ulm/Neu-Ulm
    Klemm+Oelschläger 2018. 14,80 €          die Synagoge und auch hier wurden         Mit Oberbürgermeister Gunter Czisch,
    Erhältlich im DZOK, im Haus der Stadt-   Mitmenschen unter den neugierigen         Ingo Bergmann, Schauspielern des The-
    geschichte, im Buchhandel sowie am       Augen von Schaulustigen misshan-          ater Ulm und einer Schülerin des Scholl-
    Veranstaltungsabend im Stadthaus.        delt. Auch aus Ulm wurden jüdische        Gymnasiums

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Ann Dorzback über die Folgen des Novemberpogroms für sich und ihre Familie

„Wir müssen dieses Land verlassen“
Eine der letzten Überlebenden, die
Ingo Bergmann noch zum November-
pogrom in Ulm befragen konnte, war
Ann Dorzback, geb. Wallersteiner. Sie
schickte ihre Antworten im August
2018 aus den USA.

Die      Reichspogromnacht        am
9. November 1938 war ein ein-
schneidendes Ereignis. Haben Sie
daran Erinnerungen oder gibt es
Berichte aus Ihrer Familie über die
Ereignisse?
Der Ulmer Rabbiner und viele
andere wurden misshandelt. Ich
selbst (17 Jahre alt) war in Berlin in
der Schule und sah dort die Syna-
goge in Flammen. Alles, was in den
Berichten steht, ist wahr. Mein Vater
sagte, „ein Volk, das keinen Respekt
hat für ein Gotteshaus, hat auch         Ann Dorzback zu Besuch in der DZOK-Geschäftsstelle, 26.07.2013 (v. l.: Theresa Rodewald, Ann Dorz-
keinen Respekt für den Menschen.“        back, Nicola Wenge). Foto: A-DZOK
Als ich im Dezember von der Schule
nach Ulm zurückkam, sagte mein
Vater: „Wir müssen dieses Land ver-
lassen.“                                 New York viel einfacher. Wir fanden                 Ulm eingestanden, welche Sünden
                                         eine möblierte Wohnung und meine                    gegen eine „Minderheit“ begangen
Waren    Familienangehörige   in         Schwester und ich gründeten ein                     wurden.   Diese   Anstrengungen
der Folge im Konzentrationslager         „Dressmaking Studio“. Es war nicht                  müssen anerkannt werden.
Dachau inhaftiert?                       schwer, sich in New York einzuleben.
Ja, beide Brüder meiner Mutter,          Natürlich mussten meine Eltern viele                Gab es innerhalb Ihrer Familie
Karl Bergmann aus Ulm und Edwin          Entbehrungen überwinden. Nach ein                   unterschiedliche Meinungen über
Bergmann aus Laupheim, waren in          paar Jahren gründeten mein Vater                    Ulm bzw. Deutschland nach dem
Dachau.                                  und ich nochmals eine kleine Fabrik                 Krieg (z.B. wollten manche even-
                                         namens L. S. Wallersteiner bis zu                   tuell nicht mehr zu Besuch kommen
Schildern Sie bitte den Weg in die       seinem Ableben im Juli 1946.                        und die alte Heimat ganz hinter
neue Heimat. Wie sind Sie und Ihre                                                           sich lassen?)
Familie nach Amerika gekommen?           Sie waren nach dem Krieg sehr                       Jeder war anders betroffen. Ja, es
                                         häufig in Ulm. Was verbindet                        gab Menschen in der Familie, welche
Wir fanden drei verschiedene Bürgen
                                         Sie heute im Jahr 2018 mit Ihrer                    nicht mehr deutsch sprechen wollten,
für meine Eltern, Schwester Lotte
                                         Geburtsstadt?                                       oder manche, die nur nach vorne
und mich für Amerika. Wir mussten
auch Bürgen für England haben,           Die schönen Erinnerungen an meine                   schauen wollten, nicht mehr zurück.
um dort die Zeit für das Visum abzu-     Kindheit und Jugend in der Weimarer                 Diese Menschen konnten in ihrem
warten. Wir konnten unser Geld           Republik, an eine harmonische Stadt,                Leben keine Ruhe mehr finden.
nicht mitnehmen. Wir hatten großes       in der sich Menschen aller Konfes-
Glück, dass wir Ulm am 7. Mai 1939       sionen unterstützten und respek-
verlassen konnten. England war nicht     tierten. In dem Buch „Zeugnisse
                                                                                               INFO
leicht für meine Eltern. Unser drei­     zur Geschichte der Juden in Ulm“,
                                                                                               Die Familie Wallersteiner stammte
monatiger Aufenthalt dort verzögerte     in dem das Stadtarchiv Zeitzeugen-
                                                                                               ursprünglich aus dem Ort Wallerstein
sich noch einmal um vier Monate,         berichte veröffentlichte, können Sie
                                                                                               bei Nördlingen. Unmittelbar vor dem
als der Krieg mit Deutschland im         meine ausführlichen Erinnerungen
                                                                                               Ersten Weltkrieg zogen Leopold und Elsa
September begann. Endlich konnten        lesen.
                                                                                               Wallersteiner von Bad Buchau nach Ulm
wir unser Visum erhalten und am                                                                und gründeten das Bekleidungsgeschäft
15. Dezember 1939 ein Schiff in die      Hat sich Ihre Meinung gegenüber
                                         Ulm über die Jahrzehnte hin ver-                      „L. G. Wallersteiner“. Das erfolgreiche
USA bekommen.                                                                                  Geschäft konnte bald um eine Fabrik
                                         ändert?
                                                                                               erweitert werden und Leopold Waller-
Können Sie uns ein wenig über die        Ja, natürlich. Die „neue Genera-                      steiner wurde zu einem ehrenamtlichen
ersten Jahre in der neuen Heimat         tion“ ist nicht verantwortlich für die                Handelsrichter ernannt. Das Ehepaar
berichten? Wie war der Start? Ist        „Sünden der Väter“. Die Stadt Ulm                     hatte mehrere Kinder, darunter die 1921
das Einleben schwergefallen?             hat vieles getan, um unsere Wunden                    geborene Anneliese, die sich nach Emi-
Gemessen an den schwierigen Zeiten       zu heilen. Wir wurden des Öfteren                     gration und Heirat Ann Dorzback nannte
in Ulm und dem ungewohnten neuen         nach Ulm eingeladen und mit offenen                   und ihrer Heimat bis heute freundschaft-
Lebensstil in London zusammen mit        Armen empfangen. Schon mit Heinz                      lich verbunden blieb.
den Kriegseinschränkungen, war           Keils Buch aus dem Jahr 1961 hat

DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018                                                                                                           9
Neu erschienen im September

Albert Einstein. Biografie eines Nonkonformisten
Albert Einstein, geboren 1879 in        36 Jahren die Allgemeine Relativi-         des großen Physikers und mit dem
Ulm, war der wohl bekannteste           tätstheorie 1915 vollenden.                Gedenken in New York, Berlin, Mün-
Wissenschaftler des 20. Jahrhun-                                                   chen und Bern verglichen.
derts. Nun liegt eine neue Biografie    Nach Exkursen zu Einsteins Famili-         In das Buch fließen auch neue gene-
vor, die u. a. Verbindungen des         enleben und privaten Beziehungen           alogische Erkenntnisse ein, etwa zu
Physikers mit seiner Heimatstadt        widmet sich der Autor Einsteins            den Koch-Verwandten der Mutter aus
herausarbeitet und die Lebens-          politischem Engagement für Pazi-           Cannstatt. Neu erklärt wird, warum
wege naher Verwandter aus Ulm           fismus, für die parlamentarisch-           Tante Julie Koch in Genua Einsteins
und Region nachzeichnet.                demokratische Republik und gegen           Unterhalt an der Kantonsschule
                                        Rassismus und Nationalismus. Seine         Aarau und dem Zürcher Polytech-
Christof Rieber                         politischen Lagebeurteilungen sind         nikum zahlt. Einstein ist Empfänger
                                        ungewöhnlich hellsichtig. Einstein ist,    verwandtschaftlicher       Solidarität,
                                        obwohl kein Staatsmann, ein großer         später auch zunehmend Geber aus
                                        Verfechter der Völkerverständigung         verwandtschaftlicher Solidarität. Neu
                                        und ein großer Europäer. Seitdem           erschlossen wird das Leben von Ein-
                                        1919 die Allgemeine Relativitätsthe-       steins Onkel Jakob Einstein (+Wien
                                        orie empirisch nachgewiesen wird,          1912) und des Sohnes Robert(o)
                                        ist Einstein ein „Welt-Star“. Der Autor    Einstein (+ Florenz 1945). Bereits in
                                        geht dabei auch Einsteins Verhältnis       der Generation des Vaters und des
                                        zum Berliner Professor für physika-        Onkels sind viele international als
                                        lische Chemie, Fritz Haber, nach.          selbständige Geschäftsleute tätig.
                                        Seit 1921 setzt sich Einstein für den      In Einsteins Generation fliehen zahl-
                                        Zionismus ein. Dafür nutzt er sein         reiche Mitglieder der Familie Einstein
                                        hohes Ansehen, vor allem in den            wegen der nationalsozialistischen
                                        USA. 1932/33 erhält er am Institute        Judenverfolgung in alle Welt.
                                        for Advanced Study in Princeton, wie
                                        zuvor, eine Professur ohne Lehrver-        Die Biografie ist am Vorbild von Margit
                                        pflichtung. Sie ist weit höher dotiert     Szöllösi-Janzes Haber-Biografie orien-
                                        als in Berlin.                             tiert und gesellschaftsgeschichtlich
                                                                                   geschrieben. Die Publikation zeigt,
                                        Von der Machtübernahme der Nati-           dass Einsteins Nonkonformismus
                                        onalsozialisten erfährt Einstein wäh-      stets kritisch die ihn umgebende
                                        rend eines Aufenthalts in den Ver-         Gesellschaft spiegelte.
                                        einigten Staaten und verkündet am
                                        10. März 1933 seine Entscheidung           Gewidmet ist die Biografie auch
                                        öffentlich, nicht mehr nach Deutsch-       Alfred Moos (+ 1997). Ihm verhalf
Das Buch widmet sich zunächst dem       land zurückzukehren. Er versucht           Einstein 1933 zur Emigration nach
jungen Einstein und seinen frühen       mit großem Engagement seinen               England und 1935 nach Palästina.
Prägungen durch seine Mutter Pau-       schwäbischen Verwandten durch              1953 kehrte Alfred Moos nach Ulm
line. Sie vermittelt ihm bereits im     Bürgschaften und Empfehlungs-              zurück und wurde Promotor Einsteins
Vorschulalter Fleiß, Konzentration      schreiben die Ausreise in die USA          in Ulm. Wäre ihm 1988 die Medizin-
und Disziplin und ab sechs Jahren       zu ermöglichen. So rettet er etwa          fakultät der Universität Ulm gefolgt,
das Violinespiel, das eine Quelle der   60 % seiner nahen Verwandten aus           dann wäre damals die Namensge-
Inspiration für ihn bleibt.             Ulm und Berlin. Es ist bitter für ihn zu   bung „Albert Einstein-Universität
Einstein ist nicht ohne sein Autodi-    erfahren, dass acht seiner nahen Ver-      Ulm“ gelungen, denn Alfred Moos
daktentum zu verstehen. Es ermög-       wandten ermordet wurden. Mit deut-         erwirkte die Zustimmung des dama-
lichte ihm, sich selbst naturwissen-    schen Institutionen will Einstein nach     ligen    Einstein-Nachlassverwalters
schaftliches Denken anzueignen.         1945 nun nichts mehr zu tun haben.         Otto Nathan in New York.
Später beflügelt es ihn dazu, eigen-    Die ihm von seiner Geburtsstadt Ulm
ständige Lösungen für hochbedeu-        1949 angetragene Ehrenbürgerschaft
tende physikalische Probleme zu         lehnt er ab wegen der Verbrechen,
finden, die epochemachend sind.         die im Holocaust begangen wurden.            Christof Rieber:
Bereits mit 30 Jahren ist er Lehr-                                                   Albert Einstein. Biografie eines
stuhlinhaber, mit 35 Jahren wechselt    Untersucht wird außerdem Ein-                Nonkonformisten. Ostfildern: Thor-
er nach Berlin und forscht dort ohne    steins Wirkungsgeschichte in seiner          becke 2018. 240 S., 24,90 €
Lehrverpflichtung. Nur so kann er mit   Geburtsstadt Ulm nach dem Tod

10
Bestandsaufnahme, Perspektiven und Vernetzung

Erste bundesweite Fachtagung zu frühen KZ
Mit der Fachtagung vom 24. bis 26.
September im Haus auf der Alb in
Bad Urach wurde ein Forum für die
Gedenkstättenmitarbeiter*innen
geschaffen, in dem es Raum zur
Bestandsaufnahme, zum fach-
lichen Austausch und zur Vernet-
zung gab.

Mareike Wacha

Gedenkstätten an Orten früher Kon-
zentrationslager sind besondere
historische Lernorte, die zeigen,          Die Referent*innen der Tagung in Bad Urach. Foto: LpB/Thomas Stein
wie frühe Lager als zentrales Terror-
instrument der Nationalsozialisten         unterschiedliche Vornutzungen hatten               rungsorte eine gewisse „strukturelle
dazu benutzt wurden, die Weimarer          (u. a. KZ Sachsenburg in einer alten               Einsamkeit“ der Gedenkstätten auf
Demokratie auszuhebeln und poli-           Spinnerei, KZ Neustadt/Weinstraße                  Landes- bzw. regionaler Ebene hinzu.
tische Gegner*innen mundtot zu             in einer Kaserne, KZ Lichtenburg in                Auch wenn es bundesweit mittler-
machen. Mit welchen vielschichtigen        einem Schloss). Da die frühen Lager                weile weit über 300 Gedenkstätten
Herausforderungen die Gedenk-              oftmals nur kurze Zeit bestanden,                  zur NS-Zeit gibt, sind die 15 Gedenk-
stätten aktuell konfrontiert sind, the-    wurden viele Orte im Nationalsozia-                stätten an den Orten früher Kon-
matisierte die Tagung.                     lismus und nach 1945 unterschiedlich               zentrationslager doch jeweils oft die
Am Beginn stand eine Exkursion in          genutzt, z. B. als Internierungslager              einzigen in ihrem Bundesland bzw. in
die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuh-            der Alliierten in Esterwegen oder als              ihrer Region, die diese spezifischen
berg. Den Teilnehmenden vermittelte        Gastwirtschaft am Oberen Kuhberg                   Probleme haben. Alle benötigen eine
Nicola Wenge die Dimensionen des           von 1947 bis 1956. Gerade diese                    bessere finanzielle Ausstattung, die
historischen Ortes in einer Führung        Nutzung steht sinnbildhaft für die                 unter anderem Forschung und Ver-
und ging dabei auch auf konkrete           Erinnerungspolitik der 1950er Jahre.               mittlung ermöglicht und langfristig
Probleme der Vermittlungsarbeit ein.       Überlebende waren die ersten, die                  sichert. Fragen des Denkmalschutzes
Dabei thematisierte sie auch die viel-     nach 1945 Gedenkfeiern an Orten                    werden immer dringlicher, weil die
schichtige Nutzungsgeschichte bis in       früher Konzentrationslager abhielten,              historischen Orte in ihrem Wert als
die Gegenwart und stellte die aktuelle     so auch in Ulm. Dem historischen                   Zeitzeugnis nach dem Verstummen
Arbeit des DZOK vor. Andrea Hoffend        Diskurs, der hier nur in Auszügen                  der Zeitzeug*innen immer wichtiger
und Luisa Lehnen präsentierten im          skizziert ist, folgte eine Bestands-               werden, aber gleichzeitig die Origi-
Anschluss daran die Konzeption des         aufnahme der aktuellen Gedenkstät-                 nalspuren massiv gefährdet sind.
Lernorts Zivilcourage & Widerstand         tenarbeit, u.a. in einem Podiumsge-                Diesem Thema widmete sich auch
Kislau.                                    spräch, in dem Eberhard Dittus, Irene              einer der drei angebotenen Work-
In Bad Urach wurde die Tagung              von Götz, Melanie Engler und Anna                  shops, den Christian Bollacher vom
am Abend fortgesetzt. Neben Jörg           Schüller als Vertreter*innen noch                  Landesamt       für    Denkmalpflege
Osterloh (Fritz Bauer Institut, Frank-     relativ junger Gedenkstätten bzw.                  Baden-Württemberg leitete. Er stellte
furt/Main), der einen historischen         Gedenkstätteninitiativen von ihrer                 die Situation früher Lager in Baden-
Überblick über die frühen national-        Arbeit berichteten.                                Württemberg aus denkmalfachlicher
sozialistischen Lager gab, und einer                                                          Perspektive vor. Als problematisch
Forschungsbilanz der letzten 25            Die derzeit in Deutschland 15 aktiv                kennzeichnete er die Überformungen
Jahre von Thomas Lutz (Topogra-            arbeitenden Gedenkstätten an Orten                 der Orte, was die „Ablesbarkeit“
phie des Terrors, Berlin), hielt Nicola    früher Konzentrationslager (u. a. Fuhls-           von Spuren aus der KZ-Zeit verkom-
Wenge einen Vortrag zu Problemen           büttel, Breitenau, Ahrensbök, Ost­                 pliziert. Eine Würdigung als Kultur-
und Potenzialen der Gedenkstätten          hofen) haben, neben der Vermittlung                denkmal in seinem Zeugniswert als
an Orten früher Konzentrationslager.       historischen Wissens, vielfältige Auf-             frühes Konzentrationslager der NS-
Sie zeigte, dass sich die einzelnen        gabenfelder. Sie sind Erinnerungs-,                Diktatur besteht derzeit nur für den
Örtlichkeiten und Gebäude, in denen        Forschungs- und Bildungsstätten. In                Oberen Kuhberg.
frühe Lager eingerichtet waren, sehr       Zeiten des erstarkenden Rechtspo-                  Ein weiterer Workshop, angeboten
                                           pulismus in Deutschland und Europa                 von Gunnar Richter (Leiter der KZ-
                                           ist ihre Kompetenz hinsichtlich Auf-               Gedenkstätte Breitenau), beschäf-
                                           klärungs- und Vermittlungsangeboten                tigte sich mit Fragen der Vermittlung
  INFO                                     wichtiger denn je. Erwartungen von                 und möglichen Gegenwartstransfers.
  Die Tagung wurde organisiert von der     Gesellschaft und Politik steigen.                  Die Diskussionen kreisten dabei um
  Bundeszentrale für politische Bildung,   Gleichzeitig stehen sie vor gravie-                ziel- und altersgruppenspezifische
  der Stiftung Topographie des Terrors,    renden finanziellen und denkmal-                   gedenkstättenpädagogische Ange-
  der Landeszentrale für politische Bil-   schützerischen Herausforderungen.                  bote. Biografisches Arbeiten wurde
  dung Baden-Württemberg, dem zukünf-      Erschwerend kommt wegen der geo-                   von allen Teilnehmenden als essen-
  tigen Lernort Kislau und dem DZOK.       graphischen Dezentralität der Erinne-              ziell angesehen.

DZOK-Mitteilungen Heft 69, 2018                                                                                                  11
Der dritte Workshop von Angelika        schung. Kooperationen mit Universi-       in den Workshops wurden neue
Arenz-Morch (Leiterin des NS-Doku-      täten sind sehr wünschenswert und         Ideen zusammengetragen, die es
zentrums Rheinland-Pfalz) befasste      werden angestrebt.                        weiterzuführen gilt. Ein greifbares
sich mit Forschung an Gedenk-           Bei der Tagung wurden aber nicht          Ergebnis der Tagung ist die Grün-
stätten. In den letzten fünf bis zehn   nur Probleme identifiziert, sondern       dung einer AG von Gedenkstätten an
Jahren wurden Quellen zugänglich,       auch schon kreative Lösungsansätze        Orten früher Lager, die sich erstmalig
die bis dahin nicht nutzbar waren.      angedacht, wie die Arbeit gesichert       im Frühjahr 2019 in Berlin treffen
In Verbindung mit neuen Fragestel-      und ausgebaut werden kann. Nicola         wird. Der Gedankenaustausch war
lungen steckt darin ein großes Poten-   Wenge hatte bereits in ihrem Impuls-      ein wichtiger Mutmacher auch für
zial, neues Wissen zu generieren        vortrag konkrete Vorschläge für die       das Ulmer Team, das mit ehren- und
– zugleich erschweren fehlende          Arbeitsfelder Forschung, Vermittlung      hauptamtlichen     Mitarbeiter*innen
finanziellen Ressourcen die For-        und Denkmalschutz gemacht. Auch           vertreten war.

Neue Guides stellen sich vor

„Deshalb möchte ich mitarbeiten …“
Im Juni begann unser neuer Aus-         lich angesehen werden. Durch mein
bildungskurs zum Guide an der           Studium der Politikwissenschaften,
KZ-Gedenkstätte       Oberer     Kuh-   welches ich in großen Teilen im
berg mit einem Kompaktseminar           europäischen Ausland verbringe,
in Kooperation mit der vh Ulm.          verspüre ich ein starkes Bedürfnis,
Neun Interessierte hatten sich          mich gegen rechtes Gedankengut
dafür angemeldet. Dabei wurden          zu positionieren. Ich weiß aus
der historische Unrechtsort vorge-      eigener Erfahrung, dass politische
stellt, wichtige Ausstellungsinhalte    Meinungsbildung alles andere als
im Überblick erarbeitet und die         leicht ist. Aber es könnte bereits ein-
unterschiedlichen      Motivationen     facher werden, wenn jedem Bürger
zur Mitarbeit reflektiert. Zwei junge   vor Augen geführt werden würde,
Frauen, die nun das Guidesteam          dass das, was damals geschehen
stärken und Führungen machen,           ist, unter keinen Umständen wieder
schreiben in diesem Heft über ihre      passieren darf. Als Guide in der KZ-
Motivation.                             Gedenkstätte habe ich die Möglich-
                                        keit Menschen jeden Alters emoti-
Pascale-Catherine Kirklies              onal zu erreichen, Wissen an nächste      Foto: privat
In vielen europäischen Ländern          Generationen weiterzugeben und ein
rücken    rechtspopulistische   Par-    Stück zum Weiterleben der Demo-           boten wurde: Die Arbeit des DZOK
teien immer mehr in die Mitte der       kratie in Europa beizutragen.             wollte ich unbedingt unterstützen
Gesellschaft. Gerade im Hinblick auf    Pascale-Catherine Kirklies studiert       und mich ehrenamtlich engagieren.
Deutschland frage ich mich deshalb,     Politik- und Verwaltungswissen-           Dazu habe ich mich entschieden,
ob für manche Bürger bereits in Ver-    schaften im Master an der Univer-         weil die Zeit des Nationalsozialismus,
gessenheit geraten ist, was noch        sität Konstanz und bei Sciences Po        sowie an erster Stelle dessen Opfer,
nicht einmal vor einem Jahrhundert      Paris.                                    nicht in Vergessenheit geraten
in Deutschland unter der NS-Dik-                                                  dürfen. Sehr viele Zeitzeugen des
tatur geschehen ist. Ich frage mich,    Pauline Claas                             Nationalsozialismus sind bereits ver-
ob die Vorzüge unserer wertvollen       Auf das Dokumentationszentrum             storben und können ihre Geschichte
Demokratie als zu selbstverständ-       Oberer Kuhberg bin ich aufmerksam         nicht mehr selbst erzählen. Umso
                                        geworden, als ich mich nach Prakti-       wichtiger sind deshalb die histo-
                                        kumsplätzen für mein Studium – ich        rischen Orte, wie eben auch das
                                        studiere Geschichte – umgesehen           Konzentrationslager Oberer Kuhberg.
                                        habe: Im Februar 2017 habe ich dann       Durch Führungen in der Gedenkstätte
                                        tatsächlich ein vierwöchiges Prak-        möchte ich dazu beitragen, dass die
                                        tikum im DZOK gemacht. Es war             Geschichte des Konzentrationslagers
                                        sehr beeindruckend, dabei die Arbeit      weiterhin an Interessierte vermittelt
                                        des gesamten Teams sowie der              wird. Gleichzeitig schärft Geschichte
                                        vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter         auch den Blick für die Gegenwart: Es
                                        miterleben zu können. Gleichzeitig        ist wichtig, sich mit der Vergangen-
                                        hat mir das Praktikum auch noch           heit zu beschäftigen, um unsere heu-
                                        einmal verdeutlicht, wie wichtig das      tige Gesellschaft zu gestalten. Auch
                                        DZOK als Institution für Ulm und          deshalb möchte ich ehrenamtlich im
                                        die Umgebung ist. Deshalb habe ich        DZOK mitarbeiten.
                                        mich wenig später für ein Seminar zur     Pauline Claas studiert Geschichte
                                        Ausbildung von zukünftigen Gedenk-        und Germanistik im Bachelor an der
                                        stätten-Guides angemeldet, das in         Katholischen Universität Eichstätt-
Foto: privat                            Kooperation mit der vh Ulm ange-          Ingolstadt.

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