SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien

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SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
Magazin #1.19/20

SAISON

VORSCHAU
SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
ENSEMBLE 19/20

                                                                                                                                                                                                                                 VORWORT
                                                                                                          Liebe Freund*innen des Schauspielhauses,
                                                                                                          liebes Publikum,

                                                                                                          Wir begrüßen Sie herzlich zu unserer fünften Spielzeit     ziehung geht ebenfalls weiter: Miroslava Svolikova, die
                                                                                                          am Schauspielhaus! Eine beglückende Saison 18/19           mit »Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der
                                                                                                          liegt hinter uns, die uns nicht nur überaus erfreulichen   Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt«
                                                                                                          Publikumszuspruch und die bisher höchste Auslastung        die Gewinnerin unseres Hans-Gratzer-Stipendiums 2016
                                                                                                          von 85 Prozent, sondern auch eine Vielzahl von No-         war, startet für ihr neues Stück eine absurd-komödian-
                                                                                                          minierungen und Einladungen zu wichtigen Festivals         tische Expedition an den »Rand«. Vom Rand des Uni-
                                                                                                          brachte: Im Mai und Juni gastierten wir beim Festival      versums, dem Rand des Vorstellbaren denkt sie über
                                                                                                          radikal jung in München, bei den Mülheimer Theater-        alle möglichen Szenarien von Grenzziehungen nach.
                                                                                                          tagen, beim Dramatiker*innen-Festival Graz und bei         Sprechende Tetris-Steine kommen aber auch vor. Mit
                                                                                                          den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin.       Wilke Weermann (»Angstbeißer«) und Mario Wurmitzer
                                                                                                          Enis Maci wurde außerdem für ihr am Schauspielhaus ent-    (»Das Optimum«) kommen zwei sehr vielversprechende
                                                                                                          wickeltes Stück »AUTOS« in der Kritiker*innen-Umfrage      Autoren neu an unser Haus.
                                                                                                          von Theater heute zur Nachwuchsautorin des Jahres
                                                                                                          2019 gewählt.                                              Wir werden unsere Produktionen weiterhin blockweise
                                                                                                          Es ist uns gelungen, für das Schauspielhaus ein weit       im En-suite-System zeigen, dennoch konnten wir es
                                                                                                          über Wien hinaus erkennbares und schlagkräftiges           aufgrund der erfreulich hohen Nachfrage nach vielen
                                                                                                          Profil zu entwickeln.                                      unserer Produktionen glücklicherweise ermöglichen,
                                                                                                                                                                     mehrere Arbeiten nochmals zu zeigen: anlässlich des
                                                                                                          Die letzte Spielzeit war geprägt von politisch engagier-   100. Geburtstags von Maria Lassnig nehmen wir »Schla-
                                        Inhalt                                                            tem Autor*innentheater, mit dem wir viele relevante        fende Männer« wieder auf und feiern außerdem nach
                                                                                                          Konfliktfelder der Gegenwart reflektiert haben: Die        einer restlos ausverkauften ersten Vorstellungsserie mit
                                                                            Saisonübersicht 19/20 S. 4    Erosion des Europäischen Einigungsnarrativs in der         »Vernon Subutex« weiter. Im Oktober zeigen wir – wie
                                                                                                          »Hauptstadt«, die immer weiter um sich greifenden          üblich zum letzten Mal – unseren Klassiker: Jan-Chris-
                                        F FOR FACTORY S. 6                                                sozialen Abstiegsängste als Dünger des Rechtsrucks         toph Gockels Kracht-Adaption »Imperium«, die uns nun-
                                                                                                          in »Vernon Subutex«, eine von gewalttätigen Exklu-         mehr im fünften Jahr begleitet. Im Frühjahr werden wir
                                        ERÖFFNUNGSFESTIVAL S. 8                                           sionsmechanismen durchzogene Gesellschaft in Enis          zwei Arbeiten wieder in den Spielplan nehmen, die sich
                                                                                                          Macis »AUTOS« und die Frage nach der Zukunft der           explizit mit der politischen Gegenwart beschäftigen:
                                        IM HERZEN DER GEWALT S.10                                         Partizipation in FUX’ »Was Ihr wollt: Der Film«. Unser     FUX’ »Was Ihr wollt: Der Film« und »Die Hauptstadt«.
                                        Anna Hirschmann                                                   Ensemble und unsere Regieteams haben sich diesen
                                                                                                          Themen in sehr unterschiedlichen Theatersprachen an-       Über vier Jahre war ein vollkommen unverändertes
                 IM HERZEN DER GEWALT

                                        »Jede Form von Männlichkeit ist gefährlich« S. 11
                                                                                                          genähert, aber immer sinnliche, humorvolle und doch        Ensemble das Herz und das Gesicht unseres Theaters
                                        Édouard Louis im Gespräch mit Tobias Schuster
                                                                                                          ernsthafte Zugänge gewählt. Dass dieser ästhetische        – nun gibt es erstmals personelle Veränderungen.
                                        »Was bedeutet es, wenn deine Geschichte
                                                                                                          Kurs kontinuierlich immer mehr Zuspruch erfährt, macht     Wir freuen wir uns auf zwei neue Kolleg*innen: Clara
                                        von anderen gestohlen wird?« S. 12
                                                                                                          uns sehr glücklich. Wir setzen diese Linie deswegen in     Liepsch, Absolventin der Münchner Theaterakademie
                                        Christoph Laimer                                                  der neuen Spielzeit fort mit Projekten wie »Im Herzen      August Everding, war schon in »Vernon Subutex« zu
                 NOV

                                        »Stadt, Land, Krise?« S. 16                                       der Gewalt« – mit dem wir Édouard Louis, den Shoo-         sehen und stößt nun fest zu uns. Til Schindler kommt
                                                                                                          tingstar der französischen Literatur, erstmals in Wien     von der UdK Berlin und wird erstmals in »Kudlich in
                                                                               Wiederaufnahmen S. 18
                 SCHLAFENDE MÄNNER

                                                                                                          präsentieren. Sein Roman kreist um Themen wie Ras-         Amerika« zu erleben sein. Vassilissa Reznikoff ist an das
                                                                                                          sismus, Homophobie und die Frage, welche Strukturen        Nationaltheater Mannheim gewechselt und Steffen Link
                                        SCHLAFENDE MÄNNER S. 18                                           von Gewalt in unserer Gesellschaft wirken. In gewissem     verlässt uns im Frühjahr 2020 in Richtung des Münch-
                                        Antonia Hoerschelmann                                             Sinne daran anknüpfend fragen Ewelina Benbenek und         ner Volkstheaters – beiden danken wir von Herzen für
                 OKT/NOV

                                        »Maria Lassnig ›Ich bin die Frau Picasso,                         Florian Fischer in der nächsten Ausgabe des Arbeits-       die gemeinsame Zeit und wünschen ihnen das Beste
                                        fange Bilder mit dem Lasso …‹« S. 19                              ateliers gemeinsam nach der Repräsentation des Post-       für die Zukunft.
                                                                                                          migrantischen auf dem Theater. Sie untersuchen nicht
                                                                                  Ausblick 2020 S. 22     zuletzt blinde Flecken und Defizite unserer Institution.   Wir freuen uns auf ein weiteres Jahr mit Ihnen!
                                                                         Specials/Kooperationen S. 24
                                                                                                          Kurz vor Ende der Sommerpause erreichte uns eine           Viel Spaß!
                 DAS OPTIMUM

                                        DAS OPTIMUM S. 26                                                 traurige Nachricht: Aus gesundheitlichen Gründen muss
                 OKT/NOV

                                        Johanna Hähner                                                    die geplante Produktion von Vegard Vinge & Ida Müller
                                        »Teurer Schlaf« S. 28                                             leider auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Wir
                                                                                                          sind aber gleichermaßen gespannt auf »F FOR FACTORY
                                                                          Sonderveranstaltungen S. 30     – eine Aktion von Maximilian Brauer, Leonard Neumann
                                                                                                          und Ensemble«, mit der wir an unsere Beschäftigung
                                        Julia Jost                                                        mit Aktionskunst fortsetzen werden.
                                        »Erinnerungen einer Prinzess*in« S. 32
                                                                                                          Pünktlich zum beginnenden amerikanischen Wahlkampf
                                        Gerhild Steinbuch                                                 lässt Thomas Köck seinen früheren Protagonisten Hans
                                        »MUTATIS MUTANDIS« S. 34                                          Kudlich, immerhin bewährter politischer Agitator, in die
                                        Wir sind viele – Erklärung der Vielen S. 36                       USA reisen. Erneut inszeniert das Erfolgsduo Elsa-Sophie   Tomas Schweigen                  Tobias Schuster
                                                                                                          Jach &Thomas Köck (»Die Zukunft reicht uns nicht (klagt,   Künstlerischer Leiter            Leitender Dramaturg
                                                                          Autor*innenförderung S. 38      kinder, klagt!)«). Wir freuen uns sehr über diese konti-   & Geschäftsführer
                                                                           Schauspielhaus-Team S. 39      nuierliche Verbindung. Eine weitere lange Arbeitsbe-
                                                                       Rückblick: Spielzeit 18/19 S. 41
                                                                                          Service S. 51
                                                                                                                                                                                                                                     3
SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
Wieder-                                 S. 21                          S. 22
                                                 S. 6                                                                       aufnahme
SPIELPLAN 19/20

                                                                                                                                                                                                                                                                                SPIELPLAN 19/20
                                                                                       S. 10
                                                                                                                                                                                                                       KUDLICH IN
                                                                                                                                                                                                                        AMERIKA
                                                                                                                                                                                                                            von Thomas Köck
                                                                                                                                                                                                                            URAUFFÜHRUNG
                                                                                                                                                                                                                 Regie Elsa-Sophie Jach & Thomas Köck
                                                                                                                                                                                                                                  11.1.-12.2.20
                    F FOR FACTORY
                   eine Aktion von Maximilian Brauer,
                     Leonard Neumann & Ensemble
                                                                                                                            IMPERIUM                                                                                          S. 22
                                                                                                                         nach Christian Kracht
                            URAUFFÜHRUNG
                                 2.10.-19.10.19                              IM HERZEN                            ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG
                                                                                                                      Regie Jan-Christoph Gockel                                                   ANGST-
                                                                            DER GEWALT                                         22. & 23.10.19                                                      BEISSER
                                                                                                                                                                                                   von Wilke Weermann
                                                                                von Édouard Louis
                                                                                                                                             S. 23                                                  URAUFFÜHRUNG
                        S. 26                                           ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG                                                                                             Regie Anna Marboe
                                                                              Regie Tomas Schweigen
                                                                                                                                                                                                     27.2.-21.3.20
                                                                                   13.11.-23.11.19
                                                                                     S. 18
                                                                                                                  TRAGÖDIEN-
                                                                                                                   BASTARD
                                                                                                                     (AT)
                                                                                                                    von Ewelina Benbenek
                                                                                                                      URAUFFÜHRUNG
                                                                                                                     Regie Florian Fischer                                                                                                                        Wieder-
                                                                                                                                                                                                                                                                  aufnahme
                                                                       SCHLAFENDE                                        4.-18.4.20
                                                                                                                                                                                                           RAND
  DAS OPTIMUM                                                            MÄNNER
                                                                                                                     Wieder-
                                                                                                                     aufnahme                                                         S. 23          von Miroslava Svolikova
               von Mario Wurmitzer                                                                                                                                                                      URAUFFÜHRUNG
                                                                         von Martin Crimp
                URAUFFÜHRUNG                                                                                                                                                                         Regie Tomas Schweigen
                                                                ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG
              Regie Maria Sendlhofer                                                                                                                                                                       30.4.-14.5.20
                                                                      Regie Tomas Schweigen
                    Ab 31.10.19                                         30.10.-2.11.19                Wieder-                    WAS IHR WOLLT:
                                                                                                      aufnahme
                                                                                                                                   DER FILM
              Eine Produktion des Theater KOSMOS Bregenz

                                                                                                                                                                                                               DIE HAUPTSTADT
              in Kooperation mit dem Schauspielhaus Wien.

                                                            Wieder-                                                                               von FUX
                                   S. 21                                                                                                      URAUFFÜHRUNG
                                                                                                                                                                                                                    nach dem Roman von Robert Menasse
                                                            aufnahme                                                                                                                                                ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG
                                                                                                                                    Regie Nele Stuhler & Falk Rößler (FUX)                                                   Regie Lucia Bihler
                                                                           S. 28                                                 Wiederaufnahme im Juni 2020                                                        Wiederaufnahme in Planung
                                                                                                                                    Gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes.

                                                                                                                                                                                         SPECIALS
                                                                                                                      THE SMALLEST THEATRE                                                             WAS IHR WOLLT: [.............…]
                                                                                                                                                                                                       von FUX
                                                                                                                      IN THE WORLD                                                                     URAUFFÜHRUNG
                                                                                                                      ein Projekt von Jesse Inman                                                      Regie Nele Stuhler & Falk Rößler (FUX)

          DAS LEBEN DES                                                                                               Realisation Jesse Inman
                                                                                                                      Ab Jänner 2020
                                                                                                                                                                                                       Gastspiel Juni 2020

                                                                                      OH SCHIMMI
                                                                                                                                                                                                       Ein Gastspiel des Theater Oberhausen. Gefördert im Fonds Doppelpass

         VERNON SUBUTEX
                                                                                                                      Eine Produktion von Jesse Inman in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Wien.     der Kulturstiftung des Bundes.

                                                                                             von Teresa Präauer                                                                                        DER SPRECHER UND
                         1+2                                                                  URAUFFÜHRUNG            SCHLAGZEUG
       nach den Romanen von Virginie Despentes                                                                        von FUX                                                                          DIE SOUFFLEUSE
                                                                                             Regie Anna Marboe        URAUFFÜHRUNG                                                                     von Miroslava Svolikova
        ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG
                Regie Tomas Schweigen                                      Wieder-
                                                                                               Ab 17.10.19            Regie Nele Stuhler & Falk Rößler (FUX)
                                                                                                                      Gastspiel 1. & 2.2.20
                                                                                                                                                                                                       URAUFFÜHRUNG
                                                                                                                                                                                                       Regie Pedro Martins Beja
                                                                                                                      Gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes.                     17.12.-20.12.19

  4                           29.11.-12.12.19                              aufnahme                                                                                                                    Eine Produktion des Theater am Lend Graz im Rahmen der Theaterallianz.
                                                                                                                                                                                                                                                                                         5
SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
SEBASTIAN SCHINDEGGER
    eine Aktion von Maximilian Brauer,   Ein Tag im Leben des Fabrikarbeiters Warhola in seinem Wiener Büro. Al-
    Leonard Neumann & Ensemble           les beginnt, als Warhola am frühen Morgen mehrere Amphetamintablet-
                                         ten schluckt, und endet 24 Stunden später in Konfusion und Erschöpfung:
    URAUFFÜHRUNG                         eine unglaubliche Reise ans Andy der Nacht und plötzlich scheint alles
                                         möglich … Keine Spielregeln, dafür Spiegelfolie!
    Von & mit Franz Beil, Maximilian
    Brauer, Vera von Gunten,             Doch nun zur Sache: Der aus den fernen Karpaten stammende Fabrikarbeiter
    Jesse Inman, Leonard Neumann,
                                         Warhola ist in seinem Beruf in einer Würstel-Fabrik in Wien vollkommen
    Sebastian Schindegger und Gästen
                                         unglücklich und betreibt neben seiner Werktätigkeit die erfolglose Künst-
    Premiere am 2. Oktober 2019          leragentur »Factory«. Seine Stars: eine einbeinige Stepptänzerin, ein stot-
                                         ternder Bauchredner, ein Luftballonfigurenfalterduo und der ambitionierte
                                         Fäkaliencollagist Mühl. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt jedoch dem
                                         heruntergekommenen Schnulzensänger Lou Carola Reed, der ungeahnt
                                         durch eine Nostalgiewelle zu Ruhm gelangt. Warhola verschafft ihm einen
                                         Auftritt vor bedeutenden österreichischen Produzenten, doch Lou weigert
                                         sich aufzutreten, falls nicht seine heimliche doch längst verschwundene
                                         Geliebte Brigid beim Konzert dabei sein sollte. Warhola macht sich auf
                                         den Weg, Brigid zu finden und wird dabei in Mafia-Kreise hineingezogen
                                         … Nimmt nun das Unglück seinen Lauf? Kann die Situation noch geret-
                                         tet werden? Zu allem Überfluss stiehlt Mühl eine Blutdruckmaschine und
                                         liegt im Krankenhaus, Lou Carola Reed kostümiert sich für einen Abend
                                         im Teenager-Bordell und Ingrid Superstar Wiener findet ihren Schatz im
                                         Silverscreen! Ausgerechnet am Abend von Lous Konzert klingelt es an
                                         Warholas Tür und Brigid steht vor ihm …

                                         Je mehr die Personen vor sich selbst davonlaufen, desto mehr geben
                                         sie sich preis. Wenn eine Enzyklopädie eine verdichtete Sammlung des
                                         menschlichen Wissens ist, dann sind diese neun Abende ihr Gegenteil: In
                                         einem Kondensat aus Probe und Repertoire-Vorstellung versucht die Ak-
                                         tion, die totale Erfahrung des täglichen Lebens zu fassen, die sich durch
                                         extreme Charaktere zu einem fieberhaften Grad von Brillanz, Vagheit und
                                         Einsicht steigert. Eine Materialaktion im Boulevard-Badewännchen mit im-
                                         mer neuen Gästen. Neunmal die Erprobung eines neuen Verfahrens durch
                                         seine Schöpfer an sich selbst. Eine Utopie, in der alle Elemente ihre ei-
                                         gene Autonomie erhalten. Eine Polaroidkamera wird selbstverständlich
                                         eingesetzt.

                                                                                                                         26.9.-27.10.18
                                         Oh, Factory.
                                         Ach, Factory.

                                                                                                                         VINGE
                                         Dein Andy!

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SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
gebenedeit sei die wut deines leibes
ERÖFFNUNGSFESTIVAL

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                     festival: lectures | lesungen | performances | musik
                     4. und 5. oktober 2019, jeweils 20 uhr, schauspielhaus wien
                     kuratiert von fritz ostermayer (künstlerischer leiter der schule für dichtung)

                     nach »lachen« und »weinen« widmen wir uns heuer der politisch prekärsten aller gefühlswallungen: der wut.
                     und ihrem nächsten affektiven verwandten: dem zorn.
                     »die wut des zeitalters ist tief« – so steht es in heimito von doderers roman »die merowinger oder die totale
                     familie«, in dem der autor groteske und – so doderer – »völlig überzeichnete wut-therapien« beschreibt, die
                     heute allerdings längst gängige praxis amerikanischer therapeuten sind. inklusive sogenannter wutmärsche
                     mit der lizenz zum zerdreschen von geschirr und vasen. wir wollen all den ›besorgten wutbürgern‹ zornige au-
                     tor*innen zur seite stellen, die vielleicht erklären können, wie deren erregung und hassausbrüche instrumen-
                     talisiert und stets in die falsche richtung kanalisiert werden. man darf die wut nicht denen überlassen, die sie
                     einem menschenverachtenden nationalismus zuführen wollen. literatur und musik können wut und zorn zum
                     thema machen, sie können selbst ausdruck von wut und zorn sein, sind aber auch medien, die beides hinter-
                     fragbar, sichtbar und analysierbar werden lassen. in unserem fall tun dies diese großartigen autor*innen und
                     musiker*innen:

                     johannes ullmaier – seit dem ersten sfd-festival von 2014 zum x-ten »tod des autors« verdichtet der mainzer
                     literaturwissenschaftler und letzte universalgelehrte unseres vertrauens die jeweilige thematik zu grandiosen
                     einführungsvorträgen. sollte es diesmal dem zorn- und zeit-diagnostiker peter sloterdijk an den kragen gehen,
                     würde uns das auch nicht wundern.

                     stefanie sargnagel – wer könnte werner kofler – diesen angriffslustigsten unter den heimischen autoren – bes-
                     ser zum vortrag bringen als die angrifflustigste unter den heimischen komödiantinnen? gegeben wird eine
                     lesung als »best of prominenten-beschimpfung«, bei der die verbalen watschen nur so kleschen. eigentlich
                     beziehungsweise uneigentlich, sicher jedoch mit grimmigem humor wird hergezogen über: michael jeannee,
                     udo jürgens, nicki lauda, peter turrini, »die grazer dichtertrottel«, den »kriegstreiber mock« und oswald wiener.

                     kabinetttheater – 4 wut-dramolette. prinzipalin julia reichert und ihr team inszenieren übellaunige mikro-dra-
                     men, entstanden in der von antonio fian geleiteten sfd-klasse »die wut des zeitalters ist tief« (dramolette von:
                     harald jöllinger, beate mayr-kniescheck, neutro/anna neuwirth & martin troger, mario schlembach). wir sind
                     gespannt, ob die im kabinetttheater zum einsatz kommenden unbelebten objekte und figuren auch als kathar-
                     tische blitzableiter unserer erhitzten affekte taugen.

                     GEWALT – bandname sowie dessen dringliche großschreibung verheißen nichts gutes. »der name musste et-
                     was sein, das keine ausreden zulässt«, sagt bandgründer patrick wagner, »wenn man GEWALT heißt, kann man
                     unmöglich mediokre musik machen.« in diesem sinn tobt das berliner trio – wagner (voc, git), helen henfling
                     (git), rabea erradi (bg) – mit existentialistischer negation gegen die verheerende arschlöchrigkeit der welt. stur,
                     giftig und böse – weil: »in mir wütet eine große zerstörungskraft.« recht so!

                     heidi kastner – die berühmte psychiaterin und forensische gerichtsgutachterin (unter anderem im fall fritzl)
                     verteidigt in ihrem buch »wut. plädoyer für ein verpöntes gefühl« diese normalerweise negativ konnotierte ba-
                     sisemotion, deren unterdrückung auf dauer mehr schaden anrichtet als das ›ausleben‹ dieser. fritz ostermayer
                     spricht mit heidi kastner über kontrollierte und nicht mehr kontrollierbare formen unseres umgangs mit ag-
                     gression.

                     lydia haider – wenn ein buch wahrlich »fuck you du sau, bist du komplett zugeschissen in deinem leib drin«
                     heißt, dann schreit das geradezu nach einer performance seiner autorin bei unserem festival. lydia haider ist
                     die meisterin zeitgenössischer wutdichtung in der großen tradition österreichischer schimpf- und spottlitera-
                     tur. alttestamentarische verfluchungen gegen gott und die welt, das patriachat und flip-flops, vorgetragen in
                     einem schon grotesk hehren predigerduktus, zeugen vom gerechten zorn der autorin, ebenso wie von ihrem
                     suprig bösen humor. uns bleibt zumindest homerisches kichern.

                     oswald wiener – nichts geringeres als eine sensation! der sich längst von der literatur verabschiedet habende
                     bewusstseinsforscher, selbstbeobachter und denkmaschinist mimt auf unser inständiges betteln noch EINMAL
                     den avantgarde-dichter und avantgarden-zertrümmerer und liest aus seinem alles-andere-als-ein-roman-ro-
                     man »die verbesserung von mitteleuropa« und daraus das kapitel »purim. ein fest«, einer wüsten, heimito von
                     doderer gewidmeten schimpf- und verdreschorgie der schamlosesten art. danach bleiben nur noch wutgebrüll
                     und hassfrequenzen – mit:

                     natascha gangl/maja osojnik – ein auftragswerk des festivals an zwei großartige künstlerinnen, deren dichte-
                     risches und musikalisches schaffen immer wieder aufs schönste in rage und furor ausartet. die gebürtige stei-
                     rerin gangl zetert eine verflucht poetische philippika (= straf-, angriffs-, brand- oder kampfrede), die gebürtige
                     slowenin osojnik gebietet dabei über ein arsenal verdammt gemeiner tonerzeuger. mehr wissen wir auch noch
                     nicht, freuen uns aber sehr über ein paar was-auch-immer hinter die ohren. ARRRGH!

                     denn noch immer gilt: »anger is an energy« (john lydon vormals johnny rotten)

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SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
Anna Hirschmann

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                                                                                                                                                                                                    Sexuelle Gewalt und Männlichkeit

                                                                                                                          »Sexualisierte Gewalt ist nicht vom                                          zu sein, die sie nicht wollten;                                            happens if you don’t do the job your
                                                                                                                          patriarchalen Geschlechterverhältnis zu                                      - 8,9 % der Frauen und 2,0 % der Män-                                      story says is yours. What happens
                                                                                                                          trennen.«2 Um das zu verstehen, muss                                         ner, dass jemand versuchte, ›gegen mei-                                    is that you’re less than nobody.«6
                                                                                                                          man sich mit der Kategorie Gender                                            nen Willen in meinen Körper einzudrin-                                     John Stoltenberg verglich die Rede von
                                                                                                                          auseinandersetzen und damit, dass es                                         gen oder mich zum Geschlechtsverkehr                                       einer ›gesunden Männlichkeit‹ mit der
                                                                                                                          kein biologisches Faktum ist, welchem                                        zu nötigen. Es kam aber nicht dazu‹.                                       Rede von ›gesundem Krebs‹.7 Männ-
                                                                                                                          Geschlecht mensch gesellschaftlich                                           - 7,0 % der Frauen und 1,3 % der Män-                                      lichkeit, also Überlegenheit, werde
                                                                                                                          zugeordnet wird. Geschlechter werden                                         ner, dass jemand ›gegen meinen Willen                                      behauptet und bewiesen durch die An-
                                                                                                                          immer noch hauptsächlich in männ-                                            mit einem Penis oder etwas anderem                                         wendung von Gewalt, egal in welcher
                                                                                                                          lich und weiblich unterschieden, auch                                        in meinen Körper eingedrungen ist.‹«4                                      Form. Die Beweisführung sichere dem
                                                                                                                          wenn diesen Sommer das erste X in                                            Eine andere der wenigen deutschspra-                                       Täter* die Zugehörigkeit zur dominan-
                                                                                                                          einen österreichischen Pass eingetra-                                        chigen Studien5 schreibt im Vorwort:                                       ten Gruppe, zur Gruppe der Sieger, egal
                                                                                                                          gen worden ist. Thomas Schlingmann,                                          »Bestimmte Gewaltformen sind so                                            welche biologische Zufälligkeit sich
                                                                                                                          Traumaberater und Mitgründer von                                             normal im Männerleben, dass sie nicht                                      zwischen seinen* Beinen befindet.
                                                                                                                          Tauwetter, einer Berliner Anlaufstel-                                        als Gewalt wahrgenommen werden und                                          »Regardless of the gender of vic-
                                                                                                                          le für Männer*, die in ihrer Kindheit                                        dadurch auch nur begrenzt erinnert                                         tims, the acts that effect the harm
                                                                                                                          oder Jugend sexualisierter Gewalt                                            werden. (…) Andere Gewaltformen sind                                       and humiliation of sexual harass-
                                                                                                                          ausgesetzt waren, schreibt dazu: »Fakt                                       so tabuisiert, dass sie entweder nicht                                     ment are gendering for the per-
                                                                                                                          ist, die Mehrheit der Täter bei sexua-                                       erinnerbar sind oder die betroffenen                                       petrator, for they assert his domi-
                                                                                                                          lisierter Gewalt ist männlich. Das gilt                                      Männer nicht über sie berichten. Bei-                                      nance – over anyone he wants.«8
                                                                                                                          auch bei sexualisierter Gewalt gegen                                         spiele für den tabuisierten, ›unmänn-
                                                                                                                          Jungen – und höchstwahrscheinlich                                            lichen‹ Bereich finden sich insbeson-                                      Diese Überlegenheit muss immer
                                                                                                                          auch bei sexualisierter Gewalt gegen                                         dere bei der sexualisierten Gewalt.«5                                      wieder bewiesen werden – auf dem
                                                                                                                          Männer. Die Mehrheit der Betroffenen                                                                                                                    Schulhof, im Bundesheer, am Arbeits-
                                                                                                                          wiederum ist weiblich. Das ist aller-                                        Eine These, warum es für Männer*                                           platz, in der Beziehung, beim Sex –,
                                         Weihnachten in Paris. Gegen vier Uhr morgens lernt Édouard auf dem               dings nichts Biologisches, sondern ein                                       schwer sein kann, sich mit dem Thema                                       weil Männlichkeit eben keine Be-
                                         Rückweg von einem Abendessen den jungen Reda kennen. Spontan                     Ausdruck gesellschaftlicher Verhält-                                         zu beschäftigen – unabhängig aus wel-                                      schreibung einer biologischen oder
                                         gehen sie zu Édouard nach Hause. Sie unterhalten sich über die Kind-             nisse und Geschlechtskonstruktionen.«2                                       cher Perspektive –, findet sich bei John                                   zufälligen Gegebenheit ist, sondern
                                         heit und Reda erzählt, wie sein Vater aus Algerien nach Frankreich ge-           Diesen Konstruktionen entsprechende                                          Stoltenberg. Der feministische Autor                                       eine Einordnung ins soziale System.
                                         flohen ist. Sie kommen sich näher und haben Sex. Gegen sechs Uhr                 Rollenvorstellungen besagen gerne,                                           plädiert für einen radikalen Bruch mit                                     Das patriarchale Geschlechterverhält-
                                         entdeckt Édouard sein Smartphone in Redas Tasche. Als er ihn darauf              dass Mann stark und unverletzlich                                            der Zuschreibung männlich, weil sich                                       nis ist dadurch definiert, dass mensch
                                         anspricht, kippt die Situation: Reda bedroht Édouard mit einer Waffe             sei, immer (heterosexuellen) Sex                                             Männlichkeit und Gewalt im binären                                         entweder zur überlegenen Gruppe
                                         und vergewaltigt ihn schließlich. Tief traumatisiert bleibt Édouard              haben könne und wolle, und Notfälle                                          System der gesellschaftlichen Ge-                                          gehört oder zu einer diffus definierten
                                         zurück. Unfähig, auf dieses Erlebnis zu reagieren, flieht er zu seiner           zur Not mit Muskelkraft regele. Und                                          schlechterkonstruktion bedingen wür-                                       und meistens unsichtbaren Gruppe
                                         Schwester und berichtet ihr davon …                                              also folglich kein Opfer sein könne.                                         den. In Stoltenbergs Analyse speist sich                                   der anderen. Das kann auch temporär
                                         Édouard Louis erzählt eine hochkomplexe Geschichte über sexuelle Ge-             Dem ist nicht so, auch wenn sexuelle                                         das Identitätsmerkmal Männlichkeit                                         gelten und über die Unterwerfung eines
                                         walt und kulturelle Identität. Er wählt dabei einen literarischen Kunst-         Gewalt gegen Männer* in der Öffent-                                          hauptsächlich aus der Anforderung: SEI                                     Gegenübers aufgrund seiner sozia-
                                         griff, der dem Roman seine spezifische Theatralität verleiht: Er schildert       lichkeit selten Thema ist.3 Aktuelle                                         ÜBERLEGEN. Das heißt, wer Mann sein                                        len oder ethnischen Herkunft, seines
                                         das Erlebnis über weite Strecken aus der Perspektive seiner Schwester,           Zahlen zur Gewalt an Frauen und                                              will oder soll, muss diese Überlegenheit                                   Alters oder Aussehens passieren.
                                         die im Dorf von Édouards Jugend geblieben ist, aus dem er als Jugend-            Männern in Österreich sind von 2011.4                                        demonstrieren. Zum Beispiel kämpfen –
                                         licher so schnell wie möglich fliehen wollte. Nun belauscht Édouard,                                                                                          und gewinnen. Wer kein Sieger ist, sei                                     Auch Thomas Schlingmann stellt fest,
                                         wie sie ihrem Mann schildert, was er ihr soeben erzählt hat. Durch               »Drei Viertel der Frauen (74,2 %) und                                        nämlich nicht nur ein schwacher oder                                       dass es bei sexualisierter Gewalt im
                                         diese Perspektive wird der Roman auch zum Porträt einer entfremde-               ein Viertel der Männer (27,2 %) wur-                                         halber Mann, sondern ein Niemand.                                          Kern um Macht geht. Und »sie hat
                                         ten Familie, zweier Geschwister, die sich in ihren Identitäten und Bio-          den im Erwachsenenalter schon einmal                                          »Because your story is about who you                                      deshalb so eine massive Auswirkung,
                                         grafien völlig unterschiedlich entwickelt haben. Er untersucht eine von          sexuell belästigt. Über sexuelle Gewalt                                      must be and must not be in an either/                                      weil seit der bürgerlichen Revolution
                                         Rassismus und Homophobie durchzogene Gesellschaft.                               berichten 29,5 % der Frauen und 8,8                                          or identity system. You’re supposed                                        das Geschlecht und darin die eigene
     nach dem Roman von Édouard Louis                                                                                     % der Männer. Im Detail widerfuhr es                                         to grow up to be a man, a real man, a                                      Sexualität ein zentraler Baustein der
     in einer Bühnenfassung von          Édouard Louis, 1992 in Hallencourt als Eddy Bellegueule geboren, stu-            - 25,7 % der Frauen und 8,0 % der                                            man who knows he’s a man and a man                                         Selbstdefinition geworden ist.«2
     Tomas Schweigen & Tobias Schuster   dierte in Paris bei Didier Eribon Soziologie und lehrt seit 2016 selbst, u. a.   Männer, dass sie von jemandem                                                everybody takes to be a man. (…) And
                                         am Dartmouth College in den USA. Sein autobiografischer Debütroman               ›intim berührt oder gestreichelt‹                                            if you don’t cut it, if you don’t measure
     ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG      »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit als homosexuel-               wurden, obwohl sie sagten oder                                               up, if you fail to leave absolutely no
                                         ler Junge in einem nordfranzösischen Dorf und der Flucht aus prekä-              zeigten, dass sie das nicht wollten;                                         doubt in your own mind and in the

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            IM HERZEN DER GEWALT
     Regie Tomas Schweigen               ren Verhältnissen erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch             - 13,5 % der Frauen und 8,0 % der                                            mind of everyone else, then you’re not
     Bühne Stephan Weber                 wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum lite-             Männer, von jemandem ›zu sexuel-                                             only not a real man. You’re not just a
     Kostüme Anne Buffetrille            rarischen Shootingstar. Sein zweiter Roman »Im Herzen der Gewalt«                len Handlungen genötigt‹ worden                                              wannabe man. (…) No, that’s not what
     Musik Jacob Suske                   erschien 2016. Im Rahmen der Samuel-Fischer-Gastprofessur an der
     Dramaturgie Tobias Schuster         Freien Universität Berlin prägte er für sein autobiografisches Schrei-                                                                                                                                                                   Anna Hirschmann studierte bilden-
                                         ben den Begriff der ›konfrontativen Literatur‹. Zuletzt analysierte er                                                                                                                                                                   de Kunst in Hamburg und Wien und

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            13.-23.11.19
                                                                                                                          1
                                                                                                                            https://www.vice.com/de_at/article/zmk3ej/je-                              5
                                                                                                                                                                                                         Aus: Gewalt gegen Männer“, Pilotstudie im Auftrag des Bundesmi-
     Premiere am 13. November 2019       in seinem Essay »Wer hat meinen Vater umgebracht?« den Bruch mit                 de-form-von-mannlichkeit-ist-gefahrlich
                                                                                                                          2
                                                                                                                            Aus: https://taz.de/Sexuelle-Gewalt-gegen-Maenner/!5462531/
                                                                                                                                                                                                       nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2004
                                                                                                                                                                                                       https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie--gewalt-ge-
                                                                                                                                                                                                                                                                                  stellt momentan ihren ersten langen
                                         seinem Vater und befragte damit auch den Gegensatz von Stadt- und                3
                                                                                                                            Aus: https://genderequalitymedia.org/medien-wir-mues-
                                                                                                                          sen-reden-ueber-sexualisierte-gewalt-gegen-maenner-media-
                                                                                                                                                                                                       gen-maenner/84660?view=DEFAULT
                                                                                                                                                                                                       6
                                                                                                                                                                                                         aus https://www.linkedin.com/pulse/whats-sex-bi-
                                                                                                                                                                                                                                                                                  Dokumentarfilm fertig. Seit 2019 ist
     Mit Clara Liepsch, Steffen Link,    Landbevölkerung und die sich immer weiter verschärfenden Konflikte               screening-sexuelle-gewalterfahrungen-von-maennern/                           nary-got-do-rape-john-stoltenberg/                                         sie als Dramaturgin / Produkionslei-
                                                                                                                          4
                                                                                                                            Aus: Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern      7
                                                                                                                                                                                                         https://www.feministcurrent.com/2013/08/09/why-talking-ab-

     Josef Mohamed                       innerhalb der französischen Gesellschaft.                                        Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend, Wien 2011.             out-healthy-masculinity-is-like-talking-about-healthy-cancer/              terin am Schauspielhaus Wien.
                                                                                                                          https://www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/bmwfj_gewaltpraevalenz-2011.pdf        8
                                                                                                                                                                                                         aus http://www.publicseminar.org/2018/01/sexual-harassment-and-mentoo/

10                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    11
SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
Tobias Schuster im Gespräch mit Édouard Louis                                                          ist das natürlich auch naiv. Ich hasse      diese Geschichte nicht wieder und           eine literarische und eine politische
                                                                                                                                           diese bourgeoise Erzählung von der          wieder erzählen müssen. Deswegen            Kraft, die wir gerade erst entdecken.
                                                                                                                                           Kraft der Kultur, vom Theater, das ir-      sagte ich der Polizei, dass ich meine       Es gibt momentan eine ganz neue und
                                                                                                                                           gendwelche Brücken baut zwischen den        Aussage und die Anzeige zurückzie-          ernsthafte Untersuchung des Poten-

     »Was bedeutet es, wenn deine Geschichte                                                                                               Menschen, zwischen der Welt und dem
                                                                                                                                           All. Theater hat meine Mutter nicht
                                                                                                                                           gerettet und das Theater hat meinen
                                                                                                                                                                                       hen wolle. Die Polizisten entgegneten
                                                                                                                                                                                       aber, Vergewaltigung sei ein Offizial-
                                                                                                                                                                                       delikt und dass damit meine Geschichte
                                                                                                                                                                                                                                   zials von autobiografischem Schrei-
                                                                                                                                                                                                                                   ben, etwa in der Literatur von Didier
                                                                                                                                                                                                                                   Eribon, mit dem was Ocean Vuong

          von anderen gestohlen wird?«                                                                                                     Vater nicht gerettet – aber für mich war
                                                                                                                                           es ein erster Ausweg. Ein Notausgang.
                                                                                                                                                                                       nicht mehr mir gehöre, sondern dem
                                                                                                                                                                                       Staat und der Justiz. Sie eigneten sich
                                                                                                                                                                                       meine Geschichte an. Wenn wir über
                                                                                                                                                                                                                                   oder was Swetlana Alexijewitsch
                                                                                                                                                                                                                                   schreibt. Ich versuche wirklich bei
                                                                                                                                                                                                                                   dem zu bleiben, was passiert ist.
                                                                                                                                           Theater und die sogenannte ›Hoch-           Theater und Literatur sprechen, glaube
                                                                                                                                           kultur‹ wird oft auch als Mittel            ich nicht, dass nur eine homosexuelle       Natürlich wählst du dennoch
                                                                                                                                           der Distinktion beschrieben …               Person berechtigt ist, meine Figur zu       aus und zeigst eine kuratier-
                                                                                                                                                                                       spielen. Ich bin aber der Meinung, dass     te Version der Wirklichkeit.
                                                                                                                                           Natürlich. Ich wollte genau einen           es ein Problem ist, gar keine schwulen
                                                                                                                                           Ort finden, an dem ich mich abgren-         oder queeren Personen auf der Bühne         Man wählt aus, natürlich, aber man
                                                                                                                                           zen konnte. Von meiner Kindheit als         zu haben. Es geht nicht darum, dass         wählt aus, weil man etwas Bestimm-
                                                                                                                                           schwuler Junge in der Arbeiterschicht.      eine schwule Figur von einem Schwulen       tes demonstrieren möchte. Es gibt
                                                                                                                                           Ich galt als Loser. Ich versagte auf dem    gespielt werden muss. Für mich geht         eine Wahrheit, die du zeigen möch-
                                                                                                                                           Gebiet der Männlichkeit – und im Thea-      es darum, wahrhaftig zu versuchen,          test. Dafür brauchst du verschiedene
                                                                                                                                           ter fand ich einen Ort, an dem ich ein      queeres Leben insgesamt sichtbar zu         Ebenen der Realität. Ich will Menschen
                                                                                                                                           paar kleine Fähigkeiten hatte, die an-      machen. Die Frage ist, ob das jeman-        damit konfrontieren. Ich möchte, dass
                                                                                                                                           dere nicht hatten. Natürlich hat Theater    dem hilft. Oder kreiert man einen           Menschen sich mit dem konfrontieren,
                                                                                                                                           mit Distinktion zu tun, aber die ist dort   Diskurs, der Minderheiten wieder un-        was ich erzähle. Für mich ist die größte
                                                                                                                                           nicht so gewalttätig wie anderswo. Es       sichtbar macht und beleidigt, weil er sie   Gefahr der Kunstwelt und Kulturver-
                                                                                                                                           ist eher ein Raum, in dem wir Unter-        karikiert? Mir ist es lieber, wenn Pierre   mittlung die Fähigkeit der Bourgeoisie
                                                                                                                                           schiedlichkeit erforschen können und        Bourdieu über Frauen spricht, als wenn      zur Verdrängung, dass sie es ablehnen
                                                                                                                                           in dem man sich anverwandeln kann.          Margaret Thatcher über Frauen spricht.      kann, sich mit dem wirklich auseinan-
                                                                                                                                                                                       Für mich ist jede Bearbeitung von »Im       derzusetzen, was du sagst. Es ist fast
                                                                                                                                           Das Thema der Anverwandlung im              Herzen der Gewalt« eine Erleichterung.      mysteriös. Du erzählst Geschichten
                                                                                                                                           Theater ist momentan sehr umstritten.       Diese Aneignung ist eine Befreiung,         über Armut, sexuelle und rassistische
                                                                                                                                           Fragen der Repräsentation und der kul-
                                                                                                                                           turellen Aneignung werden im Theater
                                                                                                                                           und der bildenden Kunst zunehmend
                                                                                                                                                                                                   »Du isst große Portionen,
                                                                                                                                           scharf diskutiert. Wer darf eigentlich                  nicht wie die bourgouisen
                                                                                                                                           wen repräsentieren? Darf man sich die
                                                                                                                                           Geschichte anderer Menschen aneig-                      Pussys in den Großstädten!«
                                                                                                                                           nen, sich ihr anverwandeln? Wie siehst
                                                                                                                                           du die Rolle der Kultur in diesem Feld?     weil ich meine Geschichte nicht gewählt     Gewalt und dann sitzen die berührt im
                                                                                                                                                                                       habe. Ich habe mir nicht ausgesucht,        Theater, aber dann gehen sie nach Hau-
                                                                                                                                           Diese Diskussionen sind extrem wich-        vergewaltigt worden zu sein, ich            se und wählen eine rechte Partei. Das
                                                                                                                                           tig. Noch immer sehen wir fast keine        habe mir nicht ausgesucht, überfallen       ist wirklich ein Mysterium. Wenn du
                                                                                                                                           People of Color auf der Bühne oder          worden zu sein; wieso sollte ich diese      dich berührt fühlst vom Leid anderer,
                                                                                                                                           queere und Trans*Personen. Natür-           Geschichte immer weiter mit mir rum-        dann müsstest du doch politisch han-
                                                                                                                                           lich ist das ein riesiges strukturelles     tragen müssen und sie immer wieder          deln oder Entscheidungen fällen, die
                                                                                                                                           Problem. Für mich ist es eine gute          erzählen? Es kann nicht sein, dass wir      dieses Leid lindern. Manchmal ist das
      SCHAUSPIELHAUS: In »Das Ende              sein konnte, der ich bin – wo man nicht       zwischen mir und dem Theater; dort           Nachricht, dass diese Diskussionen          dazu gezwungen werden. Wir haben            sehr enttäuschend in der Kunst. Warum
      von Eddy« schilderst du eine beson-       peinlich fand, wie ich war. Eines Tages       fand ich zum ersten Mal in meinem Le-        gerade stattfinden. Es ist für mich ein     unseren Schmerz ja nicht gewählt.           verändert sie die Menschen nicht? Was
      ders berührende Episode: Die beiden       gründeten sie in der Schule diese Thea-       ben einen Raum der Anerkennung. Der          Kernthema von »Im Herzen der Ge-            Wenn du schwul bist, wenn du schwarz        für eine Kunst können wir produzieren,
      Jugendlichen, die dich in der Schule      tergruppe, und ich versuchte es. Thea-        Applaus übertönte die Beleidigungen.         walt«: Was bedeutet es, wenn deine          bist, wenn du eine Frau, Araber oder        um Menschen dazu zu zwingen, sich
      über Jahre gequält hatten, applau-        ter zu spielen fiel mir sofort leicht. Eine   Das Theater war sehr wichtig für mich        Geschichte von anderen gestohlen wird.      Algerier bist – du hast es nicht gewählt.   damit zu konfrontieren, was da auf
      dierten dir bei einer Aufführung des      Rolle zu spielen war schließlich genau        in dieser Zeit, in der ich mich selbst und   Sobald ich eine Geschichte erzähle,         Aber du wirst damit konfrontiert, dass      der Bühne oder in einem Buch gezeigt
      Schultheaters. Es scheint fast so, als    das, was ich in meiner Kindheit gelernt       meine Persönlichkeit neu definierte.         gehört sie nicht mehr mir. Die Polizei      du darüber sprechen sollst. Ich finde       wird? Es gibt eine Szene, die ich oft
      markiere dieses Erlebnis eine bio-        hatte. Als schwules Kind musste ich                                                        erzählt sie neu. Die Ärzte, die ich be-     es eine schöne Sache, da jemanden an        beschreibe, weil sie eine gute Versinn-
      grafische Zäsur, die die Grundlage für                                                                                               suchen muss, erzählen ihre Version der      meiner Stelle zu haben. Ich gebe meine      bildlichung dessen ist: Es war in den
      deine folgende Emanzipation von der                           »Ich bin Schauspieler                                                  Geschichte. Wenn sie sie erzählen, ist      Geschichte jetzt jemand anderem, ich        1990ern, als Jean-Luc Godard einen
      Welt deiner Familie legt. Welche Be-                                                                                                 es nicht mehr meine Geschichte – sie        schreibe sie auf und gebe sie weg.          Preis bei der Césars-Zeremonie gewann.
      deutung hat das Theater für dich?                             seit ich drei bin.«                                                    erzählen sie mit ihrem Vokabular, in                                                    Er wurde auf die Bühne gerufen und
                                                                                                                                           ihrer spezifischen Weise zu denken und      Ein sehr unerwarteter Aspekt in deinem      bekam den César. Er sollte eine Rede
      ÉDOUARD LOUIS: Als schwuler Ju-           ständig vorgeben, jemand zu sein, der         Hat das Theater noch heu-                    zu sprechen. Als die Polizei den Bericht    Werk scheint mir der, wo du erzählst,       halten. Und Jean-Luc Godard dankte

                                                                                                                                                                                                                                                                              IM HERZEN DER GEWALT
      gendlicher suchte ich verzweifelt nach    ich nicht war. Ich versuchte, maskuliner      te eine Bedeutung für dich?                  meiner Aussage ausdruckte, erkannte         dass dein Vater einst auch überlegte,       nicht etwa seiner Mutter und seinem
      einem Ort, wo ich mich wertgeschätzt,     zu wirken als ich bin, ich musste so tun,                                                  ich gar nicht wieder, was ich vorher        mit seinem Umfeld zu brechen und            Drehbuchautor, sondern er dankte den
      geliebt fühlen konnte. In der Schule      als ob ich Mädchen liebte. Ich denke,         Ja, ich gehe sehr gerne und oft ins          gesagt hatte. Ihre Sichtweisen und ihre     in Südfrankreich ein neues Leben zu         Putzfrauen. Als er das sagte, lachte das
      hatte ich kaum Freunde. Meine Eltern      das ist ein ziemlich übliches Muster bei      Theater. Ich fühle mich dort noch im-        Sprache verzerrten meine Geschichte:        beginnen. Warum hast du die Pas-            Publikum, als ob das ein Witz wäre.
      schämten sich für mich, mein Vater hat    Homosexuellen. Unmittelbar nach der           mer sehr wohl. Wenn ich mit Theater-         Ich konnte ihre rassistische Behörden-      sage für dein Buch ausgewählt?              Jean-Luc Godard macht ein Statement:
      jedes Mal, wenn ich mit ihm sprechen      Geburt lernst du, eine Rolle zu spielen.      menschen zusammen bin, gibt mir das          sprache nicht akzeptieren. Ich wollte                                                   Wenn du Kino machst, wenn du Kunst

                                                                                                                                                                                                                                                                              13.-23.11.19
      wollte, nur auf den Boden geschaut,       Ich bin insofern Schauspieler, seit ich       ein Gefühl der Sicherheit, das ich so        ja eigentlich zunächst keine Anzeige        Weil es so gewesen ist. Ich versuche        machst, dann gibt es Leute, die hinter
      weil er mich weibisch fand. Meine         drei bin. Als Kind hatte ich 24 Stunden       nirgendwo sonst empfinde. Nicht in           erstatten, erst meine Freunde dräng-        einfach, wahrheitsgemäß zu bleiben.         dir herräumen, die die Toiletten putzen,
      Familie sah mich als Schande an. Es gab   am Tag Schauspielunterricht. Deswegen         bürgerlichen Kreisen, auch nicht in der      ten mich dazu. Das ist ein zentraler        Ich glaube, dass autobiografisches          wenn du gegangen bist. Es gibt ein
      für mich keinen Ort, an dem ich der       war das fast eine magische Verbindung         Literaturszene. Auf der anderen Seite        Aspekt in meinem Roman. Ich wollte          Schreiben eine besondere Stärke hat,        paar brutale Bedingungen, die Kunst

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SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
ermöglichen. Wenn man das den Leuten        das macht ihn gewalttätig. Natürlich     heit zu verbergen. Ich war ein Produkt      sich zu einer Geschichte. Was ist denn
     sagt, lachen sie, als ob das Lachen eine    entschuldigt das nicht, was er tat.      der Scham. Für ihn muss es in gewisser      Geschichte anderes als die Ansamm-
     physische Strategie wäre, um das Ge-                                                 Hinsicht gewalttätig gewesen sein,          lung dieser Fragmente von Gewalt
     sagte zu verdrängen. Es ist, als drehtest   Du sprachst von einer Geschichte         mich zu sehen, weil ich so bourgeois        und Scham? Vielleicht schämt sich der
     du den Kopf weg, wenn du auf der            Frankreichs als einer Gesell-            aussah. Ich bin ein Sozialaufsteiger, ein   Typ, weil er schwul ist. Er will Sex mit
     Straße einem Obdachlosen begegnest.         schaft der Scham.                        Class-Traveller wie Didier Eribon, und      einem Mann, aber hasst Homosexuali-
     Es gibt so viele körperliche Strategien,                                             erinnere mich, wie es für mich als Kind     tät. Er hasst seine eigene Begierde.
     die wir ausgebildet haben, um sich          Als ich nach Paris zog, und »Im Herzen   aus der Arbeiterklasse war, eine privile-   Wenn wir die Gewalt beenden wollen,
     nicht damit zu beschäftigen, was vor        der Gewalt« spielt genau dann, als       gierte Person zu sehen. Ich habe das als    müssen wir alle diese Felder der Gewalt
     sich geht. Darum schreibe ich. Als ich      ich gerade in Paris eingetroffen war,    gewalttätig empfunden, weil ich dachte:     auflösen. Das mag unmöglich sein,
     »Im Herzen der Gewalt« geschrieben          schämte ich mich zutiefst für mei-       Diese Person hat Privilegien, die ich       aber dieser Unmöglichkeit muss man
     habe, war meine Frage: Wie kann ich                                                                                              sich stellen, weil es der einzige Weg
     die Leute dazu bringen, nicht den Blick
     abzuwenden? Darum geht es für mich
                                                     »Mir ist es wichtig, immer wieder                                                ist, die Gesellschaft zu verbessern.

     beim autobiografischen Schreiben. Das
     emanzipatorische Moment des Schrei-
                                                     daran zu erinnern, dass Politik eine                                             Was bedeutet das für unser
                                                                                                                                      Bildungssystem?
     bens ist für mich die Unterbrechung             Sache von Leben und Tod ist.«
     der Freiheit des anderen. Es ist ein Weg                                                                                         Kinder aus der Arbeiterklasse werden
     zu sagen: Schau hin! Du solltest jetzt      ne Kindheit und meine Familie. Ich       nicht habe. Ich fand das demütigend.        vom Bildungssystem ausgeschlossen.
     hinschauen. Du lässt jetzt deine Frei-      versuchte, meine Vergangenheit zu        Und plötzlich war ich diese dominante       Pierre Bourdieu sprach von einem
     heit für eine Stunde beiseite und hörst     idealisieren. Ich versuchte, bourgeois   Person geworden, obwohl ich sie nur         Paradox des Schulsystems: Dort             durch die Opposition von Weiblich-        engagierst du dich sehr stark politisch,
     mir zu. Weil das wichtig ist. Deswegen      auszusehen, ich trug eine Krawatte,      performte. Das soll nicht entschuldigen,    werden Fähigkeiten von dir erwartet,       keit und Männlichkeit bestimmt. Als       insbesondere gegen Polizeigewalt.
     nenne ich meine Bücher ›Konfrontative       ich war 18 Jahre alt und wann immer      was in dieser Nacht passierte. Aber all     die du nicht alleine aus dem Schul-        Mann aus der Arbeiterklasse sitzt         Kannst du über diese Arbeit berichten?
     Literatur‹. Ich will, dass Bücher Leute     ich zum Bäcker ging, trug ich eine       diese Dinge sind Fragmente der Scham,       system erwerben kannst. Man er-            du nicht mit überschlagenen Beinen
     zur Konfrontation mit dem Gesagten          Krawatte. Alles, um meine Vergangen-     Fragmente der Gewalt, und sie fügen         wartet Wissen über Filme oder über         wie so ein Bourgeois! Du isst große       Mir ist es wichtig, immer wieder daran
     bringen. Schau hin, schau nicht weg.                                                                                             Theater – was passiert aber, wenn          Portionen, nicht wie die bourgouisen      zu erinnern, dass Politik eine Sache von
                                                                                                                                      deine Eltern nicht mit dir ins Theater     Pussys in den Großstädten. Klassen-       Leben und Tod ist. Jeden Monat wird in
     Im Original heißt dein Roman                                                                                                     gehen? Wir müssen aber auch über           identität war immer Gender-Identität.     Frankreich eine schwarze oder arabi-
     »Histoire de la Violence« … Geschichte                                                                                                                                                                                sche Person von der Polizei getötet – in
     der Gewalt. Welche Bedeutung
     hat der Begriff der ›Geschich-
                                                                                                                                          »Mir ist es lieber, wenn Pierre                                                  den USA sind es Dutzende. Schwarz zu
                                                                                                                                                                                                                           sein bedeutet, dem Risiko ausgesetzt
     te‹ in diesem Zusammenhang?                                                                                                          Bourdieu über Frauen spricht,                                                    zu sein, dass du von der Polizei getötet
                                                                                                                                                                                                                           wirst. Eine Frau zu sein bedeutet, dass
     Die Gewalt, die in »Im Herzen der                                                                                                    als wenn Margaret Thatcher über                                                  du dem Risiko ausgesetzt bist, Opfer
     Gewalt« vorkommt, ist das Ergebnis                                                                                                                                                                                    männlicher Gewalt zu werden. Eine
     verschiedener Geschichten, die diese                                                                                                 Frauen spricht.«                                                                 LGBT-Person hat zum Beispiel eine viel
     Gewalt hervorbringen. Es war mir wich-                                                                                                                                                                                höhere Wahrscheinlichkeit, Opfer eines
     tig, nicht nur die Nacht zu beschreiben,                                                                                         unser Bild von Männlichkeit nach-          Stelle ich die Identität der Arbeiter-    Gewaltverbrechens zu werden oder
     in der er versuchte, mich umzubringen.                                                                                           denken. In meiner Kindheit galt man        klasse infrage, muss ich deren Bild       als Kind Selbstmord zu begehen. In
     Sondern auch zu verstehen, was seine                                                                                             doch nur als ›richtiger Mann‹, wenn        von Männlichkeit infrage stellen.         Frankreich hat ein Fabrikarbeiter eine
     Vorgeschichte ist und warum er das                                                                                               man sich gegen das Schulsystem stellte.                                              um 50 Prozent erhöhte Wahrschein-
     getan hat. Und dann gehe ich noch                                                                                                Es war eine Performance der Männ-          Ein sehr wirkmächtiger Gedanke war        lichkeit, vor dem 55. Lebensjahr zu
     zurück in meine eigene Vergangenheit,                                                                                            lichkeit, wenn man den Lehrern nicht       in den letzten Jahren auch Byun-Chul      sterben. Es ist absurd, dass die Men-
     um zu zeigen, dass diese Gewaltszene                                                                                             gehorchte, sie provozierte. Das sind       Hans These, dass wir in einer ›Mü-        schen in der Politik leugnen, worum es
     das Resultat verschiedener Geschichten                                                                                           ja auch ›Geschichten‹, mit denen man       digkeitsgesellschaft‹ leben, in der es    eigentlich geht. Es geht in der Politik
     oder Vergangenheiten ist, die mitein-                                                                                            als Kind umgehen muss: die Narrative       ein ›Zuviel an Positivität‹ gäbe und      nicht nur um Fragen oder Entschei-
     ander in Konflikt geraten. Es ist auch                                                                                           der Männlichkeit, des Schulsystems.        in der viele Menschen von einem           dungen: Es geht um Leben und Tod.
     eine Untersuchung der französischen                                                                                                                                         vermeintlichen Übermaß an Frei-           Mir geht es darum, Gewalt auf allen
     Geschichte als der einer rassistischen                                                                                           Mir scheint allerdings, dass die Nar-      heit in der Gestaltung ihrer eige-        Ebenen zu kritisieren: sexuelle Ge-
     Gesellschaft, einer Klassengesellschaft,                                                                                         rative im Hinblick darauf, wie Gender      nen Biografien überfordert seien.         walt, staatliche Gewalt, Polizeigewalt!
     einer Gesellschaft voller Scham, in der                                                                                          performt werden müssen, in letzter Zeit
     sich Menschen ihrer selbst schämen. Es                                                                                           an Dominanz verlieren. Gleichzeitig        Für mich ist das schon eine ziemlich      Was sind deine nächsten Pläne?
     ist nicht nur eine Begegnung zwischen                                                                                            wird, beeinflusst durch Didier Eribon,     bourgeoise Theorie. Die kleine Angst
     zwei Individuen, sondern es geht um                                                                                              aber auch durch deine Texte, vermehrt      der Bourgeoisie: Soll ich Schauspie-      Ich arbeite an einem neuen Roman.
     die Kollision vieler Fragmente von                                                                                               wieder über Klassenzugehörigkeiten         ler werden oder lieber Journalist?        Aber es fällt mir sehr schwer. Jeden
     Geschichten, Erzählungen, Vergangen-                                                                                             nachgedacht. In welcher Wechsel-           Soll ich auf Weltreise gehen oder erst    Abend sage ich mir: Ich werde nie
     heiten, die dann explodieren. Der Typ                                                                                            wirkung siehst du Gender und Class?        mal studieren? Die Menschen in dem        wieder schreiben. Und dann geht es
     hat kein Geld, also klaut er von mir.                                                                                                                                       Milieu meiner Bücher haben keine          am nächsten Morgen von vorne los.
     Genauso wie ich geklaut habe, als ich                                                                                            Es ist wichtig, dass wir nicht einfach     Wahl in ihrem Leben. Und auch was         Das ist dasselbe Lied seit Jahren.
     ein Kind war. Ich klaute eine Playsta-                                                                                           sagen: Jetzt müssen wir wieder über        Gender angeht, zeigt doch die Be-

                                                                                                                                                                                                                                                                      IM HERZEN DER GEWALT
     tion und solche Sachen, weil ich kein                                                                                            Klassen sprechen. Wir müssen ganz          wegung des Feminismus, dass die           Vielen Dank für das Gespräch!
     Geld hatte, aber ausgehen wollte. Er                                                                                             neu darüber nachdenken, wie wir            Rolle der Männlichkeit und die Gewalt
     macht das gleiche, was ich als Kind ge-                                                                                          Klassen definieren. Wenn wir dafür         dieser Rollenerwartungen nach wie vor
     macht habe. Damit haben wir ein erstes                                                                                           eine neue Sprache entwickeln, muss         sehr stark ist – selbst in privilegier-
     Verständnis der Klassenproblematik.                                                                                              ›Männlichkeit‹ im Zentrum stehen. In       ten Milieus wie dem Journalismus,
     Weil er eine Person of Color ist, weiß                                                                                           meinen Büchern ist die Analyse der         dem Verlagswesen oder dem Film. Ich

                                                                                                                                                                                                                                                                      13.-23.11.19
     er, dass er dafür teuer bezahlen wird,                                                                                           Klassengesellschaft immer mit der          glaube nicht, dass Regeln oder Rollen-
     wenn die Polizei ihn kriegt. Er wird viel                                                                                        Frage nach Gender verbunden. In dem        erwartungen verschwunden sind.
     schärfer bestraft werden, als wenn er                                                                                            Arbeiterklasse-Milieu meiner Kindheit
     weiß wäre. Darum gerät er in Panik,                                                                                              war jedes einzelne Verhaltensmuster        Neben deiner literarischen Arbeit

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SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
Christoph Laimer

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                                          Stadt, Land, Krise?
     Das Verhältnis zwischen Stadt und          zitiert eine Studie, die besagt, dass die   würden das solidarisch und gemeinsam
     Land ist in den letzten Jahren wieder      Zahl der Menschen zwischen 25 und           mit den Bewohner*innen der Banlieues
     verstärkt in den Fokus der Aufmerk-        34, die übersiedeln, um einen neuen         machen.
     samkeit gerückt, ob durch Wahlergeb-       Beruf zu beginnen oder zu finden, heu-      In Österreich ist die Geografie des
     nisse, Statistiken über Landflucht oder    te im Vergleich zu den 1990ern um 40        Wahlverhaltens überraschend bestän-
     Protestbewegungen. So klar viele der       Prozent gesunken ist. Grund dafür sind      dig; nur wenige Ereignisse haben in
     Phänomene bei oberflächlicher Be-          auch hier die hohen Lebenshaltungs-         den letzten Jahrzehnten grundlegende
     trachtung scheinen, so unscharf werden     kosten in den urbanen Zentren, im           Änderungen verursacht. Soziale und
     sie bei näherer Beschäftigung. In den      Speziellen natürlich die hohen Mieten,      ökonomische Verhältnisse spiegeln sich
     USA haben die Tea-Party-Bewegung           die sich immer weniger Menschen             im Wahlverhalten oft noch wider, selbst
     oder die Wahl Donald Trumps dazu ge-       leisten können.                             wenn sie in der Realität nur mehr in
     führt, dass sich Wissenschaftler*innen     Im deutschsprachigen Raum ist die Si-       Spuren zu erkennen sind. In Österreich
     und Autor*innen vermehrt die Frage         tuation noch anders; die Bevölkerungs-      hat das in besonderem Maße damit
     gestellt haben, was mit diesen Men-        zahlen von Städten nehmen, wenn auch        zu tun, dass sich die Veränderung der
     schen in den Flyover-Staaten eigent-       nicht mehr so stark wie noch vor ein        Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten
     lich los ist, dass die auf einmal Stunk    paar Jahren, nach wie vor zu. Steigen       in der Struktur der Wahlberechtigten
     machen und populistische Maniacs           die Mieten in Städten jedoch in Zu-         nicht repräsentativ darstellt. Öster-
     in höchste Ämter wählen. Man muss          kunft ungebremst weiter, ist eine Ent-      reichs aktuelle Arbeiterklasse ist zu
     jedoch nicht lange suchen, um dann         wicklung wie im angloamerikanischen         einem nicht unerheblichen Teil schlicht
     auf etliche nachvollziehbare Gründe zu     Raum vor allem in jenen Metropolen          und einfach nicht wahlberechtigt.
     stoßen, die berechtigterweise Anlass       vorstellbar, die keine Gegenmaßnahmen       Ein Szenario, das in vielen Weltge-
     dazu geben, unzufrieden zu sein: Die       setzen.                                     genden schon heute Realität ist und
     baulichen Infrastrukturen in den USA       Reaktionen auf diese ökonomischen           so aussieht, dass sich einem erheb-
     sind in den letzten Jahren sträflich       Entwicklungen zeigen sich nicht nur         lichen Teil der Landbevölkerung keine
     vernachlässigt worden, für finanziell      an der Wahlurne, sondern auch auf           Perspektive mehr bietet und sich ein
     ausgehungerte Kleinstädte und Land-        der Straße. Die öffentlichkeitswirk-        angenehmes Leben in der Stadt nur
     striche im Nirgendwo interessiert sich     samste Bewegung, die auch auf den           mehr Reiche leisten können, ist auch
     kein Mensch, das Wort Overtourism          Straßen der Städte den Frust der            in unseren Breiten nicht mehr unvor-
     kennt hier niemand. Die Einkommen          Landbevölkerung demonstrierte, gab          stellbar. An anderen politischen und
     vor allem der unteren Mittelschicht        es in Frankreich mit den Gelbwesten.        ökonomischen Verhältnissen, die auf
     sind seit den 1990er-Jahren gesunken,      Gerade diese hohe Bekanntheit scheint       Kooperation statt auf Konkurrenz set-
     ebenso die Lebenserwartung, besonders      es jedoch schwer zu machen, einen           zen, führt kein Weg vorbei, wollen wir
     in der Arbeiterklasse. Gut bezahlte Jobs   sowohl unvoreingenommenen als auch          auch künftig in einer demokratischen
     verschwinden, Alkoholismus, Drogen-        kenntnisreichen Blick auf das Phäno-        Gesellschaft freier Individuen leben.
     konsum, Selbstmorde und psychische         men zu werfen. Viele Beobachter*innen
     Krankheiten nehmen zu. Wie Angus           scheitern daran, sich nicht von einzel-
     Deaton, Nobelpreisträger 2015 für          nen Aspekten ablenken zu lassen.
     Ökonomie, behauptet, passiert mit der      Wie im Fall von den USA und Groß-
     weißen Arbeiterklasse in den USA heu-      britannien stimmt es auch bei der
     te das, was mit der schwarzen Arbei-       Situation in Frankreich, von einer Folge
     terklasse schon in den 1970er-Jahren       der Disparität von Stadt und Land
     geschah. Sie wird nicht mehr gebraucht.    zu sprechen, und gleichzeitig stimmt
     Eine in den letzten Wochen in den          es auch wieder nicht. Denn wie die
     US-Medien diskutierte Studie der           Berliner Stadtgeografin Ilse Helbrecht
     beiden Politikwissenschaftler Peter        ganz richtig feststellt, »die komplexen
     Ganong und Daniel Shoag weist nach,        gesellschaftlichen Konstruktionsprozes-
     dass eine der klassischen ökonomischen     se von Räumen verbieten es, räum-
     Aufstiegsmöglichkeiten für die länd-       liche Grenzen als scharfe Grenzen für
     liche beziehungsweise kleinstädtische      unterschiedliche soziale Verhältnisse zu
     Arbeiterklasse, nämlich der Umzug in       vermuten«. Viele ländliche Regionen in      Christoph Laimer ist Chefredakteur
     eine größere Stadt, aufgrund sinkender     Frankreich und anderswo wurden und          von »dérive« – Zeitschrift für Stadt-
                                                                                            forschung, Teil der IG Nordbahnhalle,
     Löhne und steigender Lebenshaltungs-       werden vernachlässigt, was zur Folge
                                                                                            die sich für den Erhalt der Nordbahn-
     kosten in den Städten keinen Sinn          hat, dass sich Menschen ihr Leben           halle im zweiten Bezirk engagiert
     mehr ergibt. Das Ergebnis: In den USA      trotz Vollzeitarbeit kaum mehr leisten      und Mitglied von Bikes and Rails,
     verzeichnen fast alle großen Städte        können, aber das Gleiche trifft auf viele   dem ersten Neubau-Hausprojekt in
     Bevölkerungsrückgänge. Die Lebens-         Bewohner*innen städtischer Banlieues        Wien, das sich den Prinzipien des
     haltungskosten sind für Menschen           in oft noch viel größerem Ausmaß zu.        Mietshäuser-Syndikats verschrieben
     ohne Uniabschluss im Vergleich zu den      Den Gelbwesten deswegen das Recht           hat. Die aktuelle Ausgabe von déri-
     Verdienstmöglichkeiten mittlerweile        zu verwehren, für bessere Lebensver-        ve widmet sich dem Thema »Stadt
                                                                                            Land«. Informationen: derive.at,
     einfach zu hoch.                           hältnisse auf die Straße zu gehen, ist
                                                                                            urbanize.at, ig-nordbahnhalle.org,
     Ganz ähnlich sind die aktuellen Ent-       absurd; toll und politisch unglaub-         bikesandrails.org.
     wicklungen in England. Der Guardian        lich interessant wäre es natürlich, sie

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SAISON VORSCHAU - Magazin #1.19/20 - Schauspielhaus Wien
Antonia Hoerschelmann
WIEDERAUFNAHMEN

                                                                                                                                                                      Maria Lassnig »Ich bin die Frau Picasso,
                                                                                                                                                                          fange Bilder mit dem Lasso…«

                                                                                                                                                           »Man malt, wie man ist«, stellte Maria     alt zu sein, und schuf nicht nur zu        des ihres damaligen Freundes zu einem
                                                                                                                                                           Lassnig (1919 - 2014) einmal fest, »ist    diesem Thema ein kraftvolles und ein-      Kärntner Kunstskandal, der ihr aber
                                                                                                                                                           man raffiniert, malt man raffiniert. Ist   zigartiges, innovatives Alterswerk. Erst   letztlich öffentliche Aufmerksamkeit
                                                                                                                                                           man einfach, malt man einfach.« Dem        gegen Ende ihres langen Lebens, als sie    und teils aber auch wichtige Anerken-
                                                                                                                                                           Reichtum ihres künstlerischen Œuvres       schon langsam müde wurde, begann           nung brachte. Und auch die »Schlafen-
                                                                                                                                                           entsprach ihre faszinierende Persön-       sich jener Erfolg einzustellen, nach dem   den Männer« von 2006 stehen in dieser
                                                                                                                                                           lichkeit. Ihr Wesen war einem prall        sie sich so lange gesehnt hatte, fast zu   Tradition. Friesartig schichten sich vier
                                                                                                                                                           befüllten Kaleidoskop mit sich anschei-    spät, um ihn noch zu erleben und vor       Männerakte in- und übereinander auf
                                      »Jeder Satz ein Angriff. Crimps Kammerspiel als launiges Aktionismus-Spektakel.«                                     nend endlos erneuernden Variations-        allem genießen zu können. Der Goldene      einer schmalen Bühne am hellen Boden.
                                      WIENER ZEITUNG                                                                                                       möglichkeiten vergleichbar. Ihre künst-    Löwe der Biennale von Venedig 2013         Der fünfte sitzt schräg mit dem Rücken
                                                                                                                                                           lerische Kreativität umfasste Denken,      und die Ausstellung im PS1 in New          zum Publikum und liest, in ein Buch
                                                                                                                                                           Fühlen und Gestaltung. Lassnig lebte       York mit einer ausführlichen Bespre-       vertieft. Sein heller Schatten fällt auf
                                                                                                                                                           im steten Widerspruch; der Titel »Ja ja    chung in der New York Times im Jahr        den unteren Teil der weißen Wand. Das
                                                                                                                                                           aber sowieso nein« auf einer Zeichnung     darauf brachten ihr aber doch einen        gleißende Licht einer grellen Beleuch-
                                                                                                                                                           aus dem Jahr 2012 verdeutlicht dieses      Hauch jener ersehnten Genugtuung und       tung erzeugt auf den Körpern scharfe
                                                                                                                                                           sich aus Gegensätzen und Widersprü-        auch das Wissen, dass ihre Kunst nun       Kontraste in leuchtenden Farben. Der
                                                                                                                                                           chen zusammensetzende Universum der        endgültig auf dem Weg war, auch inter-     Schein von Entspanntheit und medita-
                                                                                                                                                           Künstlerin. Ihre Neugierde und Wiss-       nationale Anerkennung zu erlangen.         tiver Kontemplation wird am schmalen
                                                                 »Statt Realismus und Psychologisierung setzt Schweigen mit seiner turbulenten Show
                                                                                                                                                           begierde öffneten ihr die Möglichkeit,     Innerhalb der Fülle an Themen, denen       und steilen Bühnengrat aggressiv be-
                                                                 auf drastischen Humor, harte Bandagen, subkutanen Horror und viel absurdes Theater.«
                                                                                                                                                           zu einem völlig neuartigen künstleri-      sich Maria Lassnig zeitlebens widme-       leuchtet. Die Ruhe droht – labil gewor-
                                                                 KURIER
                                                                                                                                                           schen Weg aufzubrechen, mit dem sie        te – Selbstporträt, Science-Fiction,       den – zu kippen, so wie es Lassnigs
                                                                                                                                                           einen bedeutenden und eigenständigen       die Beziehungen zu Menschen, Tieren        Beziehungen taten. »Schlafende Män-
                                                                                                                                                           Beitrag innerhalb der internationalen      und Technik, das Verhältnis zu Gewalt      ner« stehen starken und unkonventio-
                                                                                                                                                           Kunst nach 1945 leistete. Mut und          und Krieg – dominiert ihr bahnbre-         nellen Frauen gegenüber; bis ins hohe
                                                                                                                                                           Fleiß wie auch Zweifel und Einsamkeit      chender Grundgedanke, die eigenen          Alter bleibt die Kreativität der Künst-
                                                                                                                                                           waren ihre steten Begleiter. Sie war       Körperempfindungen, später als ›body       lerin ungebrochen, und es entsteht
                                                                                                                                                           humorvoll und geistreich und zugleich      awareness‹ bezeichnet, in den Arbei-       eine Vielzahl neuer Bildfindungen und
                                                                                                                                                           misstrauisch, nachtragend, verletzlich     ten sichtbar zu machen. Bereits ab         Themen. Sie wollte als Maler und nicht
                  von Martin Crimp                                                  Was kann es Brenzligeres geben als das spontane Treffen zweier         und verletzend. In den späten Jahren       Ende der 1940er-Jahre machte Lassnig       als Malerin im Sinne einer feministi-
                  Deutsch von Ulrike Syha                                           Paare? Zwischen absurder Komödie und psychologischem Kam-              wollte sie ihre Bilder gar nicht mehr      den eigenen Körper zum Mittelpunkt         schen ›Schublade‹ anerkannt werden.
                  ÖSTERREICHISCHE                                                   merspiel entwickelt Martin Crimp einen Horrortrip mit unklarem         aus der Hand geben; sie waren ihr          ihrer Kunst, lange bevor Körpergefühl,     Sie wollte mit Rembrandt, van Gogh
                  ERSTAUFFÜHRUNG                                                    Ausgang. In einem nächtlichen Wortgefecht kämpfen seine Figuren        die liebsten Begleiter geworden, zum       Körpersprache und das Verhältnis von       und Picasso auf derselben Ebene gese-
                                                                                    mit aller Härte um ihre Position in den Machtkonstellationen der       Familienersatz – hatte sie sich doch der   Mann und Frau zentrale Themen der          hen werden und geschätzt sein. Heute
                  Regie Tomas Schweigen                                             Generationen, der Geschlechter, der beruflich Arrivierten und der      Kunst zuliebe, wie sie mehrfach be-        internationalen Avantgarde wurden.         ist ihr die internationale Wertschätzung
                  Bühne Giovanna Bolliger                                           Aufsteiger. Martin Crimp lässt sich zum einen von Maria Lassnigs       tonte, gegen Familie und Partnerschaft     Sie markiert damit einen wichtigen         sicher und so auch der Platz an der
                  Kostüme Anne Buffetrille                                          Gemälde »Schlafende Männer« inspirieren, zum anderen vom               entschieden und dasselbe von anderen,      Wendepunkt in der Geschichte der           Seite von Picasso.
                  Musik Dominik Mayr                                                Klassiker aller Zimmerschlachten: Edward Albees »Wer hat Angst         auch jüngeren Kolleg*innen und Schü-       modernen Kunst, dessen Nachhall bis
                  Video Tim Hupfauer                                                vor Virginia Woolf«. Virtuos spielt er mit einer Reihe von Wiener      ler*innen, stets ebenso eingefordert,      heute spürbar ist. Humorvoll und ernst,
                  Dramaturgie Tobias Schuster                                       Referenzen aus dem Feld des Aktionismus und schafft eine rät-          wenn diese das Künstler*innendasein        sehnsuchtsvoll und gnadenlos bannt
                                                                                    selhafte Versuchsanordnung, in der es um alles geht: Liebe, Ar-        ernsthaft leben wollten.                   die Künstlerin ihre Selbstempfindung
                  Mit Vera von Gunten, Alina Schaller,                              beit, Kunst und Leben.                                                 Sie war modisch informiert und interes-    auf den Malgrund. Nicht allein was sie
                  Sebastian Schindegger, Anton Widauer                                                                                                     siert; ihre öffentlichen Auftritte konn-   sieht, sondern wie sie sich spürt, wird
                                                                                                                                                           ten eindrucksvoll inszeniert sein, das     zum Bild.
                                                                                                                                                           belegen auch manche Fotoserien. Auf-
                                                                                                                                                           zufallen machte ihr in diesen Momen-       Als Künstlerin und Frau hat sie sich,
                                                                                                                                                           ten Spaß und ermöglichte ihr gleich-       ohne programmatisch eine feminis-
                                                                                                                                                           zeitig, sich zu verstecken. Sie wirkte     tische Position zu beziehen, äußerst
                                                                                                                                                           beinahe schüchtern, jedenfalls sehr be-    emanzipiert, selbstbewusst und auto-

                      MARIA                                                                                    6. 9. — 1. 12. 2019                         hutsam gegenüber kleinen Kindern und       nom bewegt. Allein ihr Aufbruch aus

                                                                                                                                                                                                                                                                                             SCHLAFENDE MÄNNER
                                                                                                                                                           wollte diese bei einer ersten Begegnung    Kärnten nach Wien zur künstlerischen
                                                                                                                                                           auf keinen Fall erschrecken oder ihnen     Ausbildung, weiter nach Paris in den

                      LASSNIG
                                                                                                                                                                                                                                                  Antonia Hoerschelmann ist Kunst-
                                                                                                                                                           zu stürmisch nähertreten; sie liebte       60er-Jahren, dann bis zur Rückkehr          historikerin und Kuratorin für Mo-
                                                                                                                                                           Tiere, kämpfte für die Natur und gegen     nach Wien 1980 in New York lebend,          derne und Zeitgenössische Kunst
                                                                                                                                                           den Krieg. Sie hasste leidenschaftlich     macht dies deutlich. So hat sie auch        an der Albertina Wien. Zahlreiche

                      WAYS OF BEING

                                                                                                                                                                                                                                                                                             30.10.-2.11.19
                                                                                                                                                           und mit Ausdauer. Das Alter und das        Themen, die in der kunsthistorischen        Ausstellungen und Publikationen,
                                                                                                               TÄGLICH 10 BIS 18 UHR, MI & FR BIS 21 UHR                                                                                          so zu Edvard Munch, Anselm Kiefer,
                                                                                                                                                           Älterwerden thematisierte sie vorwie-      Tradition mehrheitlich weiblichen
                      Maria Lassnig, Selbstporträt mit Stab, 1971,                                                                                         gend in ihren Kunstwerken und Texten,      Modellen zugedacht waren, mit männ-         Jim Dine, Oskar Kokoschka, Maria
                      Maria Lassnig Stiftung, © Maria Lassnig Stiftung
                                                                                                                                                           für sich selbst nahm sie in Anspruch,      lichen Modellen belegt. Bereits 1946        Lassnig, Arnulf Rainer, Martha Jung-
                                                                                                                                                                                                                                                  wirth, Erwin Wurm u. a.
                                                                                                                                                           nie jung gewesen und somit auch nicht      wurde die Präsentation eines Aktgemäl-

  18                                                                                                                                                                                                                                                                                                 19
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