Nach dem Angriff ist vor dem Angriff

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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
3 21                               Berichte und Hintergründe aus Israel und dem Nahen Osten

                                                                                           Magazin

Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
Eindrücke aus dem Raketenalltag

MAHNENDER PRÄSIDENT                                 DAS MASSAKER VON BAGDAD
Rivlins Blick auf eine Gesellschaft im Wandel       Erinnerungen an die Farhud vor 80 Jahren
Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
14                                        10                                               13
       VOR 80 JAHREN                            RIVLIN                                           HOHER PEGELSTAND
       Das unbekannte Pogrom                    Ringen um Zusammenhalt                           Regenreicher Winter

Herzog wird neuer Staatspräsident

D    ie Knesset hat am 2. Juni Jitzchak Herzog, den Vorsitzenden
     der Jewish Agency, zum Nachfolger von Staatspräsident Reu-
ven Rivlin gewählt. Der Favorit erhielt 87 von 120 möglichen Stim-
                                                                     wanderungsorganisation Jewish Agency. Mit seiner Kandida-
                                                                     tur folgte der Wahlsieger einer Familientradition: Der Vater des
                                                                     60-Jährigen, Chaim Herzog, hatte das Amt des Präsidenten von
men. Für die Pädagogin Miriam Peretz, die einzige Gegenkandida-      1983 bis 1993 inne. Und so erklärte der Sohn angesichts seiner
tin, stimmten 26 Abgeordnete.                                        Kandidatur: „Meine persönliche Familiengeschichte und jahre-
                                                                     lange öffentliche Erfahrung haben mich gelehrt, das Wunder der
                                                                     Existenz Israels nie als garantiert zu betrachten.“ Er sehe infolge
                                                                     des Gaza-Konfliktes und der innenpolitischen Krise die Notwen-
                                                                     digkeit, die Nation zu heilen und zu einen.
                                                                        Die gescheiterte Gegenkandidatin Peretz wanderte 1963 mit
                                                                     ihrer Familie aus der marokkanischen Stadt Casablanca nach
                                                                     Israel ein. Die 67-jährige Witwe hat zwei ihrer sechs Kinder bei
                                                                     militärischen Einsätzen verloren: Ihr ältester Sohn Uriel fiel
                                                                                                                                           Fotos: avishai teicher, Wikipedia | GPO/Mark Neyman |

                                                                     1998 im Libanon. Sein jüngerer Bruder Eliras kam 2010 bei ei-
                                                                     ner Militär­operation in der Nähe des Gazastreifens ums Leben.
                                                                     Durch ihren öffentlichen Umgang mit diesem Verlust gewann
                                                                     sie Respekt bei vielen Israelis. In Umfragen hatte sich eine
                                                                     Mehrheit der Israelis dafür ausgesprochen, sie zur Präsidentin
                                                                                                                                           Israelnetz/mh | ‫ולוטס רינ‬, Wikipedia

                                                                     zu wählen.
Herzog mit seiner Frau Michal, rechts sein Vater Chaim,                 Mit Herzogs Wahl bleibt es dabei: Die bislang einzige Frau im
der sechste Präsident Israels                                        höchsten Staatsposten war nur vertretungsweise im Amt. Nach-
                                                                     dem Mosche Katzav 2007 wegen Vergewaltigungsvorwürfen zu-
                                                                     rückgetreten war, übernahm Knessetsprecherin Dalia Itzik den
Herzog stammt aus Tel Aviv. Er saß von 2003 bis 2018 für die         Posten für ein paar Monate. Katzav wurde später zu einer Haft-
Arbeitspartei in der Knesset, ab 2013 war er Parteichef und Op-      strafe verurteilt. Itzik kandidierte 2014 und verlor die Wahl gegen
positionsführer. Zwischen 2005 und 2011 bekleidete er mehrere        Rivlin. Dessen Amtszeit endet am 9. Juli. |
Ministerposten. Im Jahr 2018 übernahm er den Vorsitz der Ein-                                                           Elisabeth Hausen

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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
Magazin 3|21

                                          Liebe Leser,
 4 BEGINN DER                             elf Tage lang hat die jüngste Konfrontation zwischen der Hamas und Israel gedauert. Die
ESKALATION                                Terrorgruppe feuerte 4.300 Raketen auf israelische Ziele ab, die Luftwaffe zerstörte große
Von Flaggen und Raketen                   Teile des Tunnelsystems der Hamas und andere militärische Infrastruktur im Gazastrei-
                                          fen. Es gab viele Tote und Verletzte. In dieser Ausgabe des Israelnetz Magazins erhalten
5 ALLTAG MIT                              Sie eine erste Bilanz der Operation „Wächter der Mauern“. Doch Zahlen sind abstrakt.
RAKETENALARM                              Deshalb bieten wir Ihnen zusätzlich zwei persönliche Berichte: Ab Seite 4 lesen Sie, wie
„Bombiges“ Ber‘er Scheva                  Menschen in Jerusalem auf den ersten Raketenalarm seit mehreren Jahren reagierten
8 MANSUR ABBAS                            und wie sich die Angriffe aus Gaza auf das Leben in Be‘er Scheva auswirken.
Der pragmatische Islamist
                                          Gleich zwei Konflikte mit der Hamas prägen die Amtszeit des israelischen Staatspräsi-
9 BIBELBLICK                              denten Reuven Rivlin: Nachdem er 2014 gewählt wurde, begann die Operation „Starker
Zwischen Heimsuchung                      Fels“ als Reaktion auf die brutale Ermordung dreier israelischer Talmudschüler. In den
und Heimkehr                              letzten Tagen seiner Amtszeit folgte sieben Jahre später die Operation „Wächter der Mau-
                                          ern“. Diese Situation forderte ihn ebenso heraus wie vier Knessetwahlen binnen zwei
                                          Jahren, die vorerst keine stabile Regierung hervorbrachten. Und so wurde auch die innere
                                          Spaltung in Israel ein Thema seiner Zeit als Staatsoberhaupt, die am 9. Juli endet. Mehr
                                          dazu erfahren Sie in einem Porträt ab Seite 11.

                                          Auch nach den Wahlen vom 23. März bleibt die Regierungsbildung in Israel schwierig.
                                          Eine spannende Rolle hat eine kleine arabische Partei, um die plötzlich jüdische Politiker
                                          unterschiedlicher Anschauungen buhlen. Was es mit dem Ra‘am-Vorsitzenden Mansur
                                          Abbas auf sich hat, ist auf Seite 8 zu lesen.

                                          Einblicke in die Zeit des Zweiten Weltkrieges aus nahöstlicher Perspektive bietet ein Ar-
                                          tikel ab Seite 14: Darin geht es um Judenhass im Irak. Vor 80 Jahren ereignete sich die
  IMPRESSUM                               sogenannte „Fahrhud“: ein Pogrom, dem zahlreiche irakische Juden zum Opfer fielen.

  Herausgeber                             Doch es gibt auch gute Nachrichten: Zum zweiten Mal in Folge erlebte Israel einen Win-
  Christliche Medieninitiative pro e.V.   ter mit vielen Niederschlägen. Der See Genezareth ist am Ende der Regenzeit gut gefüllt,
  Charlotte-Bamberg-Straße 2              auch wenn der Pegel nicht so hoch stieg wie vor einem Jahr. Auf Seite 13 berichten wir,
  D-35578 Wetzlar                         wie sich die beiden vergangenen regenreichen Winter auf den Wasserhaushalt der Isra-
  Telefon +49 (64 41) 5 66 77 00          elis auswirken.
  Telefax +49 (64 41) 5 66 77 33
  israelnetz.com                          Die Corona-Pandemie prägt den Alltag der Israelis nur noch am Rande, und so kommt
  info@israelnetz.com                     das Thema in diesem Magazin nicht vor: Nach einem Jahr mit drei harten Lockdowns
  Vorsitzender Dr. Hartmut Spiesecke      und einer Übergangszeit mit einem Grünen Impfpass sind die meisten Einschränkungen
  Geschäftsführer                         inzwischen aufgehoben. Das Land öffnet sich nun vorsichtig wieder für Touristen.
  Christoph Irion (V.i.S.d.P.)
  Büro Wetzlar Elisabeth Hausen           Möge der Hüter Israels, der niemals schläft, die Menschen bewahren (siehe Psalm 121).
  (Leitende Redakteurin), Daniel Frick,
  Timo König, Egmond Prill, Martin        Herzlich grüßt Sie,
  Schlorke
  Büro Jerusalem mh
  Titelfoto                               Elisabeth Hausen
  Blick in eine Synagoge in Aschkelon
  nach einem Raketeneinschlag
  am 16. Mai | Quelle: flash90
  Redaktionsschluss dieser Ausgabe:
  2. Juni 2021
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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
DER BEGINN DER ESKALATION

Von Flaggen und Raketen
Der Jerusalem-Tag erinnert an die Vereinigung der Stadt nach dem Sechs-Tage-Krieg. Jugendliche feiern mit
Fahnen und einer Parade. Doch mittendrin gibt es Raketenalarm: Die Hamas greift Jerusalem an.
mh

                              S
                                    eit 1968 gedenkt Israel am Jom                   Inmitten der Gesänge ertönt um 18 Uhr eine
                                    Jeruschalajim, dem Jerusalem-Tag, der         Sirene. Es dauert wenige Sekunden, bis sich der
                                    Vereinigung der Stadt nach dem Sechs-­        Ruf „Tilim, Raketen!“ in der Menge der Teil-
                              Tage-Krieg 1967. Damals eroberte Israel den Ost-    nehmer ausbreitet. Die überraschten Sicher-
                              teil und damit auch historische heilige Stätten     heitskräfte rufen dazu auf, sich in Sicherheit zu
                              wie die Klagemauer. In den Nachmittagsstun-         bringen. Viele Schüler bleiben im Pulk auf der
                              den des 10. Mai dieses Jahres führt der Flaggen-    Straße, andere rennen in den Unabhängigkeits-­
                              marsch vom Westen der Stadt in die östliche         Park, um sich flach auf den Boden zu legen. Drei
                              Altstadt.                                           Einschläge sind deutlich zu hören.
                                Die israelische Tageszeitung „Ha‘aretz“ hatte        Insgesamt schlagen sieben Raketen der Ha-
                              wenige Stunden vorher getitelt: „Der Flaggen-       mas in den westlichen Hügeln von Jerusalem
                              marsch schadet und ist in jedem Jahr überflüs-      ein, eine Warn-App zeigt die Orte, darunter
                                                                                  Kiriat Anavim, Giv‘at Jearim und Abu Gosch.
                                                                                  Verletzte gibt es keine und mehrere Raketen
                                                                                  konnten vom System „Eisenkuppel“ abgewehrt
                                                                                  werden. Direkt nach dem Verstummen der Sire-
                                                                                  ne geben Polizisten Entwarnung: „Es ist alles in
                                                                                  Ordnung. Ihr könnt wieder aufstehen.“ Die Ju-
                                                                                  gendlichen zeigen sich kurz irritiert und singen
                                                                                  unmittelbar die bekannten Siegesworte: „Am
                                                                                  Israel chai, das Volk Israel lebt.“ Andere singen
                                                                                  von der Schönheit Jerusalems, nur an einer Stel-
                                                                                  le tanzen Jungen zu den Worten „Muhammad
                                                                                  ist tot“.
                                                                                     Die Jugendlichen ziehen singend weiter. We-
                                                                                  nige Minuten später werden die Teilnehmer
                                                                                  über Lautsprecher gebeten, zu ihren Bussen zu-
                                                                                  rückzukehren. Die Polizei riegelt die Straßen ab,
                                                                                  sodass der Zug in mehrere Gruppen geteilt wird.
                                                                                  Die Schüler singen weiter, nur langsam lösen
                                                                                  sich die einzelnen Knotenpunkte auf.
                                                                                     Kurz bevor die Raketen der Hamas für den Ab-
Während viele Jugendliche                                                         bruch des Marsches sorgen, sagt ein Beobachter
angesichts der Raketen ein-                                                       über die singenden Jugendlichen: „Schau, diese
fach auf der Straße weiter-   sig, doch in diesem Jahr ist er brandgefährlich“.   jungen Nationalreligiösen stellen unsere Zu-
tanzen, werfen sich andere    Die Stimmung in Jerusalem ist aufgeheizt. All­      kunft dar. Sie sind intelligent und optimistisch.
im nahegelegenen Park zum     abendlich dokumentieren Fotojournalisten das        Sie sind bereit, sich für unsere Gesellschaft ein-
Schutz auf dem Boden          Geschehen anlässlich des Ramadans rund um           zusetzen und gehen zur Armee. Schade, dass
                              das Damaskustor. Dass die Route in diesem Jahr      die Säkularen den Tag nicht feiern.“
                              nicht auf den Tempelberg führen würde, stand           Selbiger Beobachter geht nach dem Marsch
                              daher schon einige Tage zuvor fest.                 zur Klagemauer und berichtet später von einem
                                Schüler Dutzender religiöser Oberschulen          brennenden Baum. Seine Begleiterin sagt: „Auf
                                                                                                                                       Foto: Israelnetz/mh

                              sind angereist. Mit Tanz, Musik und Gesang ver-     dem Tempelberg haben Muslime nach dem Fas-
                              sammeln sie sich auf dem Paris-Platz, um Rich-      tenbrechen Feuerwerkskörper geworfen.“ Er er-
                              tung Altstadt zu laufen. Zum Höhepunkt, dem         gänzt: „So dicht liegt die Freude der Juden und
                              Einzug durch das Jaffator in die Altstadt und von   der Ärger der Muslime über das geeinte Jerusa-
                              dort an die Klagemauer, kommt es nicht mehr.        lem beieinander!“ |

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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
Magazin 3|21

                         ALLTAG MIT RAKETENALARM

                         „Bombiges“ Be‘er Scheva
                         Zum ersten Mal seit Tagen konnten wir in der Wüstenhauptstadt des Negev ohne Störung durchschlafen.
                         Denn einige Stunden lang wurde am 17. Mai kein Raketenalarm ausgelöst. Dennoch bestimmen die Terror-­
                         Organisationen des Gazastreifens wieder einmal meinen Alltag.
                         Antje C. Naujoks

                         A
                               ls ich vor über zehn Jahren von Jerusalem      vielen Jahren gesetzlich geregelt, dass alle Neu-
                               in die rund 200.000 Einwohner zählen-          bauten mit Schutzräumen zu versehen sind:
                               de Wüstenhauptstadt Be’er Scheva zog,          besonders verstärkte Betonmauern durchzogen
                         schüttelten einige meiner Landsleute den Kopf.       mit Metallstreben, ein Fenster mit Hochsicher-

                                                                                                                                  Der Schutzraum der
                                                                                                                                  Autorin, ein ganz
                         Freiwillig in eine Stadt ziehen, die nur 40 Kilo-    heitsglas, das sich beim Verschließen an meh-       normales Zimmer. Nur
                         meter vom Gazastreifen entfernt ist und in der       reren Stellen tief im Rahmen verankert und vor      das Fenster verrät,
                         es immer wieder zu Raketenbeschuss kommt?            das zusätzlich ein Eisenschott gezogen wird.        dass Ausnahmezustand
                            Meine Antwort mag verrückt anmuten, re-              Auch die Tür zu dem Zimmer, für ungeübte         herrscht.
                         flektiert aber die von unzähligen Israelis gelebte   Augen ein ganz normaler Raum der Wohnung,
                         Realität: „Gegen Raketen gibt es Schutzräume,        ist eine besondere Konstruktion: eine Metalltür,
                         und es bleibt sogar Zeit, um sich in Sicherheit      die sich ebenfalls mit Metallstäben tief im me-
                         zu bringen. Ich ziehe die Raketen jedem Selbst-      tallenen Türrahmen verankert, um genau wie
                         mordanschlag vor, bei dem ich keinen Schutz          das Fenster einer Druckwelle standzuhalten.
                         habe.“ Selbstmordattentate habe ich in 25 Jah-          Ich habe also den Luxus eines Schutzraumes.
                         ren Jerusalem wahrlich zur Genüge mitbekom-          In Zeiten wie diesen bin ich dann wieder ein-
                         men müssen, manchmal nur mit viel Glück              mal dankbar – dafür, dass kluge Köpfe auf eine
                         ohne physischen Schaden.                             solche Lösung kamen, dass der Staat Israel die       Die Autorin studierte Polito-
                                                                              Konstruktion wenigstens teilweise subventio-         logie an der FU Berlin und an
Foto: Antje C. Naujoks

                         Mein Schutzraum                                      niert. Wir alle in Israel haben wieder und wie-      der Hebräischen Universität
                                                                              der erlebt, dass Häuser und Wohnungen schwer         Jerusalem. Die freischaffen-
                         Folglich kam bei meiner Wohnungssuche in             beschädigt werden, die Bewohner jedoch in den        de Übersetzerin lebt seit fast
                         Be’er Scheva nur eine Wohnung mit Schutz-            Schutzräumen unversehrt bleiben. Für mich            35 Jahren in Israel, davon ein
                         raum infrage. Der Staat Israel hat schon vor         veranschaulicht das: Anders als Hamas und            Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

                                                                                                                                                               5
Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
Demonstrationen in Deutschland
                                  In verschiedenen deutschen Städten kam es während
                                  der Konfrontation zwischen der Hamas und Israel
                                  zu Protesten. Demonstranten kritisierten die israeli-
                                  sche „Aggression“ gegenüber den Palästinensern im
                                  Gazastreifen. Immer wieder waren dabei auch antise-
                                  mitische Parolen zu sehen oder zu hören. Zudem gab
Scheich Dscharrah                 es Angriffe auf Synagogen.
Im Ostjerusalemer Stadtvier-      Doch Demonstranten versammelten sich auch an
tel Scheich Dscharrah haben       mehreren Orten zu Solidaritätskundgebungen für
Juden Besitzansprüche auf         die Menschen in Israel, die den Raketenangriffen der
Grundstücke geltend gemacht       Hamas ausgesetzt waren.
und vor Gericht Recht be-
kommen. Deshalb droht rund
70 arabischen Bewohnern           andere radikal-islamische Organisationen, die           sein. Vor Ablauf der 60 Sekunden sollte nichts
die Zwangsräumung. Vor der        im Gazastreifen agieren, kümmert sich der Staat         mehr auf dem Herd köcheln.
Gründung des Staates Israel       Israel um die Sicherheit seiner Bürger.                   Als die Hamas mit Raketenbeschuss auf Jeru-
gehörten die Grundstücke             Viele meiner Mitbürger jedoch sind nicht so          salem drohte, bereiteten wir schon vor Ablauf
jüdischen Vereinigungen.          privilegiert. Die Mehrzahl der Wohnungen hat            des Ultimatums unseren Schutzraum vor. Wäh-
Ein Gesetz aus dem Jahr 1970      keinen Schutzraum, weil sie älteren Baudatums           rend der Corona-Monate war dieser ansonsten
erlaubt es Juden, hieraus         sind. Die meisten Israelis müssen daher in öffent-      als Gästezimmer genutzte Raum zum Büro mei-
Ansprüche abzuleiten. An der      liche Bunker sprinten. Meine Stadt hat mit 60 Se-       nes ins Homeoffice geschickten Partners ge-
drohenden Zwangsräumung           kunden die längste Vorwarnzeit des Negev. Doch          worden. In Windeseile verschoben wir Möbel,
entzündeten sich seit April       in einer Minute mehrere Stockwerke herunter-            so dass er seinen Arbeitsplatz trotz ausgezoge-
2020 immer wieder Proteste.       rennen, ganz zu schweigen davon, auch noch              nem Sofa weiter nutzen kann. Uns war klar, das
Ein Jahr später trugen sie zur    eine Straße zu überqueren, ist sogar für jüngere        Schlafzimmer bleibt in der nächsten Zeit ver-
Aufheizung der Stimmung in        Menschen utopisch. Senioren und Menschen mit            waist. Wir stehen bei Alarm nicht auf, sondern
Jerusalem bei. Das Oberste        Behinderungen haben noch nicht einmal annä-             schlafen lieber gleich im Schutzraum.
Gericht indes vertagte am 9.      hernd die Chance, einen solchen Sprint hinzule-           Der Alarm der Sirenen hält genau die Zeit an,
Mai die Anhörung um einen         gen. Dann bleibt den Menschen nichts anderes            die bleibt, um es in den Schutzraum zu schaffen.
Monat auf den 8. Juni.            übrig, als in statisch besser geschützten Trep-         Verstummt der durch Mark und Bein gehende
                                  penhäusern das Ende des Alarms abzuwarten.              Lärm, der auch ohne Raketen im Anflug dafür
                                  Bimmelt es draußen – so nennen wir in meinem            sorgt, dass der Adrenalinpegel steigt, hält man
                                  Haushalt das Heulen der Sirenen –, heißt es flott       für einige Sekunden den Atem an. Gleich wird

           Zeitleiste
12. April 2021 Sperren der israelischen       25. April Polizei entfernt Barrieren             8. Mai 100 Palästinenser bei
Polizei verhindern, dass Muslime              vom Damaskustor                                  Zusammenstößen mit Polizei verletzt
während des Ramadan auf dem Platz vor         2. Mai Schussattentat auf Israelis im            9. Mai Oberstes Gericht verschiebt
dem Jerusalemer Damaskustor sitzen; dies      Westjordanland, ein 19-Jähriger stirbt,          Anhörung zu Scheich Dscharrah
führt tagelang zu gewaltsamen Protesten       zwei Verletzte; eine 60-jährige                  9. Mai Rakete aus Gaza in Israel
15. April Ein TikTok-Video zeigt, wie ein     Messerstecherin wird erschossen                  eingeschlagen, Israel bombardiert
palästinensischer Jugendlicher einen          5. Mai 16-jähriger Palästinenser stirbt bei      Hamas-Stützpunkt
Ultra-Orthodoxen in einer Straßenbahn         Zusammenstößen im Westjordanland                 10. Mai Zusammenstöße auf Tempelberg,
schlägt; Israelis reagieren verärgert         Hamas warnt Israel wegen Scheich                 mehr als 300 Palästinenser verletzt
16. April Israel beschränkt die Zahl der      Dscharrah: Es werde einen hohen Preis            Marsch zum Jerusalem-Tag durch die
Beter für die Al-Aqsa-Moschee am ersten       bezahlen, wenn die Aggression nicht ende         Stadt; Hamas-Ultimatum endet, sieben
                                                                                                                                             Foto: Israelnetz/Martin Schlorke

Freitag im Ramadan auf 10.000                 7. Mai Drei Palästinenser greifen eine           Raketen auf Jerusalem abgefeuert, Marsch
22. April Bei einem Marsch der extremis-      Armeebasis an, zwei werden erschossen,           wird abgebrochen, Armee beginnt die
tischen jüdischen Organisation „Lehava“       einer verwundet                                  Operation „Wächter der Mauern“
werden mehr als 100 Palästinenser verletzt    7. Mai Zusammenstöße nach Freitagsge-            10. bis 20. Mai Massive Angriffe auf
23. und 24. April Luftwaffe reagiert auf      bet auf dem Tempelberg, 205 Palästinen-          Südisrael und Großraum Tel Aviv; Israel
Raketensalve der Hamas aus Gaza auf           ser und 17 Polizisten verletzt                   zerstört Terrorinfrastruktur der Hamas
Südisrael                                                                                      21. Mai Waffenruhe tritt in Kraft

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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
Magazin 3|21

es scheppern. Zivilisten können unterschei-          Nach einem Alarm stellt sich zwar Erleichte-
den zwischen dem Krach, den Terror-Raketen           rung, aber keineswegs Entspannung ein. Nach
einerseits und militärische Gegenaktionen            einem Raketenangriff ist nämlich vor einem
durch Anspringen des Raketenabwehrsystems            Raketenangriff. Je mehr Zeit ohne Alarm ver-
„Eisenkuppel“ andererseits verursachen. Das          streicht, desto mehr Unruhe stellt sich ein. Wir
war am Schabbat-Morgen bei einer Salve von           lauern regelrecht. Mit jeder Minute rückt der
mehr als einem Dutzend zeitgleich in Be’er           nächste Angriff schließlich näher. In solchen
Scheva eintreffenden Raketen um kurz nach            Zeiten innere Ruhe zum Lesen oder für andere
6 Uhr der Fall. Das dumpfe beängstigende             TV-Sendungen als die Nachrichten zu finden,
Bumm-Geräusch war ganz nah. Der Herzschlag           ist kaum möglich. Und doch, es wird gekocht,
scheint kurz auszusetzen, aus dem Bauch steigt       telefoniert, gearbeitet und der Haushalt ver-
eine Wärmewelle auf, die genauso von Angst           sorgt, aber man wägt alles zweimal ab: Ist das        Operation „Wächter
und Bange zeugt wie die weichen Knie oder das        die richtige Zeit zum Duschen? Wann zum Müll          der Mauern“
Zittern der Hände. Im Moment des Knalls er-          heruntergehen, wann die Milch einkaufen? Auf
bebte unser Hochhaus wegen der Druckwelle,           eine Leiter steigen wir lieber gar nicht erst, Mes-   Erste Raketenangriffe der
die Dutzende von Kilogramm Sprengstoff verur-        ser werden bewusster in die Hand genommen.            Hamas:
                                                                                                           Montag, 10. Mai, 18 Uhr
                                                                                                           Feuerpause:
Ausschreitungen in israelischen Städten                                                                    Freitag, 21. Mai, 2 Uhr
Es war bereits das vierte Mal seit der Jahreswende 2008/09, dass Israel mit einer Militäroperation auf     Bilanz
anhaltenden Raketenbeschuss der Hamas reagierte. Doch diesmal gab es als Begleiterscheinung nicht          4.300 palästinensische
nur gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Sicherheitskräften. Die Gewalt             Raketen auf Israel abgefeuert,
schwappte auf israelische Städte über. Besonders schlimm war die Lage in Lod, einer Stadt in Zentral­      680 gingen im Gazastreifen
israel mit einer gemischten Bevölkerung. Dort setzten Araber mehrere Synagogen in Brand. Es kam zu         nieder und 280 fielen ins Meer;
arabischen Angriffen auf Juden und zu jüdischen Angriffen auf Araber. Deshalb verhängte die Regierung      von den übrigen fing das
den Ausnahmezustand und entsendete die Grenzpolizei nach Lod. Ausschreitungen gab es auch in Jaf­          Abwehrsystem „Eisenkuppel“
fa, Akko und Ramle. In Jaffa wurde ein zwölfjähriger arabischer Junge bei einem Brandbomben­anschlag       laut Armee 90 Prozent ab
sehr schwer verletzt. Juden wurden verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Später stellte sich heraus,     Mehr als 100 Kilometer des
dass arabische Angreifer das Haus verwechselt und die Bewohner für jüdisch gehalten hatten.                terroristischen Tunnelnetz­
Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage wieder. Doch die Wunden, die dem zerbrechlichen                 werks der Hamas zerstört,
Geflecht der Beziehungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis zugefügt wurden, dürften tief          sowie etwa 70 Raketenwer­
sitzen. Positive Zeichen setzten Firmen und Krankenhäuser: Sie veröffentlichten im Internet Bilder,        fer und 35 Startrampen für
auf denen je ein jüdischer und ein arabischer Mitarbeiter gemeinsam für Koexistenz werben. Auch die        Granaten
israelische Fußballnationalmannschaft beteiligte sich an einer solchen Aktion.                             12 Tote in Israel, unter ihnen
                                                                                                           drei Gastarbeiter und ein
                                                                                                           Soldat, mehr als 350 verletzt
sachen. Wir wussten, uns hat es nicht getroffen,     Der Alltag eines Großteils der israelischen Zivil-    Laut Hamas 255 Tote im
aber unsere Nachbarn. Wir behielten Recht: Die       bevölkerung wird fremdbestimmt, denn noch             Gazastreifen, 1.600
oberen Stockwerke eines der Nachbarhäuser            nie haben die Raketen aus dem Gazastreifen ein        Verletzte
wurden beschädigt. Menschen kamen dank der           so weiträumiges Gebiet erfasst wie dieses Mal.        Armee: 225 Terroristen getö­
Schutzräume nicht zu Schaden.                        Zudem ist klar, dass die Terror-Organisationen,       tet; ein Teil der Zivilisten starb
   Als das „Eisenkuppel“-Raketenabwehrsystem         die im Gazastreifen agieren, die letzten Jahre ge-    durch fehlgegangene
noch nicht einsatzbereit war, kündete jedes          nutzt haben, um ihre Arsenale sowohl quantita-        Raketen der Hamas
Bumm-Geräusch von einem Treffer. Die Frage           tiv als auch qualitativ aufzustocken. Geschätzte
war damals nur: Wie schlimm ist es? Das Sys-         14.000 Geschosse lagern dort. Bislang wurden
tem, von dem die Welt sagte, dass so etwas gar       knapp 4.000 auf uns abgefeuert, von denen 10
nicht entwickelt werden kann, arbeitet mit he-       Prozent gar nicht ankamen, weil sie als Fehl-
rausragender Präzision. Das macht einen enor-        zündungen im Gazastreifen niedergingen. Ha-
men Unterschied. Trotz des Abwehrsystems             mas und Co. haben also noch genügend Vorrat,
und des Schutzraumes, ist es beängstigend zu         um uns weitere schwierige Tage zu bescheren.
wissen, was sich da über einem in der Luft zu-          Das werden wir durchstehen, jeder für sich
trägt. Egal wie oft durchgemacht – es ist Stress     und alle gemeinsam, denn wir wissen: je eher
pur. Es sind bange Sekunden, denn schließlich        das jetzt aufhört, desto früher steht die nächste
besteht Lebensgefahr. Dieser Stress rächt sich in    Runde ins Haus. Das zu schreiben fällt mir, die
Form von qualitativ schlechtem Schlaf. Konzen-       sich beruflich wie privat in Projekten der fried-
trationsschwierigkeiten stellen sich ebenso ein      lichen Koexistenz engagiert, unendlich schwer,
wie Nervosität und Lärmempfindlichkeit, die          aber leider ist es eine der weiteren Realitäten
mit Schreckreaktionen einhergeht.                    meines israelischen Alltages. |

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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
MANSUR ABBAS

Der
pragmatische
Islamist
Die arabische Ra‘am-Partei will in Israels Politik
mitmischen. Jüdische Politiker, von links bis rechts,
umwerben sie. Ist es ein positives Signal der Integra-
tion? Oder eine Gefahr für Israel als jüdischen Staat?
                                                                      „Stolzer Araber und Muslim“: Abbas kommt aus der
Sandro Serafin
                                                                      Islamischen Bewegung

A
       ls Mansur Abbas, Chef der               bischen Politikern nicht zu vergleichern.    schen Staat. Dabei geht er vor wie einst
       arabischen Ra‘am-Partei, am 1.          Und als Jitzchak Rabin in den 1990ern        die Ultra-­Orthodoxen, bewegt sich als Kö-
       April vor die Kameras trat, hatte       auf die Untersützung nicht-zionistischer     nigsmacher geschickt zwischen den poli-
er dafür die „Prime-Time“ ausgesucht:          Araber setzte, um seine Friedenspolitik      tischen Blöcken und treibt so den Preis für
20 Uhr, eine Zeit, die israelische Politiker   durch die Knesset zu bringen, blieb das      seine Unterstützung in die Höhe, auf die
gerne für live übertragene dramatische         eine Ausnahme.                               die anderen Parteien für eine Regierungs-
Reden nutzen. Auf Hebräisch stellte er           Abbas, der aus Galiläa stammt, vertritt    mehrheit angewiesen sind. Am Ende geht
sich der Bevölkerung vor, als „stolzer Ara-    das religiöse Lager der arabischen Gesell-   Abbas mit denjenigen, die ihm geben, was
ber und Muslim, Bürger des Staates Israel      schaft und hat insbesondere unter Bedui-     er für seine Wähler verlangt: eine Legali-
und tapferer Verfechter von Frieden, Part-     nen großen Rückhalt. „Er ist seiner Ideo-    sierung außerrechtlicher Beduinen-Ort-
nerschaft und Toleranz“. Es war die kon-       logie nach Islamist, seinem Beruf nach       schaften im Negev zum Beispiel oder
sequente Fortsetzung einer Entwicklung,        Zahnarzt und seinem Verhalten nach           mehr Mittel für den Kampf gegen Krimi-
die bereits Monate zuvor begonnen hatte:       Gentleman“, beschreibt der Analyst Arik      nalität im arabischen Sektor. Ideologische
Abbas will mitmischen in der israelischen      Rudnitzky den Politiker, der einst an der    Positionen haben dahinter zurückzuste-
Politik – und diese Rede war sein Angebot      Hebräischen Universität studierte.           hen. Zu den auffälligsten Aspekten seiner
für eine Regierungsbeteiligung. Damit ist                                                   Fernsehansprache gehörte dann auch,
der Araber die wohl interessanteste Figur      Ultra-orthodoxe Methode                      dass Abbas das Wort „Palästinenser“
im aktuellen Kapitel des innenpolitischen                                                   nicht ein einziges Mal in den Mund nahm.
Dramas, das sich seit mehr als zwei Jahren     Der 47-Jährige kommt aus der Islamischen        Doch während in der medialen Wahr-
mit vier Neuwahlen in Israel abspielt.         Bewegung, die ihre Wurzeln im „islami-       nehmung eine positive Interpretation
   Dass sich eine an sich anti-­zionistische   schen Erwachen“ der 1970er Jahren hat        dieses Wandels dominiert, sind auch viele
arabische Partei so offensiv um das In-        und eine Islamisierung der Gesellschaft      kritische Stimmen zu hören. Abbas rede
teresse der anderen Parteien bemüht            anstrebt. Die Bewegung agierte zeitweise     auf Hebräisch ganz anders als auf Ara-
und dieses auch noch bekommt, ist un-          aus dem Untergrund gegen den israeli-        bisch, heißt es etwa. Zudem enthalte die
gewöhnlich. Bislang hatten sich solche         schen Staat, ihr Begründer Abdullah Nimr     Charta seiner Bewegung radikale Töne.
Parteien einer vollständigen Integration       Darwisch saß mehrere Jahre im Gefäng-        Darin ist unter anderem zu lesen, Israel sei
in die israelische Politik verweigert und      nis. Beobachtern zufolge schwor sie in den   aus einem „rassistischen, zionistischen
wurden dementsprechend von vielen              1980er Jahren der Gewalt ab, engagierte      Projekt“ heraus geboren, wie die Online-
jüdischen Politikern auch als geradezu         sich stattdessen mehr in der Lokalpolitik.   zeitung „Times of Israel“ feststellte. Mor-
toxisch wahrgenommen. Die arabischen           Anerkennung erwarb sie sich auch durch       dechai Kedar, Experte für Islamismus am
sogenannten „Satellitenlisten“ der sozia-      ihr soziales Engagement. Mitte der 1990er    Begin-Sadat-Zentrum für Strategische
listischen Mapai, die einst an Regierungen     Jahre spaltete sich die Bewegung in einen    Studien, warnt eindringlich, sich „von
beteiligt waren, sind mit den heutigen ara-    radikaleren und einen gemäßigteren Teil,     den schicken Anzügen und Krawatten
                                               die allerdings auch danach weiter Kontakt    der Abgeordneten, von ihrem makellosen
        Aktuelle Informationen zur             hielten. Für letzteren trat 1996 die Ra’am   Hebräisch und ihren akademischen Ab-
        Regierungsbildung finden               erstmals bei den Wahlen an.                  schlüssen“ beeindrucken zu lassen: „Die
                                                                                                                                           Foto: flash90

        Sie auf:                                  Nun, zweieinhalb Jahrzehnte später,       Islamische Bewegung hat ihr ultimatives
                                               betritt Abbas die nächste Stufe der Inte-    Ziel nicht aufgegeben – die Zerstörung
    israelnetz.com/politik                     gration seiner Bewegung in den israeli-      Israels als jüdischer Staat“. |

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Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
Magazin 3|21

                                               MELDUNGEN

                                               Palästinensische Wahlen abgesagt

                                               D   ie palästinensischen Wahlen sind vorerst gestrichen. Der Präsi­
                                                   dent der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud
                                               Abbas, teilte Ende April mit, von der israelischen Regierung gebe
                                               es nach wie vor keine Entscheidung, ob sie eine Stimmabgabe in
                                               Ostjerusalem zulässt. Ohne eine Beteiligung dieses Gebietes werde
                                               es aber keine Wahlen geben.
                                                 Abbas führte weiter aus, die Israelis hätten ihm mitgeteilt,
                                               wegen der ausstehenden Regierungsbildung sei noch keine Ent­
                                               scheidung gefallen. Der PA-Präsident wies diese Begründung je­
                                               doch zurück: „Wir wissen, dass die israelische Regierung jeden
                                               Tag über den Bau von tausenden Siedlungseinheiten entschei­           Abbas sieht unter den aktuellen Bedingungen keine
                                               det“, sagte er laut der palästinensischen Nachrichtenagentur          Möglichkeit, Wahlen durchzuführen (Archivbild)
                                               WAFA. „Wenn es um palästinensische Wahlen geht, gibt es keine
                                               Regierung, die entscheiden kann – geht es aber um das Siedlungs­      sollte nicht auf die Agenda einer einzigen Partei beschränkt sein.
                                               projekt und Verstöße, dann gibt es eine Regierung?“                   Die Hamas erklärte weiter, die Absage habe „nichts mit Jerusa­
                                                 Hinter der vorläufigen Absage vermuten Beobachter ein ande­         lem zu tun“. Die Palästinenser sollten die Wahlen in Ostjerusalem
                                               res Kalkül. Demnach rechnet Abbas mit einer Wahlniederlage für        auch ohne Genehmigung durchführen.
                                               seine Fatah-Partei und will daher eine Stimmabgabe vermeiden.           Abbas hatte die Wahlen Mitte Januar angekündigt. Am 22. Mai
                                               Auch die in den Wahlen konkurrierende Terror-Organisation Ha­         sollten Parlamentswahlen stattfinden, am 31. Juli die Präsident­
                                               mas sieht ein anderes Motiv hinter der Entscheidung. Sie sprach als   schaftswahl. Es wären die ersten Wahlen in den von den Palästi­
                                               Reaktion auf die Verschiebung von einem „Coup gegen nationale         nensern verwalteten Gebieten seit dem Jahr 2006 gewesen. |
                                               Partnerschaft und Konsens“. Die nationale Lage der Palästinenser                                                            Daniel Frick

                                               Viele Tote bei Massenpanik                                            Höchster Lottogewinn in Israel
                                               Bei einer Massenpanik am Feiertag Lag BaOmer sind am 29. April
                                               45 Männer und Jungen ums Leben gekommen. Rund 150 weite­
                                                                                              re wurden verletzt.
                                                                                                                     E  in Israeli hat am 25. Mai im Lotto umgerechnet 19 Millionen
                                                                                                                        Euro gewonnen. Das ist der höchste Lottogewinn, der in Israel
                                                                                                                     seit der Staatsgründung ausgezahlt wurde. Von dem Geld muss
                                                                                              Das Unglück ereig­     der Spieler 38 Prozent Steuern zahlen. Ihm bleiben dann 11,8
                                                                                              nete sich im nord­     Millionen Euro. Den
                                                                                              israelischen Wall­     Gewinn erzielte er
                                                                                              fahrtsort    Meron.    mit sechs Richtigen
                                                                                              Dort waren mehrere     und der richtigen Zu­
                                                                                              Zehntausend ultra-­    satzzahl beim „dop­
                                                                                              orthodoxe      Juden   pelten      Abräumer“.
                                                                                              versammelt.      Die   Diese Lotto-­Variante
                                                                                              Behörden      hatten   bietet mit 21,1 Millio­
                                               Nach der Katastrophe waren                     die Teilnehmerzahl     nen Euro den höchst­
                                               zahlreiche Rettungskräfte im Einsatz           zuvor auf 10.000       möglichen Gewinn in Hier können Israelis Tippscheine
                                                                                              begrenzt. Die Ver­     Israel. Der bis dahin abgeben – aber nur wenige
                                               letzten wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht.                  höchste Lottogewinn erhalten den Hauptgewinn
                                                  Die Politik muss sich dem Vorwurf stellen, Bedenken ignoriert zu   betrug 18,6 Millionen
Fotos: Kreml | ZAKA, Twitter | Israelnetz/mh

                                               haben, dass die Stätte für Massenveranstaltungen nicht geeignet       Euro und wurde 2009 erzielt.
                                               sei. Den Sicherheitskräften wird indes vorgeworfen, weiterhin            Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 machte ein Tel
                                               Personen in das abgesperrte Areal gelassen zu haben, obwohl die       Aviver mit überraschenden und exakten Voraussagen bei Sport­
                                               festgelegte Teilnehmerzahl längst überschritten war. Außerdem         wetten von sich reden: Einen Monat vor WM-Beginn tippte er
                                               sollen sie nach Ausbruch der Panik nicht schnell genug weitere        auf ein Ausscheiden von Titelverteidiger Frankreich, Argentinien
                                               Ausgänge geöffnet haben. Insgesamt waren 5.000 Polizisten im          und Portugal in der Vorrunde. Zudem rechnete er mit einem Wei­
                                               Einsatz, um das Fest abzusichern.                                     terkommen der Türkei sowie der Gastgeberländer Südkorea und
                                                  Nach dem Unglück zeigten sich Bewohner arabischer Dörfer           Japan. All dies traf ein. Des Weiteren erreichte weder Italien noch
                                               aus der Nähe von Meron solidarisch mit den evakuierten Juden:         Spanien das Halbfinale, und im Finale gewann Brasilien gegen
                                               Sie versorgten sie mit kostenlosem Essen und Trinken. |               Deutschland – wie von dem Israeli vorhergesehen. |
                                                                                                   Martin Schlorke                                                     Elisabeth Hausen

                                                                                                                                                                                      9
Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
RIVLINS PRÄSIDENTSCHAFT

Ein Ringen um Zusammenhalt
Als Staatspräsident forderte Reuven Rivlin angesichts gesellschaftlicher Gräben ein neues israelisches
Selbstverständnis. Die Ereignisse in den finalen Tagen seiner Amtszeit geben diesem Anliegen Recht.
Daniel Frick

                             E
                                   igentlich schickt es sich nicht, in die zeit-   lichen Gräben hat er zum Thema seiner Präsi-
                                   liche Verteilung von Ereignissen allzuviel      dentschaft gemacht. Die innenpolitische Krise
                                   hineinzulesen. Doch der Umstand, dass die       mit vier aufeinanderfolgenden Wahlen binnen
                             Amtszeit von Staatspräsident Reuven Rivlin mit        zwei Jahren bestätigen nur die Dringlichkeit die-
                             einem ausgewachsenen Gaza-Konflikt anfing             ses Anliegens. In einer Rede im Juni 2015 hatte
                             und nun auch deren Ende von einem solchen             er auf die Problematik hingewiesen: Anders als
                             geprägt war, trägt Züge eines Dramas. Im Som-         noch vor 30 Jahren gebe es in Israel nicht mehr
                             mer 2014 war das Land in Aufruhr wegen der            die säkular-zionistische Mehrheit und dazu
                             Entführung und Tötung dreier Talmud-Schüler           einige Minderheiten. Vielmehr setze sich die
Erstklässler 1990            durch palästinensische Terroristen – und wegen        Gesellschaft inzwischen aus vier „Stämmen“
Araber 23 %                  einer Racheaktion, bei der drei Israelis einen Pa-    zusammen, die sich zahlenmäßig immer mehr
Ultra-Orthodoxe 9 %          lästinenser entführten, verprügelten und bei le-      angleichen: Neben den Säkularen seien dies die
Säkulare 52 %                bendigem Leib verbrannten. Diese Verbrechen           Araber, die Nationalreligiösen und die Ultra-­
Nationalreligiöse 16 %       und der anhaltende Raketenbeschuss aus dem            Orthodoxen.
                             Gazastreifen nach Israel führten letztlich zur           Rivlin fasst diesen Zustand mit dem Begriff
                             Militäroperation „Starker Fels“.                      „neue israelische Ordnung“ zusammen. Proble-
                                Einen Tag vor Beginn der Militäroperation          matisch daran sei, dass diese vier Stämme mehr
                             veröffentlichte der bereits ins Amt gewählte          oder weniger abgekoppelt voneinander lebten.
                             Rivlin zusammen mit Noch-Präsident Schimon            Als Beispiel nannte Rivlin das Schulsystem mit
                             Peres einen gemeinsamen Aufruf zum Stopp              seinen unterschiedlichen Ausrichtungen, in de-
                             der Gewalt. Die beiden verurteilten darin mus-        nen die Kinder „mit unterschiedlichen Wertvor-
                             limischen und jüdischen Terror: „Im Staat Israel      stellungen und Sichtweisen auf den Staat Israel
Erstklässler 2021            gibt es keinen Unterschied zwischen Blut und          erzogen werden“. Wenn sich bald die halbe Ge-
Araber 23 %                  Blut. Der demokratische Staat Israel heiligt das      sellschaft – Araber und Ultra-Orthodoxe – gar
Ultra-Orthodoxe 21 %         moralische Recht auf Leben und das gleiche            nicht als zionistisch begreift, ist das auch eine
Säkulare 41 %                Recht jedes Menschen, verschieden zu sein.“           Herausforderung für Israel als zionistische Un-
Nationalreligiöse 15 %          In den finalen Tagen von Rivlins Präsident-        ternehmung.
                             schaft kommt der Konflikt zwischen Juden und             In dieser Lage fordert Rivlin ein neues
                             Arabern wieder gewaltsam zum Vorschein.               Selbsverständnis: Die „Stämme“ müssten sich
                             Nicht, dass es zwischendurch ruhig gewe-              vor allem als Partner verstehen, die das „Mosa-
                             sen wäre. Aber die Mobgewalt in den Straßen           ik“ der Gesellschaft als Chance begreifen. Vor-
                             Israels – zumeist von Arabern, aber auch von          aussetzung dafür sei das Gefühl, dass die eigene
                             Juden ausgeübt – ist eine Neuentwicklung. Der         Identität nicht gefährdet ist, sei es der liberale
                             81-­Jährige sah sich jedenfalls wieder zu einem       Lebensstil der Säkularen oder die strenge Erzie-
                             Aufruf veranlasst, von der Gewalt abzulassen –        hung bei den Ultra-Orthodoxen. Dann müsse je-
Gesellschaftlicher Wandel:   und er warnte gar, dass die Unruhen eine „echte       der Stamm aber auch Verantwortung überneh-
Den Bevölkerungszahlen       Bedrohung der israelischen Souveränität“ dar-         men für die Gesamtgesellschaft; keiner könne
entnimmt Rivlin, dass die    stellten. Zugleich betonte er, dass die Mehrheit      sich etwa vor der Landesverteidigung drücken.
traditionelle zionistische   der Bevölkerung diese Gewalt ablehnt: „Extre-
Mehrheit schwindet. Er       misten dürfen nicht den Ton angeben. Wir, die         Präsidialer Einwurf
fordert daher neue Ansätze   moderate Mehrheit, Juden und Araber, wollen
für ein Zusammenleben.       hier weiter zusammenleben.“                           Vor diesem Hintergrund ist es auch zu verste-
                                                                                   hen, dass sich Rivlin während seiner Amtszeit
                             Umbrüche in Israel                                    das ein oder andere Mal in die Politik einmischte
                                                                                   – was als Präsident an sich nicht Teil seiner Auf-
                             Die Bilder der Gewalt dürften für Rivlin eine         gabe ist. Das Amt ist in Israel, ähnlich wie in
                             besondere Pointe haben: Denn die gesellschaft-        Deutschland, größtenteils für repräsentative

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Magazin 3|21

                                                                                                                               Politisch engagiert: Als
                        Aufgaben gedacht. So verfasste Rivlin im Juli                                                          Staatspräsident sah sich
                        2018 einen Brief an den Gesetzesausschuss der       Großvater der Nation                               Rivlin mitunter veranlasst,
                        Knesset mit der Bitte, einem Entwurf zum Nati-                                                         bei der Gesetzschreibung
                        onalstaatsgesetz nicht zuzustimmen. Ihn störte      Und so wertet er Israel, bei allen Schwierigkei-   einzugreifen
                        eine Passage, nach der es religiöse oder ethni-     ten, letztlich als ein „Wunder“: „Wir können zu
                        sche Kriterien für einen Zuzug in eine Ortschaft    Recht stolz sein auf unseren Status als Weltfüh-
                        gäbe, um deren Gefüge zu erhalten – oder eben,      rer bei Technologie und Innovation, mit heraus-
                        je nach Sicht, die Kluft in der Gesellschaft zu     ragenden Leistungen, die die Welt wirklich zu
                        vergrößern. Im verabschiedeten Gesetz ist die-      einem besseren Ort machen.“ Seine Amtszeit
                        ser Passus tatsächlich gestrichen.                  nutzte er dann auch, um aus Wundern ein Er-
                           Was Rivlin zur Intervention bewogen hat,         eignis zu machen: Zur Live-Übertragung des           Präsidenten Israels
                        lässt sich auch mit seiner Sicht auf Israel er-     Versuchs der Mondlandung mit dem Satelliten          1949–1952 Chaim Weizmann
                        klären: Ein jüdischer Staat im gesamten Gebiet      „BeReschit“ Anfang 2019 lud er sich eine Schar       (im Amt gestorben)
                        westlich des Jordans, in dem Juden und Araber       Kinder in die Präsidentenresidenz ein. Die           1952–1963 Jitzchak Ben-Zvi
                        gleichberechtigt leben. Bereits aus seinem frü-     Landung scheiterte bekanntlich kurz vor dem          (im Amt gestorben)
                        heren politischen Leben – ab 1988 gehörte der       Ziel, doch das gab Rivin die Gelegenheit, den        1963–1973 Salman Schasar
                        Likud-Politiker zur Knesset, ab 2003 war er         Vorgang für seine Gäste einzuordnen: „Als wir        1973–1978 Ephraim Katzir
                        zweimal ihr Präsident – ist sein Faible für die     Kinder wie ihr waren, konnten wir nicht davon        1978–1983 Jitzchak Navon
                        „Ein-Staat-Lösung“ bekannt. Auch als Staats­        träumen, einmal zum Mond zu fliegen. Das ist         1983–1993 Chaim Herzog
                        präsident rückte er davon nicht ab. Im Jahr 2017    ein wichtiger Abend für Israel, seine Bürger und     1993–2000 Eser Weizmann
                        sagte er etwa: „Ich, Rubi Rivlin, glaube daran,     Kinder, die gesehen haben, was wir erreichen         (Rücktritt nach Kritik wegen
                        dass Zion voll und ganz uns gehört.“ Seiner         können, wenn wir uns anstrengen.“                    nicht deklarierter Einnah-
                        Auffassung nach könne es nur dann wirkliche           Aktionen wie diese brachten Rivlin zu Recht        men)
                        Gleichberechtigung geben, wenn Israel seine         den Ruf eines „Großvaters der Nation“ ein.           2000–2007 Mosche Katzav
                        Souveränität – und damit die Gesetzeshoheit –       Diesen Ruf unterstrich er auch während der           (Rücktritt wegen letztlich
                        auf das gesamte Judäa und Samaria ausweitet,        Corona-­Krise: Um deren Einsamkeit im Lock-          bestätigter Vergewalti-
                        und nicht nur auf Teile des Gebietes, wie es zu-    down zu lindern, las er abends Kindern per           gungsvorwürfe)
                        letzt in den Wahlkämpfen zu hören war.              Video­übertragung aus einem Buch vor.                2007–2014 Schimon Peres
                           Diese Vision von Israel speist sich auch aus       In welchem Maß der Tod seiner Frau im Juni         2014–2021 Reuven Rivlin
                        einer besonderen Familiengeschichte: Ein Vor-       2019 das Gefühl der Einsamkeit hervorgerufen         Bis zum Jahr 2000 war eine Amts-
                        fahre, Hillel Rivlin, war mit Gleichgesinnten im    hat, lässt sich von außen indes nur erahnen.         zeit von fünf Jahren mit möglicher
                        Jahr 1809 aus Osteuropa ins Land gekommen.          Nechama Rivlin litt an einer Lungenfibrose           Wiederwahl vorgesehen. Ab dem
                        Hillel war Schüler des berühmten „Gaon von          und starb an den Komplikationen infolge einer        Jahr 2000 dauert die Amtszeit
Foto: GPO/Mark Neyman

                        Wilna“ (Elijah Ben Salomon Salman, 1720–1797),      Lungentransplantation. Befürchtungen wurden          sieben Jahre ohne Wiederwahl.
                        der die zerstreuten Juden seiner Zeit im Land Is-   damals laut, dass sich Rivlin nun zunehmend
                        rael sammeln wollte, um so das messianische         zurückziehen werde. Doch vielleicht sind es
                        Zeitalter herbeizuführen. Heute sagt Rivlin         gerade die Krisen im Inneren und von Außen,
                        stolz, seine Vorfahren seien lange vor Theodor      die Rivlin einen derartigen Rückzug gar nicht
                        Herzl (1860–1904) Zionisten gewesen.                zulassen – im Amt und darüber hinaus. |

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BIBELBLICK

Israel zwischen Heimsuchung
und Heimkehr
Das hat die Welt noch nicht gesehen: Ein Volk kehrt heim. Das jüdische Volk
überlebte Jahrhunderte in weltweiter Zerstreuung. Mit der Eroberung Jerusalems
im Jahre 70 begann dieser Weg in der Fremde. Alle Jahre neu grüßten sich Juden
voller Sehnsucht: „Nächstes Jahr in Jerusalem“. Mit dem Zionismus begann ziel-
gerichtet die Rückkehr ins Land der Väter.
Egmond Prill

E
      s ist das Wunder von Israels Sammlung. Am 5. Ijar 5708 der jüdischen Zeitrechnung betritt
      ein neuer Staat die Bühne der Welt. Drei Jahre nach dem Massenmord an den europäischen
      Juden mit dem Ziel einer „Endlösung der Judenfrage“ beginnt die Geschichte des Staates Is-
rael. Die Welt schrieb den 14. Mai 1948, als David Ben-Gurion im „Alten Museum“ in Tel Aviv vor
dem Provisorischen Staatsrat den Staat Israel ausrief. Vorausgegangen war der Beschluss der UN-­
Vollversammlung vom 29. November 1947 zur Beendigung des britischen Mandats in Palästina. 1897
hatte Theodor Herzl beim 1. Zionistischen Weltkongress in Basel hoffnungsvoll im Blick auf einen
„Judenstaat“ verkündet: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“

Wege ins Dunkel
Die Geschichte Israels ist geprägt von einem Wechsel zwischen Licht und Schatten. Im alttestament-
lichen Buch „Richter“ ist das wie ein Leitfaden: Wandeln nach dem Willen Gottes oder Wege abseits
der Gebote und Heilszusagen. Fremde Völker fielen ins Land, bis Israel Gott um Hilfe bat. Er berief
Männer und Frauen als Retter für Land und Volk. Er führte Israel auf einen guten Weg zurück. Die
Geschichten im Richter-Buch schildern beispielhaft diese schmerzvollen Heimsuchungen. Ausführ-
lich werden im 5. Buch Mose 28 die beiden Wege und die Folgen im Blick auf Gehorsam und Unge-
horsam vorgezeichnet.
   Das Jahr 70 markiert mit der Zerstörung des Tempels ein Ende für das alte biblische Israel. Jo-
sephus Flavius beschreibt als Zeitzeuge Gottes Heimsuchung. Den Weg des Volkes ins Dunkel von
Versklavung, Verbannung und Vertreibung. Historiker schätzen, dass etwa eine Million Juden die
Kriegsjahre nicht überlebten und auch etwa eine Million vertrieben wurden.

Wege ins Licht
Die Geschichte der Rückkehr nach Zion begann unspektakulär mit der Schrift „Der Judenstaat“ von
Theodor Herzl. Unter dem Eindruck der Judenverfolgung in Osteuropa und der Judenverachtung in
Westeuropa hatte er sie verfasst. Herzl forderte einen jüdisch geprägten Staat. Es war eine politische
Idee. Und doch sehen Gläubige in diesem Geschehen die Hand des lebendigen Gottes. Von den En-
den der Erde sammelt Gott sein Volk. Das ist kein Wunschtraum mehr, sondern Wirklichkeit vor un-
seren Augen. Israel ist ein Zeichen der Güte Gottes für die ganze Welt. Sie ist größer als menschliche
Irrwege. Der Prophet Jeremia schaute in aussichtsloser Zeit weit in die Zukunft:
   „Hört, ihr Völker, des HERRN Wort und verkündet‘s fern auf den Inseln und sprecht: Der Isra-
el zerstreut hat, der wird‘s auch wieder sammeln und wird es hüten wie ein Hirte seine Herde. Sie
werden weinend kommen, aber ich will sie trösten und leiten. Ich will sie zu Wasserbächen führen
auf ebenem Wege, dass sie nicht zu Fall kommen; denn ich bin Israels Vater und Ephraim ist mein
erstgeborener Sohn.“
   Seit 1948 ist das kleine Israel wieder eine Größe im Weltgeschehen. Wissenschaftliche Erfolge,
wirtschaftliche Leistungen und die intensive Wüsten-Landschaft sind unübersehbar. Der Staat Isra-
el gehört auf vielen Gebieten zur Weltspitze. Nach fast zweitausend Jahren gibt es Israel wieder im
Land der Verheißung und auf den Landkarten der Erde. |

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Bereits vor einem Jahr hatte der See                                                                                             Magazin 3|21
                                                 Genezareth einen hohen Wasserstand

                                                                                                                                                     Erreicht der Wasserstand hingegen die
                                                                                                                                                     obere rote Linie, droht der See überzu-
                                                                                                                                                     laufen. Als Maßnahme müsste dann ein
                                                                                                                                                     Damm nahe des Kibbutz Degania am süd-
                                                                                                                                                     lichen Rand des Gewässers geöffnet wer-
                                                                                                                                                     den, um ein Überlaufen zu verhindern.
                                                                                                                                                     Das Wasser wird dann in den Jordan abge-
                                                                                                                                                     leitet und fließt schließlich ins Tote Meer.
                                                                                                                                                     Zuletzt wurde der Damm 2013 teilwei-
                                                                                                                                                     se geöffnet. Völlig offen war er seit 1992
                                                                                                                                                     nicht mehr, schreibt das Wirtschaftsma-
                                          HOHER PEGELSTAND                                                                                           gazin „Globes“.

                                          Wieder ein                                                                                                 Gefahr durch Klimawandel

                                          regenreicher Winter
                                                                                                                                                     Negative Folgen für den See Genezareth
                                                                                                                                                     befürchten Experten durch einen Tem-
                                                                                                                                                     peraturanstieg infolge des Klimawandels.
                                                                                                                                                     Die stetig steigende Lufttemperatur führe
                                                                                                                                                     zu einer erhöhten Wassertemperatur im
                                                                                                                                                     See. Nach Angaben der Wasserbehörde
                                          Der zurückliegende Winter hat erneut für viel Niederschlag gesorgt                                         beträgt der Temperaturanstieg 0,4 Grad
                                          und den Pegel des Sees Genezareth stark ansteigen lassen. Der Wert                                         Celsius pro Jahrzehnt. Beschleunigt werde
                                          aus dem Vorjahr wurde jedoch verpasst. Gefahr droht unterdessen                                            dieses Phänomen durch Wetterextreme
                                                                                                                                                     wie den Rekordsommer im August 2010.
                                          durch den Klimawandel.
                                                                                                                                                     Damals wurden in Galiläa viele Wärmere-
                                          Martin Schlorke
                                                                                                                                                     korde gebrochen. Messungen ergaben am
                                                                                                                                                     22. August 2010 eine Wassertemperatur

                                          I
                                            m Winter feierten israelische Medien                 ter. Einen ähnlich hohen Wert maßen die             von 34,32 Grad Celsius. Seit Beginn der
                                            die hohen Pegelstände als positive Ge-               Meteorologen zuletzt im Jahr 2004.                  Messungen im Januar 2000 wurde kein
                                            gennachricht zur Corona-Pandemie.                      Auch wenn der See am Spitzentag noch              höherer Wert registriert. In Folge des Hit-
                                          Denn ein voller See garantiert eine sichere            35 Zentimeter von seinem Höchststand                zesommers verschwanden einige Arten
                                          Wasserversorgung. Nach Angaben der is-                 entfernt liegt, ist die Niederschlagsmen-           aus dem See. Experten machen dafür die
                                          raelischen Wasserbehörde liefert der Kin-              ge des Winters ein Grund zur Freude. Der            hohe Temperatur verantwortlich.
                                          neret zwischen einem Viertel und einem                 Wasserstand liegt Anfang Juni 3,75 Meter              Studien zufolge wird die stetig steigen-
                                          Drittel der natürlichen Wasserversorgung               über der roten Linie. Diese markiert den            de Lufttemperatur im Zusammenspiel mit
                                          Israels.                                               niedrigsten Pegelstand, der für die Wasser-         Wetterextremen biologische und chemi-
                                             Am 2. Juni liegt der Pegel des Sees Ge-             qualität noch akzeptabel ist. Normalerwei-          sche Abläufe im See verändern. Das kann
                                          nezareth bei 209,3 Meter unter Null. Der               se sorgt der Druck des Wassers dafür, dass          dazu führen, dass Arten aus dem See ver-
                                          Höchstwert wurde dieses Jahr mit 209,1                 Salzwasserströme unter dem See nicht auf-           schwinden und andere, die widerstands-
                                          Meter am 14. April erreicht. Damit wurde               steigen. Fällt der Druck aufgrund des Was-          fähiger sind, sich stärker ausbreiten kön-
                                          der letztjährige Höchstwert aus dem Mai                sermangels, besteht die Gefahr, dass sich           nen. Als Beispiel nennen die Experten die
                                          2020 knapp verpasst. Damals erreichte                  Salz- und Süßwasser vermischen. Das hat             für Mensch und Tier als giftig geltende
                                          der See einen Pegelstand von -208,89 Me-               negative Auswirkungen auf die Umwelt.               Blaualge. |

                                          -208
                                                                                                                                                                   Pegelstand
                                          -209
                                                                                                                                                                   See Genezareth
                                          -210
Foto: Israelnetz/mh Gra ik: Israelnetz,

                                                                                                                                                                   Wenn der Wasserstand die
Quelle: Israelische Wasserbehörde

                                          -211                                                                                                                     obere rote Linie (-208,80
                                          -212
                                                                                                                                                                   Meter) erreicht, droht das
                                                                                                                                                                   Gewässer überzulaufen.
                                          -213                                                                                                                     Wenn die untere rote Linie
                                          -214
                                                                                                                                                                   (-213 Meter) unterschritten
                                                                                                                                                                   ist, darf kein Wasser mehr
                                          -215                                                                                                                     aus dem See entnommen
                                              00

                                                                                            09
                                                                             06
                                                         02

                                                                   04

                                                                                                                                                       20
                                                                                       08
                                                                        05

                                                                                  07
                                                              03
                                                    01

                                                                                                   10

                                                                                                                                                19
                                                                                                                                 16
                                                                                                             12

                                                                                                                       14

                                                                                                                                                            21
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                                                                                                                            15

                                                                                                                                      17
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                                                                                                                                                                   werden.
                                                                                                        11
                                           20

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                                                                                  20

                                                                                       20

                                                                                            20

                                                                                                  20

                                                                                                        20

                                                                                                             20

                                                                                                                  20

                                                                                                                       20

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                                                                                                                                 20

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                                                                                                                                                20

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VOR 80 JAHREN

Farhud – das unbekannte Pogrom
Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs warfen auch im Nahen Osten ihre Schatten. Im Irak kam es zu einem
beispiellosen Pogrom an den einheimischen Juden. Die Ereignisse jähren sich Anfang Juni zum 80. Mal. Ein
Rückblick.
mh

I
  m Juni 1941 war Jakob Ben-Sion sechs Jahre alt. In einem Inter-     Als Ben-Sion das Töten sah, habe er gewusst, dass das sein Ende
  view des „Zentrums für das Erbe des Babylonischen Judentums“        sei. Er rannte zur Tür. „Dort stand ein Mann im Türrahmen, doch
  (BJHC) rekapuliert er seine Erinnerungen an die Tage, in denen      als kleiner Junge konnte ich unter seinen Armen durchschlüp-
ein Mob wütender Muslime auf seine jüdischen Nachbarn losging:        fen, rannte auf die Straße und hinüber zum Haus meiner Tante.
   „Weil ich die ganze Zeit Schüsse gehört habe, verstand ich, dass   Ich wusste, dass mein Vater dort war. Ich rannte und hatte solche
etwas nicht in Ordnung war. Alle um mich herum hatten Angst,          Angst, unterwegs lief ich an drei Leichen vorbei. Ich trommelte an
haben geschrien und geweint. Als sie bei uns an die Haustür           die Tür. Sie öffneten verwundert und ich sagte: ‚Sie haben alle um-
trommelten, hielt ich mich am Rockzipfel meiner Mutter fest und       gebracht.‘ Sie fingen an zu schreien. Ich war im Schockzustand,
versteckte mich hinter ihr. Die dann bei uns eindrangen, waren        setzte mich auf die Schaukel im Garten und sprach kein Wort.“
die Besitzer der Eisdielen von nebenan.“ Seine Mutter habe ih-          Ben-Sions Erinnerung ist eine von Hunderten Schicksalen,
nen gesagt: „Das Haus und alles, was darinnen ist, gehört euch.       die als „Farhud“, als „gewaltsame Enteignung“, in die Geschich-
Nehmt alles, was ihr wollt. Aber bitte tut uns nichts.“ Die Nach-     te der Juden des Irak eingingen. Das BJHC hat einige von ihnen
barn hätten eine Menschenkette gebildet und begonnen, das                auf seinem YouTube-Kanal aufgezeichnet. Die Mitarbeiterin
Haus leer zu räumen.                                                          Lily Schor erzählt: „Die Geschichte der Juden im Irak ist
   Plötzlich sei ein Polizist hereingekommen, in Uniform                        im Grunde genommen die Geschichte des gesamten jü-
und mit einer Waffe in der Hand. Er sagte: „Ihr und euer                         dischen Volkes. Wir haben eine so lange Zeit im Baby-
Glaube sollt verflucht sein. Verflucht sei auch euer Pa-                          lonischen Exil verbracht, dass wir dort unsere Identität
lästina.“ Ben-Sion ist überzeugt: „Ich werde mich                                 ausgebildet haben.“ Unter anderem entstand dort der
immer an diese Worte erinnern.“ Dann habe der                                       Babylonische Talmud.
Polizist seiner Mutter in den Kopf geschossen:                                          Unter der Herrschaft Nebukadnezars im 6. Jahr-
„Ich stand immer noch hinter ihr. Sie fiel auf                                          hundert vor Christus wurden Juden aus dem
der Stelle um, ich rannte und versteckte                                                 Königreich Juda in Babylon, dem heutigen Irak,
mich vor dem Polizisten hinter unseren                                                    angesiedelt. Somit waren jüdische Gemeinden
Sofas. Meine zwei Jahre ältere Schwester                                                  in der Region lange präsent, bevor sich im
schrie entsetzt. Da erschoss er auch sie.                                                  7. Jahrhundert nach Christus muslimische
Meine Großmutter kam aus dem Kel-                                                           Gemeinden etablierten. Auch wenn Juden
ler. Sie konnte nicht gut sehen und rief                                                        größtenteils nicht in die muslimische
nach ihrer Tochter. Derselbe Polizist er-                                                        Mehrheitsgesellschaft integriert wa-
schoss auch sie umgehend.“                                                                        ren – mit der Gründung des irakischen
   In fließendem Hebräisch er-                                                                       Staates unter dem Britischen Man-
zählt der ehemalige Iraker wei-                                                                        dat 1921 wurden sie zu vollwer-
ter: „Auch meinen vierjähri-                                                                           tigen Bürgern. Sie besaßen das
gen Bruder nahmen sie fest                                                                             Wahlrecht, hatten mehrere Reprä-
und wollten ihn schlachten,                                                                          sentanten im Parlament und einen
doch meine Cousine rief von                                                                      im Senat. Dies blieb auch so, als das Kö-
unten: ‚Er ist doch noch ein Kind.                                                               nigreich Irak 1932 seine Unabhängigkeit
Bringt ihn nicht um!‘ Sie wiederhol-                                                            erlangte. In den 1940er Jahren machten
te es ein paar Mal. Zum Schluss warf                                                           Juden mit etwa 135.000 Bewohnern etwa 3
der Polizist meinen Bruder zu ihr her-                                                       Prozent der Bevölkerung im Irak aus. Etwa
                                                                                                                                             Foto: avishai teicher, Wikipedia

unter. Meine Cousine rannte ihm hin-                                                        90.000 von ihnen lebten in Bagdad, 10.000
terher, doch die Lust des Mannes, Blut                                                      in Basra, der Rest verteilte sich auf kleine
zu sehen, war noch nicht gestillt –                                                            Orte im Land.
er stieß sie die Treppe hinunter,
schnitt ihren Arm ab und ihren                                                                    In Ramat Gan erinnert eine
Bauch auf, alle Eingeweide hin-                                                                   Plastik an das Pogrom an
gen heraus.“                                                                                      irakischen Juden

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