Nach dem Angriff ist vor dem Angriff
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3 21 Berichte und Hintergründe aus Israel und dem Nahen Osten Magazin Nach dem Angriff ist vor dem Angriff Eindrücke aus dem Raketenalltag MAHNENDER PRÄSIDENT DAS MASSAKER VON BAGDAD Rivlins Blick auf eine Gesellschaft im Wandel Erinnerungen an die Farhud vor 80 Jahren
14 10 13 VOR 80 JAHREN RIVLIN HOHER PEGELSTAND Das unbekannte Pogrom Ringen um Zusammenhalt Regenreicher Winter Herzog wird neuer Staatspräsident D ie Knesset hat am 2. Juni Jitzchak Herzog, den Vorsitzenden der Jewish Agency, zum Nachfolger von Staatspräsident Reu- ven Rivlin gewählt. Der Favorit erhielt 87 von 120 möglichen Stim- wanderungsorganisation Jewish Agency. Mit seiner Kandida- tur folgte der Wahlsieger einer Familientradition: Der Vater des 60-Jährigen, Chaim Herzog, hatte das Amt des Präsidenten von men. Für die Pädagogin Miriam Peretz, die einzige Gegenkandida- 1983 bis 1993 inne. Und so erklärte der Sohn angesichts seiner tin, stimmten 26 Abgeordnete. Kandidatur: „Meine persönliche Familiengeschichte und jahre- lange öffentliche Erfahrung haben mich gelehrt, das Wunder der Existenz Israels nie als garantiert zu betrachten.“ Er sehe infolge des Gaza-Konfliktes und der innenpolitischen Krise die Notwen- digkeit, die Nation zu heilen und zu einen. Die gescheiterte Gegenkandidatin Peretz wanderte 1963 mit ihrer Familie aus der marokkanischen Stadt Casablanca nach Israel ein. Die 67-jährige Witwe hat zwei ihrer sechs Kinder bei militärischen Einsätzen verloren: Ihr ältester Sohn Uriel fiel Fotos: avishai teicher, Wikipedia | GPO/Mark Neyman | 1998 im Libanon. Sein jüngerer Bruder Eliras kam 2010 bei ei- ner Militäroperation in der Nähe des Gazastreifens ums Leben. Durch ihren öffentlichen Umgang mit diesem Verlust gewann sie Respekt bei vielen Israelis. In Umfragen hatte sich eine Mehrheit der Israelis dafür ausgesprochen, sie zur Präsidentin Israelnetz/mh | ולוטס רינ, Wikipedia zu wählen. Herzog mit seiner Frau Michal, rechts sein Vater Chaim, Mit Herzogs Wahl bleibt es dabei: Die bislang einzige Frau im der sechste Präsident Israels höchsten Staatsposten war nur vertretungsweise im Amt. Nach- dem Mosche Katzav 2007 wegen Vergewaltigungsvorwürfen zu- rückgetreten war, übernahm Knessetsprecherin Dalia Itzik den Herzog stammt aus Tel Aviv. Er saß von 2003 bis 2018 für die Posten für ein paar Monate. Katzav wurde später zu einer Haft- Arbeitspartei in der Knesset, ab 2013 war er Parteichef und Op- strafe verurteilt. Itzik kandidierte 2014 und verlor die Wahl gegen positionsführer. Zwischen 2005 und 2011 bekleidete er mehrere Rivlin. Dessen Amtszeit endet am 9. Juli. | Ministerposten. Im Jahr 2018 übernahm er den Vorsitz der Ein- Elisabeth Hausen 2
Magazin 3|21 Liebe Leser, 4 BEGINN DER elf Tage lang hat die jüngste Konfrontation zwischen der Hamas und Israel gedauert. Die ESKALATION Terrorgruppe feuerte 4.300 Raketen auf israelische Ziele ab, die Luftwaffe zerstörte große Von Flaggen und Raketen Teile des Tunnelsystems der Hamas und andere militärische Infrastruktur im Gazastrei- fen. Es gab viele Tote und Verletzte. In dieser Ausgabe des Israelnetz Magazins erhalten 5 ALLTAG MIT Sie eine erste Bilanz der Operation „Wächter der Mauern“. Doch Zahlen sind abstrakt. RAKETENALARM Deshalb bieten wir Ihnen zusätzlich zwei persönliche Berichte: Ab Seite 4 lesen Sie, wie „Bombiges“ Ber‘er Scheva Menschen in Jerusalem auf den ersten Raketenalarm seit mehreren Jahren reagierten 8 MANSUR ABBAS und wie sich die Angriffe aus Gaza auf das Leben in Be‘er Scheva auswirken. Der pragmatische Islamist Gleich zwei Konflikte mit der Hamas prägen die Amtszeit des israelischen Staatspräsi- 9 BIBELBLICK denten Reuven Rivlin: Nachdem er 2014 gewählt wurde, begann die Operation „Starker Zwischen Heimsuchung Fels“ als Reaktion auf die brutale Ermordung dreier israelischer Talmudschüler. In den und Heimkehr letzten Tagen seiner Amtszeit folgte sieben Jahre später die Operation „Wächter der Mau- ern“. Diese Situation forderte ihn ebenso heraus wie vier Knessetwahlen binnen zwei Jahren, die vorerst keine stabile Regierung hervorbrachten. Und so wurde auch die innere Spaltung in Israel ein Thema seiner Zeit als Staatsoberhaupt, die am 9. Juli endet. Mehr dazu erfahren Sie in einem Porträt ab Seite 11. Auch nach den Wahlen vom 23. März bleibt die Regierungsbildung in Israel schwierig. Eine spannende Rolle hat eine kleine arabische Partei, um die plötzlich jüdische Politiker unterschiedlicher Anschauungen buhlen. Was es mit dem Ra‘am-Vorsitzenden Mansur Abbas auf sich hat, ist auf Seite 8 zu lesen. Einblicke in die Zeit des Zweiten Weltkrieges aus nahöstlicher Perspektive bietet ein Ar- tikel ab Seite 14: Darin geht es um Judenhass im Irak. Vor 80 Jahren ereignete sich die IMPRESSUM sogenannte „Fahrhud“: ein Pogrom, dem zahlreiche irakische Juden zum Opfer fielen. Herausgeber Doch es gibt auch gute Nachrichten: Zum zweiten Mal in Folge erlebte Israel einen Win- Christliche Medieninitiative pro e.V. ter mit vielen Niederschlägen. Der See Genezareth ist am Ende der Regenzeit gut gefüllt, Charlotte-Bamberg-Straße 2 auch wenn der Pegel nicht so hoch stieg wie vor einem Jahr. Auf Seite 13 berichten wir, D-35578 Wetzlar wie sich die beiden vergangenen regenreichen Winter auf den Wasserhaushalt der Isra- Telefon +49 (64 41) 5 66 77 00 elis auswirken. Telefax +49 (64 41) 5 66 77 33 israelnetz.com Die Corona-Pandemie prägt den Alltag der Israelis nur noch am Rande, und so kommt info@israelnetz.com das Thema in diesem Magazin nicht vor: Nach einem Jahr mit drei harten Lockdowns Vorsitzender Dr. Hartmut Spiesecke und einer Übergangszeit mit einem Grünen Impfpass sind die meisten Einschränkungen Geschäftsführer inzwischen aufgehoben. Das Land öffnet sich nun vorsichtig wieder für Touristen. Christoph Irion (V.i.S.d.P.) Büro Wetzlar Elisabeth Hausen Möge der Hüter Israels, der niemals schläft, die Menschen bewahren (siehe Psalm 121). (Leitende Redakteurin), Daniel Frick, Timo König, Egmond Prill, Martin Herzlich grüßt Sie, Schlorke Büro Jerusalem mh Titelfoto Elisabeth Hausen Blick in eine Synagoge in Aschkelon nach einem Raketeneinschlag am 16. Mai | Quelle: flash90 Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 2. Juni 2021 Spenden Israelnetz lebt von Ihrer Spende. Volksbank Mittelhessen eG IBAN DE73 5139 0000 0040 9832 01 BIC VBMHDE5F www.israelnetz.com/spenden 3
DER BEGINN DER ESKALATION Von Flaggen und Raketen Der Jerusalem-Tag erinnert an die Vereinigung der Stadt nach dem Sechs-Tage-Krieg. Jugendliche feiern mit Fahnen und einer Parade. Doch mittendrin gibt es Raketenalarm: Die Hamas greift Jerusalem an. mh S eit 1968 gedenkt Israel am Jom Inmitten der Gesänge ertönt um 18 Uhr eine Jeruschalajim, dem Jerusalem-Tag, der Sirene. Es dauert wenige Sekunden, bis sich der Vereinigung der Stadt nach dem Sechs- Ruf „Tilim, Raketen!“ in der Menge der Teil- Tage-Krieg 1967. Damals eroberte Israel den Ost- nehmer ausbreitet. Die überraschten Sicher- teil und damit auch historische heilige Stätten heitskräfte rufen dazu auf, sich in Sicherheit zu wie die Klagemauer. In den Nachmittagsstun- bringen. Viele Schüler bleiben im Pulk auf der den des 10. Mai dieses Jahres führt der Flaggen- Straße, andere rennen in den Unabhängigkeits- marsch vom Westen der Stadt in die östliche Park, um sich flach auf den Boden zu legen. Drei Altstadt. Einschläge sind deutlich zu hören. Die israelische Tageszeitung „Ha‘aretz“ hatte Insgesamt schlagen sieben Raketen der Ha- wenige Stunden vorher getitelt: „Der Flaggen- mas in den westlichen Hügeln von Jerusalem marsch schadet und ist in jedem Jahr überflüs- ein, eine Warn-App zeigt die Orte, darunter Kiriat Anavim, Giv‘at Jearim und Abu Gosch. Verletzte gibt es keine und mehrere Raketen konnten vom System „Eisenkuppel“ abgewehrt werden. Direkt nach dem Verstummen der Sire- ne geben Polizisten Entwarnung: „Es ist alles in Ordnung. Ihr könnt wieder aufstehen.“ Die Ju- gendlichen zeigen sich kurz irritiert und singen unmittelbar die bekannten Siegesworte: „Am Israel chai, das Volk Israel lebt.“ Andere singen von der Schönheit Jerusalems, nur an einer Stel- le tanzen Jungen zu den Worten „Muhammad ist tot“. Die Jugendlichen ziehen singend weiter. We- nige Minuten später werden die Teilnehmer über Lautsprecher gebeten, zu ihren Bussen zu- rückzukehren. Die Polizei riegelt die Straßen ab, sodass der Zug in mehrere Gruppen geteilt wird. Die Schüler singen weiter, nur langsam lösen sich die einzelnen Knotenpunkte auf. Kurz bevor die Raketen der Hamas für den Ab- Während viele Jugendliche bruch des Marsches sorgen, sagt ein Beobachter angesichts der Raketen ein- über die singenden Jugendlichen: „Schau, diese fach auf der Straße weiter- sig, doch in diesem Jahr ist er brandgefährlich“. jungen Nationalreligiösen stellen unsere Zu- tanzen, werfen sich andere Die Stimmung in Jerusalem ist aufgeheizt. All kunft dar. Sie sind intelligent und optimistisch. im nahegelegenen Park zum abendlich dokumentieren Fotojournalisten das Sie sind bereit, sich für unsere Gesellschaft ein- Schutz auf dem Boden Geschehen anlässlich des Ramadans rund um zusetzen und gehen zur Armee. Schade, dass das Damaskustor. Dass die Route in diesem Jahr die Säkularen den Tag nicht feiern.“ nicht auf den Tempelberg führen würde, stand Selbiger Beobachter geht nach dem Marsch daher schon einige Tage zuvor fest. zur Klagemauer und berichtet später von einem Schüler Dutzender religiöser Oberschulen brennenden Baum. Seine Begleiterin sagt: „Auf Foto: Israelnetz/mh sind angereist. Mit Tanz, Musik und Gesang ver- dem Tempelberg haben Muslime nach dem Fas- sammeln sie sich auf dem Paris-Platz, um Rich- tenbrechen Feuerwerkskörper geworfen.“ Er er- tung Altstadt zu laufen. Zum Höhepunkt, dem gänzt: „So dicht liegt die Freude der Juden und Einzug durch das Jaffator in die Altstadt und von der Ärger der Muslime über das geeinte Jerusa- dort an die Klagemauer, kommt es nicht mehr. lem beieinander!“ | 4
Magazin 3|21 ALLTAG MIT RAKETENALARM „Bombiges“ Be‘er Scheva Zum ersten Mal seit Tagen konnten wir in der Wüstenhauptstadt des Negev ohne Störung durchschlafen. Denn einige Stunden lang wurde am 17. Mai kein Raketenalarm ausgelöst. Dennoch bestimmen die Terror- Organisationen des Gazastreifens wieder einmal meinen Alltag. Antje C. Naujoks A ls ich vor über zehn Jahren von Jerusalem vielen Jahren gesetzlich geregelt, dass alle Neu- in die rund 200.000 Einwohner zählen- bauten mit Schutzräumen zu versehen sind: de Wüstenhauptstadt Be’er Scheva zog, besonders verstärkte Betonmauern durchzogen schüttelten einige meiner Landsleute den Kopf. mit Metallstreben, ein Fenster mit Hochsicher- Der Schutzraum der Autorin, ein ganz Freiwillig in eine Stadt ziehen, die nur 40 Kilo- heitsglas, das sich beim Verschließen an meh- normales Zimmer. Nur meter vom Gazastreifen entfernt ist und in der reren Stellen tief im Rahmen verankert und vor das Fenster verrät, es immer wieder zu Raketenbeschuss kommt? das zusätzlich ein Eisenschott gezogen wird. dass Ausnahmezustand Meine Antwort mag verrückt anmuten, re- Auch die Tür zu dem Zimmer, für ungeübte herrscht. flektiert aber die von unzähligen Israelis gelebte Augen ein ganz normaler Raum der Wohnung, Realität: „Gegen Raketen gibt es Schutzräume, ist eine besondere Konstruktion: eine Metalltür, und es bleibt sogar Zeit, um sich in Sicherheit die sich ebenfalls mit Metallstäben tief im me- zu bringen. Ich ziehe die Raketen jedem Selbst- tallenen Türrahmen verankert, um genau wie mordanschlag vor, bei dem ich keinen Schutz das Fenster einer Druckwelle standzuhalten. habe.“ Selbstmordattentate habe ich in 25 Jah- Ich habe also den Luxus eines Schutzraumes. ren Jerusalem wahrlich zur Genüge mitbekom- In Zeiten wie diesen bin ich dann wieder ein- men müssen, manchmal nur mit viel Glück mal dankbar – dafür, dass kluge Köpfe auf eine ohne physischen Schaden. solche Lösung kamen, dass der Staat Israel die Die Autorin studierte Polito- Konstruktion wenigstens teilweise subventio- logie an der FU Berlin und an Foto: Antje C. Naujoks Mein Schutzraum niert. Wir alle in Israel haben wieder und wie- der Hebräischen Universität der erlebt, dass Häuser und Wohnungen schwer Jerusalem. Die freischaffen- Folglich kam bei meiner Wohnungssuche in beschädigt werden, die Bewohner jedoch in den de Übersetzerin lebt seit fast Be’er Scheva nur eine Wohnung mit Schutz- Schutzräumen unversehrt bleiben. Für mich 35 Jahren in Israel, davon ein raum infrage. Der Staat Israel hat schon vor veranschaulicht das: Anders als Hamas und Jahrzehnt in Be‘er Scheva. 5
Demonstrationen in Deutschland In verschiedenen deutschen Städten kam es während der Konfrontation zwischen der Hamas und Israel zu Protesten. Demonstranten kritisierten die israeli- sche „Aggression“ gegenüber den Palästinensern im Gazastreifen. Immer wieder waren dabei auch antise- mitische Parolen zu sehen oder zu hören. Zudem gab Scheich Dscharrah es Angriffe auf Synagogen. Im Ostjerusalemer Stadtvier- Doch Demonstranten versammelten sich auch an tel Scheich Dscharrah haben mehreren Orten zu Solidaritätskundgebungen für Juden Besitzansprüche auf die Menschen in Israel, die den Raketenangriffen der Grundstücke geltend gemacht Hamas ausgesetzt waren. und vor Gericht Recht be- kommen. Deshalb droht rund 70 arabischen Bewohnern andere radikal-islamische Organisationen, die sein. Vor Ablauf der 60 Sekunden sollte nichts die Zwangsräumung. Vor der im Gazastreifen agieren, kümmert sich der Staat mehr auf dem Herd köcheln. Gründung des Staates Israel Israel um die Sicherheit seiner Bürger. Als die Hamas mit Raketenbeschuss auf Jeru- gehörten die Grundstücke Viele meiner Mitbürger jedoch sind nicht so salem drohte, bereiteten wir schon vor Ablauf jüdischen Vereinigungen. privilegiert. Die Mehrzahl der Wohnungen hat des Ultimatums unseren Schutzraum vor. Wäh- Ein Gesetz aus dem Jahr 1970 keinen Schutzraum, weil sie älteren Baudatums rend der Corona-Monate war dieser ansonsten erlaubt es Juden, hieraus sind. Die meisten Israelis müssen daher in öffent- als Gästezimmer genutzte Raum zum Büro mei- Ansprüche abzuleiten. An der liche Bunker sprinten. Meine Stadt hat mit 60 Se- nes ins Homeoffice geschickten Partners ge- drohenden Zwangsräumung kunden die längste Vorwarnzeit des Negev. Doch worden. In Windeseile verschoben wir Möbel, entzündeten sich seit April in einer Minute mehrere Stockwerke herunter- so dass er seinen Arbeitsplatz trotz ausgezoge- 2020 immer wieder Proteste. rennen, ganz zu schweigen davon, auch noch nem Sofa weiter nutzen kann. Uns war klar, das Ein Jahr später trugen sie zur eine Straße zu überqueren, ist sogar für jüngere Schlafzimmer bleibt in der nächsten Zeit ver- Aufheizung der Stimmung in Menschen utopisch. Senioren und Menschen mit waist. Wir stehen bei Alarm nicht auf, sondern Jerusalem bei. Das Oberste Behinderungen haben noch nicht einmal annä- schlafen lieber gleich im Schutzraum. Gericht indes vertagte am 9. hernd die Chance, einen solchen Sprint hinzule- Der Alarm der Sirenen hält genau die Zeit an, Mai die Anhörung um einen gen. Dann bleibt den Menschen nichts anderes die bleibt, um es in den Schutzraum zu schaffen. Monat auf den 8. Juni. übrig, als in statisch besser geschützten Trep- Verstummt der durch Mark und Bein gehende penhäusern das Ende des Alarms abzuwarten. Lärm, der auch ohne Raketen im Anflug dafür Bimmelt es draußen – so nennen wir in meinem sorgt, dass der Adrenalinpegel steigt, hält man Haushalt das Heulen der Sirenen –, heißt es flott für einige Sekunden den Atem an. Gleich wird Zeitleiste 12. April 2021 Sperren der israelischen 25. April Polizei entfernt Barrieren 8. Mai 100 Palästinenser bei Polizei verhindern, dass Muslime vom Damaskustor Zusammenstößen mit Polizei verletzt während des Ramadan auf dem Platz vor 2. Mai Schussattentat auf Israelis im 9. Mai Oberstes Gericht verschiebt dem Jerusalemer Damaskustor sitzen; dies Westjordanland, ein 19-Jähriger stirbt, Anhörung zu Scheich Dscharrah führt tagelang zu gewaltsamen Protesten zwei Verletzte; eine 60-jährige 9. Mai Rakete aus Gaza in Israel 15. April Ein TikTok-Video zeigt, wie ein Messerstecherin wird erschossen eingeschlagen, Israel bombardiert palästinensischer Jugendlicher einen 5. Mai 16-jähriger Palästinenser stirbt bei Hamas-Stützpunkt Ultra-Orthodoxen in einer Straßenbahn Zusammenstößen im Westjordanland 10. Mai Zusammenstöße auf Tempelberg, schlägt; Israelis reagieren verärgert Hamas warnt Israel wegen Scheich mehr als 300 Palästinenser verletzt 16. April Israel beschränkt die Zahl der Dscharrah: Es werde einen hohen Preis Marsch zum Jerusalem-Tag durch die Beter für die Al-Aqsa-Moschee am ersten bezahlen, wenn die Aggression nicht ende Stadt; Hamas-Ultimatum endet, sieben Foto: Israelnetz/Martin Schlorke Freitag im Ramadan auf 10.000 7. Mai Drei Palästinenser greifen eine Raketen auf Jerusalem abgefeuert, Marsch 22. April Bei einem Marsch der extremis- Armeebasis an, zwei werden erschossen, wird abgebrochen, Armee beginnt die tischen jüdischen Organisation „Lehava“ einer verwundet Operation „Wächter der Mauern“ werden mehr als 100 Palästinenser verletzt 7. Mai Zusammenstöße nach Freitagsge- 10. bis 20. Mai Massive Angriffe auf 23. und 24. April Luftwaffe reagiert auf bet auf dem Tempelberg, 205 Palästinen- Südisrael und Großraum Tel Aviv; Israel Raketensalve der Hamas aus Gaza auf ser und 17 Polizisten verletzt zerstört Terrorinfrastruktur der Hamas Südisrael 21. Mai Waffenruhe tritt in Kraft 6
Magazin 3|21 es scheppern. Zivilisten können unterschei- Nach einem Alarm stellt sich zwar Erleichte- den zwischen dem Krach, den Terror-Raketen rung, aber keineswegs Entspannung ein. Nach einerseits und militärische Gegenaktionen einem Raketenangriff ist nämlich vor einem durch Anspringen des Raketenabwehrsystems Raketenangriff. Je mehr Zeit ohne Alarm ver- „Eisenkuppel“ andererseits verursachen. Das streicht, desto mehr Unruhe stellt sich ein. Wir war am Schabbat-Morgen bei einer Salve von lauern regelrecht. Mit jeder Minute rückt der mehr als einem Dutzend zeitgleich in Be’er nächste Angriff schließlich näher. In solchen Scheva eintreffenden Raketen um kurz nach Zeiten innere Ruhe zum Lesen oder für andere 6 Uhr der Fall. Das dumpfe beängstigende TV-Sendungen als die Nachrichten zu finden, Bumm-Geräusch war ganz nah. Der Herzschlag ist kaum möglich. Und doch, es wird gekocht, scheint kurz auszusetzen, aus dem Bauch steigt telefoniert, gearbeitet und der Haushalt ver- eine Wärmewelle auf, die genauso von Angst sorgt, aber man wägt alles zweimal ab: Ist das Operation „Wächter und Bange zeugt wie die weichen Knie oder das die richtige Zeit zum Duschen? Wann zum Müll der Mauern“ Zittern der Hände. Im Moment des Knalls er- heruntergehen, wann die Milch einkaufen? Auf bebte unser Hochhaus wegen der Druckwelle, eine Leiter steigen wir lieber gar nicht erst, Mes- Erste Raketenangriffe der die Dutzende von Kilogramm Sprengstoff verur- ser werden bewusster in die Hand genommen. Hamas: Montag, 10. Mai, 18 Uhr Feuerpause: Ausschreitungen in israelischen Städten Freitag, 21. Mai, 2 Uhr Es war bereits das vierte Mal seit der Jahreswende 2008/09, dass Israel mit einer Militäroperation auf Bilanz anhaltenden Raketenbeschuss der Hamas reagierte. Doch diesmal gab es als Begleiterscheinung nicht 4.300 palästinensische nur gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Sicherheitskräften. Die Gewalt Raketen auf Israel abgefeuert, schwappte auf israelische Städte über. Besonders schlimm war die Lage in Lod, einer Stadt in Zentral 680 gingen im Gazastreifen israel mit einer gemischten Bevölkerung. Dort setzten Araber mehrere Synagogen in Brand. Es kam zu nieder und 280 fielen ins Meer; arabischen Angriffen auf Juden und zu jüdischen Angriffen auf Araber. Deshalb verhängte die Regierung von den übrigen fing das den Ausnahmezustand und entsendete die Grenzpolizei nach Lod. Ausschreitungen gab es auch in Jaf Abwehrsystem „Eisenkuppel“ fa, Akko und Ramle. In Jaffa wurde ein zwölfjähriger arabischer Junge bei einem Brandbombenanschlag laut Armee 90 Prozent ab sehr schwer verletzt. Juden wurden verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Später stellte sich heraus, Mehr als 100 Kilometer des dass arabische Angreifer das Haus verwechselt und die Bewohner für jüdisch gehalten hatten. terroristischen Tunnelnetz Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage wieder. Doch die Wunden, die dem zerbrechlichen werks der Hamas zerstört, Geflecht der Beziehungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis zugefügt wurden, dürften tief sowie etwa 70 Raketenwer sitzen. Positive Zeichen setzten Firmen und Krankenhäuser: Sie veröffentlichten im Internet Bilder, fer und 35 Startrampen für auf denen je ein jüdischer und ein arabischer Mitarbeiter gemeinsam für Koexistenz werben. Auch die Granaten israelische Fußballnationalmannschaft beteiligte sich an einer solchen Aktion. 12 Tote in Israel, unter ihnen drei Gastarbeiter und ein Soldat, mehr als 350 verletzt sachen. Wir wussten, uns hat es nicht getroffen, Der Alltag eines Großteils der israelischen Zivil- Laut Hamas 255 Tote im aber unsere Nachbarn. Wir behielten Recht: Die bevölkerung wird fremdbestimmt, denn noch Gazastreifen, 1.600 oberen Stockwerke eines der Nachbarhäuser nie haben die Raketen aus dem Gazastreifen ein Verletzte wurden beschädigt. Menschen kamen dank der so weiträumiges Gebiet erfasst wie dieses Mal. Armee: 225 Terroristen getö Schutzräume nicht zu Schaden. Zudem ist klar, dass die Terror-Organisationen, tet; ein Teil der Zivilisten starb Als das „Eisenkuppel“-Raketenabwehrsystem die im Gazastreifen agieren, die letzten Jahre ge- durch fehlgegangene noch nicht einsatzbereit war, kündete jedes nutzt haben, um ihre Arsenale sowohl quantita- Raketen der Hamas Bumm-Geräusch von einem Treffer. Die Frage tiv als auch qualitativ aufzustocken. Geschätzte war damals nur: Wie schlimm ist es? Das Sys- 14.000 Geschosse lagern dort. Bislang wurden tem, von dem die Welt sagte, dass so etwas gar knapp 4.000 auf uns abgefeuert, von denen 10 nicht entwickelt werden kann, arbeitet mit he- Prozent gar nicht ankamen, weil sie als Fehl- rausragender Präzision. Das macht einen enor- zündungen im Gazastreifen niedergingen. Ha- men Unterschied. Trotz des Abwehrsystems mas und Co. haben also noch genügend Vorrat, und des Schutzraumes, ist es beängstigend zu um uns weitere schwierige Tage zu bescheren. wissen, was sich da über einem in der Luft zu- Das werden wir durchstehen, jeder für sich trägt. Egal wie oft durchgemacht – es ist Stress und alle gemeinsam, denn wir wissen: je eher pur. Es sind bange Sekunden, denn schließlich das jetzt aufhört, desto früher steht die nächste besteht Lebensgefahr. Dieser Stress rächt sich in Runde ins Haus. Das zu schreiben fällt mir, die Form von qualitativ schlechtem Schlaf. Konzen- sich beruflich wie privat in Projekten der fried- trationsschwierigkeiten stellen sich ebenso ein lichen Koexistenz engagiert, unendlich schwer, wie Nervosität und Lärmempfindlichkeit, die aber leider ist es eine der weiteren Realitäten mit Schreckreaktionen einhergeht. meines israelischen Alltages. | 7
MANSUR ABBAS Der pragmatische Islamist Die arabische Ra‘am-Partei will in Israels Politik mitmischen. Jüdische Politiker, von links bis rechts, umwerben sie. Ist es ein positives Signal der Integra- tion? Oder eine Gefahr für Israel als jüdischen Staat? „Stolzer Araber und Muslim“: Abbas kommt aus der Sandro Serafin Islamischen Bewegung A ls Mansur Abbas, Chef der bischen Politikern nicht zu vergleichern. schen Staat. Dabei geht er vor wie einst arabischen Ra‘am-Partei, am 1. Und als Jitzchak Rabin in den 1990ern die Ultra-Orthodoxen, bewegt sich als Kö- April vor die Kameras trat, hatte auf die Untersützung nicht-zionistischer nigsmacher geschickt zwischen den poli- er dafür die „Prime-Time“ ausgesucht: Araber setzte, um seine Friedenspolitik tischen Blöcken und treibt so den Preis für 20 Uhr, eine Zeit, die israelische Politiker durch die Knesset zu bringen, blieb das seine Unterstützung in die Höhe, auf die gerne für live übertragene dramatische eine Ausnahme. die anderen Parteien für eine Regierungs- Reden nutzen. Auf Hebräisch stellte er Abbas, der aus Galiläa stammt, vertritt mehrheit angewiesen sind. Am Ende geht sich der Bevölkerung vor, als „stolzer Ara- das religiöse Lager der arabischen Gesell- Abbas mit denjenigen, die ihm geben, was ber und Muslim, Bürger des Staates Israel schaft und hat insbesondere unter Bedui- er für seine Wähler verlangt: eine Legali- und tapferer Verfechter von Frieden, Part- nen großen Rückhalt. „Er ist seiner Ideo- sierung außerrechtlicher Beduinen-Ort- nerschaft und Toleranz“. Es war die kon- logie nach Islamist, seinem Beruf nach schaften im Negev zum Beispiel oder sequente Fortsetzung einer Entwicklung, Zahnarzt und seinem Verhalten nach mehr Mittel für den Kampf gegen Krimi- die bereits Monate zuvor begonnen hatte: Gentleman“, beschreibt der Analyst Arik nalität im arabischen Sektor. Ideologische Abbas will mitmischen in der israelischen Rudnitzky den Politiker, der einst an der Positionen haben dahinter zurückzuste- Politik – und diese Rede war sein Angebot Hebräischen Universität studierte. hen. Zu den auffälligsten Aspekten seiner für eine Regierungsbeteiligung. Damit ist Fernsehansprache gehörte dann auch, der Araber die wohl interessanteste Figur Ultra-orthodoxe Methode dass Abbas das Wort „Palästinenser“ im aktuellen Kapitel des innenpolitischen nicht ein einziges Mal in den Mund nahm. Dramas, das sich seit mehr als zwei Jahren Der 47-Jährige kommt aus der Islamischen Doch während in der medialen Wahr- mit vier Neuwahlen in Israel abspielt. Bewegung, die ihre Wurzeln im „islami- nehmung eine positive Interpretation Dass sich eine an sich anti-zionistische schen Erwachen“ der 1970er Jahren hat dieses Wandels dominiert, sind auch viele arabische Partei so offensiv um das In- und eine Islamisierung der Gesellschaft kritische Stimmen zu hören. Abbas rede teresse der anderen Parteien bemüht anstrebt. Die Bewegung agierte zeitweise auf Hebräisch ganz anders als auf Ara- und dieses auch noch bekommt, ist un- aus dem Untergrund gegen den israeli- bisch, heißt es etwa. Zudem enthalte die gewöhnlich. Bislang hatten sich solche schen Staat, ihr Begründer Abdullah Nimr Charta seiner Bewegung radikale Töne. Parteien einer vollständigen Integration Darwisch saß mehrere Jahre im Gefäng- Darin ist unter anderem zu lesen, Israel sei in die israelische Politik verweigert und nis. Beobachtern zufolge schwor sie in den aus einem „rassistischen, zionistischen wurden dementsprechend von vielen 1980er Jahren der Gewalt ab, engagierte Projekt“ heraus geboren, wie die Online- jüdischen Politikern auch als geradezu sich stattdessen mehr in der Lokalpolitik. zeitung „Times of Israel“ feststellte. Mor- toxisch wahrgenommen. Die arabischen Anerkennung erwarb sie sich auch durch dechai Kedar, Experte für Islamismus am sogenannten „Satellitenlisten“ der sozia- ihr soziales Engagement. Mitte der 1990er Begin-Sadat-Zentrum für Strategische listischen Mapai, die einst an Regierungen Jahre spaltete sich die Bewegung in einen Studien, warnt eindringlich, sich „von beteiligt waren, sind mit den heutigen ara- radikaleren und einen gemäßigteren Teil, den schicken Anzügen und Krawatten die allerdings auch danach weiter Kontakt der Abgeordneten, von ihrem makellosen Aktuelle Informationen zur hielten. Für letzteren trat 1996 die Ra’am Hebräisch und ihren akademischen Ab- Regierungsbildung finden erstmals bei den Wahlen an. schlüssen“ beeindrucken zu lassen: „Die Foto: flash90 Sie auf: Nun, zweieinhalb Jahrzehnte später, Islamische Bewegung hat ihr ultimatives betritt Abbas die nächste Stufe der Inte- Ziel nicht aufgegeben – die Zerstörung israelnetz.com/politik gration seiner Bewegung in den israeli- Israels als jüdischer Staat“. | 8
Magazin 3|21 MELDUNGEN Palästinensische Wahlen abgesagt D ie palästinensischen Wahlen sind vorerst gestrichen. Der Präsi dent der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, teilte Ende April mit, von der israelischen Regierung gebe es nach wie vor keine Entscheidung, ob sie eine Stimmabgabe in Ostjerusalem zulässt. Ohne eine Beteiligung dieses Gebietes werde es aber keine Wahlen geben. Abbas führte weiter aus, die Israelis hätten ihm mitgeteilt, wegen der ausstehenden Regierungsbildung sei noch keine Ent scheidung gefallen. Der PA-Präsident wies diese Begründung je doch zurück: „Wir wissen, dass die israelische Regierung jeden Tag über den Bau von tausenden Siedlungseinheiten entschei Abbas sieht unter den aktuellen Bedingungen keine det“, sagte er laut der palästinensischen Nachrichtenagentur Möglichkeit, Wahlen durchzuführen (Archivbild) WAFA. „Wenn es um palästinensische Wahlen geht, gibt es keine Regierung, die entscheiden kann – geht es aber um das Siedlungs sollte nicht auf die Agenda einer einzigen Partei beschränkt sein. projekt und Verstöße, dann gibt es eine Regierung?“ Die Hamas erklärte weiter, die Absage habe „nichts mit Jerusa Hinter der vorläufigen Absage vermuten Beobachter ein ande lem zu tun“. Die Palästinenser sollten die Wahlen in Ostjerusalem res Kalkül. Demnach rechnet Abbas mit einer Wahlniederlage für auch ohne Genehmigung durchführen. seine Fatah-Partei und will daher eine Stimmabgabe vermeiden. Abbas hatte die Wahlen Mitte Januar angekündigt. Am 22. Mai Auch die in den Wahlen konkurrierende Terror-Organisation Ha sollten Parlamentswahlen stattfinden, am 31. Juli die Präsident mas sieht ein anderes Motiv hinter der Entscheidung. Sie sprach als schaftswahl. Es wären die ersten Wahlen in den von den Palästi Reaktion auf die Verschiebung von einem „Coup gegen nationale nensern verwalteten Gebieten seit dem Jahr 2006 gewesen. | Partnerschaft und Konsens“. Die nationale Lage der Palästinenser Daniel Frick Viele Tote bei Massenpanik Höchster Lottogewinn in Israel Bei einer Massenpanik am Feiertag Lag BaOmer sind am 29. April 45 Männer und Jungen ums Leben gekommen. Rund 150 weite re wurden verletzt. E in Israeli hat am 25. Mai im Lotto umgerechnet 19 Millionen Euro gewonnen. Das ist der höchste Lottogewinn, der in Israel seit der Staatsgründung ausgezahlt wurde. Von dem Geld muss Das Unglück ereig der Spieler 38 Prozent Steuern zahlen. Ihm bleiben dann 11,8 nete sich im nord Millionen Euro. Den israelischen Wall Gewinn erzielte er fahrtsort Meron. mit sechs Richtigen Dort waren mehrere und der richtigen Zu Zehntausend ultra- satzzahl beim „dop orthodoxe Juden pelten Abräumer“. versammelt. Die Diese Lotto-Variante Behörden hatten bietet mit 21,1 Millio Nach der Katastrophe waren die Teilnehmerzahl nen Euro den höchst zahlreiche Rettungskräfte im Einsatz zuvor auf 10.000 möglichen Gewinn in Hier können Israelis Tippscheine begrenzt. Die Ver Israel. Der bis dahin abgeben – aber nur wenige letzten wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht. höchste Lottogewinn erhalten den Hauptgewinn Die Politik muss sich dem Vorwurf stellen, Bedenken ignoriert zu betrug 18,6 Millionen Fotos: Kreml | ZAKA, Twitter | Israelnetz/mh haben, dass die Stätte für Massenveranstaltungen nicht geeignet Euro und wurde 2009 erzielt. sei. Den Sicherheitskräften wird indes vorgeworfen, weiterhin Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 machte ein Tel Personen in das abgesperrte Areal gelassen zu haben, obwohl die Aviver mit überraschenden und exakten Voraussagen bei Sport festgelegte Teilnehmerzahl längst überschritten war. Außerdem wetten von sich reden: Einen Monat vor WM-Beginn tippte er sollen sie nach Ausbruch der Panik nicht schnell genug weitere auf ein Ausscheiden von Titelverteidiger Frankreich, Argentinien Ausgänge geöffnet haben. Insgesamt waren 5.000 Polizisten im und Portugal in der Vorrunde. Zudem rechnete er mit einem Wei Einsatz, um das Fest abzusichern. terkommen der Türkei sowie der Gastgeberländer Südkorea und Nach dem Unglück zeigten sich Bewohner arabischer Dörfer Japan. All dies traf ein. Des Weiteren erreichte weder Italien noch aus der Nähe von Meron solidarisch mit den evakuierten Juden: Spanien das Halbfinale, und im Finale gewann Brasilien gegen Sie versorgten sie mit kostenlosem Essen und Trinken. | Deutschland – wie von dem Israeli vorhergesehen. | Martin Schlorke Elisabeth Hausen 9
RIVLINS PRÄSIDENTSCHAFT Ein Ringen um Zusammenhalt Als Staatspräsident forderte Reuven Rivlin angesichts gesellschaftlicher Gräben ein neues israelisches Selbstverständnis. Die Ereignisse in den finalen Tagen seiner Amtszeit geben diesem Anliegen Recht. Daniel Frick E igentlich schickt es sich nicht, in die zeit- lichen Gräben hat er zum Thema seiner Präsi- liche Verteilung von Ereignissen allzuviel dentschaft gemacht. Die innenpolitische Krise hineinzulesen. Doch der Umstand, dass die mit vier aufeinanderfolgenden Wahlen binnen Amtszeit von Staatspräsident Reuven Rivlin mit zwei Jahren bestätigen nur die Dringlichkeit die- einem ausgewachsenen Gaza-Konflikt anfing ses Anliegens. In einer Rede im Juni 2015 hatte und nun auch deren Ende von einem solchen er auf die Problematik hingewiesen: Anders als geprägt war, trägt Züge eines Dramas. Im Som- noch vor 30 Jahren gebe es in Israel nicht mehr mer 2014 war das Land in Aufruhr wegen der die säkular-zionistische Mehrheit und dazu Entführung und Tötung dreier Talmud-Schüler einige Minderheiten. Vielmehr setze sich die Erstklässler 1990 durch palästinensische Terroristen – und wegen Gesellschaft inzwischen aus vier „Stämmen“ Araber 23 % einer Racheaktion, bei der drei Israelis einen Pa- zusammen, die sich zahlenmäßig immer mehr Ultra-Orthodoxe 9 % lästinenser entführten, verprügelten und bei le- angleichen: Neben den Säkularen seien dies die Säkulare 52 % bendigem Leib verbrannten. Diese Verbrechen Araber, die Nationalreligiösen und die Ultra- Nationalreligiöse 16 % und der anhaltende Raketenbeschuss aus dem Orthodoxen. Gazastreifen nach Israel führten letztlich zur Rivlin fasst diesen Zustand mit dem Begriff Militäroperation „Starker Fels“. „neue israelische Ordnung“ zusammen. Proble- Einen Tag vor Beginn der Militäroperation matisch daran sei, dass diese vier Stämme mehr veröffentlichte der bereits ins Amt gewählte oder weniger abgekoppelt voneinander lebten. Rivlin zusammen mit Noch-Präsident Schimon Als Beispiel nannte Rivlin das Schulsystem mit Peres einen gemeinsamen Aufruf zum Stopp seinen unterschiedlichen Ausrichtungen, in de- der Gewalt. Die beiden verurteilten darin mus- nen die Kinder „mit unterschiedlichen Wertvor- limischen und jüdischen Terror: „Im Staat Israel stellungen und Sichtweisen auf den Staat Israel Erstklässler 2021 gibt es keinen Unterschied zwischen Blut und erzogen werden“. Wenn sich bald die halbe Ge- Araber 23 % Blut. Der demokratische Staat Israel heiligt das sellschaft – Araber und Ultra-Orthodoxe – gar Ultra-Orthodoxe 21 % moralische Recht auf Leben und das gleiche nicht als zionistisch begreift, ist das auch eine Säkulare 41 % Recht jedes Menschen, verschieden zu sein.“ Herausforderung für Israel als zionistische Un- Nationalreligiöse 15 % In den finalen Tagen von Rivlins Präsident- ternehmung. schaft kommt der Konflikt zwischen Juden und In dieser Lage fordert Rivlin ein neues Arabern wieder gewaltsam zum Vorschein. Selbsverständnis: Die „Stämme“ müssten sich Nicht, dass es zwischendurch ruhig gewe- vor allem als Partner verstehen, die das „Mosa- sen wäre. Aber die Mobgewalt in den Straßen ik“ der Gesellschaft als Chance begreifen. Vor- Israels – zumeist von Arabern, aber auch von aussetzung dafür sei das Gefühl, dass die eigene Juden ausgeübt – ist eine Neuentwicklung. Der Identität nicht gefährdet ist, sei es der liberale 81-Jährige sah sich jedenfalls wieder zu einem Lebensstil der Säkularen oder die strenge Erzie- Aufruf veranlasst, von der Gewalt abzulassen – hung bei den Ultra-Orthodoxen. Dann müsse je- Gesellschaftlicher Wandel: und er warnte gar, dass die Unruhen eine „echte der Stamm aber auch Verantwortung überneh- Den Bevölkerungszahlen Bedrohung der israelischen Souveränität“ dar- men für die Gesamtgesellschaft; keiner könne entnimmt Rivlin, dass die stellten. Zugleich betonte er, dass die Mehrheit sich etwa vor der Landesverteidigung drücken. traditionelle zionistische der Bevölkerung diese Gewalt ablehnt: „Extre- Mehrheit schwindet. Er misten dürfen nicht den Ton angeben. Wir, die Präsidialer Einwurf fordert daher neue Ansätze moderate Mehrheit, Juden und Araber, wollen für ein Zusammenleben. hier weiter zusammenleben.“ Vor diesem Hintergrund ist es auch zu verste- hen, dass sich Rivlin während seiner Amtszeit Umbrüche in Israel das ein oder andere Mal in die Politik einmischte – was als Präsident an sich nicht Teil seiner Auf- Die Bilder der Gewalt dürften für Rivlin eine gabe ist. Das Amt ist in Israel, ähnlich wie in besondere Pointe haben: Denn die gesellschaft- Deutschland, größtenteils für repräsentative 10
Magazin 3|21 Politisch engagiert: Als Aufgaben gedacht. So verfasste Rivlin im Juli Staatspräsident sah sich 2018 einen Brief an den Gesetzesausschuss der Großvater der Nation Rivlin mitunter veranlasst, Knesset mit der Bitte, einem Entwurf zum Nati- bei der Gesetzschreibung onalstaatsgesetz nicht zuzustimmen. Ihn störte Und so wertet er Israel, bei allen Schwierigkei- einzugreifen eine Passage, nach der es religiöse oder ethni- ten, letztlich als ein „Wunder“: „Wir können zu sche Kriterien für einen Zuzug in eine Ortschaft Recht stolz sein auf unseren Status als Weltfüh- gäbe, um deren Gefüge zu erhalten – oder eben, rer bei Technologie und Innovation, mit heraus- je nach Sicht, die Kluft in der Gesellschaft zu ragenden Leistungen, die die Welt wirklich zu vergrößern. Im verabschiedeten Gesetz ist die- einem besseren Ort machen.“ Seine Amtszeit ser Passus tatsächlich gestrichen. nutzte er dann auch, um aus Wundern ein Er- Was Rivlin zur Intervention bewogen hat, eignis zu machen: Zur Live-Übertragung des Präsidenten Israels lässt sich auch mit seiner Sicht auf Israel er- Versuchs der Mondlandung mit dem Satelliten 1949–1952 Chaim Weizmann klären: Ein jüdischer Staat im gesamten Gebiet „BeReschit“ Anfang 2019 lud er sich eine Schar (im Amt gestorben) westlich des Jordans, in dem Juden und Araber Kinder in die Präsidentenresidenz ein. Die 1952–1963 Jitzchak Ben-Zvi gleichberechtigt leben. Bereits aus seinem frü- Landung scheiterte bekanntlich kurz vor dem (im Amt gestorben) heren politischen Leben – ab 1988 gehörte der Ziel, doch das gab Rivin die Gelegenheit, den 1963–1973 Salman Schasar Likud-Politiker zur Knesset, ab 2003 war er Vorgang für seine Gäste einzuordnen: „Als wir 1973–1978 Ephraim Katzir zweimal ihr Präsident – ist sein Faible für die Kinder wie ihr waren, konnten wir nicht davon 1978–1983 Jitzchak Navon „Ein-Staat-Lösung“ bekannt. Auch als Staats träumen, einmal zum Mond zu fliegen. Das ist 1983–1993 Chaim Herzog präsident rückte er davon nicht ab. Im Jahr 2017 ein wichtiger Abend für Israel, seine Bürger und 1993–2000 Eser Weizmann sagte er etwa: „Ich, Rubi Rivlin, glaube daran, Kinder, die gesehen haben, was wir erreichen (Rücktritt nach Kritik wegen dass Zion voll und ganz uns gehört.“ Seiner können, wenn wir uns anstrengen.“ nicht deklarierter Einnah- Auffassung nach könne es nur dann wirkliche Aktionen wie diese brachten Rivlin zu Recht men) Gleichberechtigung geben, wenn Israel seine den Ruf eines „Großvaters der Nation“ ein. 2000–2007 Mosche Katzav Souveränität – und damit die Gesetzeshoheit – Diesen Ruf unterstrich er auch während der (Rücktritt wegen letztlich auf das gesamte Judäa und Samaria ausweitet, Corona-Krise: Um deren Einsamkeit im Lock- bestätigter Vergewalti- und nicht nur auf Teile des Gebietes, wie es zu- down zu lindern, las er abends Kindern per gungsvorwürfe) letzt in den Wahlkämpfen zu hören war. Videoübertragung aus einem Buch vor. 2007–2014 Schimon Peres Diese Vision von Israel speist sich auch aus In welchem Maß der Tod seiner Frau im Juni 2014–2021 Reuven Rivlin einer besonderen Familiengeschichte: Ein Vor- 2019 das Gefühl der Einsamkeit hervorgerufen Bis zum Jahr 2000 war eine Amts- fahre, Hillel Rivlin, war mit Gleichgesinnten im hat, lässt sich von außen indes nur erahnen. zeit von fünf Jahren mit möglicher Jahr 1809 aus Osteuropa ins Land gekommen. Nechama Rivlin litt an einer Lungenfibrose Wiederwahl vorgesehen. Ab dem Hillel war Schüler des berühmten „Gaon von und starb an den Komplikationen infolge einer Jahr 2000 dauert die Amtszeit Foto: GPO/Mark Neyman Wilna“ (Elijah Ben Salomon Salman, 1720–1797), Lungentransplantation. Befürchtungen wurden sieben Jahre ohne Wiederwahl. der die zerstreuten Juden seiner Zeit im Land Is- damals laut, dass sich Rivlin nun zunehmend rael sammeln wollte, um so das messianische zurückziehen werde. Doch vielleicht sind es Zeitalter herbeizuführen. Heute sagt Rivlin gerade die Krisen im Inneren und von Außen, stolz, seine Vorfahren seien lange vor Theodor die Rivlin einen derartigen Rückzug gar nicht Herzl (1860–1904) Zionisten gewesen. zulassen – im Amt und darüber hinaus. | 11
BIBELBLICK Israel zwischen Heimsuchung und Heimkehr Das hat die Welt noch nicht gesehen: Ein Volk kehrt heim. Das jüdische Volk überlebte Jahrhunderte in weltweiter Zerstreuung. Mit der Eroberung Jerusalems im Jahre 70 begann dieser Weg in der Fremde. Alle Jahre neu grüßten sich Juden voller Sehnsucht: „Nächstes Jahr in Jerusalem“. Mit dem Zionismus begann ziel- gerichtet die Rückkehr ins Land der Väter. Egmond Prill E s ist das Wunder von Israels Sammlung. Am 5. Ijar 5708 der jüdischen Zeitrechnung betritt ein neuer Staat die Bühne der Welt. Drei Jahre nach dem Massenmord an den europäischen Juden mit dem Ziel einer „Endlösung der Judenfrage“ beginnt die Geschichte des Staates Is- rael. Die Welt schrieb den 14. Mai 1948, als David Ben-Gurion im „Alten Museum“ in Tel Aviv vor dem Provisorischen Staatsrat den Staat Israel ausrief. Vorausgegangen war der Beschluss der UN- Vollversammlung vom 29. November 1947 zur Beendigung des britischen Mandats in Palästina. 1897 hatte Theodor Herzl beim 1. Zionistischen Weltkongress in Basel hoffnungsvoll im Blick auf einen „Judenstaat“ verkündet: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Wege ins Dunkel Die Geschichte Israels ist geprägt von einem Wechsel zwischen Licht und Schatten. Im alttestament- lichen Buch „Richter“ ist das wie ein Leitfaden: Wandeln nach dem Willen Gottes oder Wege abseits der Gebote und Heilszusagen. Fremde Völker fielen ins Land, bis Israel Gott um Hilfe bat. Er berief Männer und Frauen als Retter für Land und Volk. Er führte Israel auf einen guten Weg zurück. Die Geschichten im Richter-Buch schildern beispielhaft diese schmerzvollen Heimsuchungen. Ausführ- lich werden im 5. Buch Mose 28 die beiden Wege und die Folgen im Blick auf Gehorsam und Unge- horsam vorgezeichnet. Das Jahr 70 markiert mit der Zerstörung des Tempels ein Ende für das alte biblische Israel. Jo- sephus Flavius beschreibt als Zeitzeuge Gottes Heimsuchung. Den Weg des Volkes ins Dunkel von Versklavung, Verbannung und Vertreibung. Historiker schätzen, dass etwa eine Million Juden die Kriegsjahre nicht überlebten und auch etwa eine Million vertrieben wurden. Wege ins Licht Die Geschichte der Rückkehr nach Zion begann unspektakulär mit der Schrift „Der Judenstaat“ von Theodor Herzl. Unter dem Eindruck der Judenverfolgung in Osteuropa und der Judenverachtung in Westeuropa hatte er sie verfasst. Herzl forderte einen jüdisch geprägten Staat. Es war eine politische Idee. Und doch sehen Gläubige in diesem Geschehen die Hand des lebendigen Gottes. Von den En- den der Erde sammelt Gott sein Volk. Das ist kein Wunschtraum mehr, sondern Wirklichkeit vor un- seren Augen. Israel ist ein Zeichen der Güte Gottes für die ganze Welt. Sie ist größer als menschliche Irrwege. Der Prophet Jeremia schaute in aussichtsloser Zeit weit in die Zukunft: „Hört, ihr Völker, des HERRN Wort und verkündet‘s fern auf den Inseln und sprecht: Der Isra- el zerstreut hat, der wird‘s auch wieder sammeln und wird es hüten wie ein Hirte seine Herde. Sie werden weinend kommen, aber ich will sie trösten und leiten. Ich will sie zu Wasserbächen führen auf ebenem Wege, dass sie nicht zu Fall kommen; denn ich bin Israels Vater und Ephraim ist mein erstgeborener Sohn.“ Seit 1948 ist das kleine Israel wieder eine Größe im Weltgeschehen. Wissenschaftliche Erfolge, wirtschaftliche Leistungen und die intensive Wüsten-Landschaft sind unübersehbar. Der Staat Isra- el gehört auf vielen Gebieten zur Weltspitze. Nach fast zweitausend Jahren gibt es Israel wieder im Land der Verheißung und auf den Landkarten der Erde. | 12
Bereits vor einem Jahr hatte der See Magazin 3|21 Genezareth einen hohen Wasserstand Erreicht der Wasserstand hingegen die obere rote Linie, droht der See überzu- laufen. Als Maßnahme müsste dann ein Damm nahe des Kibbutz Degania am süd- lichen Rand des Gewässers geöffnet wer- den, um ein Überlaufen zu verhindern. Das Wasser wird dann in den Jordan abge- leitet und fließt schließlich ins Tote Meer. Zuletzt wurde der Damm 2013 teilwei- se geöffnet. Völlig offen war er seit 1992 nicht mehr, schreibt das Wirtschaftsma- HOHER PEGELSTAND gazin „Globes“. Wieder ein Gefahr durch Klimawandel regenreicher Winter Negative Folgen für den See Genezareth befürchten Experten durch einen Tem- peraturanstieg infolge des Klimawandels. Die stetig steigende Lufttemperatur führe zu einer erhöhten Wassertemperatur im See. Nach Angaben der Wasserbehörde Der zurückliegende Winter hat erneut für viel Niederschlag gesorgt beträgt der Temperaturanstieg 0,4 Grad und den Pegel des Sees Genezareth stark ansteigen lassen. Der Wert Celsius pro Jahrzehnt. Beschleunigt werde aus dem Vorjahr wurde jedoch verpasst. Gefahr droht unterdessen dieses Phänomen durch Wetterextreme wie den Rekordsommer im August 2010. durch den Klimawandel. Damals wurden in Galiläa viele Wärmere- Martin Schlorke korde gebrochen. Messungen ergaben am 22. August 2010 eine Wassertemperatur I m Winter feierten israelische Medien ter. Einen ähnlich hohen Wert maßen die von 34,32 Grad Celsius. Seit Beginn der die hohen Pegelstände als positive Ge- Meteorologen zuletzt im Jahr 2004. Messungen im Januar 2000 wurde kein gennachricht zur Corona-Pandemie. Auch wenn der See am Spitzentag noch höherer Wert registriert. In Folge des Hit- Denn ein voller See garantiert eine sichere 35 Zentimeter von seinem Höchststand zesommers verschwanden einige Arten Wasserversorgung. Nach Angaben der is- entfernt liegt, ist die Niederschlagsmen- aus dem See. Experten machen dafür die raelischen Wasserbehörde liefert der Kin- ge des Winters ein Grund zur Freude. Der hohe Temperatur verantwortlich. neret zwischen einem Viertel und einem Wasserstand liegt Anfang Juni 3,75 Meter Studien zufolge wird die stetig steigen- Drittel der natürlichen Wasserversorgung über der roten Linie. Diese markiert den de Lufttemperatur im Zusammenspiel mit Israels. niedrigsten Pegelstand, der für die Wasser- Wetterextremen biologische und chemi- Am 2. Juni liegt der Pegel des Sees Ge- qualität noch akzeptabel ist. Normalerwei- sche Abläufe im See verändern. Das kann nezareth bei 209,3 Meter unter Null. Der se sorgt der Druck des Wassers dafür, dass dazu führen, dass Arten aus dem See ver- Höchstwert wurde dieses Jahr mit 209,1 Salzwasserströme unter dem See nicht auf- schwinden und andere, die widerstands- Meter am 14. April erreicht. Damit wurde steigen. Fällt der Druck aufgrund des Was- fähiger sind, sich stärker ausbreiten kön- der letztjährige Höchstwert aus dem Mai sermangels, besteht die Gefahr, dass sich nen. Als Beispiel nennen die Experten die 2020 knapp verpasst. Damals erreichte Salz- und Süßwasser vermischen. Das hat für Mensch und Tier als giftig geltende der See einen Pegelstand von -208,89 Me- negative Auswirkungen auf die Umwelt. Blaualge. | -208 Pegelstand -209 See Genezareth -210 Foto: Israelnetz/mh Gra ik: Israelnetz, Wenn der Wasserstand die Quelle: Israelische Wasserbehörde -211 obere rote Linie (-208,80 -212 Meter) erreicht, droht das Gewässer überzulaufen. -213 Wenn die untere rote Linie -214 (-213 Meter) unterschritten ist, darf kein Wasser mehr -215 aus dem See entnommen 00 09 06 02 04 20 08 05 07 03 01 10 19 16 12 14 21 18 15 17 13 werden. 11 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 13
VOR 80 JAHREN Farhud – das unbekannte Pogrom Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs warfen auch im Nahen Osten ihre Schatten. Im Irak kam es zu einem beispiellosen Pogrom an den einheimischen Juden. Die Ereignisse jähren sich Anfang Juni zum 80. Mal. Ein Rückblick. mh I m Juni 1941 war Jakob Ben-Sion sechs Jahre alt. In einem Inter- Als Ben-Sion das Töten sah, habe er gewusst, dass das sein Ende view des „Zentrums für das Erbe des Babylonischen Judentums“ sei. Er rannte zur Tür. „Dort stand ein Mann im Türrahmen, doch (BJHC) rekapuliert er seine Erinnerungen an die Tage, in denen als kleiner Junge konnte ich unter seinen Armen durchschlüp- ein Mob wütender Muslime auf seine jüdischen Nachbarn losging: fen, rannte auf die Straße und hinüber zum Haus meiner Tante. „Weil ich die ganze Zeit Schüsse gehört habe, verstand ich, dass Ich wusste, dass mein Vater dort war. Ich rannte und hatte solche etwas nicht in Ordnung war. Alle um mich herum hatten Angst, Angst, unterwegs lief ich an drei Leichen vorbei. Ich trommelte an haben geschrien und geweint. Als sie bei uns an die Haustür die Tür. Sie öffneten verwundert und ich sagte: ‚Sie haben alle um- trommelten, hielt ich mich am Rockzipfel meiner Mutter fest und gebracht.‘ Sie fingen an zu schreien. Ich war im Schockzustand, versteckte mich hinter ihr. Die dann bei uns eindrangen, waren setzte mich auf die Schaukel im Garten und sprach kein Wort.“ die Besitzer der Eisdielen von nebenan.“ Seine Mutter habe ih- Ben-Sions Erinnerung ist eine von Hunderten Schicksalen, nen gesagt: „Das Haus und alles, was darinnen ist, gehört euch. die als „Farhud“, als „gewaltsame Enteignung“, in die Geschich- Nehmt alles, was ihr wollt. Aber bitte tut uns nichts.“ Die Nach- te der Juden des Irak eingingen. Das BJHC hat einige von ihnen barn hätten eine Menschenkette gebildet und begonnen, das auf seinem YouTube-Kanal aufgezeichnet. Die Mitarbeiterin Haus leer zu räumen. Lily Schor erzählt: „Die Geschichte der Juden im Irak ist Plötzlich sei ein Polizist hereingekommen, in Uniform im Grunde genommen die Geschichte des gesamten jü- und mit einer Waffe in der Hand. Er sagte: „Ihr und euer dischen Volkes. Wir haben eine so lange Zeit im Baby- Glaube sollt verflucht sein. Verflucht sei auch euer Pa- lonischen Exil verbracht, dass wir dort unsere Identität lästina.“ Ben-Sion ist überzeugt: „Ich werde mich ausgebildet haben.“ Unter anderem entstand dort der immer an diese Worte erinnern.“ Dann habe der Babylonische Talmud. Polizist seiner Mutter in den Kopf geschossen: Unter der Herrschaft Nebukadnezars im 6. Jahr- „Ich stand immer noch hinter ihr. Sie fiel auf hundert vor Christus wurden Juden aus dem der Stelle um, ich rannte und versteckte Königreich Juda in Babylon, dem heutigen Irak, mich vor dem Polizisten hinter unseren angesiedelt. Somit waren jüdische Gemeinden Sofas. Meine zwei Jahre ältere Schwester in der Region lange präsent, bevor sich im schrie entsetzt. Da erschoss er auch sie. 7. Jahrhundert nach Christus muslimische Meine Großmutter kam aus dem Kel- Gemeinden etablierten. Auch wenn Juden ler. Sie konnte nicht gut sehen und rief größtenteils nicht in die muslimische nach ihrer Tochter. Derselbe Polizist er- Mehrheitsgesellschaft integriert wa- schoss auch sie umgehend.“ ren – mit der Gründung des irakischen In fließendem Hebräisch er- Staates unter dem Britischen Man- zählt der ehemalige Iraker wei- dat 1921 wurden sie zu vollwer- ter: „Auch meinen vierjähri- tigen Bürgern. Sie besaßen das gen Bruder nahmen sie fest Wahlrecht, hatten mehrere Reprä- und wollten ihn schlachten, sentanten im Parlament und einen doch meine Cousine rief von im Senat. Dies blieb auch so, als das Kö- unten: ‚Er ist doch noch ein Kind. nigreich Irak 1932 seine Unabhängigkeit Bringt ihn nicht um!‘ Sie wiederhol- erlangte. In den 1940er Jahren machten te es ein paar Mal. Zum Schluss warf Juden mit etwa 135.000 Bewohnern etwa 3 der Polizist meinen Bruder zu ihr her- Prozent der Bevölkerung im Irak aus. Etwa Foto: avishai teicher, Wikipedia unter. Meine Cousine rannte ihm hin- 90.000 von ihnen lebten in Bagdad, 10.000 terher, doch die Lust des Mannes, Blut in Basra, der Rest verteilte sich auf kleine zu sehen, war noch nicht gestillt – Orte im Land. er stieß sie die Treppe hinunter, schnitt ihren Arm ab und ihren In Ramat Gan erinnert eine Bauch auf, alle Eingeweide hin- Plastik an das Pogrom an gen heraus.“ irakischen Juden 14
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