ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
ORTHOPÄDIE
               TECHNIK

Reha-Technik                                 Sonderausgabe 2020

Offizielles Fachorgan des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik
Offizielles Fachorgan der ISPO Deutschland e. V.

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
Editorial

Pauschalierte Reha-Technik zerstört
die Qualität der individuellen Versorgung

D    as deutsche Sozialgesetz regelt die Versorgung mit
     Hilfsmitteln. Ein Anspruch besteht, wenn die Hilfs-
mittel im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
                                                                              und Hilfsmittelversorgungsgesetz zu reagieren. Ausschrei-
                                                                              bungen wurden für die qualitative Versorgung mit indi-
                                                                              viduellen Hilfsmitteln als nicht sachgerecht – also unge-
Behandlung einer Erkrankung zu sichern, einer drohen-                         recht – eingestuft.
den Behinderung vorzubeugen – oder eine Behinderung                              Doch Fallpauschalen gibt es noch immer. Deshalb gilt
auszugleichen.                                                                es, bei den Verhandlungen zwischen Leistungserbringer-
    Es geht also um Menschen, die in ihrer Lebensqualität                     verbänden und Krankenkassen die Qualität der Versor-
erheblich eingeschränkt sind. Es ist sicherlich leicht nach-                  gung wieder in den Fokus zu rücken. Der Schaden der letz-
zuvollziehen, dass dabei die Probleme so individuell sind                     ten Jahre ist jedoch inzwischen sehr hoch. Deutsche Mar-
wie die Menschen selbst. Die technischen Lösungen sind                        kenhersteller sind längst nach China abgewandert. Die
teils hochkomplex und erfordern regelmäßig die Arbeit in                      Qualität der Produkte hat stark gelitten. Auch das Know-
einem interdisziplinären Team. Konsequenz: Reha-Tech-                         how in den Sanitätshäusern, das Wissen über komplexe
nik ist weit mehr als Logistik von Rollstühlen. Sie entzieht                  Versorgungen, ist stark ausgedünnt. Denn die Löhne für
sich jeder Pauschalierung.                                                    gut ausgebildete Gesellen und Meister in der Reha-Tech-
    Es wäre zu verzeihen, wenn Laien oder Unbeteiligte die-                   nik waren nicht mehr bezahlbar. Wer Reha-Technik anbot,
ses Wesen der Reha-Technik nicht erkennen. Doch es ist                        musste noch nicht einmal eine Fortbildung besuchen – es
unerträglich, dass Körperschaften des öffentlichen Rechts,                    reichte, wenn man Schläuche aufpumpen konnte.
die mit dem SGB V vertraut sein sollten, immer wieder auf                        Hier haben wir als Spitzenverband der Leistungserbrin-
Pauschalierungen zurückkommen. Hierbei geht es um die                         ger zusammen mit dem GKV-Spitzenverband reagiert und
Fallpauschale.                                                                den „Reha-Fachberater“ als Mindestvoraussetzung für die
    Fallpauschalen sind zutiefst ungerecht. Sie werden den                    Versorgung festgesetzt. Unsere Aktivitäten mit Rehakind
individuellen Anforderungen eines Menschen mit mobi-                          waren ebenfalls zum Teil erfolgreich: Wir konnten Quali-
len Einschränkungen nicht gerecht. Diese Gleichmacherei                       tätskriterien für die Versorgung von Kindern definieren.
verlangt den Technikerinnen und Technikern ab, die Men-                          Die interessierten Leserinnen und Leser werden dieser
schen als „Durchschnitt“ zu betrachten. Darunter leidet                       Ausgabe entnehmen können, wie komplex die Versorgung
vor allem die Qualität der Versorgung. Obwohl man heute,                      nicht nur von Kindern mit Cerebralparese ist – und wie wir
im Jahr 2020, eine sehr hohe qualitative und vor allem in-                    versuchen, gemeinsam mit Nachbarverbänden (in diesem
dividuelle Versorgung anbieten kann.                                          Fall Rehakind) einer individuellen Versorgung gerecht zu
    Hinzu kommt, dass die Krankenkassen in der Fallpau-                       werden.
schale den Hebel zur Kostensenkung entdeckt haben.
Als Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im BIV-OT                         Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!
ist mir durchaus bekannt, dass sie dem „Wirtschaftlich-
keitsgebot“ nach SGB V unterworfen sind. Dies besagt,
dass die Krankenkassen einerseits eine qualitätsgesicher-
te Versorgung zahlen müssen – und andererseits darauf zu
achten haben, dass diese kosteneffi zient ist. Leider drehen
die Krankenkassen diesen Auftrag des Gesetzgebers gern
um: Sie folgen dem Primat des niedrigsten Preises – und
                                                                                                                                           Foto: Marcus Zumbansen

danach richtet sich die Qualität der Versorgung. Der Preis
zerstört die qualitative Versorgung. Damit bewegen sich
die Krankenkassen bewusst in Richtung minderwertige
Versorgung. Geld hat einen höheren Stellenwert als der
Mensch. Das macht nachdenklich.                                                                     Albin Mayer,
    Die Zeitungen waren in den letzten Jahren voll von Be-                                     Vizepräsident des
richten, wie sehr die Patientenversorgung gelitten hat. Der                          Bundesinnungsverbandes für
Gesetzgeber sah sich schließlich genötigt, mit dem Heil-                                     Orthopädie-Technik

                    Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs-            Offizielles Fachorgan der ISPO
                    verbandes für Orthopädie-Technik                    Deutschland e. V.                                            3

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
OT-(Sonder-)Ausgaben
                    Der Verlag Orthopädie-Technik publiziert neben dem monatlich erscheinenden Fachmagazin
                    ORTHOPÄDIE TECHNIK regelmäßig weitere Sonderausgaben zu Branchenthemen.

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IMPRESSUM
Orthopädie Technik:                                      Verleger:
Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs-                 Verlag Orthopädie-Technik
verbandes für Orthopädie-Technik und                     Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund
der ISPO Deutschland e. V.                               Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund
                                                         Phone +49 231 55 70 50-50, Fax -70
ISSN 0340-5591
                                                         info@biv-ot.org, www.360-ot.de
Herausgeber:                                             Verlagsleitung: Kirsten Abel,
Bundesinnungsverband                                     Michael Blatt (Leitung Verlagsprogramm)
für Orthopädie-Technik
                                                         Redaktion:
Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund
                                                         Cathrin Günzel, Irene Mechsner
Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund
Phone +49 231 70 50-0, Fax -40                           Gestaltung:
www.biv-ot.org                                           Miriam Klobes, Lena Gremm, Noëmi von Cube
Geschäftsführung: Georg Blome
                                                         Alle Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats
                                                         finden Sie unter: www.360-ot.de/beirat/

                                                                  Verlag
                                                                  Orthopädie.Technik

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
Inhalt
     Editorial
3    A. Mayer

     Kinder-Reha
6    Individualisierte Hilfsmittelversorgung bei Kindern sichert Teilhabe –
     neutraler Mustervertrag Kinder-Reha vorgelegt
     Ch. Hennemann

     Neurologie
10 Behandlungskonzepte aus Sicht der Orthopädie-Technik bei
   infantiler Cerebralparese (ICP)
   S. Senst

     Neuroorthopädie
16 Hilfsmittelmatrix Cerebralparese – eine Orientierungshilfe für die
   Behandlung von Kindern mit CP
   P. Fröhlingsdorf, B. C. Vehse, D. Herz, S. Steinebach
                                                                                  10
     Kinder-Reha
22 Mensch-Maschine-Interaktion im Kindesalter
   B. Warken-Madelung, H. König, R. Weinberger, A. S. Schroeder

     Orthetik
30 Interdisziplinäre Therapie der Handfunktion bei Kindern und
   Jugendlichen mit ICP – Schwerpunkt Handorthetik
   Th. Becher, A. Hägele, Ch. Tenckhoff

     Digitalisierung
34 Funktionelle Elektrostimulation (FES) in Kombination mit Orthesen
   A. Diercks, N. Bade

42   Abstracts

                                30

                                                               34
                                                                                       22

                                                                              6

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
Kinder-Reha

Individualisierte Hilfsmittelversorgung bei
Kindern sichert Teilhabe – neutraler
Mustervertrag Kinder-Reha vorgelegt

Bürokratie frisst Zeit, die für die Patienten aufgewen-       und Abgrenzung der in den Produktversorgungen enthal-
det werden sollte – so das Fazit der Rehakind-Arbeitsge-      tenen Leistungen und Dienstleistungen.
meinschaften zu verschiedenen Themen der Kinder- und             Ende Oktober 2019 trafen sich 37 Teilnehmer bei einem
Jugend-Hilfsmittelversorgung: Allein über 65 verschie-        hochklassig besetzten Kostenträger-Workshop: Mit Vertre-
dene Kassenverträge oder auch gar keine vertraglichen         tern von verschiedenen AOKen, BBKen, der Barmer, DAK,
Regelungen, unterschiedliche Abgrenzungen der Pro-            GWK, IKK Classic und Nord, der Pronova und den privaten
duktgruppen durch Verschiebungen nach der Fortschrei-         Versicherern Ergo, Signal Iduna und Inter sowie einer MdK-
bung des Hilfsmittelverzeichnisses, unklare Definition        Vertreterin wurde die Grundidee diskutiert.
des „Dienstleistungsinhaltes“ und der personellen Vor-
aussetzungen, dazu Anforderungen der Medical Device           Exakte Definition Grundleistungen und
Regulation (Europäische Medizinprodukte-Verordnung,
MDR) und des Terminservice- und Versorgungsgesetzes
                                                              weiterer notwendiger Dienstleistungen
(TSVG) belasten die Branche erheblich, wie Rehakind-Ge-       Ziel war es, für die Versichertengruppe von etwa 200.000
schäftsführerin Christiana Hennemann in ihrem Gastbei-        Kindern und Jugendlichen mit schwerer Behinderung ein
trag ausführt.                                                möglichst selbstbestimmtes Leben und Teilhabe zu ermög-
                                                              lichen. Diese Grundrechte sind u. a. im Sozialgesetzbuch
Rehakind e. V., seit fast 20 Jahren der einzige Verein, der   (SGB) verankert und nicht „verhandelbar“.
spezialisierte Versorger, Kliniken und inzwischen sogar          Wenn aktuell die Eröffnungsfrage in einem Beratungs-
Selbsthilfeverbände zusammenschließt, möchte hier zu          gespräch für Kinderversorgungen lautet: „Bei welcher Kran-
einer Klärung beitragen und die wichtige Zeit für Bedarfs-    kenkasse sind Sie denn versichert?“ – dann kann an dem Sys-
ermittlung und Alltagszielvereinbarung mit den jungen         tem etwas nicht richtig sein. Somit darf es nicht Glück oder
Menschen und den Familien nicht in einem Geflecht von         Pech eines Kindes sein, bei welchem Kostenträger es versi-
Bürokratie und Entscheidungswillkür verpuffen lassen.         chert ist oder bei welchem Leistungserbringer es versorgt
                                                              wird. Durch die neu dazugekommenen Anforderungen aus
Vertragslandschaft uneinheitlich –                            TSVG und Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG)
Versorgungsergebnisse ebenso                                  sowie aus der MDR bestehen die Notwendigkeit und die
                                                              Möglichkeit, neue und einheitliche Regelungen zu treffen.
Im vergangenen Jahr – auch bedingt durch das „Aus“ für           In die Mischung aus Annahmen, gegenseitigen Zustän-
Ausschreibungen – haben sich viele Kostenträger mit einer     digkeitszuweisungen, Vertrauensvorbehalten und auch
Neuformulierung der Verträge beschäftigt. Rehakind ging       „Nichtwissen“ will Rehakind Klarheit bringen. Als neutrales
bei Vertragsveröffentlichungen, die den Besonderheiten        Netzwerk sprechen wir über diese Situation mit allen Betei-
der Kinder-Reha nicht gerecht wurden, stets direkt auf die    ligten und auch der Politik und sind sehr positiv überrascht
Ansprechpartner zu und hörte immer wieder den Wunsch          über die grundsätzlich gleichen Ziele für die Kinder und Ju-
nach Vorschlägen zu kinder-/jugendspezifischen Vertrags-
                                                                                             Fotos [2]: Rehakind

inhalten. So entstand der Plan, einen neutralen Kinder-
Reha-Mustervertrag vorzulegen. Dieser definiert eine ein-
heitliche, dem aktuellen Stand der Gesetzgebung entspre-
chende Versorgungsqualität für Kinder und junge Men-
schen mit Hilfsmittelbedarf, schafft Klarheit zwischen den
Vertragspartnern durch klare Definitionen von Begriffen
und Leistungen und soll in seiner Struktur ein kostenträ-
ger-übergreifendes Muster sein.
   In vier Arbeitssitzungen der Rehakind-Experten mit
Vertretern des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-
Technik sowie aller großen Leistungserbringergemein-                                                          Rehakind-Geschäftsführerin
schaften entstand eine Vertragsmatrix, die alle notwendi-                                                     Christiana Hennemann ge-
gen Anforderungen definiert. Dabei geht es nicht um Preise                                                    währt einen detaillierten Ein-
– die werden weiterhin in den entsprechenden Runden ver-                                                      blick in den aktuellen Stand
handelt – sondern vielmehr um eine exakte Beschreibung                                                        des Mustervertrages.

6
                                                                                  erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 02/20, S. 16

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
Kinder-Reha

gendlichen. Lediglich die mitunter intransparente Kommu-           gen für die Präqualifizierung sind eine Grundlage, auf der
nikation stellt alle vor erhebliche Herausforderungen.             weitergehende Notwendigkeiten beschrieben werden:
   Das Mustervertragskonzept – welches für alle in der                So wird die generelle Altersgrenze von 18 Jahren für alle
Kinderversorgung gängigen Produktgruppen inklusive                 Kinder- und Jugendversorgungen festgeschrieben. Aktu-
Beatmung/Tracheostoma und Kommunikation von Reha-                  elle Verträge (z. B. der AOK Bayern in der Beatmung) se-
kind erstellt wurde – soll eben dieses Werkzeug für mehr           hen immer noch zwölf oder 14 Jahre vor. Außerdem wer-
Transparenz zu Beginn und im Verlauf der Hilfsmittelver-           den diejenigen Menschen inkludiert, die den Bedarf eines
sorgungen sein.                                                    Kinderhilfsmittels haben – z. B. von OI (Osteogenesis im-
                                                                   perfecta/Glasknochen-Krankheit) oder Kleinwuchs Be-
                                                                   troffene oder junge Menschen, deren Reifung und Wachs-
Gemeinsame Vertragsgrundlagen                                      tum mit der Vollendung des 18. Lebensjahres noch nicht
für Sitzschalenversorgungskonzepte                                 abgeschlossen ist.
                                                                      Die personellen Voraussetzungen für die qualifizierten
in Arbeit                                                          Kinderversorger sind ebenfalls detailliert geregelt. Dazu
Auch zu dem hochkomplexen Bereich der Sitzschalen                  gehören Ausbildung, Berufsabschlüsse wie z. B. Meister,
(Teilbereich der Produktgruppe/PG 26) wurde eine eige-             Berufserfahrung, Fortbildungen, regelmäßige Wissensauf-
ne Arbeitsgemeinschaft gegründet, welche noch im ers-              frischung. Auch hier wurde Rehakind von den Kostenträ-
ten Quartal 2020 einen Vertragsteil liefern wird. Der in           gern zu neutralen Schulungsinhalten aufgefordert bzw.
dieser Arbeitsgruppe zusammengetragene Konsens aller               das Schulungskonzept und die so qualifizierten Fachbera-
Leistungserbringergemeinschaften schafft es sogar, die-            ter bestätigt.
sen individuellen, teils handwerklichen Bereich zu struk-             Nur mit konsequenter Fachlichkeit kann die Branche
turieren. Erneut zeigte sich, dass die Sitzschalen ein beson-      der Kritik mehrerer Kostenträger am Fehlen eines fundier-
deres Problem für viele Kostenträger darstellen. Auch hier         ten Grundwissens der Reha-Fachberater, an der Vergleich-
wurden Transparenz und detaillierte Bedarfsermittlung              barkeit der Versorgungsqualität, an der Sinnhaftigkeit
sowie Ergebniskontrolle und Versorgungszielüberprüfung             und dem Umfang der Bedarfsermittlung und letztlich den
gewünscht. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und                  daraus resultierenden Hilfsmittelbegründungen entgegen-
gute Ansätze in Teilen von mit wenigen Kostenträgern be-           treten.
stehenden Verträgen bilden hier die Basis.                            Im Rahmen des genannten Workshops gingen die Kos-
                                                                   tenträger aber auch mit der Qualität der Kostenvoranschläge
Die Bestandteile sind im Einzelnen:                                einiger Leistungserbringer hart ins Gericht: Viele KV seien
1. Definition Grundleistungen (in gesetzlichen Rahmen-             „intransparent und unplausibel, Begründungen zu kurz ge-
   bedingungen verankert – Medizinproduktegesetz/MPG,              fasst“, so werde oftmals keine konsistente Dokumentation,
   SGB V, Hilfsmittel-Richtlinie/HilfsM-RL) – Statuserhe-          Zieldefinition und Alltagsrelevanz der Versorgung deutlich.
   bung, Beratung, interdisziplinäre Abstimmung auch mit
   Familien, Poolabfragen, Kostenvoranschlags-Erstellung           Transparenz auf allen Seiten führt zu
   (KV-Erstellung), Einweisung, Auslieferung etc.
2. Weitere, zur Versorgung notwendige Leistungen (re-
                                                                   schlankeren Genehmigungsprozessen
   sultierend aus Hilfsmittelverzeichnis/HMV und MDR),             Um den „Auslegungsspielraum“ möglichst klein und für
   Schulung des Umfelds (Kita, Schule etc. unter Teilhabe-/        alle transparent zu halten, hat Rehakind dem Musterver-
   Inklusionsaspekten), mehrfache Erprobung, Dokumen-              trag ein tiefgehendes Glossar mit Definitionen der Leistun-
   tation nach International Classification of Functioning,        gen angehängt.
   Disability and Health (ICF) und turnusmäßige Ergebnis-             Am Beispiel der PG 10 wurde beim Workshop die Be-
   überprüfung der Versorgung etc.                                 gründung der notwendigen und der gewünschten Zusatz-
3. Zusatzleistungen (ggf. durch Herstellervorgaben zwin-           leistungen exakt durchdekliniert (alle Tabellen liegen für
   gend) oder auf Wunsch der Kostenträger zur Bedarfsfest-         viele PG vor und sind bis auf allgemeingültige Kalkulati-
   stellung etc. − Probestellung über einen Zeitraum X, wei-       onsgrundlagen heruntergebrochen). Hier wird dem Ent-
   tere Erprobungen, Termin mit Medizinischem Dienst               wurf für die komplexe PG 26 sicherlich noch einmal große
   der Krankenversicherung (MDK), Foto-/Videodokumen-              Aufmerksamkeit zuteil werden.
   tation, Wartung etc.                                               Das gemeinsame Zwischenfazit des Projektes fiel positiv
                                                                   und differenziert aus: Eine klare Abgrenzung der Inhalte
Datenschutz muss gesichert werden,                                 und Dienstleistungen sorgt für eine hohe Kostentranspa-
                                                                   renz. In jeder Produktgruppe wird klar, wo „Zusatzkosten“
darf aber keine Blockade sein                                      entstehen (müssen), wo man definitiv Kosten sparen kann
Interessierten Kostenträgern wurden diese allgemeinen              und in welchem Umfang.
Kalkulationsgrundlagen auch erläutert. Inzwischen hat                 Einheitliche Prozesse entlasten sowohl die Sozialversi-
Rehakind individuelle Gespräche mit einzelnen Kranken-             cherungsfachangestellten oder die Hilfsmittelzentren der
kassen vereinbart, die Interesse am Mustervertrag, aber            Kostenträger als auch die Leistungserbringer, die sich mit
auch an einer ICF-konformen Bedarfsermittlung und den              einem Vertragsmodell (statt bisher 65) der wichtigen Arbeit
daraus resultieren Versorgungsvorschlägen haben.                   an den kleinen Patienten zuwenden können.
   Wichtig ist Rehakind und allen Beteiligten die Präam-              Die Sicherung der Qualität durch deutliche Vorgaben,
bel, die an bestehende Vertragskonzepte angelehnt ist, um          Dokumentation und seitens der Kostenträger durch Über-
auf vorhandene Strukturen aufzubauen. Die Voraussetzun-            prüfung derselben ist ein großes Ziel der Rehakind-Arbeit.

                                                                                                                            7
erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 02/20, S. 17

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
Kinder-Reha

   In diesem Jahr wird parallel zum Mustervertragsent-       Verbesserungen für alle an der Kinder- und Jugendlichen-
wurf von Rehakind auch die Entwicklung einer digitalen       versorgung Beteiligten. Es ist klar, dass im Gesundheitssys-
Bedarfsermittlungsplattform/Dokumentation zur ICF-           tem zukünftig nicht mehr Geld für Hilfsmittelversorgun-
konformen Versorgung vorangetrieben. So werden in Zu-        gen zur Verfügung steht – so muss es das gemeinsame Be-
kunft die Definition und auch Vereinbarung der alltags-      streben aller Beteiligten sein, das vorhandene Budget mit
relevanten Ziele mit allen Beteiligten, die Auswahl der      einer Qualitätsverpflichtung zu verteilen.
zur Zielerreichung notwendigen Hilfsmittel und Ausstat-         Diese „Aufgabe“ manifestiert sich immer mehr auch
tungsdetails mit einer Tablet-Anwendung des bewährten        bei politischen Anhörungen und der Öffentlichkeitsarbeit
Bedarfsermittlungsbogens (BEB) möglich.                      in und mit Fachgremien sowie auf Messen und Kongres-
                                                             sen. Dabei fließt stets die Expertise der betroffenen Fami-
Ergebnisse der ICF-konformen                                 lien ein, multiprofessioneller Austausch mit Pflegekräften,
                                                             Therapeuten, Medizinern und den Gesetzgebungsinstan-
Bedarfsermittlung sind relevante                             zen ist Pflicht.
Begründungsgrundlagen auch
für Kostenträger                                             Weitere „Hausaufgaben“ für Rehakind
                                                             aus dem Kostenträger-Workshop:
Die Rehakind-BEB AG hat dazu mit einem IT-Dienstleister
die vorhandenen PDF-Formulare nach aktuellen Geset-          1. Foto-/Videodokumentationen der Erprobung wurden
zesvorgaben komplett überarbeitet. Im Zuge der Digitali-     von den Kostenträgervertretern als hilfreich zur Beurtei-
sierung müssen ein unaufwändiges Handling durch den          lung der Hilfsmittelnotwendigkeit angesehen. Aber: Viele
Außendienst vor Ort (netzunabhängig) möglich sein und        Krankenkassen gestatten die Übermittlung solcher Daten
ein Austausch der Dokumentation mit dem Kostenträger.        an die Sachbearbeiter aus Datenschutzgründen nicht. Bei
Das vermeidet individuelle Texte zur Begründung und ver-     einigen können solche Dokumente lediglich an den MDK
schlankt den Prozess. Dieses wurde – allerdings unter Ver-   gesandt werden, bei anderen überhaupt nicht empfangen.
weis auf große Datenschutzproblematiken – als attraktives
Langfristziel von den Kostenträgern begrüßt.                 2. Der Bedarfsermittungsbogen wurde von vielen Teilneh-
   Auch hier sieht sich die internationale Fördergemein-     mern als wertvolle Zusatzinformation zur Begründung
schaft Rehakind in der Rolle des neutralen Initiators von    gesehen. Allerdings ist es auch hier sehr unterschiedlich,
                                                             ob Auszüge oder das komplette Dokument für die Versor-
                                                             gungsbeurteilung verwendet werden dürfen.
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                                                                Grundsätzlich sieht sowohl die ICF (also das HMV und
                                                             die HilfsM-RL) eine gegenseitige Information aller Beteilig-
                                                             ten über die Bedarfsermittlung vor, hier könnte z. B. eine
                                                             zusammenfassende PDF-Datei als Auszug aus dem digita-
                                                             len BEB für den Kostenträger erstellt werden. Auch die Er-
                                                             gebniskontrollen können so dokumentiert werden.
                                                                Die datenschutzrechtlichen Grundlagen dieses Vorge-
                                                             hens werden von Rehakind auf Bundesebene mit den Be-
                                                             auftragten abgeklärt, das digitale BEB-Tool erstellt und
                                                             die Grundlagen der multiprofessionellen ICF-Anwendung
                                                             weiter verbreitet. Interessierte Kostenträger erhalten fort-
                                                             laufend Details aus den verschiedenen Arbeitsgemein-
                                                             schaften zum Mustervertrag, zu Sitzschalen oder zur digi-
                                                             talen Bedarfsermittlung bei Rehakind.
                                                                Für Fachhandelsmitarbeiter oder Außendienstler bei
                                                             Herstellern sowie Therapeuten und Pflegekräfte hat das Re-
                                                             hakind-Referententeam die Anforderungen (bezogen auf
                                                             Hilfsmittelversorgung) und die Grundlagen der ICF in ei-
                                                             nem Flyer zusammengefasst. Auch Schulungen zu diesem
                                                             wichtigen Tool für Bedarfsermittlung und Begründung
                                                             werden angeboten.
                                                                                                   Christiana Hennemann

                                                                  Ergänzung aus aktuellem Anlass: Aufgrund der
                                                                  Corona-Krise seien die mit einzelnen Kostenträgern
                                                                  angebahnten persönlichen Erläuterungsgespräche
                                                                  in den Herbst 2020 verschoben worden, so Reha-
                                                                  kind-Geschäftsführerin Christiana Hennemann.

                                                                                 erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 02/20, S. 18

                                        0008_6062200 - 09/29/2020 08:59:01
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
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LESEEMPFEHLUNG!

  Dieses Heft enthält den aktuellen Diskussionsstand zur Rollstuhlversorgung. Der Autor besitzt langjäh-
  rige Erfahrung aus Lehrtätigkeit an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik und in einschlägigen
  Seminar- und Fortbildungsveranstaltungen. Das Heft wendet sich an alle, die ein Interesse an der Roll-
  stuhlversorgung haben, namentlich an Leserinnen und Leser aus den Fachgebieten Orthopädietechnik,
  Reha-Fachberatung sowie Ergo- und Physiotherapie mit einem Schwerpunkt in der Anpassung von
  Rollstühlen.

  Norbert Stockmann
  Rollstuhl - Versorgung (Schriftenreihe der
  Bundesfachschule für Orthopädie-Technik)
                                                                                             €
                                                                                2019, 55 S., kt.
                                                                                ISBN 978-3-948119-10-2
                                                                                Auch als E-Book erhältlich:
                                                                                ISBN 978-3-948119-11-9
                                                                                je 19,95 €

  Das Buch ist im Verlag Orthopädie-Technik erschienen. www.360-ot.de

                                               0009_6062200 - 09/29/2020 07:59:50
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Reha-Technik - Orthopädie Technik
Neurologie                              S. Senst

                                        Behandlungskonzepte aus Sicht
                                        der Orthopädie-Technik bei
                                        infantiler Cerebralparese (ICP)
                                        Treatment Concepts from the Orthopaedic Technology
                                        Perspective for Infantile Cerebral Palsy (ICP)

Die ICP stellt einen Sammelbegriff      mobility increase, pain prevention,         Hervorzuheben ist, dass das nicht
von Symptomen dar, die sich auf-        and handling improvement.                progrediente Syndrom aber zum Teil
grund eines frühkindlichen Hirn-                                                 zu massiven progredienten Sympto-
schadens ergeben haben und zu           Key words: ICP, technical orthopae-      men führt. Die Symptome ergeben
Störungen des neuromuskulären           dics, orthotics, medical devices         sich sowohl aus hypotonen wie auch
Systems führen. Hieraus resultieren                                              hypertonen Fehlsteuerungen (Spas-
physische und psychische Entwick-                                                tik). Man spricht deshalb auch von
lungsstörungen, die die Haltung
                                        Einleitung                               sogenannten „Plus-Symptomen“ –
und motorischen Fähigkeiten der         Eine Cerebralparese wird definiert       wie Spastizität, überschießende Mus-
Kinder ganz erheblich beeinflus-        durch eine Störung von Bewegung          keleigenreflexe, Clonus – und Minus-
sen können. Sie können sowohl das       und Haltung, bedingt durch einen         symptomen, wie die allgemeine Hy-
Greifen und Abstützen als auch das      Defekt oder eine Läsion des unreifen     potonie, geringe Muskelkraft und Ko-
Stehen und Gehen erschweren oder        Gehirns. Diese Definition stammte        ordinationsschwäche. Vielfach wird
auch verhindern. Ohne adäquate          von Bax 1964 [1]. Doch bereits 1593      verwechselt, dass Spastik nicht mit
Therapie zeigen die Symptome einer      schilderte Shakespeare sehr genau,       Muskelkraft gleichzusetzen ist. Die
Cerebralparese eine starke Progre-      was eine Cerebralparese ist, indem er    mehrfach behinderten Patienten mit
dienz. Für die technische Orthopä-      Richard den III. sagen ließ: „Ich, um    Cerebralparese weisen häufig sehr
die ergeben sich daher drei Haupt-      das schöne Ebenmaß verkürzt, von         schwache Muskeln und damit sehr
ziele: Funktionsverbesserung/Mo-        der Natur um Bildung falsch betro-       geringe Chancen der Körperkoordi-
bilitätserhöhung, Vermeidung von        gen, entstellt, verwahrlost, vor der     nation auf.
Schmerzen und Verbesserung des          Zeit gesandt, in die Welt des Atmens,
Handlings.                              halb kaum fertig gemacht, und zwar
                                                                                 Teufelskreislauf
                                        so lahm und ungeziemt, dass Hunde
Schlüsselwörter: ICP, Technische        bellen, hinke ich vorbei …“              Hieraus ergibt sich auch ein Circulus
Orthopädie, Orthesen, Hilfsmittel          Dieser Beschreibung ist eigentlich    vitiosus: Durch zunehmenden Mus-
                                        nichts hinzuzufügen. Dennoch ist         keltonus nimmt die Muskelsteifheit
ICP is a collective term for symp-      die Entwicklung weitergegangen und       immer mehr zu. Es entstehen zuerst
toms which have developed due to        in der neuesten Definition von Bax,      funktionelle Kontrakturen, die zu
infantile brain damage, leading to      Goldstein und Rosenbaum von 2005         strukturellen Kontrakturen führen.
disorders of the neuromuscular sys-     wird wie folgt zusammengefasst: „Der     Daraus ergeben sich Schmerzen, die
tem. These results in physical and      Begriff Cerebralparese beschreibt eine   wiederum bei fehlenden Adaptati-
psychological development disor-        Gruppe von Entwicklungsstörungen         onsmöglichkeiten den Muskeltonus
ders which affect the posture and       der Haltung und Bewegung, die zu         erhöhen. Auf der anderen Seite be-
the motoric abilities of children, so   Aktivitätseinschränkungen führen.        reitet die Hypotonie große Probleme,
that reaching and bracing as well as    Ursächlich liegt eine nicht progre-      und es kommt sekundär zu zuneh-
standing and walking can be aggra-      diente Störung der fötalen oder früh-    mender Instabilität, woraus sich dann
vated or even be impossible. With-      kindlichen Hirnentwicklung vor. Die      als tertiäres Problem die zunehmende
out adequate therapy Cerebral palsy     motorischen Probleme werden häufig       Dekompensation mit fehlenden An-
symptoms are showing a strong           durch weitere Störungen von Senso-       passungsmechanismen bildet. Hier-
progression. Therefore three main       rik, Auffassung, Kommunikation, Per-     aus resultieren wieder Schmerzen, die
goals for orthopedic engineering        zeption, Verhalten oder von Epilepsie    die Koordination und Stabilität ver-
arise: Functional improvement and       begleitet" [1].                          schlechtern.

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                                                                                    erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 06/13

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Neurologie

a.                                  b.                            c.                              d.

Abb. 1a – d: a) postoperative Lagerungsorthese zur Konsolidierung nach OP. b) postoperativ, Schaumstofflagerungsblock nach
Maß. c) präoperatives Röntgenbild mit Hüftluxation. d) postoperatives Röntgenbild.

   Nicht alle Patienten sind gleicher-      leiden. Die Klassifikation der Cerebral-   nungen objektive Vorinformationen
maßen stark betroffen. Eine europäi-        parese hat sich jedoch in den letzten      zu geben, wird der Patient nach dem
sche Multicenterstudie (SCPE) konnte        20 Jahren deutlich verändert. Nach-        GMFCS-System klassifiziert.
zeigen, dass ca. 60% aller CP-Patien-       dem primär von Hemiparese und Te-             GMFCS steht für Gross Motor Func-
ten an einer bilateralen spastischen        traparese bzw. beinbetonter Tetrapa-       tion Classification Scale. Es bedeuten:
CP leiden, 30% an einer unilateralen        rese von Michaelis gesprochen wur-
spastischen CP, etwa 6% an einer dys-       de, hat sich in den vergangenen zehn       I – freies Gehen, insbesondere
kinetischen und 4% an einer atakti-         Jahren eine neue Klassifikation nach             Treppensteigen
schen Cerebralparese [7].                   Rosenbaum [6] durchgesetzt. Hierbei        II – Gehen ohne Hilfsmittel
                                            wird lediglich noch von einer bilate-      III – Gehen mit Unterarmgehstützen
Klassifikation                              ralen, ehemals tetraparetischen, Ce-             oder Handstöcken
Die Anzahl an Patienten mit Cerebral-       rebralparese oder unilateralen Cere-       IV – Gehen eingeschränkt möglich
parese hat sich trotz verbesserter me-      bralparese, vormals Hemiparese, ge-              mit Gehwagen/Rollator
dizinischer Möglichkeiten nicht we-         sprochen.                                  V – keine Gehfähigkeit, Abhängig-
sentlich verändert. Immer noch sind            Um die Schwere der Behinderung                keit von Rollstuhl und Sitzschale
es ca. zwei bis drei Patienten auf 1.000    weiter klassifizieren zu können und
Geburten, die an einer Cerebralparese       somit auch im Rahmen von Verord-           Orthopädie-Technik
                                                                                       bei ICP
                                                                                       Die Notwendigkeit zum Einsatz or-
                                                                                       thopädischer Hilfsmittel korreliert
a.                                           b.                                        eng mit dem Schweregrad der Behin-
                                                                                       derung. Kinder und später auch Er-
                                                                                       wachsene mit einer bilateralen spas-
                                                                                       tischen CP GMFCS I haben nur einen
                                                                                       geringen Bedarf an Orthopädie-Tech-
                                                                                       nik. Patienten mit der Klassifikation
                                                                                       GMFCS V benötigen hingegen in ei-
                                                                                       nem sehr hohen Maß eine orthopä-
                                                                                       dietechnische Versorgung.
                                                                                          Da es sich bei der Cerebralparese
                                                                                       um eine zentrale Bewegungsstörung
                                                                                       mit einer Schädigung des Gehirns
                                                                                       handelt, muss immer ein Team von
                                                                                       verschiedenen Spezialisten eng zu-
                                                                                       sammenarbeiten. So kann eben auch
                                                                                       die Spastizität oder Hypotonie durch
                                                                                       Medikamente beeinflusst werden,
                                                                                       durch intrathecale Baclofenpumpen,
                                                                                       durch neurochirurgische operative
Abb. 2a – b: a) Patient kaum stehfähig ohne OS-Orthese. b) deutliche Stabilisierung    Maßnahmen, durch orthopädische
mit OS-Orthese.                                                                        chirurgische Maßnahmen und nicht

                                                                                                                             11
erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 06/13

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a.                                           b.                                           c.

                                              e.

d.                                                                                         f.

                                             Abb. 3a – f: a) Patient mit US-Orthesen
                                             kaum stehfähig. b) rechts angelegte kor-
                                             rigierende Lagerungsorthese, links liegt
                                             die Funktionsorthese. c) OS-Orthese in
                                             Leichtbauweise mit unilateralem Gelenk.
                                             d) selbstständige Steh-/Gehübungen mit
                                             OS- und US-Orthesen und Silikonorthese
                                             am rechten Unterarm. e) OA-Orthese mit
                                             Federgelenk, angelegt in Flexion zur post-
                                             operativen Nachbehandlung. f) OA-Or-
                                             these, angelegt in maximaler Extension.

zuletzt durch Botulinumtoxin und             sich verschiedene Hauptziele für die         fektes bedeuten und eine Einschrän-
den Einsatz von Orthesen, womit eine         orthopädietechnische     Versorgung          kung der gesunden Anteile darstellen.
reversible lokale und effiziente Thera-      von Patienten mit Cerebralparese:            Gleichzeitig unterstützt eine Orthese
pie möglich ist [5, 9]. Häufig ist es auch                                                die Funktionalität, mindert die Behin-
erforderlich, nach operativen Maß-           1. Die Funktionsverbesserung und             derung, vergrößert die Selbstständig-
nahmen entsprechende Orthesen zur               Mobilitätserhöhung stehen im Vor-         keit und ist damit ein echter Motivator.
Konsolidierung des Erfolges oder zur            dergrund.                                    Die Orthopädie-Technik stellt für
weiteren Funktionsverbesserung zu            2. Die Schmerzen sollen durch den            den Therapeuten eine Therapieun-
erstellen.                                      Einsatz von orthopädietechnischen         terstützung dar. Für den Orthopä-
   Nicht ganz einfach ist es, den bes-          Maßnahmen verhindert werden.              die-Techniker dient die Orthopädie-
ten Weg und das beste Produkt für den        3. Das Handling (ADL) soll im Alltag         Technik als Ausgleich eines Ungleich-
Patienten zu finden. Ganz zu schwei-            verbessert werden.                        gewichtes im Sinne einer Prävention
gen vom Sozialgesetzbuch V, in dem                                                        oder zum Beispiel auch im Sinne ei-
nicht die beste Variante, sondern die                                                     ner Wahrnehmungsfazilitation, bei-
                                             Pro und Contra einer
wirtschaftlichste und notwendige Va-                                                      spielsweise propriozeptive Einlagen
riante der Orthopädie-Technik gefor-
                                             Versorgung                                   oder ein Korsett.
dert wird.                                   Eine orthopädietechnische Versor-
                                             gung weist zugleich Vor- und Nach-           Sinnvolle Unterstützung
Ziele der Versorgung                         teile auf. Für einen Behinderten kann        Im Team ist der individuelle Bedarf
Aus dem unterschiedlichen Grad der           eine Orthese ein Stigma sein, eine Ex-       an orthopädietechnischer Unterstüt-
Behinderung der Patienten ergeben            ternalisierung des vorhandenen De-           zung zu klären. Hierbei ist es wich-

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Neurologie

tig, sich nicht nur auf das Gehen zu      kelorthesen mit Federgelenken oder              Drittens gilt es, die Stabilisierung
fokussieren. Der ganze Patient muss       hydraulischen Gelenken, um die               und die Patientenfreundlichkeit zu
betrachtet werden, da die Wirbelsäule     Kniestreckung und Körperaufrich-             beachten. Der zunehmende Gebrauch
ebenso wie die oberen Extremitäten,       tung zu erhalten (Abb. 2a u. b).             von Silikon, zum Beispiel bei Handge-
die Hüftgelenke, Kniegelenke und                                                       lenks- und Fingerorthesen, verbessert
Füße von den Folgen der Cerebralpa-       Voraussetzungen                              die Compliance (Abb. 4a – d).
rese betroffen sein können. So sind       Bei den großen Einsatzmöglichkeiten
Orthesen insbesondere notwendig,          der Orthopädie-Technik müssen ei-            Tragende Rolle der
wenn das Behandlungsteam von Ope-         nige Voraussetzungen zur optimalen
rationen absehen will. Dies macht ge-     Versorgung erfüllt sein. Erstens muss
                                                                                       technischen Orthopädie
rade im Zusammenhang mit Physio-          an eine hohe Stabilität gedacht wer-         In den nachfolgenden Bereichen des
therapie und Botulinumtoxin-The-          den, da die Patienten aufgrund der           Alltags von Familien mit behinderten
rapie Sinn, um die Muskulatur besser      Cerebralparese eine geringe Koordi-          Kindern, Jugendlichen oder auch Er-
dehnen zu können, zum Beispiel beim       nationsleistung aufbringen, anders           wachsenen kommt die technische Or-
funktionellen Spitzfuß.                   als zum Beispiel ein querschnittsge-         thopädie im wortwörtlichsten Sinn
   Umgekehrt ist die Orthopädie-          lähmter Patient, der im Bereich des          zum Tragen.
Technik unverzichtbar, um operati-        Oberkörpers und des Kopfes uneinge-
ve Maßnahmen zu begleiten. Bei der        schränkt aktiv sein kann.                    Unterstützung der Therapie
Rezentrierung des Hüftgelenkes nach          Der zweite wichtige Punkt ist             Die Therapie der betroffenen Patien-
einer neuromuskulär bedingten Hüft-       das geringe Gewicht. Die Realisie-           ten kann wesentlich durch den Ein-
luxation etwa ist ein Schaumstoffla-      rung eines geringen Gewichtes stellt         satz der technischen Orthopädie un-
gerungsblock bzw. eine Hüftabdukti-       eine hohe technische Anforderung             terstützt werden. So verbessern Steh-
onsorthese postoperativ erforderlich      an das Material dar, insbesondere,           ständer, Bauchschrägliegebretter und
(Abb. 1a – d). Auch bei den Operatio-     wenn neben der Stabilisierung auch           Rückenschrägliegebretter die Vertika-
nen, die die Funktion verbessern sol-     noch korrigierende Kräfte bedacht            lisierung und Mobilisierung von Pati-
len, sind postoperativ Lagerungsor-       werden sollen. Durch den Einsatz             enten wesentlich.
thesen oder die funktionsunterstüt-       von Carbontechnik oder eingelenki-               Insbesondere der Einsatz moderner
zenden Orthesen zur verbesserten          gen Orthesen kann eine hohe Stabi-           Geräte verbessert den Stoffwechsel,
Kniestreckung oder Fußabrollung           lität bei geringem Gewicht realisiert        vor allem den Knochenstoffwechsel,
sehr wichtig.                             werden. Korrigierende Maßnahmen              etwa durch eine Vibrationstherapie.
   Weiterhin ist auch zum Erhalt der      wurden verbessert durch: den Ein-            Moderne Geräte ermöglichen zudem
Funktion im Jugendalter bei schwe-        satz von Federgelenken, sich selbst          die Vertikalisierung und somit Stre-
rer betroffenen Patienten eine orthe-     nachstellenden Gelenken oder auch            ckung der Gelenke.
tische Versorgung häufig unumgäng-        hydraulisch unterstützten Gelenken
lich, zum Beispiel durch Oberschen-       (Abb. 3a – f).
                                                                                       Erleichterung des Alltags
                                                                                       des Kindes
                                                                                       Die Alltagserleichterung des Kindes
                                                                                       beginnt beispielweise mit der Ferti-
                                                                                       gung einer Handgelenksorthese, um
a.                                        d.                                           die Daumenadduktion zu verhindern
                                                                                       und somit das Zugreifen primär von
                                                                                       Spielzeug, Schreibwerkzeug oder am
                                                                                       Computer zu optimieren (Abb. 4a – d).

                                                                                       Erleichterung des Alltags
b.                                                                                     der Eltern
                                                                                       Einen ganz wichtigen Punkt stellt
                                                                                       die Erleichterung des Alltags der El-
                                                                                       tern dar. In diesem Zusammenhang
                                                                                       sind Stehständersysteme mit hydrau-
                                                                                       lischen Aufstehmöglichkeiten wich-
                                                                                       tig, aber auch Toilettenstühle, Lifter,
                                                                                       verstellbare Betten- oder Gehwagen-
 c.                                                                                    systeme, sodass die Eltern ihre Kinder
                                          Abb. 4a – d: a) klassische UA-/Fingeror-     nicht tragen oder führen müssen.
                                          these als Lagerungsorthese. b) angelegte
                                          UA-Orthese zur Stellungskorrektur.           Korrektur der Lagerung
                                          c) UA-Funktionsorthese in Silikonbau-        In den gleichen Bereich gehört die
                                          weise. d) Die Orthese eignet sich auch für   Korrektur der Lagerung, welche in Zu-
                                          den Einsatz bei schwerer Spastik.            sammenarbeit der Physiotherapeuten

                                                                                                                           13
erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 06/13

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Neurologie

 Abb. 5 Optimierung der       5                     6a.                                    6b.
Sitzhaltung durch indivi-
      duelle Sitzschalen.

             Abb. 6a u. b:
a) fehlende Kopfkontrolle.
    b) individuelle Abstüt-
 zung, die dem Patienten
eine verbesserte Kommu-
      nikation ermöglicht.

und Eltern erfolgen sollte. Hier gibt      und fortentwickelt. Hierdurch konn-        Verbesserung der
es vorgefertigte, aber auch individu-      te in den letzten 10 bis 20 Jahren die     Kommunikation
ell gefertigte Lagerungssysteme, um        Partizipation und Selbstständigkeit
pathologischen Haltungen und Kon-          von Menschen mit Behinderungen             Neue Entwicklungen von Steuerungs-
trakturen entgegenzuwirken.                ganz wesentlich verbessert werden          systemen – für einen E-Rollstuhl oder
                                           (Abb. 6a u. b).                            für den Wohnbereich – tragen we-
Optimierung des Sitzens                                                               sentlich zur verbesserten Kommuni-
Das Sitzen stellt eine ganz wesentliche    Selbstständige Fortbewegung                kation und damit zu erhöhter Lebens-
Voraussetzung zum Lernen dar. Hier-        Auch die Möglichkeit der eigenständi-      qualität bei.
zu gehört auch das Erlernen des Es-        gen Übungsbehandlung, zum Beispiel            Seit ihren Anfängen, als Ambroise
sens und des Sprechens. Beides ist im      durch die Nutzung von Therapierädern,      Paré im 16. Jahrhundert ein Mieder wie
Liegen kaum möglich (Abb. 5).              Liegefahrrädern oder Bewegungstrai-        eine Ritterrüstung oder eine starre Or-
                                           nern mit entsprechender Elektronik,        these zur Klumpfußtherapie erbaute,
                                           ist ein wesentlicher Baustein der ortho-   hat sich die Orthopädie-Technik – wie
Transport von Patienten
                                           pädietechnischen Versorgung. Hierzu        auch die Physiotherapie – stark entwi-
mit GMFCS III – V                          gehören auch diverse Gehwagensys-          ckelt. Weg von der statischen Therapie,
Der Transport eines behinderten            teme, die über kurze und lange Orthe-      arbeiten Orthopädie-Techniker und
Menschen ist ohne Orthopädie-Tech-         sen die ansonsten nicht stehfähigen        Physiotherapeuten heutzutage immer
nik kaum denkbar. Hier wurden im-          Patienten soweit abstützen, dass diese     mehr an der Dynamik und damit an
mer wieder modernste Rollstühle für        auch erstmals Bewegungserfahrungen         der Eigenaktivität von Menschen.
verschiedenste Ansprüche, seien es         sammeln können, was für Eltern und            Diese Entwicklung wird durch
Sport-, Schiebe- oder Elektrorollstüh-     Kind einen enormen Fortschritt dar-        neue Techniken, Materialien, Unter-
le mit Aufstehfunktion, entwickelt         stellt (Abb. 7, ProWalker).                suchungsmethoden und Tests unter-

 7                                                        8

Abb. 7 ProWalker, max. gestützte, aber                Abb. 8 Pedobarographie.
eigenständige Lokomotion bei GMFCS IV/V.

14
                                                                                         erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 06/13

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Neurologie

stützt. Hierbei seien die oben schon           9
genannten Materialien Carbon und
Silikon besonders erwähnt. Große
Fortschritte konnten aber auch durch
die Erfassung von Patientendaten
durch Computer oder die automati-
sierte dynamische Pedobarographie
erzielt werden (Abb. 8). Bei komplexen
Problemen im Sinne der Behandlung
von multiplen Kontrakturen stellt
auch die dreidimensionale Gangana-
lyse [4] einen Meilenstein zur Opti-
mierung der Therapie dar (Abb. 9).

Fazit
Eine bestmögliche Therapie von Pa-
tienten mit infantiler Cerebralparese
gelingt immer dort, wo ein Team von
Orthopädie-Technikern, Physiothe-
rapeuten, Ergotherapeuten, Neuro-            Abb. 9 3D-Ganganalyse.
Pädiatern und operativ tätigen (Kin-
der-)Orthopäden gemeinsam wirkt
– und so ein ideales Therapiekonzept
für jeden einzelnen Patienten indi-          bedeutet gleichzeitig ‚etwas bewegen’          und ärztlicher Leiter des Bobath-
viduell zusammengestellt und zwi-            und dies zum Vorteil aller uns anver-          Kurszentrums Mainz,
schen konservativen und operativen           trauter Patienten“ [11].                       Dehnhaide 120
Maßnahmen eine sinnvolle Verbin-                                                            22081 Hamburg
dung gefunden wird. Ganz im Sinne            Interessenkonflikt:                             Tel.: +49 40 2092 2151
von Bobath: „Das Bobath-Konzept              Der Autor gibt an, dass kein Interes-          Fax: +49 40 2092 2152
fragt nach einer interdisziplinären          senkonflikt besteht.
professionellen Arbeit und erwartet                                                         Bei diesem Beitrag handelt es sich um
ein kontinuierliches Lernen aller am         Der Autor:                                     einen in Orthopädie-Technik 6/13
therapeutischen Konzept beteiligten          Dr. Sebastian Senst,                           erschienenen Artikel, der vom Au-
Parteien. ‚Handeln’ bedeutet gleich-         Chefarzt der Abteilung für Kinderortho-        tor leicht angepasst und aktualisiert
zeitig ‚behandeln’ und ‚sich bewegen’        pädie Schön-Klinik Hamburg Eilbek              wurde.

     Literatur:
     [1] Bax M, Goldstein M, Rosenbaum P. Proposed definition and classification of cerebral palsy. Dev Med
     Child Neurol, 2005; No 47: 571-576
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     [3] Döderlein L. Infantile Zerebralparese, Diagnostik, konservative und operative Therapie. Steinkopf Verlag, Germany, 2015
     [4] Gages JR, Schwartz MH, Koop SE, Novacheck TF. The Identification and Treatment of Gait Problems in
     Cerebral Palsy, 2nd edition, Clinics in Developmental Medicine. London: Mac Keith Press, 2009, No 181-181
     [5] Heinen F, Desloovere K, Schroeder S. et al. The updated European Consensus 2009 on the use of Botulinumtoxin with
     cerebral palsy, Eur J Paediatr Neurol, 2010; No 10: 215-225
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     palsy. Dev. Med. Child Neurol, 2008; No 50: 249-253
     [7] Krägeloh-Mann I. SCPE (Surveillance of Cerebral Palsy in Europe), University Children’s Hospital,
     Department of Pediatric Neurology, Tübingen: New German Edition 9, 2008
     [8] Senst S. Neurogene Fußdeformitäten. Orthopäde, 2010; Bd. 39: 31-38
     [9] Senst S. Ossäre und weichteilige Operationen zur Behandlung von Gelenkfehlstellungen bei der infantilen Cerebralparese.
     Orthopäde, 2013; Bd. 11
     [10] Senst S. Unilaterale spastische Cerebralparese (Hemiparese). Orthopäde, 2014; Bd. 7
     [11] Viebrock H, Forst B. Das Bobathkonzept. Stuttgart: Thieme, Germany, 2007

                                                                                                                                   15
erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 06/13

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Neuroorthopädie                          P. Fröhlingsdorf, B. C. Vehse, D. Herz, S. Steinebach

                                         Hilfsmittelmatrix Cerebralparese –
                                         eine Orientierungshilfe für die
                                         Behandlung von Kindern mit CP
                                         Matrix of Medical Devices for Cerebral Palsy –
                                         a Guideline for the Treatment of Children with CP

Die Qualität der Konzeption von          the association “Netzwerk Cerebral-           terschiedlich und werden heute stan-
Hilfsmittelversorgungen bei Kin-         parese e. V. – Verein zur Förderung           dardmäßig nach dem „Gross Mo-
dern und Jugendlichen mit Cere-          vernetzter CP-Versorgung” (Cerebral           tor Function Classification System“
bralparese ist in Deutschland von        Palsy Network – association for the           (GMFCS) klassifiziert [3]. Die Klassifi-
Region zu Region sehr unterschied-       coordinated treatment of CP) that             zierung nach GMFCS sollte, wie von
lich. Die Autoren beschreiben eine       was established in 2013. The content          der Surveillance of Cerebral Palsy in
Methode, mit der die Koordination        was developed by 36 experts (O&P              Europe (SCPE) vorgesehen, nach Al-
rund um die Hilfsmittelversorgung        professionals, orthopaedic shoemak-           tersgruppen getrennt durchgeführt
standardisiert und verbessert wer-       ers, neuro-orthopaedic specialists,           werden. Eine deutsche Übersetzung
den kann. Basis der neuen Metho-         physiotherapists and occupational             des GMFCS ist online abrufbar [4].
de ist eine Hilfsmittelmatrix, in der    therapists).                                  Im klinischen Alltag wird aber häu-
für die verschiedenen GMFCS-Level                                                      fig eine unzureichende vereinfachte
und Altersgruppen die relevanten         Key words: cerebral palsy, GMFCS,             Einteilung genutzt [5] (Tab. 1).
Hilfsmittel aufgelistet sind, die in     medical devices, network, team                   An der Versorgung dieser Patien-
der Versorgungsplanung berück-                                                         tengruppe sind schon heute zahlrei-
sichtigt werden müssen. Die Mat-                                                       che kompetente Fachleute beteiligt,
rix ist das Ergebnis einer multidiszi-
                                         Einleitung                                    die zunehmend fachlich differenziert
plinären Arbeitsgruppe des im Jahr       Cerebralparesen gehören mit einer             und spezialisiert gute Arbeit leisten.
2013 gegründeten Vereins „Netz-          Prävalenz von zwei bis 2,8/1.000              Dennoch gibt es eine Vielzahl un-
werk Cerebralparese e. V. – Verein       Lebendgeborenen zu den häufigs-               zureichender Behandlungskonzepte
zur Förderung vernetzter CP-Ver-         ten Ursachen motorischer Behinde-             mit dem Resultat, dass die Patienten
sorgung“. Die Inhalte wurden von         rungen [1]. Im Jahr 2013 gab es in            schlecht oder nicht ausreichend mit
36 Experten (Orthopädie-Techniker,       Deutschland 682.069 Lebendgebo-               medizinisch notwendigen Hilfsmit-
Orthopädie-Schuhmacher,         Ärzte    rene [2] und somit eine Anzahl von            teln versorgt sind. Der Verein Netz-
mit Schwerpunkt Neuroorthopädie          Neuerkrankungen zwischen 1.364                werk Cerebralparese e. V. hat zur Ver-
sowie Physio- und Ergotherapeuten)       und 1.912. Je nach Schweregrad sind           besserung der Versorgungsqualität
erarbeitet.                              die funktionellen Auswirkungen un-            ein modulares Konzept erarbeitet und

Schlüsselwörter: Cerebralparese,
GMFCS, Hilfsmittel, Netzwerk, Team
                                            GMFCS-Level                          Funktionelle Auswirkung
The design quality of medical de-
vices for children and adolescents                              frei gehfähig, leichte Beeinträchtigung bezüglich Ganggeschwin-
                                            Level 1
                                                                digkeit, Balance und Koordination
with cerebral palsy varies widely in
Germany from region to region. The                              frei gehfähig, Schwierigkeiten auf unebenem Boden, Festhalten
authors describe a method in which          Level 2
                                                                bei Treppauf-/Treppabsteigen
the coordination of treatment with
orthopaedic devices can be stand-           Level 3             Gehen mit Unterstützung, für längere Strecken Aktivrollstuhl
ardised and improved. The basis of
the new method is a matrix in which
the relevant medical devices that           Level 4             nicht gehfähig, Gewichtsübernahme bei Transfers
need to be taken into consideration
when planning treatment are listed                              nicht gehfähig, keine funktionell einsetzbare Gewichtsübernahme,
                                            Level 5
for the various GMFCS levels and age                            keine Willkürkontrolle, vollständige Pflegebedürftigkeit
groups. The matrix is the result of a
multidisciplinary working group of       Tab. 1 Funktionelle Auswirkungen aus dem Gross Motor Function Classification System.

16
                                                                                      erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 07/16, S. 56

                                         0016_6062200 - 09/29/2020 08:59:39
Neuroorthopädie

unterteilt darin den hochkomplexen           nach DIN EN ISO 9000 ff. [8] in Ein-           dass alle Maßnahmen in einem mul-
Gesamtbehandlungsprozess der Cere-           zelprozesse gegliedert, um sowohl die          tiprofessionellen Team stattfinden.
bralparese in sechs verschiedene Seg-        Prozessbeteiligten, die Aufgaben, die          Dazu gehören immer zwingend alle
mente [6]. Die sechs Module „Diagno-         Entscheidungen als auch die Doku-              an der Therapie beteiligten Entschei-
se/Klassifikation“, „Botulinumtoxin/         mentation definieren zu können.                der: Arzt, Therapeut, Orthopädie-
Pharmakotherapie“, „Ergotherapie“,              Je nach individueller Notwendig-            Techniker, Reha-Berater, Eltern, Be-
„Physiotherapie“, „Neuroorthopädie“          keit sollen die Module zukünftig als           treuer und natürlich der Patient bzw.
und „Hilfsmittel“ wurden in einem            in sich abgeschlossene Leistungen be-          die Patientin. Das Setting im Rah-
offenen Konsentierungsverfahren er-          darfsgerecht von den Patienten in An-          men einer sozialpädiatrischen oder
arbeitet. Hierfür wurden Experten der        spruch genommen werden. Grund-                 kinderorthopädischen Sprechstun-
jeweiligen Fachrichtung in offenen           lage aller Behandlungen ist zunächst           de verlangt eine Vielzahl von Thera-
Ausschreibungen eingeladen. Die Lei-         die möglichst frühe und sichere Dia-           pieentscheidungen, weshalb sich die
tung der Module wird dabei von The-          gnosestellung. Weiterhin ist die Fest-         Verwendung von Checklisten in der
menexperten übernommen, die in re-           legung der Therapieziele sowie der             Praxis als sehr hilfreich erwiesen hat.
gelmäßigen Sitzungen die Inhalte in-         Strategie zu deren Erreichung nach             Die Modulgruppe „Hilfsmittel“ des
nerhalb des Expertengremiums nach            ICF bzw. ICF-CY [9, 10] innerhalb des          Netzwerks Cerebralparese e. V. hat zu
einer modifizierten Delphi-Methode           Versorgerteams von entscheidender              diesem Zweck eine Hilfsmittelmatrix
[6] und schriftlich konsentieren. Die        Bedeutung.                                     erarbeitet, die als Referenz für die Set-
Modulgruppe „Hilfsmittel“ setzt sich                                                        tings gelten soll, bei denen in multi-
aus insgesamt 36 Experten zusammen           Multiprofessionelle                            professionellen Teams über Hilfsmit-
(Orthopädie-Techniker, Orthopädie-                                                          telversorgungen entschieden wird.
Schuhtechniker, Ärzte mit Schwer-
                                             Teams                                          Die Hilfsmittelversorgung sollte nach
punkt Neuroorthopädie sowie Phy-             Bei der Planung und Bewertung der              Möglichkeit auch im Versorgungspro-
sio- und Ergotherapeuten) und hat            Hilfsmittelversorgung von Kindern              zess weiter vom multiprofessionellen
sich bis Anfang 2016 bereits zwölfmal        und Jugendlichen mit Cerebralpare-             Team begleitet sein. Eine Hilfsmittel-
getroffen. Die sechs Module wurden           se ist es von besonderer Bedeutung,            abnahme ist obligat.

                           Sitzen und Positionierung
                                 - die Experten
                                                                                                    Stabilität
  Dynamisches Sitzen                                                                                und Passgenauigkeit

                          DYNAMIC

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Neuroorthopädie

Die Hilfsmittelmatrix                     therapeutischen Nutzens zwischen          im DIN-A4-Querformat ausgedruckt
                                          aktiver und passiver Funktionalität       werden und ist somit in jedem Set-
Die Hilfsmittelmatrix zeigt – abhän-      klar zu benennen. Die Hilfsmittel aus     ting immer schnell greifbar. In den
gig vom Schweregrad der motori-           dem Bereich Reha-Technik sind in          waagerechten Zeilen sind jeweils die
schen Beeinträchtigung bzw. vom           insgesamt 19 Gruppen zusammen-            Hilfsmittel aufgeführt, in den senk-
GMFCS-Level und vom Alter der Pa-         gefasst, welche die Bereiche „Liegen“,    rechten Spalten die GMFCS-Level 1
tienten – die möglichen Hilfsmittel-      „Sitzen“, „Stehen“, „Gehen“, „Pflege“     bis 5, jeweils unterteilt in die fünf Al-
gruppen auf, die im jeweiligen Be-        und „Therapie“ abdecken.                  tersgruppen. Mit zunehmender Ein-
reich ein sinnvoller Bestandteil der                                                schränkung der Mobilität und Funk-
Therapie sind. Es wird ausdrücklich       1.    Rehabuggy                           tionalität als Erscheinungsbild der
darauf hingewiesen, dass es sich da-            (einfache, leichte Version)         Cerebralparese steigt der Bedarf an
bei um Empfehlungen im Sinne von          2.    Rehakarre, vielfach verstellbar     Orthesen und Reha-Hilfsmitteln. In
Leitlinien handelt, nicht um eine         3.    Gehhilfe                            der Gesamtübersicht (Abb. 1) lässt
Standardisierung oder gar um Aus-         4.    Therapiefahrrad                     sich dies anhand der grafischen Dar-
schlusskriterien bzw. eine Negativ-       5.    Schiebehilfe                        stellung (rot bzw. grün markiert) ein-
liste. Wenn zum Beispiel für einen        6.    Zurüstung am vorhandenen            fach ablesen. Links beginnt die Ma-
14-jährigen Patienten mit GMFCS-                Hochstuhl                           trix mit GMFCS-Stufe 1 und entwi-
Level 1 sowohl eine Einlage als auch      7.    Aktiv-Rollstuhl                     ckelt sich nach rechts hin bis zur Stufe
eine Fußorthese oder eine Armorthe-       8.    Bad-/Toilettenhilfe                 5. Somit steigt von links nach rechts
se als mögliche Optionen aufgelis-        9.    Schrittführungsrolle                die Notwendigkeit von Hilfsmitteln
tet sind, bedeutet dies, dass darüber     10.   Liegendlagerung                     und somit die Anzahl grüner Felder.
nachgedacht werden sollte, ob diese       11.   Therapiestuhl                       Zusätzlich zur farbigen Markierung
Hilfsmittel zum Erlangen der abge-        12.   Sitzschale                          ist im jeweiligen Feld entweder „ja“
stimmten Versorgungsziele hilfreich       13.   Untergestell für Sitzschale         oder „nein“ angegeben, um Fehlin-
sind oder nicht. Die Festlegung der       14.   Autositz                            terpretationen zu vermeiden.
Art und Weise eines Hilfsmittels soll     15.   Badeliege
immer im Einzelfall beurteilt und         16.   Stehständer
entschieden werden. Als Grundla-          17.   Pflegebett
                                                                                    Fazit
ge der festgelegten Versorgungszie-       18.   E-Rollstuhl                         Patienten mit infantiler Cerebralpa-
le dienen die Veränderung bzw. Ver-       19.   Lifter                              rese benötigen orthopädische und
besserung der Parameter „Struktur“,                                                 Reha-Hilfsmittel zur Gewährleistung
„Funktion“, „Aktivität“ und „Teilha-      Für jede GMFCS-Stufe gibt es eine ta-     der sozialen Teilhabe, des Ausgleichs
be“ unter Berücksichtigung der Um-        bellarische Darstellung (Beispiele für    von Funktionsstörungen, der persön-
gebungsfaktoren und die persönli-         die Stufen 1 und 3 siehe Tab. 2 u. 3),    lichen Autonomie und Mobilität, der
chen Kontextfaktoren [9]. Im An-          in der untereinander die fünf Alters-     Schmerzfreiheit und der Prävention
schluss an die Versorgung müssen          gruppen mit den optionalen Hilfs-         von Schäden des Bewegungsappa-
diese Ziele überprüft werden.             mitteln blockweise notiert sind. Die      rates [11]. Zur Erreichung dieser Zie-
    Die einzelnen Positionen der Hilfs-   Altersgruppen wurden wie folgt fest-      le sollte der Patient durch ein spezi-
mittel sind bewusst allgemein formu-      gelegt:                                   alisiertes Behandlungsteam betreut
liert, weil Komplexität und Vielfalt                                                werden, sinnvollerweise unter Zuhil-
der möglichen Ausführungen und            – vor dem 2. Geburtstag (0–2)             fenahme der vorgestellten Hilfsmit-
Details zu umfangreich wären, um in       – vom 2. Lebensjahr bis zum               telmatrix.
einer Übersicht abgebildet werden zu        4. Geburtstag (2–4)
können. Für den Bereich der Orthopä-      – vom 4. Lebensjahr bis zum
                                                                                    Danksagung
die- und Orthopädie-Schuhtechnik            6. Geburtstag (4–6)
hat die Modulgruppe acht Kategorien       – vom 6. Lebensjahr bis zum               Die Autoren danken allen 36 Exper-
benannt:                                    12. Geburtstag (6–12)                   ten des Hilfsmittelmodules des Netz-
                                          – vom 12. Lebensjahr bis zum              werkes Cerebralparese e. V. für die en-
1. Einlagen                                 18. Geburtstag (12–18)                  gagierte Zusammenarbeit.
2. Fußorthesen
3. Knöchelorthesen                                                                  FŸr die Autoren:
4. Orthopädische Maßschuhe                Ergebnisse                                Peter Fröhlingsdorf, OTM
5. AFO-Unterschenkelorthesen                                                        Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung:
6. KAFO-Oberschenkelorthesen              Der Erfolg der vorgestellten Matrix       Vertriebsleitung Kinder und Jugend
7. Lagerungsorthesen Bein                 hängt unter anderem davon ab, dass        Mitglied der Geschäftsleitung
8. Armorthesen (Lagerung und              sie in einer Sprechstunde auch tat-       Rahm Zentrum für Gesundheit GmbH
   Funktion)                              sächlich genutzt wird. Dafür muss         peter.froehlingsdorf@web.de
                                          sie möglichst einfach und auch kom-
Die Unterteilung der Beinorthesen in      pakt sein. Zu diesem Zweck wurde
„KAFO“ („knee-ankle-foot orthosis“)       aus den fünf einzelnen Tabellen (Bei-
und „Lagerungsorthese Bein“ wurde         spiele Tab. 2 u. 3) eine Gesamtüber-
getroffen, um den Unterschied des         sicht (Abb. 1) erarbeitet. Diese kann     Begutachteter Beitrag/reviewed paper

18
                                                                                   erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 07/16, S. 58

                                          0018_6062200 - 09/29/2020 07:59:55
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