POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
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POLITISCHE STUDIEN 498 Magazin für Politik und Gesellschaft 72. Jahrgang | Juli-August 2021 | ISSN 0032-3462 /// IM FOKUS 1.700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND /// Im Zeitgespräch: H.-P. Meidinger zeigt auf, was das Bildungssystem jetzt braucht – S. 6 /// Harald Bergsdorf: 60 Jahre Mauerbau – S. 44 /// Philipp Austermann / Sarah Schmid: Zur Debatte um ein Paritätsgesetz – S. 52 /// Udo Baron: Linke Identitätspolitik und offene Gesellschaft – S. 60 www.hss.de
„ Durch Wissen, Dialog und Neugierde lassen sich Vorurteile VERÄNDERN. EDITORIAL ZUSTÄNDE, DIE AUFRÜTTELN MÜSSEN Vor allem jüngere Menschen jüdischen Glaubens überlegen sich, ob sie weiter- hin hier in Deutschland leben wollen. Dies sagte kürzlich Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG), in einem Interview mit dem „Münchner Merkur“. Junge Juden beunru- higen antisemitische Vorfälle, die sich in den vergangenen Jahren vermehrt ge- häuft haben. Zum einen sind es Anschläge auf Synagogen, zum anderen wer- den Juden auf offener Straße tätlich angegriffen. Deshalb trauen sich nur noch wenige mit Kippa oder Davidstern-Kettenanhängern, die optisch einen Rück- schluss auf ihre jüdische Herkunft geben könnten, auf die Straße zu gehen. Weil die Situation gefährlicher geworden ist, rufen einige jüdische Dachverbän- de zur Vorsicht mit erkennbaren jüdischen Symbolen auf. Diese Tatsachen ma- chen nicht nur betroffen, sondern sie müssen auf- und wachrütteln. Dass dies im Jahre 2021 in unserem Lande so sein könnte, ist eigentlich unvorstellbar. Doch wie lassen sich Vorurteile ändern? Durch Wissen, Dialog und Neu- gierde, denn nur so bekommt man Verständnis für den Anderen. Und Mut. Um Dinge zu ändern. Spielleiter Christian Stückl beispielsweise ist es gelun- gen, die Oberammergauer Passion über die Jahre zunehmend von antisemiti- schen Darstellungen und Texten zu befreien – trotz heftiger Gegenwehr und massiver Anfeindungen. Für seinen Mut und seine Durchsetzungsstärke wur- de Stückl mehrfach ausgezeichnet. In diesem Jahr feiern wir „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, jüdisches Leben, das mit unserem christlich abendländischen Leben verwo- ben und untrennbar ist. Das wird auch in unserer Porträtserie „Gesichter unseres Landes“ auf hss.de/gesichter-unseres-landes/ deutlich, in der wir unbekannte und bekannte Jüdinnen und Juden vorstellen. Die Lektü- re der Biographien als auch dieser Ausgabe der Politischen Studien lege ich Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, sehr ans Herz. Ihre Susanne Hornberger Leiterin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung, München. 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 3
44 INHALT 16 IM FOKUS POLITISCHE-STUDIEN- AKTUELLES BUCH ZEITGESPRACH 16 1.700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN 68 WAS MACHT UNS AUS? IN DEUTSCHLAND 06 MACHT EURE HAUS- Die Bedeutung der Nation für Einführung AUFGABEN … das kulturelle und gesellschaftliche PHILIPP W. HILDMANN Was das Bildungssystem Zusammenleben jetzt braucht THOMAS M. KLOTZ 20 ERINNERUNG IN EINER HEINZ-PETER MEIDINGER GESELLSCHAFT DER VIELEN Gegen das Vergessen RUBRIKEN MIRJAM ZADOFF ANALYSEN 03 EDITORIAL 28 28 EU-STRATEGIEN GEGEN ANTISEMITISMUS 44 60 JAHRE MAUERBAU Aufklärung über die SED-Diktatur 71 77 REZENSIONEN MEINUNG Was tun wir gegen Judenfeindlichkeit? HARALD BERGSDORF 78 ANKÜNDIGUNGEN KATHARINA VON SCHNURBEIN 82 IMPRESSUM 52 ZUR DEBATTE UM 36 SCHATTEN AUF DEM JUBILÄUM EIN PARITÄTSGESETZ Lasst die Koffer auf dem Dachboden! Chancengleichheit ja, ANDREA LÖW Ergebnisgleichheit nein PHILIPP AUSTERMANN / SARAH SCHMID 60 LINKE IDENTITÄTSPOLITIK UND OFFENE GESELLSCHAFT Cancel Culture als moderner Kulturkampf 60 UDO BARON 4 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 5
Quelle: iStock.com/Bet_Noire /// Was das Bildungssystem jetzt braucht MACHT EURE HAUSAUFGABEN … Quelle Autorenbild: Deutscher-Lehrerverband Die Corona-Pandemie traf die deutsche, ja die weltweite Bildungslandschaft unvorbereitet. Selbständiges Lernen und Unterricht über Online-Plattformen wurden von heute auf morgen Realität. Die zarten Pflänzchen der Digitalisierung an deutschen Schulen mussten in Rekordzeit zu tragenden Säulen werden. Bis /// IM ZEITGESPRÄCH: heute klappt nicht alles reibungslos, wie Heinz-Peter Meidinger, Präsident des HEINZ-PETER MEIDINGER Deutschen Lehrerverbandes, im Interview mit den Politischen Studien erklärt. ist Präsident des Deutschen Gleichzeitig plädiert er dafür, Schüler, Lehrer und Bildungspolitiker durch Lehrerverbandes, Berlin. politisch motivierten Reformaktionismus nicht zu überfordern. Ein Gespräch über Schulen in Zeiten der Corona-Pandemie, den Wert von Bildung und die Rolle von Lehrkräften. 6 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 7
„ POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Politische Studien: Herr Meidinger, es der herauskommt. Dann hat man viel heißt immer wieder, durch die Corona- zu spät die Impfpriorisierung von Krise träten Brennpunkte im Bildungsbe- Lehrkräften und die Testpflicht ver- reich deutlicher und schneller zu Tage als anlasst und jetzt warten wir darauf, Die BISHERIGEN Routinen haben nicht mehr funktioniert. zuvor. Was sind Ihre Rezepte, damit nicht dass Bund und Länder die Organisa- von verlorenen Schuljahren die Rede sein tion und Ausgestaltung eines großen kann? Nachholförderprogramms auf den Weg bringen, um die entstandenen Heinz-Peter Meidinger: Ja, in der Tat Lerndefizite im nächsten Schuljahr hat die Pandemie im Bildungsbereich wieder zu beheben. Aber obwohl wir viele Schwachstellen gnadenlos offen- natürlich sehen, dass auch in diesem gelegt. Das fängt bei der endlos ver- Schuljahr vielfach Präsenz- durch lichkeit, diese unvorhersehbare Na- Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch „Die schleppten Digitalisierung der Schu- Fernunterricht ersetzt werden musste, turgewalt eines Virus, direkt auf die 10 Todsünden der Schulpolitik“ unter len an, geht weiter beim massiven würde ich nicht pauschal von einem Schulen, auf jeden Einzelnen von uns anderem „eine enorme moralische, idea- Lehrermangel, der uns jetzt ange- verlorenen Schuljahr sprechen. Ein durchgeschlagen. Wir alle, auch die listische und visionäre Aufladung von sichts der zusätzlichen Aufgaben dop- großer Teil der Kinder und Jugendli- Kinder und Jugendlichen, haben ge- Bildungsthemen“. Allerorten ist nun zu pelt schwer auf die Füße fällt, und chen wird die Defizite aufholen kön- merkt, dass es zur Bewältigung einer lesen, die Corona-Krise solle der Anlass betrifft schließlich auch das subopti- nen, wenn im nächsten Schuljahr solchen Pandemie keine fertigen dafür sein, die Bildungssysteme grund- male Krisenmanagement in und zwi- eine entsprechende Zusatzförderung Antworten, keine Patentrezepte gibt. sätzlich zu reformieren. Wie lautet Ihre schen den Bundesländern. Vor allem angeboten wird. Es war nicht nur Flexibilität gefragt, Einschätzung dazu? die Kultusministerkonferenz hat es sondern auch ein verstärkter Zusam- anfangs nicht und später auch nur an- menhalt. Alle waren gefordert, nicht Ich kritisiere in der besagten Streit- satzweise geschafft, gemeinsame Ant- Bringt eine solche Krise wie die Corona- nur an sich selbst, sondern auch an schrift ja nicht nur die massive, oft worten auf die großen Herausforde- Pandemie nicht auch ganz neue Aspekte das Wohl der Gemeinschaft, die Ge- auch parteipolitische Aufladung von rungen durch Covid-19 zu finden, wie in einer ganzheitlich verstandenen Bil- sundheit und das Infektionsrisiko Schulpolitik, sondern auch den Re- etwa einen verbindlichen Hygienestu- dung des Menschen mit sich? Selbständi- des Anderen zu denken. formaktionismus, der häufig in den fenplan für Schulen. Da musste erst ges Arbeiten und Flexibilität werden allen Die bisherigen Routinen haben vergangenen Jahrzehnten dort zu be- der Bund das Infektionsschutzgesetz abverlangt, vom Schuldirektor bis zum nicht mehr funktioniert. Lehrkräfte obachten war. Ich glaube, wir brau- ändern, bevor das möglich wurde. Grundschüler. mussten ihren Unterricht radikal chen nicht noch mehr Reformen, die Im Grund genommen ist man der umorganisieren und neue Kommuni- meist nur Unruhe und keine Pro dynamischen Infektionslage immer Normalerweise simuliert Unterricht kationswege erproben, den Schülern blemlösungen bringen, sondern die hinterhergehinkt. Erst hatte man kei- die Probleme und Herausforderun- wiederum wurde bewusst, dass sie Schulpolitik muss endlich ihre Haus- „ nen Plan, wie man aus dem ersten gen der Welt. Durch die Pandemie in dieser Situation mehr Selbstver- aufgaben machen. Dazu zählt vor- Lockdown an unseren Schulen wie- hat jetzt aber die harte Lebenswirk- antwortung für den eigenen Lern- rangig wieder eine klare Orientierung prozess übernehmen müssen. Gera- am Kernauftrag von Schule und das de die Abschlussjahrgänge merkten, ist und bleibt guter Unterricht. Na- dass sie sich nicht mehr darauf ver- türlich gibt es auch Schwachstellen, lassen konnten, quasi an der Hand die zu beseitigen sind, wie die ver- durch die Prüfungen geführt zu wer- schleppte Digitalisierung, die fehlen- den. Gut war es, wenn einen die El- de Vergleichbarkeit der Schulab- Die Pandemie hat im Bildungsbereich viele tern unterstützen konnten. Ja, so ko- schlüsse zwischen den Bundeslän- SCHWACHSTELLEN gnadenlos offengelegt. misch es klingt, die Pandemie hat zu dern und auch das schlechte Krisen- mehr Ernsthaftigkeit, mehr Reali- management in der Kultusminister- tätsbezug im Schulbetrieb und im konferenz. Der Deutsche Lehrerver- gesamten Bildungsprozess geführt. band fordert seit Langem einen Bil- 8 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 9
„ POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH dungsstaatsvertrag, in dem sich die Haltung, die geprägt ist von Offen- Bundesländer auf eine gemeinsame heit, ständiger Fortbildungsbereit- Wettbewerbsgrundlage einigen und schaft, Flexibilität und einer ganz ho- beispielsweise die Abiturprüfungen hen Verantwortungsethik gegenüber BILDUNG macht sich nicht isoliert an Latein- oder besser normieren. den anvertrauten Kindern und Ju- Programmierkenntnissen fest. gendlichen. Allerdings darf man die Einsatzbereitschaft und Leistungsfä- Die Corona-Krise hat gezeigt, dass auch higkeit von Lehrkräften auch nicht Lehrer schnell auf Veränderungen reagie- über die Belastungsgrenzen hinaus ren müssen. Sind die Lehramtsanwärter ausreizen. Diese Grenzen sind in der von heute gut auf den Schulalltag vorbe- Pandemie auch überschritten worden. reitet? zentrales Medium des Bildungspro- keit oder kurz gesagt: kritische Ur- zesses gar nicht überschätzen. „Great teilskraft. Wer gelernt hat, Texte und Die Reform der Lehrerbildung ist eine Was halten Sie von dem Vorschlag, dass teachers“, erfolgreiche Lehrkräfte, Gedichte zu analysieren, der kann Daueraufgabe. Allerdings warne ich Lehrer künftig mehr als „Bildungscoa- das sind in den Augen Hatties Perso- auch später, wenn es nötig ist, das vor dem Glauben, mit immer neuen ches“ fungieren sollen? nen, die Kinder und Jugendliche für Kleingedruckte in Versicherungsver- Modulen in der Lehrerausbildung zu ihre Unterrichtsgegenstände begeis- trägen verstehen und die richtigen Inklusion, Demokratieerziehung, di- Diese Vorstellung vom Lehrer als tern können, eine enge Feedbackkul- Schlüsse daraus ziehen. gitalen Unterrichtsmedien und inter- Lernbegleiter oder als Bildungscoach tur praktizieren und letztendlich kultureller Kompetenz die Lehrerbil- suggeriert, dass Kinder und Jugend- Lernprozesse klar strukturieren und dung qualitativ deutlich verbessern liche sich am besten und schnellsten organisieren. Wenn die Lernenden Es stellt sich offenbar generell die Frage zu können. Ginge man rein nach den Unterrichtsinhalte selbst aneignen. selber über ihr Lernpensum ent- danach, was Bildung heute bedeutet. Ist digitalen Lerninhalten in der Lehrer- Lehrkräfte sollten sich demzufolge scheiden, dann würde nicht nur die man ungebildet, wenn man Ovid nicht auf ausbildung, müsste man 80 % der auf eine moderierende und beraten- Leistungsschere noch weiter aufge- Latein wiedergeben, aber in Java Compu- Lehrer diese Kompetenz absprechen. de Funktion zurückziehen. Dies ist hen und sich die Bildungsungerech- terprogramme erstellen kann? Gerade deswegen gehört zu einer gu- ein grobes Missverständnis der tigkeit verschärfen, sondern wir ten Lehrerausbildung, dass man dort Lehrerrolle und widerspricht übri- würden auch das gemeinsame Bil- Bildung macht sich nicht isoliert an möglichst viel Rüstzeug im fachli- gens auch den zentralen Ergebnissen dungsfundament und damit noch Latein- oder Programmierkenntnis- chen, fachdidaktischen, pädagogi- der empirischen Unterrichtsfor- mehr an Zusammenhalt in unserer sen fest. Über eine gute Bildung zu schen und methodischen Kompetenz- schung, wie sie etwa John Hattie in Gesellschaft verlieren. verfügen, heißt, dass ich eine breite, bereich mitbekommt. Ganz wichtig seinen Metastudien zusammenge- Vor einigen Jahren hat ja eine Abi- intelligent vernetzte Wissensbasis „ ist aber vor allem die Haltung, die fasst hat. Man kann die zentrale Rol- turientin in einem sozialen Netzwerk habe, die es mir ermöglicht, auch un- Lehrkräfte zeigen, nämlich eine le der Lehrkraft als Motivator, als darüber geklagt, dass sie zwar Ge- bekannte Phänomene und Wissens- dichte in mehreren Sprachen analy- gebiete zu erschließen und einzuord- sieren könne, aber keine Ahnung von nen. Es geht um die grundlegende Mietverträgen habe. Da offenbart Fähigkeit, sich in dieser Welt zu ori- sich ein grundlegendes Missver- entieren und einen eigenen Lebens- ständnis von schulischer Allgemein- entwurf zu verfolgen. Das geht nicht bildung. Das Miet- und Versiche- ohne eine Basis an Grundwissen be- Man darf die Einsatzbereitschaft und rungsrecht ändert sich ständig, ganz ziehungsweise einen fachspezifischen Leistungsfähigkeit von Lehrkräften nicht über abgesehen davon, ob man dann das Wissenskanon. In der heutigen Welt die BELASTUNGSGRENZEN hinaus ausreizen. Gelernte später parat hat, wenn man gehört zu dieser für ein Weltver- es braucht. Was man aber in der ständnis notwendigen Grund- und Schule gelernt haben sollte, ist Lese-, Allgemeinbildung mit Sicherheit Analyse- und Interpretationsfähig- auch der Einblick in ökonomische 10 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 11
„ POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Gesetzmäßigkeiten, aber auch eine könnte, wenn man sich das exponen- Vorstellung davon, wie etwa Algo- zielle Wachstum der 1,0-Abiture in rithmen funktionieren. Und selbst- einigen Bundesländern anschaut. verständlich ist auch musische Bil- Allein in Berlin ist die Anzahl inner- Sozialer Aufstieg gelingt am besten durch LEISTUNG. dung wichtig für uns als Menschen, halb eines Zehnjahreszeitraums um um unsere Ausdrucks-, Teilhabe- das Vierzehnfache gestiegen. und Gestaltungsmöglichkeiten in Wir beobachten eindeutig eine dieser Welt wahrnehmen zu können. Noteninflation. Davon spricht man, wenn man für die gleiche Leistung in einem späteren Zeitraum bessere Es gibt immer mehr junge Leute mit allge- Noten erhält. Also wenn tatsächlich teilung von bisher als hochwertig an- sucht hat beziehungsweise welche Zu- meiner Hochschulreife, immer mehr Stu- die echten Bestleistungen so stark gesehenen Bildungszertifikaten zu satzqualifikationen, etwa Auslands- dierende. Sind Menschen heute einfach gestiegen wären, wie die immer bes- mehr Bildungsgerechtigkeit führen praktika, man absolviert hat. Wer, wie klüger als früher oder wurde das Niveau seren Noten suggerieren, dann müss- wird. Insbesondere dann, wenn da- ich, ein absoluter Befürworter von so- der Abschlüsse abgesenkt? ten wir bei PISA bei den Schüler bei eine Entkoppelung von Leistung zialem Aufstieg durch Bildung ist, leistungen in den höchsten Kompe- und Bewertung erfolgt, ist genau das kann an einer Zertifikats- und Noten- Immer weiter steigende Abiturienten- tenzstufen eine ähnliche Steigerung Gegenteil der Fall. Der einflussreiche inflation kein Interesse haben. Sozia- quoten sind nicht unbedingt gleich- haben. Da sind aber in den letzten französische Soziologe und Sozial- ler Aufstieg gelingt am besten durch bedeutend mit einem immer höheren 20 Jahren die Quoten stagniert be- philosoph Pierre Bourdieu hat dies Leistung. Natürlich müssen wir mehr Bildungsniveau. In Deutschland ist ziehungsweise sind sie in einigen übrigens genau beschrieben, wie eine für bessere Chancengerechtigkeit un- die Quote der Hochschulzugangs Teilbereichen sogar zurückgegangen. Inflation von Bildungszertifikaten zu ternehmen und die Startchancen be- berechtigten innerhalb von 20 Jahren ihrer Entwertung führt und keinen nachteiligter Kinder verbessern. Da von etwas über 30 auf 50 % gestiegen. Beitrag zu einer gerechteren Gesell- gibt es immer noch großen Hand- Es gibt sehr viele Anzeichen dafür, Vor allem im linken politischen Spektrum schaft liefern kann. Wenn jeder Abi- lungsbedarf. Ich bin der Auffassung, dass Studienberechtigung und Studi- ist man der Ansicht, dass ein „Abitur für tur hat, hat niemand Abitur. Das be- dass wir bei der Frühförderung von enbefähigung angesichts dieser enor- alle“, euphemistisch als „Demokratisie- deutet, dass sich dann außerhalb des Kindern viel zu wenig tun. Da muss men Expansion stärker denn je aus rung der Bildung“ tituliert, mehr Bildungs- Bereichs der Bildungszertifikate Me- man ansetzen, nicht bei der leis- einanderfallen, etwa wenn man die gerechtigkeit in der Gesellschaft mit sich chanismen etablieren werden, die bei tungsunabhängigen Verschleuderung gleichzeitig gestiegenen Studien brächte. Sind alle Probleme im Bildungsbe- der Vergabe von begehrten Studien- von Bildungszertifikaten. abbruchs- und Studienwechslerquo- reich gelöst, wenn jeder Abitur machen plätzen oder auch beruflichen Positi- ten berücksichtigt. Mit einem „muta- kann? onen eine entscheidende Rolle spie- tionsbedingten Intelligenzsprung“ len. Das Abitur ist dann nur mehr Gerade auch die aktuelle Pandemie hat hat die starke Zunahme von Studien- Das ist der große, leider weitverbrei- eine notwendige, aber keine hinrei- gezeigt, dass Handwerk tatsächlich den „ berechtigten wohl nichts zu tun, auch tete Irrtum sozialistischer Bildungs- chende Bedingung für den weiteren sprichwörtlichen goldenen Boden hat. wenn man auf diese Idee kommen ideologie, dass eine inflationäre Ver- Lebens- und Berufsweg. Warum fokussieren sich Politik – über Es ist kein Zufall, dass in Ländern, Parteigrenzen hinweg – und Gesellschaft die bei der Zielvorstellung „Abi für dennoch derart auf eine gesamtgesell- alle“ schon weiter fortgeschritten sind, schaftliche Akademisierung? teurere Privatschulen oder harte Hochschulzugangsprüfungen eine Das ist eine gute Frage, warum die Po- weit größere Rolle spielen als bei uns. litik so stark auf die Ausweitung der Wir beobachten eindeutig eine NOTENINFLATION. Bei Bewerbungen schaut da kaum Abiturientenquoten gesetzt hat. Bei mehr jemand auf das schulische Ab- linken Parteien beruhte das wohl auf schlusszeugnis, sondern eher darauf, dem Missverständnis, dass das zu welche renommierte Schule man be- mehr Bildungsgerechtigkeit führen 12 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 13
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH würde. Bei den Unionsparteien und heit die gute Passung mit dem Be- neuen Bundesländern seit 1990, aber • Die Erfahrung, wie unvorbereitet der FDP hat seinerzeit wohl der schäftigungssystem. Die ganze Welt größere Verschiebungen sind ausge- insbesondere die Bildungspolitik Alarmruf der OECD in Folge des hat uns beneidet um unsere geringe blieben. Man darf das Privatschul und auch die Schulverwaltung von PISA-Schocks durchgeschlagen, ohne Jugendarbeitslosigkeit. Diesen Vorteil wesen bei uns auch nicht mit den oft dieser Herausforderung getroffen höhere Akademikerquoten würde drohen wir gerade zu verspielen. Un- doch sehr exklusiven und auch kos- wurde und wie schwer sich bis Deutschland im internationalen ser künftiges Hauptproblem wird tenintensiven Privatschulen in ande- heute die Politik damit tut, ein an- Wettbewerb der Volkswirtschaften nicht der Akademikermangel sein, ren Ländern wie etwa den USA oder gemessenes Krisenmanagement zu abgehängt werden. Da gerieten dann sondern der Facharbeitermangel und Großbritannien vergleichen. Privat- praktizieren. auch innerhalb Deutschlands die der Mangel an Bewerbern für Ausbil- schulen in Deutschland sind sehr he- • Die Erkenntnis, welch große Flexi- Bundesländer unter Druck, die wie dungsstellen. Gleichzeitig müssen terogen, da gibt es kirchliche, kom- bilität, starke Innovationskraft Bayern noch eine ausgeglichene Ver- auch bei uns viele Hochschulabsol- merzielle, reformpädagogische und und wieviel Engagement in einer teilung der Schüler auf die verschiede- venten auf Beschäftigungsbereiche elitäre Einrichtungen. Diese Hetero- Schule und einem Lehrerkollegium nen Schularten und Abschlüsse hat- ausweichen, für die sie gar kein Studi- genität zeigt sich übrigens auch bei stecken worauf man in einer Krise ten. Inzwischen sehen wir aber die um gebraucht hätten. Ein Drittel der den Schülerleistungen, die je nach zurückgreifen kann. großen Schwächen der Humankapi- von der Uni kommenden Jungarchi- Privatschule deutlich unter, aber • Niemals ist aber auch klarer ge- taltheorie, auf der ja diese Forderun- tekten nimmt derzeit Stellen an, für auch deutlich über dem Landes- worden, was Kindern, Eltern und gen nach immer mehr Hochschulab- die auch eine Ausbildung als Bau- schnitt liegen können. Insgesamt Lehrkräften fehlt, wenn Schule als solventen beruhen. Wenn es nach der zeichner gereicht hätte. sehe ich Privatschulen als ein zusätz- Präsenzveranstaltung nicht mög- Höhe der Abiturquoten ginge, müss- liches Angebot und damit eine Berei- lich ist, und das ist viel mehr als die ten Länder wie Spanien und Italien cherung der Schullandschaft. Man Klage über zusätzliche Lerndefizite. wirtschaftlich weit vor Deutschland Der privatwirtschaftliche Bildungsbe- muss die Entwicklung aber im Auge Noch nie habe ich als Schulleiter in stehen, tun sie aber nicht. Und auch reich in Deutschland wächst stetig. Rund behalten. Eine größere Vertrau- so viele glückliche Gesichter ge- in den USA hat die Akademisierung 9 % aller Schüler in Deutschland besu- enskrise könnte dann entstehen, blickt, als damals, nach dem ersten längst einen kritischen Wert über- chen eine der knapp 6.000 Privatschulen, wenn sich die chronische Unterfinan- Lockdown, Kinder und Lehrkräfte schritten. Von den 70 % eines Jahr- das sind etwa doppelt so viele wie vor gut zierung der staatlichen Schulen in wieder in die Klassenzimmer zu- gangs, die ein Studium am College 20 Jahren. Gibt es eine Vertrauenskrise Zukunft noch weiter verschärfen rückgekehrt sind. beginnen, hat im Alter von 25 Jahren gegenüber den öffentlichen Schulen? würde. nur etwa die Hälfte tatsächlich einen Abschluss erreicht. Und von diesen Insgesamt sehe ich keine Abstim- Die Fragen stellte Thomas M. Klotz, Absolventen sind wiederum fast 50 % mung mit den Füßen weg vom öffent- Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen Leiter des Referats „Bildung, Hochschu- arbeitslos oder arbeiten in Jobs, für lichen Schulwesen hin zu Privatschu- und Lehren, die Sie aus dieser Pandemie len, Kultur“ der Akademie für Politik und die sie formal überqualifiziert sind. len in Deutschland. Es gab zwar ei- mitnehmen? Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, „ Die große Stärke des deutschen Bil- nen gewissen Nachholbedarf bei der München. /// dungssystems war in der Vergangen- Gründung von Privatschulen in den Ich habe den ersten Lockdown im März 2020 noch als amtierender Schulleiter an einem niederbayeri- schen Gymnasium hautnah miter- lebt und bin dort zusammen mit der gesamten Schulfamilie mit den enor- men Herausforderungen dieser Pan- Ich sehe Privatschulen als ein ZUSÄTZLICHES Angebot demie konfrontiert worden. Es sind und damit eine Bereicherung der Schullandschaft. mehrere Erfahrungen, die ich per- sönlich aus dieser Pandemie im Hinblick auf den Schulbereich mit- nehmen werde: 14 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 15
IM FOKUS Quelle: iStock.com/yoglimogli /// Einführung 1.700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND PHILIPP W. HILDMANN /// Mitten auf Straßen und Plätzen wird Juden der Tod Dieses Jahr feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – ein Jubiläum, über dem auch gewünscht. Auf Plakaten und Transparenten. Von Sprechchören skandiert, gebrüllt. Wolken aufziehen. Vor Rathäusern, Parlamenten, Synagogen. Von Frauen, Männern, Jugendlichen aus allen gesellschaftlichen Schichten, mit und ohne Migrationshintergrund. Nicht 1938 oder 1942 im Deutschen Reich, sondern 2021 in der Bundesrepublik Deutschland. strich unter den sogenannten „Schuld- dem Dach linker Kritik an einer neolibe- In einem Jahr, in dem wir vom Alpenrand bis zur Ostsee eigentlich dankbar daran kult“ – die nationalsozialistischen Verbre- ralen Globalisierung öffnet sich eine gro- erinnern, dass Juden nachweislich seit 1.700 Jahren ein untrennbarer und prägender chen an den Juden seien doch längst zur ße Bandbreite verschwörungsideologi- Teil unseres Landes sind. Genüge aufgearbeitet worden. Diese Erin- schen Denkens, antisemitischer Narrati- nerungs- und Schuldabwehr des Post-Ho- ve und Stereotypen. Ihre dominanteste locaust-Antisemitismus findet wiederum Ausprägung finden sie aktuell im Tarn- ihren Ausdruck in der Relativierung der mantel der „Israelkritik“. In dieser weit Leider war der blanke Antisemitismus, auch in den Reihen der „Neuen Rechten“ Shoah, der NS-Verbrechen und der deut- verbreiteten Variante des Judenhasses der sich rund um den al-Quds-Tag Mitte und ihrem parlamentarischen Arm, der schen Täterschaft. Einen nicht unwesent- verbinden sich unverhältnismäßige Kritik Mai dieses Jahres in blindem Hass und AfD, Einzug hält. Einer großen Beliebt- lichen Beitrag leisten hier Aussagen füh- am Staat Israel, Täter-Opfer-Umkehr, Re- schäumender Wut gleich in mehreren heit erfreut sich in diesen Kreisen unter render AfD-Funktionäre, wenn sie sich lativierung der Shoah und unverhohlener deutschen Städten bei Demonstrationen anderem der Ruf nach einem Schluss- wie Alexander Gauland zu der Behaup- Antisemitismus zu einer toxischen Mi- und Ausschreitungen gegenüber Juden tung versteigen, „Hitler und die Nazis“ schung. Über diesen perfiden Weg einer so medienwirksam entlud, kein singulä- seien „nur ein Vogelschiss in unserer über Umweg-Kommunikation scheint es die- res Ereignis. Repräsentative Studien be- 1.000-jährigen Geschichte“ gewesen, sen Personen heute wieder möglich, Ju- scheinigen heute bis zu einem Viertel oder wie Björn Höcke eine „erinnerungs- den als vermeintliche Repräsentanten Is- unserer Bevölkerung antisemitische Antisemitische Einstellungen politische Wende um 180 Grad“ fordern. raels verantwortlich zu machen, zu kriti- Einstellungen. NEHMEN ZU. Antisemitismus begegnet uns aber sieren und sie zu einer Rechtfertigung der Sie begegnen uns in Form des nicht auch im linken Spektrum, das eine ausge- Politik Israels zu nötigen, ohne sich selber selten offen rassistischen Antisemitismus prägte Anfälligkeit für antisemitische offen als antisemitisch zeigen zu müssen. etwa der Neonazi-Szene, der zunehmend Weltdeutungen aufweist. Gerade unter Dementsprechend sah man führende Re- 16 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 17
IM FOKUS präsentanten der Partei Die Linke noch zehnte hinweg eine gewisse Scheu an sellschaft insgesamt. „Wir dürfen antise- nen muss. Und sie wirft aus aktuellem vor wenigen Jahren in vorderster Reihe an den Tag gelegt, mit diesem Thema in mitisches Denken, Reden und Handeln Anlass einen intensiven Blick auf den den al-Quds-Märschen teilnehmen, wäh- Verbindung gebracht zu werden. Jetzt weder im Netz noch im Alltag, weder di- israelbezogenen Antisemitismus, dem rend um sie herum „Hamas, Hamas, Ju- ist der Antisemitismus auch in diesen gital noch analog dulden.“ Dieser Auffor- europäische Juden heute am häufigsten den ins Gas“ skandiert wurde. Kreisen seit einigen Jahren wieder öf- derung von Ludwig Spaenle (CSU), dem begegnen, sowie auf die Strategien der fentlich auf dem Vormarsch. Die Mei- Beauftragten der Bayerischen Staatsre- Europäischen Union gegen antisemiti- nungsbrücken zwischen extremisti- gierung für jüdisches Leben und gegen schen Hass im Internet. schen Rändern und politischer Mitte Antisemitismus, schließt sich die Hanns- Das zu Beginn erwähnte Jubiläums- sind zahlreicher geworden. Themen, die Seidel-Stiftung nachdrücklich an. jahr greift schließlich Andrea Löw noch ANTISEMITISMUS findet im rechten uns bisher eher in Randbereichen be- einmal auf, die Stellvertretende Leiterin wie im linken Spektrum statt. gegnet sind, schieben sich nun zuneh- des Instituts für Zeitgeschichte. Sie mend auch in die gesellschaftliche Mit- nimmt uns hinein in das aktuelle jüdi- te. Flankiert wird dieser Prozess durch sche Leben in Deutschland mit seiner einen Anstieg des antisemitischen Antisemitisches Denken, Reden bunten und bereichernden Vielfalt – mit Grundwasserspiegels bei der Nutzung und Handeln dürfen NICHT geduldet seiner wieder wachsenden Angefochten- Sozialer Medien. Die quantitative, aber werden. heit, seiner Fragilität und seinem Be- Als relativ junges Phänomen begeg- auch qualitative Zunahme antisemiti- drohtsein. Judentum in Deutschland, so net uns in Deutschland des Weiteren ein scher Beiträge und Kommentare „im ihre wachrüttelnde Diagnose, sei heute insbesondere von muslimischen Ein- Netz“ ist der sichtbarste Ausdruck dafür Religionsausübung im Belagerungszu- wanderern mitgebrachter islamischer und befeuert hierzulande wie weltweit stand. Gemeinsam mit den anderen Au- bzw. islamistischer Antisemitismus. Verschwörungsglauben und Hass. torinnen verweist sie auf die Zunahme Dieser geht bis auf den islamischen An- Bei Worten allein bleibt es dabei Ihrem Auftrag gemäß konzentriert antisemitischer Äußerungen und Straf- tijudaismus des 7. und 8. Jahrhunderts nicht. Die Zahl antisemitischer Strafta- sie sich dabei primär auf die Analyse-, taten im Kontext der Corona-Pandemie zurück. Seit der Gründung des Staates ten steigt in Deutschland und auch in Präventions-, Netzwerk- und Bildungs- und unterstreicht noch einmal deutlich, Israel und der Niederlage der arabischen Bayern kontinuierlich. 2020 erreichten arbeit. Diesem Ansatz ist auch der vorlie- dass sich Antisemitismus zum einen Staaten im Unabhängigkeitskrieg von die Zahlen in Deutschland mit über gende Schwerpunkt gewidmet: zwar direkt gegen Juden richtet, zum 1948 speist er sich aber überwiegend 2.300 Delikten den höchsten Wert seit Mit Mirjam Zadoff, der Leiterin des andern aber auch eine fundamentale Be- aus der reichlich sprudelnden Quelle Beginn der statistischen Aufzeichnun- NS-Dokumentationszentrums Mün- drohung unserer freiheitlichen und de- des Nahost-Konflikts. Mit dem An- gen vor etwa 20 Jahren. Dies bedeutete chen, gehen wir der Frage nach, wie mokratischen Gesellschaft insgesamt wachsen der muslimischen Bevölkerung einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr man heute an die Zigtausenden erin- darstellt. Dementsprechend sind wir in Deutschland wuchs in den vergange- um rund 16 %. Die Dunkelziffer dürfte nern kann, die grundlos aus der Ge- auch alle gemeinsam herausgefordert. /// nen Jahrzehnten auch der Anteil von deutlich höher liegen. Die Tendenz ist meinschaft der deutschen Nation, die Menschen, die aus kulturellen Kontex- weiter steigend. Der Weg vom Sagbaren sie über Generationen hinweg mitge- ten stammen, in denen der Hass auf Ju- über das Unsägliche zum Machbaren ist prägt hatten, ausgeschlossen worden den ein fester Bestandteil ist. Aber erst im achten Jahrzehnt nach dem namen- waren. Und ihre Auffassungen lassen als Muslime zu Beginn der 2000er-Jahre losen Zivilisationsbruch der Shoah wie- evident werden, wie unerlässlich diese in einigen europäischen Ländern erst- der erschreckend kurz geworden. Erinnerung ist, um auch in der Gegen- Quelle: ELKBRost mals als Tätergruppe antisemitischer In all diesen Entwicklungen ist politi- wart einer schleichenden Radikalisie- Übergriffe für größere Kreise sichtbar in sche Bildungsarbeit zentral gefordert. rung unserer toleranten Gesellschaft et- Erscheinung traten, begann diese Ge- Antisemitismus ist nicht nur eine physi- was entgegenzusetzen. Katharina von fahrenquelle als eine solche langsam sche Gefahr für die jüdischen Gemein- Schnurbein, die Antisemitismusbeauf- /// D R. PHILIPP W. HILDMANN auch bei uns an Konturen zu gewinnen. den und ihre Mitglieder hierzulande. Er tragte der EU-Kommission, unter- ist Leiter des Kompetenzzentrums Gesell- Schließlich ist auch die gesellschaft- ist auch Symptom und Teil einer existen- streicht, dass der Kampf gegen Antise- schaftlicher Zusammenhalt und Interkultu- liche Mitte nicht vor dem Gift des Anti- ziellen Krise der Demokratie, richtet er mitismus mit der Anerkennung aller reller Dialog / Planungsstab, Hanns-Seidel- semitismus gefeit. Sie hatte über Jahr- sich im Kern doch gegen die offene Ge- seiner zeitgenössischen Formen begin- Stiftung, München. 18 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 19
IM FOKUS Quelle: © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber /// Gegen das Vergessen ERINNERUNG IN EINER GESELLSCHAFT DER VIELEN MIRJAM ZADOFF /// Der europaweit wachsende „neue Antisemitismus“ ist eine Das Kunstwerk „The Blacklist / Die Schwarze Liste“ von Arnold Dreyblatt am Königsplatz in Gefahr für Jüdinnen und Juden, aber auch für die Demokratie an sich. Diversität, München. Es ist ein Mahnmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten gegenwärtige und vergangene, hat sich nicht adäquat in ein deutsches Kultur im Jahr 1933. verständnis eingeschrieben. Umso mehr brauchen wir eine offene Gesellschaft, in der Minderheiten ohne Vorbehalte geschützt werden und als aktive Träger einer vielfältigen Kultur Anteil an demokratischen Prozessen und Erinnerungsdiskursen haben. Dafür braucht unsere Gesellschaft eine verantwortungsvolle und multi Ausbruch des Krieges, zu einer Zeit ins Exil zu retten. Von einer Geografie perspektivische Erinnerungsgeschichte. also, als das Leben und die Mobilität des Trotzes und der Auflehnung spricht von Juden in Deutschland bereits mas- die Historikerin Rebekka Grossmann siv eingeschränkt und ihnen viele Akti- deshalb, deren Forschungen diese ver- vitäten verboten worden waren. Trotz- gessenen Fotografien zu Tage gebracht Was Bilder zeigen können per Anhalter durch Deutschland unter- dem gelang es diesen Jugendlichen, sich haben. Bilder sind nicht immer, was sie schei- wegs sind. Es handelt sich um Schnapp- ein Stück Unabhängigkeit und Mobili- nen – auch nicht die Sammlung klein- schüsse, die jüdische Jugendliche mit tät zurückzuholen und diese kurzen formatiger Schwarzweißfotos, die im ihren eigenen Kameras machten, die sie Fluchten zu dokumentieren. Keine Fra- März 2021 bei einer Online-Konferenz zur Bar*Bat Mitzvah oder zum Geburts- ge, es erforderte großen Mut in diesen zur Geschichte der jüdischen Jugend tag erhalten hatten. Jahren als jüdischer Teenager per Fahr- FOTODOKUMENTE zeigen, dass sich vorgestellt wurde.1 Landschaften, Se- Ein kleines Detail lässt diese Foto- rad oder Anhalter durch Deutschland einige jüdische Jugendliche noch henswürdigkeiten und Straßenszenen grafien im richtigen Licht erscheinen: unterwegs zu sein, wo der öffentliche Handlungsspielräume erkämpften. sind da zu sehen, dazwischen Fotografi- Sie wurden in der zweiten Hälfte der Raum feindselig und gefährlich war. en von Teenagern, die mit ihren Fahrrä- 1930er-Jahre aufgenommen, manche Und es erforderte Mut, diese Ausflüge dern von Bonn nach Köln radeln, oder 1936, andere erst 1939 und kurz vor zu dokumentieren und die Fotoalben 20 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 21
IM FOKUS Was Bilder zeigen sollten Damals inszenierten die mit der schen Fremde zu machen, aus bekann- sellschaftlicher Diversität wurde 1933 Diese Fotografien dokumentieren nicht Ausstellung beauftragten Kuratoren auf ten Gesichtern „Unzivilisierte“, aus Ver- mit allen Mitteln aus dem öffentlichen wie andere Aufnahmen der Zeit die Ver- 3.500 Quadratmetern und in 20 Sälen trauten Feinde. Material und Technik Leben entfernt, Museen und Bibliothe- folgung und wachsenden Einschrän- in Objekten, gefälschten Statistiken, ins sollten visualisieren, was die Propagan- ken wurden von ihr gesäubert, ihre Ver- kungen von Juden in Deutschland. Und Monströse vergrößerten Fotos und da täglich in ihren Slogans und Hetzre- treter unterdrückt und verfolgt. An Stel- doch erzählen sie mit Blick auf die er- angstmachenden Weltkarten einen het- den wiederholte, nämlich, dass es Deut- le der Vielfalt rückte eine imaginierte kämpften Handlungsspielräume davon, zerischen Antisemitismus. Schulklassen sche gab, denen alles zustand, und sol- „Volksgemeinschaft“, weiß, homogen, wie bedrängt der Alltag gewesen war, wurden zwangsverpflichtet, ein begeis- che, denen alles abgesprochen wurde, nationalistisch, antisemitisch. Eine Ge- aus dem man sich davonstahl. In Kni- terter Joseph Goebbels reiste an, über auch das Deutschsein und die damit sellschaft, die angeblich die Kontinuität ckerbockern und mit geschulterten 5.000 Besucher kamen jeden Tag. Die deutscher Kultur und Tradition reprä- Rucksäcken holten sich diese Jugendli- Ausstellung wanderte weiter nach Wien, sentierte und dabei die Geschichte der chen ein Stück weit den Freiraum zu- Berlin, Bremen, Dresden und Magde- modernen Migration ungeschrieben rück, der ihnen durch das Regime ge- burg und wurde von über einer Million machen wollte. nommen worden war. In ihren Fotogra- Menschen gesehen. Eine ähnliche Schau MITTELS pseudowisschenschaftlicher Eine der Gipsmasken, die 1937 in fien schrieben sie sich selbst trotzig in wurde im Herbst 1941 im besetzten Pa- Technik und Dokumentation sprach München ausgestellt wurden, zeigte Straßen und Ansichten ein, in denen für ris einem französischen Publikum prä- man „Unzivilisierten“ ihre Zuge- Werner Scholem, der zu Beginn der Juden und Angehörige anderer Minder- sentiert. Lobend kommentierte der Völ- hörigkeit zur Gesellschaft ab. 20er-Jahre ein bekannter deutscher heiten kein Platz mehr vorgesehen war. kische Beobachter: „So hat diese absolut Politiker gewesen war. Der Sohn aus Denn das Regime bestimmte, dass sei- objektive, fast leidenschaftslose Ausstel- bürgerlich-jüdischem Haus und Bruder ne angeblichen Feinde innerhalb der lung den Zweck, jedem die Augen zu des späteren Religionswissenschaftlers deutschen Bevölkerung im öffentlichen öffnen anhand unwiderlegbarer Doku- Gershom Scholem machte sich zu Be- Raum nur mehr in negativen, verzerrten mente.“ Zu diesen angeblich objektiven ginn der Weimarer Republik einen Na- Bildern dargestellt werden durften. In Dokumenten zählten: Nasen, riesenhaft verbundenen Rechte. Die meisten Ju- men als einer der jungen Radikalen in der Propaganda des „Stürmers“ etwa, vergrößerte Nasen, Münder und Ohren, den, die 1933 zu Fremden und Feinden der kommunistischen Partei. Wie viele wo regelmäßig die angeblichen Ver- groteske Karnevalsobjekte in musealen erklärt wurden, lebten seit Generatio- andere junge Juden suchte er nach ei- schwörungen eines „Weltjudentums“ in Glasvitrinen. Dazwischen fanden sich, nen in Deutschland. Um ihre Isolation, nem Bruch mit einer Gesellschaft, die Karikaturen visualisiert wurden, oder kleiner und fast schon unscheinbar, Beraubung und Verfolgung zu rechtfer- von Antisemitismus und sozialer Unge- im Spielfilm „Jud Süß“, der Juden als Gipsmasken deutscher Juden – in Kon- tigen, bediente man sich alter antisemi- rechtigkeit geprägt war. Damals entwi- Vergewaltiger deutscher Frauen dar- zentrationslagern angefertigte Lebend- tischer Feindbilder und vermischte sie ckelte Joseph Goebbels eine persönliche stellte und den 20 Millionen deutsche masken, mit denen deportierte und ge- mit (anti)modernen Verschwörungsmy- Feindschaft gegenüber dem Redakteur Kinobesucher gesehen hatten oder auch quälte Menschen in Ausstellungsobjek- then und pseudowissenschaftlicher und Politiker Scholem, eine gefährliche in den großen Propagandaausstellun- te transformiert wurden.2 Rassenforschung. Prominenz. gen wie der Schau „Der ewige Jude“, die Die Tradition der Lebendmasken Mitte der 1920er-Jahre zierte sein im November 1937 in München im Bib- reicht zurück bis ins späte 19. Jahrhun- Das Ende der offenen, vielfältigen Porträt bereits nationalsozialistische liotheksbau des deutschen Museums dert, als in der deutschen Kolonie Pa- Gesellschaft Wahlplakate. Kurz darauf geriet Werner eröffnet wurde. pua-Neuguinea Gipsmasken der indige- Die Weimarer Republik war zweifelsoh- Scholem in Clinch mit den Stalinisten in nen Bevölkerung angefertigt wurden, ne eine problematische, fehlerhafte und der KPD und flog 1926 aus der Partei. die man später kolorierte und im Berli- fragile Demokratie gewesen, aber sie Ungeachtet dessen tauchte sein Konter- ner Wachsfigurenkabinett ausstellte. war näher an einer offenen, vielfältigen fei mehr als zehn Jahre später in der gro- Diese koloniale Technik, Gesichter in Gesellschaft als alles, was Deutschland ßen Münchner Propagandaausstellung Das NS-Regime stellte Juden Objekte für die Wissenschaft zu ver- bis dahin erlebt hatte. Weimar brachte auf, als Inbegriff des Feindes im eigenen nur noch in NEGATIVEN Bildern dar. wandeln, wurde bald von der Fotografie Freiheiten und ein neues Selbstverständ- Land. Die Gipsmaske war im KZ Dach- abgelöst. Nicht zufällig holten Nazi-Ku- nis für Frauen, Minderheiten und eine au angefertigt worden, wo Werner Scho- ratoren diese koloniale Praxis 1937 zu- bis dahin weitgehend stumme Jugend. lem damals inhaftiert war. Eine entfern- rück ins Museum. Es galt, aus Deut- Dieses rasche und wilde Aufblühen ge- te Verwandte entdeckte das Objekt in 22 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 23
IM FOKUS der Ausstellung. Wäre nicht auch ein Buchhandlungen, auf Kaffeetischen aus der jeweiligen Gegenwart nährt. schichte, als er die Erinnerungen der Namensschild angebracht gewesen, hät- und Wohnzimmerregalen den diversen Das Erinnern an Nationalsozialismus Überlebenden zu „geschichtsvergrö te sie ihn nicht erkannt. Vier Jahre Haft und vielstimmigen Charakter der ersten und Holocaust reflektiert diese Prozess- bernde(n) Mythen“ degradierte, die ei- in Gefängnissen und Konzentrationsla- deutschen Demokratie repräsentierten. haftigkeit besonders deutlich, weshalb ner objektiven, auf den Hinterlassen- gern hatten Spuren an dem 41-Jährigen Frauenrechtlerinnen meldeten sich da der gern gebrauchte Begriff der Erinne- schaften der Täter basierenden Wissen- hinterlassen und die Maske zeigte einen ebenso zu Wort wie Sozialdemokraten, rungskultur irreführend ist. Ohne schaft gegenüberstünden. Den Tätern frühzeitig gealterten Mann. Weniger als Kommunisten, Anarchisten, Sexualwis- Kenntnis seiner Genese könnte man und ihren Nachkommen wurde damit drei Jahre später, im Sommer 1940, senschaftler, Pädagogen und Romanci- glauben, es handle sich um eine per De- größere Sachlichkeit und Neutralität zu- wurde er im KZ Buchenwald erschos- ers, viele von ihnen Juden. Diese Vielfalt kret beschlossene politische Entschei- gesprochen als den Zeitzeugen und ih- sen, einer von Zigtausenden, die grund- wurde 1933 gewaltsam aus öffentlichen dung, die das Erinnern in den 1950ern ren Nachkommen. los aus der Gemeinschaft der deutschen Sammlungen entfernt, um das Trugbild oder 60ern in die Parlamente und In- Friedländer, Überlebender und Pro- Nation ausgeschlossen worden waren eines homogenen „deutschen Volkes“ nenstadtlagen geholt und eine breite Ge- fessor für Geschichte in Israel und den und derer man sich erst Jahrzehnte spä- entstehen zu lassen, einer Gesellschaft denkkultur installiert hat. Nichts an USA, konterte und forderte eine „inte ter wieder erinnerte – wenn überhaupt. der Diskriminierung und des Aus- diesem Begriff verweist auf den langwie- grierte Geschichte“, die Täter- und Opfer- schlusses – und des Vergessens. rigen, konfliktreichen und oft schmerz- perspektiven verknüpft und sich damit Das Vergessen Die Drohung, aus dem europäischen haften Prozess, der fast ausnahmslos von einer Deutungshoheit der Täterna Viele wurden und blieben vergessen, Gedächtnis gelöscht zu werden, war den auf die hartnäckige Initiative Einzel - tion loslöst. Friedländers Forderung ebenso wie die Vielfalt jüdischer Kultu- Verfolgten nur allzu bewusst. Im War- ner – Überlebender, Lehrer, Mitglieder ren in Vergessenheit geriet. Anfang Mai schauer Ghetto fand sich eine Gruppe lokaler Geschichtswerkstätten und viele 2021 wurde am Münchner Königsplatz von Intellektuellen um den Historiker mehr – zurückging; ein Prozess, der erst ein Mahnmal in Erinnerung an die Bü- Emanuel Ringelblum und sammelte al- lange nach Kriegsende erste große und cherverbrennungen 1933 eröffnet. Am les, was an Dokumenten und Artefak- sichtbare Erfolge verzeichnete. Erinnerungskultur braucht eine mutmaßlichen Ort der nationalsozialis- ten auffindbar war, um sowohl die Ge- Was heute gern mit Stolz unter den MULTIPERSPEKTIVISCHE Ausrichtung. tischen Bücherverbrennungen ist nun schichte des Ghettos und der Verfolgung Errungenschaften der „deutschen Erin- eine Spirale in den Boden eingelassen, zu dokumentieren als auch die Ge- nerungskultur“ aufgezählt wird, ver- die 359 Buchtitel von 310 Autoren anei- schichte und Kultur des polnischen Ju- danken wir ganz besonders den Überle- nanderreiht. Die Titel sowie der Name dentums vor 1939. Bis heute finden sich benden und Zeitzeugen. Noch 1966 be- des Kunstwerks basieren auf den histo- viele Bücher, die Wolfgang Herrmann fürchtete Jean Améry, dass es für deut- rischen „schwarzen Listen“ des Berliner 1933 auf seine „schwarzen Listen“ auf- sche Jugendliche dereinst unmöglich nach einem multiperspektivischen Erin- Bibliothekars Wolfgang Herrmann, die nahm und die daraufhin öffentlich ver- sein werde, Goethe zu zitieren, aber nern brachte einen damals längst fälli- grundlegend für die Auswahl der Auto- brannt wurden, nicht mehr in deutschen Himmler auszulassen. Améry war einer gen Wandel im deutschen Nachdenken ren und der verbrannten Bücher war. Bibliotheken. Bis heute tauchen Juden, von vielen Überlebenden, die zu Zeugen über die nationalsozialistischen Verbre- Das Mahnmal des amerikanisch-deut- Roma und Sinti und andere in vielen der deutschen Verdrängung und Igno- chen und sie kann als Vorbild dienen für schen Künstlers Arnold Dreyblatt, „The Schulcurricula gar nicht oder nur als ranz der Nachkriegsjahre wurden. Sie die Aufarbeitung anderer Traumata. Blacklist / Die Schwarze Liste“, erinnert Verfolgte auf, aber nicht dort, wo ihr waren es, die über Jahrzehnte einen wi- Seine Geschichte zeigt, wie wichtig wi- an Bücher, die in den Jahren vor 1933 in Platz wäre, nämlich im Zentrum der derständigen Kampf für das Erinnern derständiges Denken für die Ausbildung deutschen Geschichte als einer multi- geführt haben, und es dauerte bis in die von Erinnerungsdiskursen war, und es perspektivischen Erzählung. 1970er- und 80er-Jahre, bis ihre Erzäh- bis heute ist. lungen endlich ein breites Publikum er- Im November 2019 eröffneten wir in Der Prozess des Erinnerns reichten. Noch Ende der 1980er-Jahre den Räumen des Münchner NS-Doku- Die Bücherverbrennung 1933 sollte Die Vergangenheit ist nicht abgeschlos- führte Saul Friedländer einen richtungs- mentationszentrums die Ausstellung jüdische Kultur VERGESSEN machen. sen, sondern über biografische und weisenden Briefwechsel mit Martin Bro- „Tell me about yesterday tomorrow“, in strukturelle Kontinuitäten mit dem szat, dem Direktor des Münchner Insti- der es, so eine Pressestimme, darum Heute verbunden. In diesem Sinn ist tuts für Zeitgeschichte. Broszat vertrat ging, zu „Erinnern, um die Welt neu zu auch das Erinnern ein Prozess, der sich die damalige Sicht der deutschen Zeitge- denken“. Über fünfzig, teilweise eigens 24 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 25
IM FOKUS für die Ausstellung entstandene, künst- Gemeindearbeit der Pfarrei und das All- Wehr setzt? Hat der Geschichtsunter- Gesellschaft schlechthin. Er ist deshalb lerische Arbeiten stellten Fragen an die tagsleben der Abtei integriert wurde. richt versagt? Oder verblasst die Erinne- nicht nur eine physische Gefahr für die deutsche Erinnerungskultur oder brach- rung in einer Art natürlichem Vorgang, jüdischen Gemeinden, sondern ebenso ten diese in einen Austausch mit ande- Zukünftiges Erinnern weil die zeitliche Distanz wächst? ein Symptom und ein Teil der existenti- ren kulturellen und nationalen Diskur- Kürzlich wurde ich in einem Interview ellen Krise der Demokratie.“3 Diversität, sen über traumatische Vergangenheiten. gefragt, ob nicht auch heutige Stätten jü- gegenwärtige und vergangene, hat sich In diesem Rahmen entstand auch die discher Kultur in Deutschland als Erin- nicht adäquat in ein deutsches Kultur- Arbeit „The Steeple and the People“ der nerungsorte betrachtet werden müss- verständnis eingeschrieben, und es gilt, kanadischen Künstlerin Ydessa Hende- ten? Diese Frage enthüllt den Kern eines Aus dem Gedenken muss neue Erzählungen zu entdecken und les, die in der nahegelegenen Kirche der großen Problems des gesellschaftlichen VERANTWORTUNG für politisches vergessene Menschen zu feiern. Um glo- Abtei St. Bonifaz zu sehen war. Die als Erinnerns hierzulande. Denn Synago- Handeln, Menschlichkeit und bale, rechtsextreme Allianzen abzuweh- Tochter von Auschwitz-Überlebenden gen oder Kulturzentren von Roma und Empathie folgen. ren, brauchen wir eine offene Gesell- in Deutschland geborene und in Kanada Sinti sind keine Erinnerungsorte der schaft, in der Minderheiten ohne Vorbe- aufgewachsene Künstlerin ließ sich mit deutschen Verbrechen und Genozide. halte geschützt werden und Anteil ha- ihrer Installation sensibel auf diesen be- Sie sind Symbole dessen, was vergessen ben an demokratischen Prozessen und sonderen Ort ein. In St. Bonifaz, als wurde, nämlich die Geschichte der Di- an Erinnerungsdiskursen, nicht als zu Kloster und Gemeindezentrum, stehen versität und Vielfalt vor 1933, die der erziehendes Publikum oder gar als „Ob- Gebet, Einkehr und Gemeinschaft im Homogenisierungswahn der Nazis aus So wichtig ritualisiertes Gedenken jekte“ in Sammelgebieten von Museen, Vordergrund, im klostereigenen Flücht- Bibliotheken, Museen, Archiven und ist (und daran habe ich keinen Zweifel), Archiven oder Bibliotheken, sondern als lings- und Obdachlosenheim geht es um dem Bewusstsein der Menschen „gesäu- läuft es doch Gefahr, instrumentalisiert aktive Träger einer vielfältigen Kultur Empathie und Solidarität mit den Ver- bert“ hat. Und es dauerte lange, bis die- zu werden, wenn sich keine Verantwor- und Erinnerung. /// lierern der wirtschaftlichen und gesell- se Diversität wieder in der deutschen tung für politisches Handeln, für schaftlichen Srukturen. Gesellschaft angekommen war und ist. Menschlichkeit und Empathie daraus Ydessa Hendeles schuf dafür eine Gerade in diesen langen Monaten ableitet. Die Erinnerung an den Natio- Autorenfoto: © Orla Connolly zeitgenössische künstlerische Fabel, die, der Pandemie stellt sich die Frage, wel- nalsozialismus zeigt auf vielen Ebenen, rund um die Geschichte der jüdischen che neuen Wege es für das Sprechen, wie wichtig gesellschaftliche Verant- Gemeinde Fürth, eine alternative, utopi- Denken und Visualisieren von Erinne- wortung und Solidarität sind und was sche Auslegung einer eigentlich dystopi- rung geben kann oder soll. Denn ob- zu lernen ist aus der schleichenden Ra- schen Erzählung der Vergangenheit ent- wohl vieles richtig gemacht wurde, ist es dikalisierung einer toleranten Gesell- warf. Trennung und Verfolgung wurden mehr als bedenklich, wenn in deutschen schaft, aus dem Empathie-Verlust ge- darin in eine Geschichte von Akzeptanz Parlamenten eine „Erinnerungswende“ genüber Freunden, Nachbarn oder Kol- /// DR. MIRJAM ZADOFF und Hoffnung verwandelt. Im Zentrum gefordert wird, und monatelang Pande- legen, aus der Verantwortung der Er- ist Direktorin des NS-Dokumentationszen der aufwendigen Installation befand mieleugner im Verbund mit Verschwö- möglicher und der Rolle der unschein- trums München. sich die kleine, zerknitterte Fotografie rungsfanatikern und Rechtsradikalen baren Mitläufer, der Profiteure und einer Gruppe von Jugendlichen und Er- durch die Innenstädte marschieren, um Stillhalter, die das Rückgrat des Regi- wachsenen aus dem Jahr 1932, das ein- sich als Opfer einer „Corona-Diktatur“ mes bildeten. Die Grauzonen sind es, in Anmerkungen 1 Grossmann, Rebekka: Geographies of Defiance: zige Familienfoto des Vaters der Künst- zu inszenieren, mit gelbem Stern an der denen sich die Relevanz und Notwen- Cross-National Mobilities of German-Jewish lerin, das er wahrscheinlich über seine Brust und Vergleichen mit Anne Frank digkeit gesellschaftlicher Solidarität, Youth, 1929-1939, https://www.hsozkult.de/con ferencereport/id/tagungsberichte-8940 Jahre in Auschwitz bei sich getragen und Sophie Scholl im Mund. Was ist Verantwortung und Zivilcourage zeigt. 2 Z adoff, Mirjam: Der rote Hiob: Das Leben des und gerettet hatte. Es ist der klösterli- falsch gelaufen, wenn gewaltsame anti- „Antisemit ist immer nur der Ande- Werner Scholem, München 2014. 3 R abinovici, Doron: Antisemit ist immer nur der chen Gemeinschaft zu verdanken, dass semitische und rassistische Übergriffe re“, schrieb der Historiker und Schrift- Andere. Oder: Veränderungen in der globalen De- dieses vielschichtige Kunstwerk, das zunehmen, wenn rechtsextreme Ideolo- steller Doron Rabinovici vor kurzem batte über den neuen Antisemitismus und deren österreichische Widerspiegelung, in: Jahrbuch für nicht zuletzt die Geschichte des christli- gien in Polizei und Militär kolportiert über die aktuellen Debatten zum „neu- Antisemitismusforschung 29, 2020, S. 314-321. chen Antisemitismus in Bayern offen- werden, ohne dass eine Gesellschaft en Antisemitismus“, und weiter: „Der legt, beinahe ein ganzes Jahr lang in die sich geschlossen und solidarisch zur Judenhass richtet sich gegen die offene 26 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 27
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