POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung

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POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
POLITISCHE
STUDIEN 498
Magazin für Politik und Gesellschaft

                                                      72. Jahrgang | Juli-August 2021 | ISSN 0032-3462

/// IM FOKUS

1.700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN
IN DEUTSCHLAND

/// Im Zeitgespräch: H.-P. Meidinger zeigt auf, was das Bildungssystem jetzt braucht – S. 6
/// Harald Bergsdorf: 60 Jahre Mauerbau – S. 44
/// Philipp Austermann / Sarah Schmid: Zur Debatte um ein Paritätsgesetz – S. 52
/// Udo Baron: Linke Identitätspolitik und offene Gesellschaft – S. 60

                                                                                              www.hss.de
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
„            Durch Wissen, Dialog und Neugierde
                               lassen sich Vorurteile VERÄNDERN.
                                                                                   EDITORIAL

ZUSTÄNDE, DIE AUFRÜTTELN MÜSSEN
   Vor allem jüngere Menschen jüdischen Glaubens überlegen sich, ob sie weiter-
   hin hier in Deutschland leben wollen. Dies sagte kürzlich Charlotte Knobloch,
   Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
   (IKG), in einem Interview mit dem „Münchner Merkur“. Junge Juden beunru-
   higen antisemitische Vorfälle, die sich in den vergangenen Jahren vermehrt ge-
   häuft haben. Zum einen sind es Anschläge auf Synagogen, zum anderen wer-
   den Juden auf offener Straße tätlich angegriffen. Deshalb trauen sich nur noch
   wenige mit Kippa oder Davidstern-Kettenanhängern, die optisch einen Rück-
   schluss auf ihre jüdische Herkunft geben könnten, auf die Straße zu gehen.
   Weil die Situation gefährlicher geworden ist, rufen einige jüdische Dachverbän-
   de zur Vorsicht mit erkennbaren jüdischen Symbolen auf. Diese Tatsachen ma-
   chen nicht nur betroffen, sondern sie müssen auf- und wachrütteln. Dass dies
   im Jahre 2021 in unserem Lande so sein könnte, ist eigentlich unvorstellbar.
       Doch wie lassen sich Vorurteile ändern? Durch Wissen, Dialog und Neu-
   gierde, denn nur so bekommt man Verständnis für den Anderen. Und Mut.
   Um Dinge zu ändern. Spielleiter Christian Stückl beispielsweise ist es gelun-
   gen, die Oberammergauer Passion über die Jahre zunehmend von antisemiti-
   schen Darstellungen und Texten zu befreien – trotz heftiger Gegenwehr und
   massiver Anfeindungen. Für seinen Mut und seine Durch­setzungsstärke wur-
   de Stückl mehrfach ausgezeichnet.
       In diesem Jahr feiern wir „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“,
   jüdisches Leben, das mit unserem christlich abendländischen Leben verwo-
   ben und untrennbar ist. Das wird auch in unserer Porträtserie
   „Gesichter unseres Landes“ auf hss.de/gesichter-unseres-landes/ deutlich, in
   der wir unbekannte und bekannte Jüdinnen und Juden vorstellen. Die Lektü-
   re der Biographien als auch dieser Ausgabe der Politischen Studien lege ich
   Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, sehr ans Herz.

   Ihre

   Susanne Hornberger
   Leiterin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
   der Hanns-Seidel-Stiftung, München.
                                                            498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   3
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
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                                          INHALT
                                     16
                                          IM FOKUS                                   POLITISCHE-STUDIEN-                    AKTUELLES BUCH
                                                                                     ZEITGESPRACH
                                          16	
                                             1.700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN                                                    68 WAS MACHT UNS AUS?
                                             IN DEUTSCHLAND                          06	MACHT EURE HAUS-                       Die Bedeutung der Nation für
                                             Einführung                                   AUFGABEN …                             das kulturelle und gesellschaftliche
                                             PHILIPP W. HILDMANN                        Was das Bildungssystem                   Zusammenleben
                                                                                        jetzt braucht                            THOMAS M. KLOTZ
                                          20	
                                             ERINNERUNG IN EINER                        HEINZ-PETER MEIDINGER
                                             GESELLSCHAFT DER VIELEN
                                             Gegen das Vergessen                                                            RUBRIKEN
                                             MIRJAM ZADOFF                           ANALYSEN
                                                                                                                            03   EDITORIAL

28                                        28	
                                             EU-STRATEGIEN GEGEN
                                             ANTISEMITISMUS
                                                                                     44	
                                                                                        60 JAHRE MAUERBAU
                                                                                        Aufklärung über die SED-Diktatur
                                                                                                                            71
                                                                                                                            77
                                                                                                                                 REZENSIONEN
                                                                                                                                 MEINUNG
                                             Was tun wir gegen Judenfeindlichkeit?      HARALD BERGSDORF                    78   ANKÜNDIGUNGEN
                                             KATHARINA VON SCHNURBEIN                                                       82   IMPRESSUM
                                                                                     52	
                                                                                        ZUR DEBATTE UM
                                          36	
                                             SCHATTEN AUF DEM JUBILÄUM                  EIN PARITÄTSGESETZ
                                             Lasst die Koffer auf dem Dachboden!        Chancengleichheit ja,
                                             ANDREA LÖW                                 Ergebnisgleichheit nein
                                                                                        PHILIPP AUSTERMANN / SARAH SCHMID

                                                                                     60	
                                                                                        LINKE IDENTITÄTSPOLITIK
                                                                                        UND OFFENE GESELLSCHAFT
                                                                                        Cancel Culture als moderner
                                                                                        Kulturkampf

                                     60                                                 UDO BARON

4   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                    498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   5
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
Quelle: iStock.com/Bet_Noire

                                                                                                             /// Was das Bildungssystem jetzt braucht

                                                                                                             MACHT EURE HAUSAUFGABEN …
                                 Quelle Autorenbild: Deutscher-Lehrerverband

                                                                                                             Die Corona-Pandemie traf die deutsche, ja die weltweite Bildungslandschaft
                                                                                                             unvorbereitet. Selbständiges Lernen und Unterricht über Online-Plattformen
                                                                                                             wurden von heute auf morgen Realität. Die zarten Pflänzchen der Digitalisierung
                                                                                                             an deutschen Schulen mussten in Rekordzeit zu tragenden Säulen werden. Bis
                                                                               /// IM ZEITGESPRÄCH:
                                                                                                             heute klappt nicht alles reibungslos, wie Heinz-Peter Meidinger, Präsident des
                                                                               HEINZ-PETER MEIDINGER         Deutschen Lehrerverbandes, im Interview mit den Politischen Studien erklärt.
                                                                               ist Präsident des Deutschen   Gleichzeitig plädiert er dafür, Schüler, Lehrer und Bildungspolitiker durch
                                                                               Lehrerverbandes, Berlin.      politisch motivierten Reformaktionismus nicht zu überfordern. Ein Gespräch
                                                                                                             über Schulen in Zeiten der Corona-Pandemie, den Wert von Bildung und
                                                                                                             die Rolle von Lehrkräften.
6                              POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                        498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   7
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
„
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

         Politische Studien: Herr Meidinger, es         der herauskommt. Dann hat man viel
         heißt immer wieder, durch die Corona-          zu spät die Impfpriorisierung von
         Krise träten Brennpunkte im Bildungsbe-        Lehrkräften und die Testpflicht ver-
         reich deutlicher und schneller zu Tage als     anlasst und jetzt warten wir darauf,                  Die BISHERIGEN Routinen haben nicht mehr funktioniert.
         zuvor. Was sind Ihre Rezepte, damit nicht      dass Bund und Länder die Organisa-
         von verlorenen Schuljahren die Rede sein       tion und Ausgestaltung eines großen
         kann?                                          Nachholförderprogramms auf den
                                                        Weg bringen, um die entstandenen
            Heinz-Peter Meidinger: Ja, in der Tat       Lerndefizite im nächsten Schuljahr
            hat die Pandemie im Bildungsbereich         wieder zu beheben. Aber obwohl wir
            viele Schwachstellen gnadenlos offen-       natürlich sehen, dass auch in diesem
            gelegt. Das fängt bei der endlos ver-       Schuljahr vielfach Präsenz- durch          lichkeit, diese unvorhersehbare Na-      Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch „Die
            schleppten Digitalisierung der Schu-        Fernunterricht ersetzt werden musste,      turgewalt eines Virus, direkt auf die    10 Todsünden der Schulpolitik“ unter
            len an, geht weiter beim massiven           würde ich nicht pauschal von einem         Schulen, auf jeden Einzelnen von uns     anderem „eine enorme moralische, idea-
            Lehrermangel, der uns jetzt ange-           verlorenen Schuljahr sprechen. Ein         durchgeschlagen. Wir alle, auch die      listische und visionäre Aufladung von
            sichts der zusätzlichen Aufgaben dop-       großer Teil der Kinder und Jugendli-       Kinder und Jugendlichen, haben ge-       Bildungsthemen“. Allerorten ist nun zu
            pelt schwer auf die Füße fällt, und         chen wird die Defizite aufholen kön-       merkt, dass es zur Bewältigung einer     lesen, die Corona-Krise solle der Anlass
            betrifft schließlich auch das subopti-      nen, wenn im nächsten Schuljahr            solchen Pandemie keine fertigen          dafür sein, die Bildungssysteme grund-
            male Krisenmanagement in und zwi-           eine entsprechende Zusatzförderung         Antworten, keine Patentrezepte gibt.     sätzlich zu reformieren. Wie lautet Ihre
            schen den Bundesländern. Vor allem          angeboten wird.                            Es war nicht nur Flexibilität gefragt,   Einschätzung dazu?
            die Kultusministerkonferenz hat es                                                     sondern auch ein verstärkter Zusam-
            anfangs nicht und später auch nur an-                                                  menhalt. Alle waren gefordert, nicht       Ich kritisiere in der besagten Streit-
            satzweise geschafft, gemeinsame Ant-      Bringt eine solche Krise wie die Corona-     nur an sich selbst, sondern auch an        schrift ja nicht nur die massive, oft
            worten auf die großen Herausforde-        Pandemie nicht auch ganz neue Aspekte        das Wohl der Gemeinschaft, die Ge-         auch parteipolitische Aufladung von
            rungen durch Covid-19 zu finden, wie      in einer ganzheitlich verstandenen Bil-      sundheit und das Infektionsrisiko          Schulpolitik, sondern auch den Re-
            etwa einen verbindlichen Hygienestu-      dung des Menschen mit sich? Selbständi-      des Anderen zu denken.                     formaktionismus, der häufig in den
            fenplan für Schulen. Da musste erst       ges Arbeiten und Flexibilität werden allen      Die bisherigen Routinen haben           vergangenen Jahrzehnten dort zu be-
            der Bund das Infektionsschutzgesetz       abverlangt, vom Schuldirektor bis zum        nicht mehr funktioniert. Lehrkräfte        obachten war. Ich glaube, wir brau-
            ändern, bevor das möglich wurde.          Grundschüler.                                mussten ihren Unterricht radikal           chen nicht noch mehr Reformen, die
               Im Grund genommen ist man der                                                       umorganisieren und neue Kommuni-           meist nur Unruhe und keine Pro­
            dynamischen Infektionslage immer            Normalerweise simuliert Unterricht         kationswege erproben, den Schülern         blemlösungen bringen, sondern die
            hinterhergehinkt. Erst hatte man kei-       die Probleme und Herausforderun-           wiederum wurde bewusst, dass sie           Schulpolitik muss endlich ihre Haus-

                „
            nen Plan, wie man aus dem ersten            gen der Welt. Durch die Pandemie           in dieser Situation mehr Selbstver-        aufgaben machen. Dazu zählt vor-
            Lockdown an unseren Schulen wie-            hat jetzt aber die harte Lebenswirk-       antwortung für den eigenen Lern-           rangig wieder eine klare Orientierung
                                                                                                   prozess übernehmen müssen. Gera-           am Kernauftrag von Schule und das
                                                                                                   de die Abschlussjahrgänge merkten,         ist und bleibt guter Unterricht. Na-
                                                                                                   dass sie sich nicht mehr darauf ver-       türlich gibt es auch Schwachstellen,
                                                                                                   lassen konnten, quasi an der Hand          die zu beseitigen sind, wie die ver-
                                                                                                   durch die Prüfungen geführt zu wer-        schleppte Digitalisierung, die fehlen-
                                                                                                   den. Gut war es, wenn einen die El-        de Vergleichbarkeit der Schulab-
                               Die Pandemie hat im Bildungsbereich viele                           tern unterstützen konnten. Ja, so ko-      schlüsse zwischen den Bundeslän-
                               SCHWACHSTELLEN gnadenlos offengelegt.                               misch es klingt, die Pandemie hat zu       dern und auch das schlechte Krisen-
                                                                                                   mehr Ernsthaftigkeit, mehr Reali-          management in der Kultusminister-
                                                                                                   tätsbezug im Schulbetrieb und im           konferenz. Der Deutsche Lehrerver-
                                                                                                   gesamten Bildungsprozess geführt.          band fordert seit Langem einen Bil-
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POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
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POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             dungsstaatsvertrag, in dem sich die        Haltung, die geprägt ist von Offen-
             Bundesländer auf eine gemeinsame           heit, ständiger Fortbildungsbereit-
             Wettbewerbsgrundlage einigen und           schaft, Flexibilität und einer ganz ho-
             beispielsweise die Abiturprüfungen         hen Verantwortungsethik gegenüber                    BILDUNG macht sich nicht isoliert an Latein- oder
             besser normieren.                          den anvertrauten Kindern und Ju-                     Programmierkenntnissen fest.
                                                        gendlichen. Allerdings darf man die
                                                        Einsatzbereitschaft und Leistungsfä-
          Die Corona-Krise hat gezeigt, dass auch       higkeit von Lehrkräften auch nicht
          Lehrer schnell auf Veränderungen reagie-      über die Belastungsgrenzen hinaus
          ren müssen. Sind die Lehramtsanwärter         ausreizen. Diese Grenzen sind in der
          von heute gut auf den Schulalltag vorbe-      Pandemie auch überschritten worden.
          reitet?                                                                                 zentrales Medium des Bildungspro-           keit oder kurz gesagt: kritische Ur-
                                                                                                  zesses gar nicht überschätzen. „Great       teilskraft. Wer gelernt hat, Texte und
             Die Reform der Lehrerbildung ist eine   Was halten Sie von dem Vorschlag, dass       teachers“, erfolgreiche Lehrkräfte,         Gedichte zu analysieren, der kann
             Daueraufgabe. Allerdings warne ich      Lehrer künftig mehr als „Bildungscoa-        das sind in den Augen Hatties Perso-        auch später, wenn es nötig ist, das
             vor dem Glauben, mit immer neuen        ches“ fungieren sollen?                      nen, die Kinder und Jugendliche für         Kleingedruckte in Versicherungsver-
             Modulen in der Lehrerausbildung zu                                                   ihre Unterrichtsgegenstände begeis-         trägen verstehen und die richtigen
             Inklusion, Demokratieerziehung, di-        Diese Vorstellung vom Lehrer als          tern können, eine enge Feedbackkul-         Schlüsse daraus ziehen.
             gitalen Unterrichtsmedien und inter-       Lernbegleiter oder als Bildungscoach      tur praktizieren und letztendlich
             kultureller Kompetenz die Lehrerbil-       suggeriert, dass Kinder und Jugend-       Lernprozesse klar strukturieren und
             dung qualitativ deutlich verbessern        liche sich am besten und schnellsten      organisieren. Wenn die Lernenden          Es stellt sich offenbar generell die Frage
             zu können. Ginge man rein nach den         Unterrichtsinhalte selbst aneignen.       selber über ihr Lernpensum ent-           danach, was Bildung heute bedeutet. Ist
             digitalen Lerninhalten in der Lehrer-      Lehrkräfte sollten sich demzufolge        scheiden, dann würde nicht nur die        man ungebildet, wenn man Ovid nicht auf
             ausbildung, müsste man 80 % der            auf eine moderierende und beraten-        Leistungsschere noch weiter aufge-        Latein wiedergeben, aber in Java Compu-
             Lehrer diese Kompetenz absprechen.         de Funktion zurückziehen. Dies ist        hen und sich die Bildungsungerech-        terprogramme erstellen kann?
             Gerade deswegen gehört zu einer gu-        ein grobes Missverständnis der            tigkeit verschärfen, sondern wir
             ten Lehrerausbildung, dass man dort        Lehrerrolle und widerspricht übri-        würden auch das gemeinsame Bil-             Bildung macht sich nicht isoliert an
             möglichst viel Rüstzeug im fachli-         gens auch den zentralen Ergebnissen       dungsfundament und damit noch               Latein- oder Programmierkenntnis-
             chen, fachdidaktischen, pädagogi-          der empirischen Unterrichtsfor-           mehr an Zusammenhalt in unserer             sen fest. Über eine gute Bildung zu
             schen und methodischen Kompetenz-          schung, wie sie etwa John Hattie in       Gesellschaft verlieren.                     verfügen, heißt, dass ich eine breite,
             bereich mitbekommt. Ganz wichtig           seinen Metastudien zusammenge-               Vor einigen Jahren hat ja eine Abi-      intelligent vernetzte Wissensbasis

                 „
             ist aber vor allem die Haltung, die        fasst hat. Man kann die zentrale Rol-     turientin in einem sozialen Netzwerk        habe, die es mir ermöglicht, auch un-
             Lehrkräfte zeigen, nämlich eine            le der Lehrkraft als Motivator, als       darüber geklagt, dass sie zwar Ge-          bekannte Phänomene und Wissens-
                                                                                                  dichte in mehreren Sprachen analy-          gebiete zu erschließen und einzuord-
                                                                                                  sieren könne, aber keine Ahnung von         nen. Es geht um die grundlegende
                                                                                                  Mietverträgen habe. Da offenbart            Fähigkeit, sich in dieser Welt zu ori-
                                                                                                  sich ein grundlegendes Missver-             entieren und einen eigenen Lebens-
                                                                                                  ständnis von schulischer Allgemein-         entwurf zu verfolgen. Das geht nicht
                                                                                                  bildung. Das Miet- und Versiche-            ohne eine Basis an Grundwissen be-
                                Man darf die Einsatzbereitschaft und                              rungsrecht ändert sich ständig, ganz        ziehungsweise einen fachspezifischen
                                Leistungsfähigkeit von Lehrkräften nicht über                     abgesehen davon, ob man dann das            Wissenskanon. In der heutigen Welt
                                die BELASTUNGSGRENZEN hinaus ausreizen.                           Gelernte später parat hat, wenn man         gehört zu dieser für ein Weltver-
                                                                                                  es braucht. Was man aber in der             ständnis notwendigen Grund- und
                                                                                                  Schule gelernt haben sollte, ist Lese-,     Allgemeinbildung mit Sicherheit
                                                                                                  Analyse- und Interpretationsfähig-          auch der Einblick in ökonomische
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POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             Gesetzmäßigkeiten, aber auch eine          könnte, wenn man sich das exponen-
             Vorstellung davon, wie etwa Algo-          zielle Wachstum der 1,0-Abiture in
             rithmen funktionieren. Und selbst-         einigen Bundesländern anschaut.
             verständlich ist auch musische Bil-        Allein in Berlin ist die Anzahl inner-                  Sozialer Aufstieg gelingt am besten durch LEISTUNG.
             dung wichtig für uns als Menschen,         halb eines Zehnjahreszeitraums um
             um unsere Ausdrucks-, Teilhabe-            das Vierzehnfache gestiegen.
             und Gestaltungsmöglichkeiten in               Wir beobachten eindeutig eine
             dieser Welt wahrnehmen zu können.          Noteninflation. Davon spricht man,
                                                        wenn man für die gleiche Leistung in
                                                        einem späteren Zeitraum bessere
          Es gibt immer mehr junge Leute mit allge-     Noten erhält. Also wenn tatsächlich         teilung von bisher als hochwertig an-        sucht hat beziehungsweise welche Zu-
          meiner Hochschulreife, immer mehr Stu-        die echten Bestleistungen so stark          gesehenen Bildungszertifikaten zu            satzqualifikationen, etwa Auslands-
          dierende. Sind Menschen heute einfach         gestiegen wären, wie die immer bes-         mehr Bildungsgerechtigkeit führen            praktika, man absolviert hat. Wer, wie
          klüger als früher oder wurde das Niveau       seren Noten suggerieren, dann müss-         wird. Insbesondere dann, wenn da-            ich, ein absoluter Befürworter von so-
          der Abschlüsse abgesenkt?                     ten wir bei PISA bei den Schüler­           bei eine Entkoppelung von Leistung           zialem Aufstieg durch Bildung ist,
                                                        leistungen in den höchsten Kompe-           und Bewertung erfolgt, ist genau das         kann an einer Zertifikats- und Noten-
             Immer weiter steigende Abiturienten-       tenzstufen eine ähnliche Steigerung         Gegenteil der Fall. Der einflussreiche       inflation kein Interesse haben. Sozia-
             quoten sind nicht unbedingt gleich-        haben. Da sind aber in den letzten          französische Soziologe und Sozial-           ler Aufstieg gelingt am besten durch
             bedeutend mit einem immer höheren          20 Jahren die Quoten stagniert be-          philosoph Pierre Bourdieu hat dies           Leistung. Natürlich müssen wir mehr
             Bildungsniveau. In Deutschland ist         ziehungsweise sind sie in einigen           übrigens genau beschrieben, wie eine         für bessere Chancengerechtigkeit un-
             die Quote der Hochschulzugangs­            Teilbereichen sogar zurückgegangen.         Inflation von Bildungszertifikaten zu        ternehmen und die Startchancen be-
             berechtigten innerhalb von 20 Jahren                                                   ihrer Entwertung führt und keinen            nachteiligter Kinder verbessern. Da
             von etwas über 30 auf 50 % gestiegen.                                                  Beitrag zu einer gerechteren Gesell-         gibt es immer noch großen Hand-
             Es gibt sehr viele Anzeichen dafür,      Vor allem im linken politischen Spektrum      schaft liefern kann. Wenn jeder Abi-         lungsbedarf. Ich bin der Auffassung,
             dass Studienberechtigung und Studi-      ist man der Ansicht, dass ein „Abitur für     tur hat, hat niemand Abitur. Das be-         dass wir bei der Frühförderung von
             enbefähigung angesichts dieser enor-     alle“, euphemistisch als „Demokratisie-       deutet, dass sich dann außerhalb des         Kindern viel zu wenig tun. Da muss
             men Expansion stärker denn je aus­       rung der Bildung“ tituliert, mehr Bildungs-   Bereichs der Bildungszertifikate Me-         man ansetzen, nicht bei der leis-
             einanderfallen, etwa wenn man die        gerechtigkeit in der Gesellschaft mit sich    chanismen etablieren werden, die bei         tungsunabhängigen Verschleuderung
             gleichzeitig gestiegenen Studien­        brächte. Sind alle Probleme im Bildungsbe-    der Vergabe von begehrten Studien-           von Bildungszertifikaten.
             abbruchs- und Studienwechslerquo-        reich gelöst, wenn jeder Abitur machen        plätzen oder auch beruflichen Positi-
             ten berücksichtigt. Mit einem „muta-     kann?                                         onen eine entscheidende Rolle spie-
             tionsbedingten Intelligenzsprung“                                                      len. Das Abitur ist dann nur mehr          Gerade auch die aktuelle Pandemie hat
             hat die starke Zunahme von Studien-        Das ist der große, leider weitverbrei-      eine notwendige, aber keine hinrei-        gezeigt, dass Handwerk tatsächlich den

                 „
             berechtigten wohl nichts zu tun, auch      tete Irrtum sozialistischer Bildungs-       chende Bedingung für den weiteren          sprichwörtlichen goldenen Boden hat.
             wenn man auf diese Idee kommen             ideologie, dass eine inflationäre Ver-      Lebens- und Berufsweg.                     Warum fokussieren sich Politik – über
                                                                                                       Es ist kein Zufall, dass in Ländern,    Parteigrenzen hinweg – und Gesellschaft
                                                                                                    die bei der Zielvorstellung „Abi für       dennoch derart auf eine gesamtgesell-
                                                                                                    alle“ schon weiter fortgeschritten sind,   schaftliche Akademisierung?
                                                                                                    teurere Privatschulen oder harte
                                                                                                    Hochschulzugangsprüfungen           eine     Das ist eine gute Frage, warum die Po-
                                                                                                    weit größere Rolle spielen als bei uns.      litik so stark auf die Ausweitung der
                                Wir beobachten eindeutig eine NOTENINFLATION.                       Bei Bewerbungen schaut da kaum               Abiturientenquoten gesetzt hat. Bei
                                                                                                    mehr jemand auf das schulische Ab-           linken Parteien beruhte das wohl auf
                                                                                                    schlusszeugnis, sondern eher darauf,         dem Missverständnis, dass das zu
                                                                                                    welche renommierte Schule man be-            mehr Bildungsgerechtigkeit führen
12   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                                              498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   13
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             würde. Bei den Unionsparteien und           heit die gute Passung mit dem Be-            neuen Bundesländern seit 1990, aber        •	Die Erfahrung, wie unvorbereitet
             der FDP hat seinerzeit wohl der             schäftigungssystem. Die ganze Welt           größere Verschiebungen sind ausge-            insbesondere die Bildungspolitik
             Alarmruf der OECD in Folge des              hat uns beneidet um unsere geringe           blieben. Man darf das Privatschul­            und auch die Schulverwaltung von
             PISA-Schocks durchgeschlagen, ohne          Jugendarbeitslosigkeit. Diesen Vorteil       wesen bei uns auch nicht mit den oft          dieser Herausforderung getroffen
             höhere Akademikerquoten würde               drohen wir gerade zu verspielen. Un-         doch sehr exklusiven und auch kos-            wurde und wie schwer sich bis
             Deutschland im internationalen              ser künftiges Hauptproblem wird              tenintensiven Privatschulen in ande-          heute die Politik damit tut, ein an-
             Wettbewerb der Volkswirtschaften            nicht der Akademikermangel sein,             ren Ländern wie etwa den USA oder             gemessenes Krisenmanagement zu
             abgehängt werden. Da gerieten dann          sondern der Facharbeitermangel und           Großbritannien vergleichen. Privat-           praktizieren.
             auch innerhalb Deutschlands die             der Mangel an Bewerbern für Ausbil-          schulen in Deutschland sind sehr he-       •	Die Erkenntnis, welch große Flexi-
             Bundesländer unter Druck, die wie           dungsstellen. Gleichzeitig müssen            terogen, da gibt es kirchliche, kom-          bilität, starke Innovationskraft
             Bayern noch eine ausgeglichene Ver-         auch bei uns viele Hochschulabsol-           merzielle, reformpädagogische und             und wieviel Engagement in einer
             teilung der Schüler auf die verschiede-     venten auf Beschäftigungsbereiche            elitäre Einrichtungen. Diese Hetero-          Schule und einem Lehrerkollegium
             nen Schularten und Abschlüsse hat-          ausweichen, für die sie gar kein Studi-      genität zeigt sich übrigens auch bei          stecken worauf man in einer Krise
             ten. Inzwischen sehen wir aber die          um gebraucht hätten. Ein Drittel der         den Schülerleistungen, die je nach            zurückgreifen kann.
             großen Schwächen der Humankapi-             von der Uni kommenden Jungarchi-             Privatschule deutlich unter, aber          •	Niemals ist aber auch klarer ge-
             taltheorie, auf der ja diese Forderun-      tekten nimmt derzeit Stellen an, für         auch deutlich über dem Landes-                worden, was Kindern, Eltern und
             gen nach immer mehr Hochschulab-            die auch eine Ausbildung als Bau-            schnitt liegen können. Insgesamt              Lehrkräften fehlt, wenn Schule als
             solventen beruhen. Wenn es nach der         zeichner gereicht hätte.                     sehe ich Privatschulen als ein zusätz-        Präsenzveranstaltung nicht mög-
             Höhe der Abiturquoten ginge, müss-                                                       liches Angebot und damit eine Berei-          lich ist, und das ist viel mehr als die
             ten Länder wie Spanien und Italien                                                       cherung der Schullandschaft. Man              Klage über zusätzliche Lerndefizite.
             wirtschaftlich weit vor Deutschland       Der privatwirtschaftliche Bildungsbe-          muss die Entwicklung aber im Auge             Noch nie habe ich als Schulleiter in
             stehen, tun sie aber nicht. Und auch      reich in Deutschland wächst stetig. Rund       behalten. Eine größere Vertrau-               so viele glückliche Gesichter ge-
             in den USA hat die Akademisierung         9 % aller Schüler in Deutschland besu-         enskrise könnte dann entstehen,               blickt, als damals, nach dem ersten
             längst einen kritischen Wert über-        chen eine der knapp 6.000 Privatschulen,       wenn sich die chronische Unterfinan-          Lockdown, Kinder und Lehrkräfte
             schritten. Von den 70 % eines Jahr-       das sind etwa doppelt so viele wie vor gut     zierung der staatlichen Schulen in            wieder in die Klassenzimmer zu-
             gangs, die ein Studium am College         20 Jahren. Gibt es eine Vertrauenskrise        Zukunft noch weiter verschärfen               rückgekehrt sind.
             beginnen, hat im Alter von 25 Jahren      gegenüber den öffentlichen Schulen?            würde.
             nur etwa die Hälfte tatsächlich einen
             Abschluss erreicht. Und von diesen          Insgesamt sehe ich keine Abstim-                                                      Die Fragen stellte Thomas M. Klotz,
             Absolventen sind wiederum fast 50 %         mung mit den Füßen weg vom öffent-         Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen     Leiter des Referats „Bildung, Hochschu-
             arbeitslos oder arbeiten in Jobs, für       lichen Schulwesen hin zu Privatschu-       und Lehren, die Sie aus dieser Pandemie    len, Kultur“ der Akademie für Politik und
             die sie formal überqualifiziert sind.       len in Deutschland. Es gab zwar ei-        mitnehmen?                                 Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung,

                 „
                 Die große Stärke des deutschen Bil-     nen gewissen Nachholbedarf bei der                                                    München. ///
             dungssystems war in der Vergangen-          Gründung von Privatschulen in den            Ich habe den ersten Lockdown im
                                                                                                      März 2020 noch als amtierender
                                                                                                      Schulleiter an einem niederbayeri-
                                                                                                      schen Gymnasium hautnah miter-
                                                                                                      lebt und bin dort zusammen mit der
                                                                                                      gesamten Schulfamilie mit den enor-
                                                                                                      men Herausforderungen dieser Pan-
                                Ich sehe Privatschulen als ein ZUSÄTZLICHES Angebot                   demie konfrontiert worden. Es sind
                                und damit eine Bereicherung der Schullandschaft.                      mehrere Erfahrungen, die ich per-
                                                                                                      sönlich aus dieser Pandemie im
                                                                                                      Hinblick auf den Schulbereich mit-
                                                                                                      nehmen werde:
14   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                                                498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   15
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
IM FOKUS

                                                                                                                                                                                                             Quelle: iStock.com/yoglimogli
/// Einführung

1.700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN
IN DEUTSCHLAND
PHILIPP W. HILDMANN /// Mitten auf Straßen und Plätzen wird Juden der Tod                         Dieses Jahr feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – ein Jubiläum, über dem auch
gewünscht. Auf Plakaten und Transparenten. Von Sprechchören skandiert, gebrüllt.                  Wolken aufziehen.
Vor Rathäusern, Parlamenten, Synagogen. Von Frauen, Männern, Jugendlichen aus
allen gesellschaftlichen Schichten, mit und ohne Migrationshintergrund. Nicht 1938
oder 1942 im Deutschen Reich, sondern 2021 in der Bundesrepublik Deutschland.                     strich unter den sogenannten „Schuld-              dem Dach linker Kritik an einer neolibe-
In einem Jahr, in dem wir vom Alpenrand bis zur Ostsee eigentlich dankbar daran                   kult“ – die nationalsozialistischen Verbre-        ralen Globalisierung öffnet sich eine gro-
erinnern, dass Juden nachweislich seit 1.700 Jahren ein untrennbarer und prägender                chen an den Juden seien doch längst zur            ße Bandbreite verschwörungsideologi-
Teil unseres Landes sind.                                                                         Genüge aufgearbeitet worden. Diese Erin-           schen Denkens, antisemitischer Narrati-
                                                                                                  nerungs- und Schuldabwehr des Post-Ho-             ve und Stereotypen. Ihre dominanteste
                                                                                                  locaust-Antisemitismus findet wiederum             Ausprägung finden sie aktuell im Tarn-
                                                                                                  ihren Ausdruck in der Relativierung der            mantel der „Israelkritik“. In dieser weit
          Leider war der blanke Antisemitismus,       auch in den Reihen der „Neuen Rechten“      Shoah, der NS-Verbrechen und der deut-             verbreiteten Variante des Judenhasses
          der sich rund um den al-Quds-Tag Mitte      und ihrem parlamentarischen Arm, der        schen Täterschaft. Einen nicht unwesent-           verbinden sich unverhältnismäßige Kritik
          Mai dieses Jahres in blindem Hass und       AfD, Einzug hält. Einer großen Beliebt-     lichen Beitrag leisten hier Aussagen füh-          am Staat Israel, Täter-Opfer-Umkehr, Re-
          schäumender Wut gleich in mehreren          heit erfreut sich in diesen Kreisen unter   render AfD-Funktionäre, wenn sie sich              lativierung der Shoah und unverhohlener
          deutschen Städten bei Demonstrationen       anderem der Ruf nach einem Schluss-         wie Alexander Gauland zu der Behaup-               Antisemitismus zu einer toxischen Mi-
          und Ausschreitungen gegenüber Juden                                                     tung versteigen, „Hitler und die Nazis“            schung. Über diesen perfiden Weg einer
          so medienwirksam entlud, kein singulä-                                                  seien „nur ein Vogelschiss in unserer über         Umweg-Kommunikation scheint es die-
          res Ereignis. Repräsentative Studien be-                                                1.000-jährigen Geschichte“ gewesen,                sen Personen heute wieder möglich, Ju-
          scheinigen heute bis zu einem Viertel                                                   oder wie Björn Höcke eine „erinnerungs-            den als vermeintliche Repräsentanten Is-
          unserer Bevölkerung antisemitische            Antisemitische Einstellungen              politische Wende um 180 Grad“ fordern.             raels verantwortlich zu machen, zu kriti-
          Einstellungen.                                NEHMEN ZU.                                    Antisemitismus begegnet uns aber               sieren und sie zu einer Rechtfertigung der
              Sie begegnen uns in Form des nicht                                                  auch im linken Spektrum, das eine ausge-           Politik Israels zu nötigen, ohne sich selber
          selten offen rassistischen Antisemitismus                                               prägte Anfälligkeit für antisemitische             offen als antisemitisch zeigen zu müssen.
          etwa der Neonazi-Szene, der zunehmend                                                   Weltdeutungen aufweist. Gerade unter               Dementsprechend sah man führende Re-
16   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                                                         498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   17
POLITISCHE STUDIEN 498 - Hanns-Seidel-Stiftung
IM FOKUS

          präsentanten der Partei Die Linke noch       zehnte hinweg eine gewisse Scheu an              sellschaft insgesamt. „Wir dürfen antise-    nen muss. Und sie wirft aus aktuellem
          vor wenigen Jahren in vorderster Reihe an    den Tag gelegt, mit diesem Thema in              mitisches Denken, Reden und Handeln          Anlass einen intensiven Blick auf den
          den al-Quds-Märschen teilnehmen, wäh-        Verbindung gebracht zu werden. Jetzt             weder im Netz noch im Alltag, weder di-      israelbezogenen Antisemitismus, dem
          rend um sie herum „Hamas, Hamas, Ju-         ist der Antisemitismus auch in diesen            gital noch analog dulden.“ Dieser Auffor-    europäische Juden heute am häufigsten
          den ins Gas“ skandiert wurde.                Kreisen seit einigen Jahren wieder öf-           derung von Ludwig Spaenle (CSU), dem         begegnen, sowie auf die Strategien der
                                                       fentlich auf dem Vormarsch. Die Mei-             Beauftragten der Bayerischen Staatsre-       Europäischen Union gegen antisemiti-
                                                       nungsbrücken zwischen extremisti-                gierung für jüdisches Leben und gegen        schen Hass im Internet.
                                                       schen Rändern und politischer Mitte              Antisemitismus, schließt sich die Hanns-         Das zu Beginn erwähnte Jubiläums-
                                                       sind zahlreicher geworden. Themen, die           Seidel-Stiftung nachdrücklich an.            jahr greift schließlich Andrea Löw noch
       ANTISEMITISMUS findet im rechten                uns bisher eher in Randbereichen be-                                                          einmal auf, die Stellvertretende Leiterin
       wie im linken Spektrum statt.                   gegnet sind, schieben sich nun zuneh-                                                         des Instituts für Zeitgeschichte. Sie
                                                       mend auch in die gesellschaftliche Mit-                                                       nimmt uns hinein in das aktuelle jüdi-
                                                       te. Flankiert wird dieser Prozess durch                                                       sche Leben in Deutschland mit seiner
                                                       einen Anstieg des antisemitischen              Antisemitisches Denken, Reden                  bunten und bereichernden Vielfalt – mit
                                                       Grundwasserspiegels bei der Nutzung            und Handeln dürfen NICHT geduldet              seiner wieder wachsenden Angefochten-
                                                       Sozialer Medien. Die quantitative, aber        werden.                                        heit, seiner Fragilität und seinem Be-
              Als relativ junges Phänomen begeg-       auch qualitative Zunahme antisemiti-                                                          drohtsein. Judentum in Deutschland, so
          net uns in Deutschland des Weiteren ein      scher Beiträge und Kommentare „im                                                             ihre wachrüttelnde Diagnose, sei heute
          insbesondere von muslimischen Ein-           Netz“ ist der sichtbarste Ausdruck dafür                                                      Religionsausübung im Belagerungszu-
          wanderern mitgebrachter islamischer          und befeuert hierzulande wie weltweit                                                         stand. Gemeinsam mit den anderen Au-
          bzw. islamistischer Antisemitismus.          Verschwörungsglauben und Hass.                                                                torinnen verweist sie auf die Zunahme
          Dieser geht bis auf den islamischen An-           Bei Worten allein bleibt es dabei               Ihrem Auftrag gemäß konzentriert         antisemitischer Äußerungen und Straf-
          tijudaismus des 7. und 8. Jahrhunderts       nicht. Die Zahl antisemitischer Strafta-         sie sich dabei primär auf die Analyse-,      taten im Kontext der Corona-Pandemie
          zurück. Seit der Gründung des Staates        ten steigt in Deutschland und auch in            Präventions-, Netzwerk- und Bildungs-        und unterstreicht noch einmal deutlich,
          Israel und der Niederlage der arabischen     Bayern kontinuierlich. 2020 erreichten           arbeit. Diesem Ansatz ist auch der vorlie-   dass sich Antisemitismus zum einen
          Staaten im Unabhängigkeitskrieg von          die Zahlen in Deutschland mit über               gende Schwerpunkt gewidmet:                  zwar direkt gegen Juden richtet, zum
          1948 speist er sich aber überwiegend         2.300 Delikten den höchsten Wert seit                Mit Mirjam Zadoff, der Leiterin des      andern aber auch eine fundamentale Be-
          aus der reichlich sprudelnden Quelle         Beginn der statistischen Aufzeichnun-            NS-Dokumentationszentrums           Mün-     drohung unserer freiheitlichen und de-
          des Nahost-Konflikts. Mit dem An-            gen vor etwa 20 Jahren. Dies bedeutete           chen, gehen wir der Frage nach, wie          mokratischen Gesellschaft insgesamt
          wachsen der muslimischen Bevölkerung         einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr              man heute an die Zigtausenden erin-          darstellt. Dementsprechend sind wir
          in Deutschland wuchs in den vergange-        um rund 16 %. Die Dunkelziffer dürfte            nern kann, die grundlos aus der Ge-          auch alle gemeinsam herausgefordert. ///
          nen Jahrzehnten auch der Anteil von          deutlich höher liegen. Die Tendenz ist           meinschaft der deutschen Nation, die
          Menschen, die aus kulturellen Kontex-        weiter steigend. Der Weg vom Sagbaren            sie über Generationen hinweg mitge-
          ten stammen, in denen der Hass auf Ju-       über das Unsägliche zum Machbaren ist            prägt hatten, ausgeschlossen worden
          den ein fester Bestandteil ist. Aber erst    im achten Jahrzehnt nach dem namen-              waren. Und ihre Auffassungen lassen
          als Muslime zu Beginn der 2000er-Jahre       losen Zivilisationsbruch der Shoah wie-          evident werden, wie unerlässlich diese
          in einigen europäischen Ländern erst-        der erschreckend kurz geworden.                  Erinnerung ist, um auch in der Gegen-

                                                                                                                                                                       Quelle: ELKBRost
          mals als Tätergruppe antisemitischer              In all diesen Entwicklungen ist politi-     wart einer schleichenden Radikalisie-
          Übergriffe für größere Kreise sichtbar in    sche Bildungsarbeit zentral gefordert.           rung unserer toleranten Gesellschaft et-
          Erscheinung traten, begann diese Ge-         Antisemitismus ist nicht nur eine physi-         was entgegenzusetzen. Katharina von
          fahrenquelle als eine solche langsam         sche Gefahr für die jüdischen Gemein-            Schnurbein, die Antisemitismusbeauf-         /// D
                                                                                                                                                          R. PHILIPP W. HILDMANN
          auch bei uns an Konturen zu gewinnen.        den und ihre Mitglieder hierzulande. Er          tragte der EU-Kommission, unter-             ist Leiter des Kompetenzzentrums Gesell-
              Schließlich ist auch die gesellschaft-   ist auch Symptom und Teil einer existen-         streicht, dass der Kampf gegen Antise-       schaftlicher Zusammenhalt und Interkultu-
          liche Mitte nicht vor dem Gift des Anti-     ziellen Krise der Demokratie, richtet er         mitismus mit der Anerkennung aller           reller Dialog / Planungsstab, Hanns-Seidel-
          semitismus gefeit. Sie hatte über Jahr-      sich im Kern doch gegen die offene Ge-           seiner zeitgenössischen Formen begin-        Stiftung, München.
18   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                                                                       498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   19
IM FOKUS

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/// Gegen das Vergessen

ERINNERUNG IN EINER
GESELLSCHAFT DER VIELEN
MIRJAM ZADOFF /// Der europaweit wachsende „neue Antisemitismus“ ist eine                      Das Kunstwerk „The Blacklist / Die Schwarze Liste“ von Arnold Dreyblatt am Königsplatz in
Gefahr für Jüdinnen und Juden, aber auch für die Demokratie an sich. Diversität,               München. Es ist ein Mahnmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten
gegenwärtige und vergangene, hat sich nicht adäquat in ein deutsches Kultur­                   im Jahr 1933.
verständnis eingeschrieben. Umso mehr brauchen wir eine offene Gesellschaft,
in der Minderheiten ohne Vorbehalte geschützt werden und als aktive Träger einer
vielfältigen Kultur Anteil an demokratischen Prozessen und Erinnerungsdiskursen
haben. Dafür braucht unsere Gesellschaft eine verantwortungsvolle und multi­                   Ausbruch des Krieges, zu einer Zeit              ins Exil zu retten. Von einer Geografie
perspektivische Erinnerungsgeschichte.                                                         also, als das Leben und die Mobilität            des Trotzes und der Auflehnung spricht
                                                                                               von Juden in Deutschland bereits mas-            die Historikerin Rebekka Grossmann
                                                                                               siv eingeschränkt und ihnen viele Akti-          deshalb, deren Forschungen diese ver-
                                                                                               vitäten verboten worden waren. Trotz-            gessenen Fotografien zu Tage gebracht
              Was Bilder zeigen können              per Anhalter durch Deutschland unter-      dem gelang es diesen Jugendlichen, sich          haben.
          Bilder sind nicht immer, was sie schei-   wegs sind. Es handelt sich um Schnapp-     ein Stück Unabhängigkeit und Mobili-
          nen – auch nicht die Sammlung klein-      schüsse, die jüdische Jugendliche mit      tät zurückzuholen und diese kurzen
          formatiger Schwarzweißfotos, die im       ihren eigenen Kameras machten, die sie     Fluchten zu dokumentieren. Keine Fra-
          März 2021 bei einer Online-Konferenz      zur Bar*Bat Mitzvah oder zum Geburts-      ge, es erforderte großen Mut in diesen
          zur Geschichte der jüdischen Jugend       tag erhalten hatten.                       Jahren als jüdischer Teenager per Fahr-             FOTODOKUMENTE zeigen, dass sich
          vorgestellt wurde.1 Landschaften, Se-         Ein kleines Detail lässt diese Foto-   rad oder Anhalter durch Deutschland                 einige jüdische Jugendliche noch
          henswürdigkeiten und Straßenszenen        grafien im richtigen Licht erscheinen:     unterwegs zu sein, wo der öffentliche               Handlungsspielräume erkämpften.
          sind da zu sehen, dazwischen Fotografi-   Sie wurden in der zweiten Hälfte der       Raum feindselig und gefährlich war.
          en von Teenagern, die mit ihren Fahrrä-   1930er-Jahre aufgenommen, manche           Und es erforderte Mut, diese Ausflüge
          dern von Bonn nach Köln radeln, oder      1936, andere erst 1939 und kurz vor        zu dokumentieren und die Fotoalben
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IM FOKUS

              Was Bilder zeigen sollten                   Damals inszenierten die mit der            schen Fremde zu machen, aus bekann-         sellschaftlicher Diversität wurde 1933
          Diese Fotografien dokumentieren nicht       Ausstellung beauftragten Kuratoren auf         ten Gesichtern „Unzivilisierte“, aus Ver-   mit allen Mitteln aus dem öffentlichen
          wie andere Aufnahmen der Zeit die Ver-      3.500 Quadratmetern und in 20 Sälen            trauten Feinde. Material und Technik        Leben entfernt, Museen und Bibliothe-
          folgung und wachsenden Einschrän-           in Objekten, gefälschten Statistiken, ins      sollten visualisieren, was die Propagan-    ken wurden von ihr gesäubert, ihre Ver-
          kungen von Juden in Deutschland. Und        Monströse vergrößerten Fotos und               da täglich in ihren Slogans und Hetzre-     treter unterdrückt und verfolgt. An Stel-
          doch erzählen sie mit Blick auf die er-     angstmachenden Weltkarten einen het-           den wiederholte, nämlich, dass es Deut-     le der Vielfalt rückte eine imaginierte
          kämpften Handlungsspielräume davon,         zerischen Antisemitismus. Schulklassen         sche gab, denen alles zustand, und sol-     „Volksgemeinschaft“, weiß, homogen,
          wie bedrängt der Alltag gewesen war,        wurden zwangsverpflichtet, ein begeis-         che, denen alles abgesprochen wurde,        nationalistisch, antisemitisch. Eine Ge-
          aus dem man sich davonstahl. In Kni-        terter Joseph Goebbels reiste an, über         auch das Deutschsein und die damit          sellschaft, die angeblich die Kontinuität
          ckerbockern und mit geschulterten           5.000 Besucher kamen jeden Tag. Die                                                        deutscher Kultur und Tradition reprä-
          Rucksäcken holten sich diese Jugendli-      Ausstellung wanderte weiter nach Wien,                                                     sentierte und dabei die Geschichte der
          chen ein Stück weit den Freiraum zu-        Berlin, Bremen, Dresden und Magde-                                                         modernen Migration ungeschrieben
          rück, der ihnen durch das Regime ge-        burg und wurde von über einer Million                                                      machen wollte.
          nommen worden war. In ihren Fotogra-        Menschen gesehen. Eine ähnliche Schau        MITTELS pseudowisschenschaftlicher                Eine der Gipsmasken, die 1937 in
          fien schrieben sie sich selbst trotzig in   wurde im Herbst 1941 im besetzten Pa-        Technik und Dokumentation sprach              München ausgestellt wurden, zeigte
          Straßen und Ansichten ein, in denen für     ris einem französischen Publikum prä-        man „Unzivilisierten“ ihre Zuge-              Werner Scholem, der zu Beginn der
          Juden und Angehörige anderer Minder-        sentiert. Lobend kommentierte der Völ-       hörigkeit zur Gesellschaft ab.                20er-Jahre ein bekannter deutscher
          heiten kein Platz mehr vorgesehen war.      kische Beobachter: „So hat diese absolut                                                   Politiker gewesen war. Der Sohn aus
          Denn das Regime bestimmte, dass sei-        objektive, fast leidenschaftslose Ausstel-                                                 bürgerlich-jüdischem Haus und Bruder
          ne angeblichen Feinde innerhalb der         lung den Zweck, jedem die Augen zu                                                         des späteren Religionswissenschaftlers
          deutschen Bevölkerung im öffentlichen       öffnen anhand unwiderlegbarer Doku-                                                        Gershom Scholem machte sich zu Be-
          Raum nur mehr in negativen, verzerrten      mente.“ Zu diesen angeblich objektiven                                                     ginn der Weimarer Republik einen Na-
          Bildern dargestellt werden durften. In      Dokumenten zählten: Nasen, riesenhaft          verbundenen Rechte. Die meisten Ju-         men als einer der jungen Radikalen in
          der Propaganda des „Stürmers“ etwa,         vergrößerte Nasen, Münder und Ohren,           den, die 1933 zu Fremden und Feinden        der kommunistischen Partei. Wie viele
          wo regelmäßig die angeblichen Ver-          groteske Karnevalsobjekte in musealen          erklärt wurden, lebten seit Generatio-      andere junge Juden suchte er nach ei-
          schwörungen eines „Weltjudentums“ in        Glasvitrinen. Dazwischen fanden sich,          nen in Deutschland. Um ihre Isolation,      nem Bruch mit einer Gesellschaft, die
          Karikaturen visualisiert wurden, oder       kleiner und fast schon unscheinbar,            Beraubung und Verfolgung zu rechtfer-       von Antisemitismus und sozialer Unge-
          im Spielfilm „Jud Süß“, der Juden als       Gipsmasken deutscher Juden – in Kon-           tigen, bediente man sich alter antisemi-    rechtigkeit geprägt war. Damals entwi-
          Vergewaltiger deutscher Frauen dar-         zentrationslagern angefertigte Lebend-         tischer Feindbilder und vermischte sie      ckelte Joseph Goebbels eine persönliche
          stellte und den 20 Millionen deutsche       masken, mit denen deportierte und ge-          mit (anti)modernen Verschwörungsmy-         Feindschaft gegenüber dem Redakteur
          Kinobesucher gesehen hatten oder auch       quälte Menschen in Ausstellungsobjek-          then und pseudowissenschaftlicher           und Politiker Scholem, eine gefährliche
          in den großen Propagandaausstellun-         te transformiert wurden.2                      Rassenforschung.                            Prominenz.
          gen wie der Schau „Der ewige Jude“, die         Die Tradition der Lebendmasken                                                             Mitte der 1920er-Jahre zierte sein
          im November 1937 in München im Bib-         reicht zurück bis ins späte 19. Jahrhun-           Das Ende der offenen, vielfältigen      Porträt bereits nationalsozialistische
          liotheksbau des deutschen Museums           dert, als in der deutschen Kolonie Pa-             Gesellschaft                            Wahlplakate. Kurz darauf geriet Werner
          eröffnet wurde.                             pua-Neuguinea Gipsmasken der indige-           Die Weimarer Republik war zweifelsoh-       Scholem in Clinch mit den Stalinisten in
                                                      nen Bevölkerung angefertigt wurden,            ne eine problematische, fehlerhafte und     der KPD und flog 1926 aus der Partei.
                                                      die man später kolorierte und im Berli-        fragile Demokratie gewesen, aber sie        Ungeachtet dessen tauchte sein Konter-
                                                      ner Wachsfigurenkabinett ausstellte.           war näher an einer offenen, vielfältigen    fei mehr als zehn Jahre später in der gro-
                                                      Diese koloniale Technik, Gesichter in          Gesellschaft als alles, was Deutschland     ßen Münchner Propagandaausstellung
       Das NS-Regime stellte Juden                    Objekte für die Wissenschaft zu ver-           bis dahin erlebt hatte. Weimar brachte      auf, als Inbegriff des Feindes im eigenen
       nur noch in NEGATIVEN Bildern dar.             wandeln, wurde bald von der Fotografie         Freiheiten und ein neues Selbstverständ-    Land. Die Gipsmaske war im KZ Dach-
                                                      abgelöst. Nicht zufällig holten Nazi-Ku-       nis für Frauen, Minderheiten und eine       au angefertigt worden, wo Werner Scho-
                                                      ratoren diese koloniale Praxis 1937 zu-        bis dahin weitgehend stumme Jugend.         lem damals inhaftiert war. Eine entfern-
                                                      rück ins Museum. Es galt, aus Deut-            Dieses rasche und wilde Aufblühen ge-       te Verwandte entdeckte das Objekt in
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IM FOKUS

          der Ausstellung. Wäre nicht auch ein        Buchhandlungen, auf Kaffeetischen            aus der jeweiligen Gegenwart nährt.        schichte, als er die Erinnerungen der
          Namensschild angebracht gewesen, hät-       und Wohnzimmerregalen den diversen           Das Erinnern an Nationalsozialismus        Überlebenden zu „geschichtsvergrö­
          te sie ihn nicht erkannt. Vier Jahre Haft   und vielstimmigen Charakter der ersten       und Holocaust reflektiert diese Prozess-   bernde(n) Mythen“ degradierte, die ei-
          in Gefängnissen und Konzentrationsla-       deutschen Demokratie repräsentierten.        haftigkeit besonders deutlich, weshalb     ner objektiven, auf den Hinterlassen-
          gern hatten Spuren an dem 41-Jährigen       Frauenrechtlerinnen meldeten sich da         der gern gebrauchte Begriff der Erinne-    schaften der Täter basierenden Wissen-
          hinterlassen und die Maske zeigte einen     ebenso zu Wort wie Sozialdemokraten,         rungskultur irreführend ist. Ohne          schaft gegenüberstünden. Den Tätern
          frühzeitig gealterten Mann. Weniger als     Kommunisten, Anarchisten, Sexualwis-         Kenntnis seiner Genese könnte man          und ihren Nachkommen wurde damit
          drei Jahre später, im Sommer 1940,          senschaftler, Pädagogen und Romanci-         glauben, es handle sich um eine per De-    größere Sachlichkeit und Neutralität zu-
          wurde er im KZ Buchenwald erschos-          ers, viele von ihnen Juden. Diese Vielfalt   kret beschlossene politische Entschei-     gesprochen als den Zeitzeugen und ih-
          sen, einer von Zigtausenden, die grund-     wurde 1933 gewaltsam aus öffentlichen        dung, die das Erinnern in den 1950ern      ren Nachkommen.
          los aus der Gemeinschaft der deutschen      Sammlungen entfernt, um das Trugbild         oder 60ern in die Parlamente und In-           Friedländer, Überlebender und Pro-
          Nation ausgeschlossen worden waren          eines homogenen „deutschen Volkes“           nenstadtlagen geholt und eine breite Ge-   fessor für Geschichte in Israel und den
          und derer man sich erst Jahrzehnte spä-     entstehen zu lassen, einer Gesellschaft      denkkultur installiert hat. Nichts an      USA, konterte und forderte eine „inte­
          ter wieder erinnerte – wenn überhaupt.      der Diskriminierung und des Aus-             diesem Begriff verweist auf den langwie-   grierte Geschichte“, die Täter- und Opfer-
                                                      schlusses – und des Vergessens.              rigen, konfliktreichen und oft schmerz-    perspektiven verknüpft und sich damit
              Das Vergessen                               Die Drohung, aus dem europäischen        haften Prozess, der fast ausnahmslos       von einer Deutungshoheit der Täterna­
          Viele wurden und blieben vergessen,         Gedächtnis gelöscht zu werden, war den       auf die hartnäckige Initiative Einzel­ -   tion loslöst. Friedländers Forderung
          ebenso wie die Vielfalt jüdischer Kultu-    Verfolgten nur allzu bewusst. Im War-        ner – Überlebender, Lehrer, Mitglieder
          ren in Vergessenheit geriet. Anfang Mai     schauer Ghetto fand sich eine Gruppe         lokaler Geschichtswerkstätten und viele
          2021 wurde am Münchner Königsplatz          von Intellektuellen um den Historiker        mehr – zurückging; ein Prozess, der erst
          ein Mahnmal in Erinnerung an die Bü-        Emanuel Ringelblum und sammelte al-          lange nach Kriegsende erste große und
          cherverbrennungen 1933 eröffnet. Am         les, was an Dokumenten und Artefak-          sichtbare Erfolge verzeichnete.              Erinnerungskultur braucht eine
          mutmaßlichen Ort der nationalsozialis-      ten auffindbar war, um sowohl die Ge-            Was heute gern mit Stolz unter den       MULTIPERSPEKTIVISCHE Ausrichtung.
          tischen Bücherverbrennungen ist nun         schichte des Ghettos und der Verfolgung      Errungenschaften der „deutschen Erin-
          eine Spirale in den Boden eingelassen,      zu dokumentieren als auch die Ge-            nerungskultur“ aufgezählt wird, ver-
          die 359 Buchtitel von 310 Autoren anei-     schichte und Kultur des polnischen Ju-       danken wir ganz besonders den Überle-
          nanderreiht. Die Titel sowie der Name       dentums vor 1939. Bis heute finden sich      benden und Zeitzeugen. Noch 1966 be-
          des Kunstwerks basieren auf den histo-      viele Bücher, die Wolfgang Herrmann          fürchtete Jean Améry, dass es für deut-
          rischen „schwarzen Listen“ des Berliner     1933 auf seine „schwarzen Listen“ auf-       sche Jugendliche dereinst unmöglich        nach einem multiperspektivischen Erin-
          Bibliothekars Wolfgang Herrmann, die        nahm und die daraufhin öffentlich ver-       sein werde, Goethe zu zitieren, aber       nern brachte einen damals längst fälli-
          grundlegend für die Auswahl der Auto-       brannt wurden, nicht mehr in deutschen       Himmler auszulassen. Améry war einer       gen Wandel im deutschen Nachdenken
          ren und der verbrannten Bücher war.         Bibliotheken. Bis heute tauchen Juden,       von vielen Überlebenden, die zu Zeugen     über die nationalsozialistischen Verbre-
          Das Mahnmal des amerikanisch-deut-          Roma und Sinti und andere in vielen          der deutschen Verdrängung und Igno-        chen und sie kann als Vorbild dienen für
          schen Künstlers Arnold Dreyblatt, „The      Schulcurricula gar nicht oder nur als        ranz der Nachkriegsjahre wurden. Sie       die Aufarbeitung anderer Traumata.
          Blacklist / Die Schwarze Liste“, erinnert   Verfolgte auf, aber nicht dort, wo ihr       waren es, die über Jahrzehnte einen wi-    Seine Geschichte zeigt, wie wichtig wi-
          an Bücher, die in den Jahren vor 1933 in    Platz wäre, nämlich im Zentrum der           derständigen Kampf für das Erinnern        derständiges Denken für die Ausbildung
                                                      deutschen Geschichte als einer multi-        geführt haben, und es dauerte bis in die   von Erinnerungsdiskursen war, und es
                                                      perspektivischen Erzählung.                  1970er- und 80er-Jahre, bis ihre Erzäh-    bis heute ist.
                                                                                                   lungen endlich ein breites Publikum er-        Im November 2019 eröffneten wir in
                                                          Der Prozess des Erinnerns                reichten. Noch Ende der 1980er-Jahre       den Räumen des Münchner NS-Doku-
       Die Bücherverbrennung 1933 sollte              Die Vergangenheit ist nicht abgeschlos-      führte Saul Friedländer einen richtungs-   mentationszentrums die Ausstellung
       jüdische Kultur VERGESSEN machen.              sen, sondern über biografische und           weisenden Briefwechsel mit Martin Bro-     „Tell me about yesterday tomorrow“, in
                                                      strukturelle Kontinuitäten mit dem           szat, dem Direktor des Münchner Insti-     der es, so eine Pressestimme, darum
                                                      Heute verbunden. In diesem Sinn ist          tuts für Zeitgeschichte. Broszat vertrat   ging, zu „Erinnern, um die Welt neu zu
                                                      auch das Erinnern ein Prozess, der sich      die damalige Sicht der deutschen Zeitge-   denken“. Über fünfzig, teilweise eigens
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IM FOKUS

          für die Ausstellung entstandene, künst-      Gemeindearbeit der Pfarrei und das All-        Wehr setzt? Hat der Geschichtsunter-        Gesellschaft schlechthin. Er ist deshalb
          lerische Arbeiten stellten Fragen an die     tagsleben der Abtei integriert wurde.          richt versagt? Oder verblasst die Erinne-   nicht nur eine physische Gefahr für die
          deutsche Erinnerungskultur oder brach-                                                      rung in einer Art natürlichem Vorgang,      jüdischen Gemeinden, sondern ebenso
          ten diese in einen Austausch mit ande-           Zukünftiges Erinnern                       weil die zeitliche Distanz wächst?          ein Symptom und ein Teil der existenti-
          ren kulturellen und nationalen Diskur-       Kürzlich wurde ich in einem Interview                                                      ellen Krise der Demokratie.“3 Diversität,
          sen über traumatische Vergangenheiten.       gefragt, ob nicht auch heutige Stätten jü-                                                 gegenwärtige und vergangene, hat sich
          In diesem Rahmen entstand auch die           discher Kultur in Deutschland als Erin-                                                    nicht adäquat in ein deutsches Kultur-
          Arbeit „The Steeple and the People“ der      nerungsorte betrachtet werden müss-                                                        verständnis eingeschrieben, und es gilt,
          kanadischen Künstlerin Ydessa Hende-         ten? Diese Frage enthüllt den Kern eines     Aus dem Gedenken muss                         neue Erzählungen zu entdecken und
          les, die in der nahegelegenen Kirche der     großen Problems des gesellschaftlichen       VERANTWORTUNG für politisches                 vergessene Menschen zu feiern. Um glo-
          Abtei St. Bonifaz zu sehen war. Die als      Erinnerns hierzulande. Denn Synago-          Handeln, Menschlichkeit und                   bale, rechtsextreme Allianzen abzuweh-
          Tochter von Auschwitz-Überlebenden           gen oder Kulturzentren von Roma und          Empathie folgen.                              ren, brauchen wir eine offene Gesell-
          in Deutschland geborene und in Kanada        Sinti sind keine Erinnerungsorte der                                                       schaft, in der Minderheiten ohne Vorbe-
          aufgewachsene Künstlerin ließ sich mit       deutschen Verbrechen und Genozide.                                                         halte geschützt werden und Anteil ha-
          ihrer Installation sensibel auf diesen be-   Sie sind Symbole dessen, was vergessen                                                     ben an demokratischen Prozessen und
          sonderen Ort ein. In St. Bonifaz, als        wurde, nämlich die Geschichte der Di-                                                      an Erinnerungsdiskursen, nicht als zu
          Kloster und Gemeindezentrum, stehen          versität und Vielfalt vor 1933, die der                                                    erziehendes Publikum oder gar als „Ob-
          Gebet, Einkehr und Gemeinschaft im           Homogenisierungswahn der Nazis aus                  So wichtig ritualisiertes Gedenken     jekte“ in Sammelgebieten von Museen,
          Vordergrund, im klostereigenen Flücht-       Bibliotheken, Museen, Archiven und             ist (und daran habe ich keinen Zweifel),    Archiven oder Bibliotheken, sondern als
          lings- und Obdachlosenheim geht es um        dem Bewusstsein der Menschen „gesäu-           läuft es doch Gefahr, instrumentalisiert    aktive Träger einer vielfältigen Kultur
          Empathie und Solidarität mit den Ver-        bert“ hat. Und es dauerte lange, bis die-      zu werden, wenn sich keine Verantwor-       und Erinnerung. ///
          lierern der wirtschaftlichen und gesell-     se Diversität wieder in der deutschen          tung für politisches Handeln, für
          schaftlichen Srukturen.                      Gesellschaft angekommen war und ist.           Menschlichkeit und Empathie daraus
              Ydessa Hendeles schuf dafür eine             Gerade in diesen langen Monaten            ableitet. Die Erinnerung an den Natio-

                                                                                                                                                                       Autorenfoto: © Orla Connolly
          zeitgenössische künstlerische Fabel, die,    der Pandemie stellt sich die Frage, wel-       nalsozialismus zeigt auf vielen Ebenen,
          rund um die Geschichte der jüdischen         che neuen Wege es für das Sprechen,            wie wichtig gesellschaftliche Verant-
          Gemeinde Fürth, eine alternative, utopi-     Denken und Visualisieren von Erinne-           wortung und Solidarität sind und was
          sche Auslegung einer eigentlich dystopi-     rung geben kann oder soll. Denn ob-            zu lernen ist aus der schleichenden Ra-
          schen Erzählung der Vergangenheit ent-       wohl vieles richtig gemacht wurde, ist es      dikalisierung einer toleranten Gesell-
          warf. Trennung und Verfolgung wurden         mehr als bedenklich, wenn in deutschen         schaft, aus dem Empathie-Verlust ge-
          darin in eine Geschichte von Akzeptanz       Parlamenten eine „Erinnerungswende“            genüber Freunden, Nachbarn oder Kol-        /// DR. MIRJAM ZADOFF
          und Hoffnung verwandelt. Im Zentrum          gefordert wird, und monatelang Pande-          legen, aus der Verantwortung der Er-        ist Direktorin des NS-Dokumentationszen­
          der aufwendigen Installation befand          mieleugner im Verbund mit Verschwö-            möglicher und der Rolle der unschein-       trums München.
          sich die kleine, zerknitterte Fotografie     rungsfanatikern und Rechtsradikalen            baren Mitläufer, der Profiteure und
          einer Gruppe von Jugendlichen und Er-        durch die Innenstädte marschieren, um          Stillhalter, die das Rückgrat des Regi-
          wachsenen aus dem Jahr 1932, das ein-        sich als Opfer einer „Corona-Diktatur“         mes bildeten. Die Grauzonen sind es, in     Anmerkungen
                                                                                                                                                   1
                                                                                                                                                    Grossmann, Rebekka: Geographies of Defiance:
          zige Familienfoto des Vaters der Künst-      zu inszenieren, mit gelbem Stern an der        denen sich die Relevanz und Notwen-           Cross-National Mobilities of German-Jewish
          lerin, das er wahrscheinlich über seine      Brust und Vergleichen mit Anne Frank           digkeit gesellschaftlicher Solidarität,       Youth, 1929-1939, https://www.hsozkult.de/con
                                                                                                                                                    ferencereport/id/tagungsberichte-8940
          Jahre in Auschwitz bei sich getragen         und Sophie Scholl im Mund. Was ist             Verantwortung und Zivilcourage zeigt.        2
                                                                                                                                                    Z adoff, Mirjam: Der rote Hiob: Das Leben des
          und gerettet hatte. Es ist der klösterli-    falsch gelaufen, wenn gewaltsame anti-              „Antisemit ist immer nur der Ande-       Werner Scholem, München 2014.
                                                                                                                                                   3
                                                                                                                                                    R abinovici, Doron: Antisemit ist immer nur der
          chen Gemeinschaft zu verdanken, dass         semitische und rassistische Übergriffe         re“, schrieb der Historiker und Schrift-      Andere. Oder: Veränderungen in der globalen De-
          dieses vielschichtige Kunstwerk, das         zunehmen, wenn rechtsextreme Ideolo-           steller Doron Rabinovici vor kurzem           batte über den neuen Antisemitismus und deren
                                                                                                                                                    österreichische Widerspiegelung, in: Jahrbuch für
          nicht zuletzt die Geschichte des christli-   gien in Polizei und Militär kolportiert        über die aktuellen Debatten zum „neu-         Antisemitismusforschung 29, 2020, S. 314-321.
          chen Antisemitismus in Bayern offen-         werden, ohne dass eine Gesellschaft            en Antisemitismus“, und weiter: „Der
          legt, beinahe ein ganzes Jahr lang in die    sich geschlossen und solidarisch zur           Judenhass richtet sich gegen die offene
26   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021                                                                                                                                                                   498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   27
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