AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Nach der Bundestagswahl

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Nach der Bundestagswahl
71. Jahrgang, 47–49/2021, 22. November 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Nach der
  Bundestagswahl
      Sophie Pornschlegel                    Jessica Fortin-Rittberger ·
      WAS DIE NEUE                                 Corinna Kröber
    BUNDESREGIERUNG                           DER BUNDESTAG:
     NUN TUN MUSS                          EIN „REPRÄSENTATIVES“
                                                PARLAMENT?
     Rüdiger Schmitt-Beck
      WER WÄHLTE WEN                            Reimut Zohlnhöfer
 BEI DER BUNDESTAGSWAHL?                   EINE REFORMBILANZ
                                         DER REGIERUNGEN UNTER
      Karl-Rudolf Korte                      ANGELA MERKEL
 BUNDESTAGSWAHLKAMPF
  IN ZEITEN DER PANDEMIE                           Frank Decker
                                           BRAUCHEN WIR EINE
        Heike Merten                      AMTSZEITBEGRENZUNG
    WÄHLEN IN ZEITEN                      FÜR BUNDESKANZLER?
     DER PANDEMIE

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Nach der Bundestagswahl
Nach der Bundestagswahl
                              APuZ 47–49/2021
SOPHIE PORNSCHLEGEL                                   JESSICA FORTIN-RITTBERGER ·
WAS DIE NEUE BUNDESREGIERUNG                          CORINNA KRÖBER
NUN TUN MUSS                                          DER BUNDESTAG:
Über die wichtigsten gesellschaftlichen,              EIN „REPRÄSENTATIVES“ PARLAMENT?
wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen           In der Demokratie sollte das Parlament idealer-
Transformationsprozesse wurde im Wahlkampf            weise ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. Trotz
ebenso wenig gesprochen wie über die Rolle            kleinerer Verbesserungen, etwa bei der Reprä-
Deutschlands in der EU und die Relevanz               sentation von Frauen und jüngeren Menschen,
europäischer Politik. Das muss sich ändern.           wird auch der neu gewählte Bundestag diesem
Seite 04–09                                           Anspruch nicht wirklich gerecht.
                                                      Seite 34–40
RÜDIGER SCHMITT-BECK
WER WÄHLTE WEN BEI DER                                REIMUT ZOHLNHÖFER
BUNDESTAGSWAHL 2021?                                  EINE REFORMBILANZ DER REGIERUNGEN
Die Bundestagswahl 2021 könnte als Wen-               UNTER ANGELA MERKEL
depunkt in die Wahlgeschichte Deutschlands            Ein klares Reformprofil kann den Regierungen
eingehen. Jenseits bekannter Muster zeigen sich       unter Angela Merkel nicht attestiert werden.
tiefgreifende Veränderungen, die insbesondere         Vielmehr mussten diese auf tiefgreifende Krisen
für die ehemals dominanten Volksparteien eine         reagieren, was die Kapazitäten und Ressourcen
ungewisse Zukunft signalisieren.                      der Akteure band und wenig eigene Schwer-
Seite 10–16                                           punktsetzung zuließ.
                                                      Seite 42–47
KARL-RUDOLF KORTE
BUNDESTAGSWAHLKAMPF                                   FRANK DECKER
IN ZEITEN DER PANDEMIE                                BRAUCHEN WIR EINE AMTSZEITBEGRENZUNG
Der weitgehend zumutungsfreie Bundestags-             FÜR BUNDESKANZLER?
wahlkampf 2021 war geprägt durch eine Nachfra-        Angela Merkels vierte Amtsperiode war das
ge nach Zukunftssicherheit, die nicht alle Parteien   Schulbeispiel eines gescheiterten Machtüber-
gleichermaßen bedienen konnten. Die Pandemie          gangs in der parlamentarischen Demokratie.
und der Kandidaturverzicht der Bundeskanzlerin        Deshalb aber eine Amtszeitbegrenzung für
prägten den Wahlkampf nachhaltig.                     Bundeskanzler zu fordern, wird dem parlamen-
Seite 17–23                                           tarischen Regierungssystem nicht gerecht.
                                                      Seite 49–54
HEIKE MERTEN
WÄHLEN IN ZEITEN DER PANDEMIE
Die termingerechte Durchführung von Wahlen
ist als wesentlicher Vorgang demokratischer
Legitimation unverzichtbar. In Pandemie- und
Krisenzeiten sind aber sowohl das Wahlverfah-
ren als auch die Ausübung des Stimmrechts vor
besondere Herausforderungen gestellt.
Seite 26–33
EDITORIAL
Die Bundestagswahl 2021 markiert eine Zäsur. Nach 16 Jahren endet die
Amtszeit der „ewigen Kanzlerin“ Angela Merkel. Die heute unter 25-Jährigen,
immerhin fast ein Viertel der Bevölkerung, haben in ihrer Lebenszeit keinen
anderen Bundeskanzler bewusst erlebt. Sie und viele andere werden die Regie-
rungszeit der ersten deutschen Bundeskanzlerin als prägend, aber auch als Zeit
der Krisen und der Krisenreaktionen in Erinnerung behalten. Die Finanz- und
Eurokrise, die „Flüchtlingskrise“, die Klima- und die Coronakrise prägten diese
Regierungsjahre merklich.
   Auch in anderer Hinsicht bedeutet diese Bundestagswahl einen Einschnitt:
Zum ersten Mal fand sie unter den Bedingungen einer Pandemie statt, die
nicht nur die politischen Wettbewerber, sondern auch die demokratischen
Institutionen und Verfahren vor Herausforderungen stellte. Zum ersten Mal
trat eine Amtsinhaberin nicht mehr zur Wahl an, während die Grünen erstmals
in ihrer Parteigeschichte eine eigene Kanzlerkandidatin aufstellten. Zum ersten
Mal machten die Briefwähler fast die Hälfte aller Wählenden aus. Und zum
ersten Mal scheint vor dem Hintergrund abnehmender politischer Loyalitäten,
einer steigenden Volatilität des Wahlverhaltens und einer zunehmenden Frag-
mentierung des Parteiensystems eine Koalition dreier unterschiedlicher Parteien
möglich.
   Die zu lösenden Probleme und Herausforderungen sind mit der Bundes-
tagswahl nicht kleiner geworden. Auch die nächste Bundesregierung wird sich
in neuen und alten Krisen zu bewähren haben, neben der Krisenbewältigung
aber auch neue Impulse setzen müssen, etwa beim klimagerechten Umbau der
Wirtschaft oder der Erarbeitung eines gerechteren Steuersystems. Dass ihr das
gelingen wird, ist nicht sicher. Es spricht aber auch nichts dagegen, dass die Bun-
destagswahl 2021 in der Rückschau einmal als Anfang eines neuen Aufbruchs
wahrgenommen werden wird.

                                                        Sascha Kneip

                                                                                 03
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                                                   ESSAY

                             NEUANFANG 2021?
              Was die neue Bundesregierung nun tun muss
                                         Sophie Pornschlegel

Trotz der ideologischen Unterschiede zwischen           schen Wäh­ler*­innen mit Fotos eines im Kontext
den politischen Parteien gab es in der diesjähri-       der Flutkatastrophe ungehörig lachenden Armin
gen Kampagne zur Bundestagswahl eine gemein-            Laschet oder mit medial aufgebauschten Plagiats-
same Devise: die Zukunft Deutschlands gestalten.        vorwürfen gegen Annalena Baerbock beschäftigt,
Die SPD nannte ihr Wahlprogramm „Zukunfts-              kurzum: mit emotionalisierenden Personalfragen,
programm“; die CDU versprach ein „modernes              hinter denen die Sachfragen verschwanden.
Deutschland“; die Grünen warben mit dem Slo-                Themen der Europa- und Außenpolitik
gan: „Bereit, weil Ihr es seid“; die FDP fasste den     tauchten in der Wahlkampagne ebenfalls nicht
Bedarf nach Veränderung in den Satz „Nie gab es         auf. Die EU wurde in den Triell-Talkshows mit
mehr zu tun“. In der Tat, es gibt in der Bundesre-      den Kan­di­dat*­innen nicht ein einziges Mal er-
publik zahlreiche Herausforderungen, die in den         wähnt. Dabei stehen wir vor globalen Herausfor-
vergangenen Jahren entweder unzureichend oder           derungen, die auf nationaler Ebene bekanntlich
gar nicht angegangen worden sind: die Bekämp-           nicht gelöst werden können. Es wird wenig nüt-
fung des Klimawandels beziehungsweise der Um-           zen, wenn Deutschland 2050 klimaneutral ist, in
bau zu einer klimaneutralen Wirtschaft; die Di-         Polen aber weiterhin Braunkohle gefördert wird.
gitalisierung, ob in der öffentlichen Verwaltung        Eine deutsche Besteuerung von Tech-Unterneh-
oder in den Schulen; große Infrastrukturprojek-         men ist ohne eine internationale Kooperation
te in den Bereichen Mobilität, Energie oder der         sinnlos. Genauso wenig ist eine deutsche Chi-
Telekommunikation. Die Botschaft der Parteien           na-Strategie erfolgversprechend, wenn sie nicht
war jedenfalls eindeutig: Die nächste Bundesre-         europäisch abgestimmt ist. Und schließlich sind
gierung muss die Weichen für die Zukunft stellen.       deutsche Bür­ger*­innen weitaus stärker von den
    Leider hielten die Kampagnenslogans nicht,          Entscheidungen in Brüssel betroffen, als ihnen in
was sie versprachen. Die Wahlkampagne selbst            der Regel bewusst ist. Es wäre deswegen ihr gutes
war so gut wie gar nicht auf die Zukunft ausge-         Recht gewesen, zu erfahren, was die nächste Bun-
richtet. Das politische System schien in erster Li-     desregierung in diesem Bereich plant. Nichts von
nie mit sich selbst beschäftigt. Es ist zwar ver-       alledem wurde diskutiert.
ständlich, dass die Öffentlichkeit sich nach dem            Die Kampagne hinterließ das etwas beunruhi-
Ende der „Ära Merkel“ vor allem für die Persona-        gende Gefühl, dass unsere Ent­schei­dungs­trä­ger*­
lien der unterschiedlichen Kanz­ler­kan­di­dat*­innen   innen – und womöglich auch viele unserer Mit­
interessiert, dennoch war das Ausbleiben inhalt-        bür­ger*­innen – sich der Dimension der globalen
licher Auseinandersetzungen zu den anstehenden          Herausforderungen, mit denen wir in den nächs-
Zukunftsthemen und Sachfragen bemerkenswert:            ten Jahren konfrontiert sein werden, nur vage be-
Es gab keine Diskussionen zu den unterschiedli-         wusst sind. Und noch besorgniserregender ist der
chen Lösungsansätzen der Parteien, Klimaneu­            Umstand, dass die Ent­schei­dungs­trä­ger*­innen im
tralität zu erreichen; es wurde nicht deutlich, was     Wahlkampf so gut wie gar nicht über die gesell-
unter der Floskel „Digitalisierung“ jeweils ge-         schaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und
meint war; es gab keine Auseinandersetzungen            sozialen Transformationsprozesse gesprochen
zur Frage, wie die dringend benötigten öffentli-        haben, die uns in den nächsten Jahren, ja Jahr-
chen Investitionen mit der im Grundgesetz festge-       zehnten bevorstehen. Man kann nur hoffen, dass
schriebenen Schuldenbremse kompatibel gemacht           die nächste Bundesregierung diese großen Aufga-
werden könnten. Stattdessen wurden die deut-            ben tatsächlich auch angehen wird.

04
Nach der Bundestagswahl APuZ

                 GRO ẞ E                                             blem konfrontiert: Wie können wir derart tief-
         TRANSFORMATIONSPROZESSE                                     greifende Veränderungen in kurzer Zeit auf den
                                                                     Weg bringen? Wie lässt sich der Umbau unseres
Zunächst einmal wird es darum gehen, einen kon-                      Wirtschaftsmodells erfolgreich bewerkstelligen?
kreten Fahrplan zu entwickeln für die Einhaltung                     Darüber hinaus gilt es, die anstehenden Verände-
des Ziels von maximal 1,5 Grad Erderwärmung                          rungen so gerecht wie möglich zu gestalten. Die
sowie der rechtlich bindenden europäischen Kli-                      Kosten der Transformation dürfen nicht einfach
maziele: Klimaneutralität bis 2050, Reduktion                        auf die Ärmeren abgewälzt werden. Das Risiko
des CO2-Ausstoßes um 55 Prozent bis 2030. In                         ist groß, dass unsere Gesellschaft sich noch stär-
Deutschland selbst sind ebenfalls Zielsetzungen                      ker spaltet und polarisiert, wenn die Frage der
fixiert, so beispielsweise in der Nachhaltigkeits-                   Gerechtigkeit nur unzureichend berücksichtigt
strategie der Bundesregierung. Darüber hinaus                        wird. Und schließlich muss der gesamte Transfor-
gilt es, die diesjährige Entscheidung des Bundes-                    mationsprozess in einen breiteren europäischen
verfassungsgerichts zum Klimapaket zu berück-                        und internationalen Rahmen eingebettet werden,
sichtigen, die feststellt, dass die Bundesregierung                  der noch viel zu oft als bloßes Anhängsel betrach-
die zukünftigen Generationen nicht ausreichend                       tet wird. Deutschland kann nur im Rahmen der
vor den Folgen des Klimawandels schützt, das                         EU eine handlungsfähige Rolle in internationalen
Klimapaket deswegen teilweise verfassungswid-                        Verhandlungen spielen, die auch die Staaten mit
rig ist.01 Diese Zielsetzungen sind, wie gesagt,                     den größten CO2-Emissionen dazu bewegt, ver-
rechtlich verbindlich. Was zur Debatte steht, ist                    bindliche Klimaziele zu akzeptieren.
die konkrete Umsetzung der Maßnahmen, die zu                             Auch im Bereich der Digitalisierung ist in den
ihrer Realisierung notwendig sind. Um sie auch                       letzten Jahren viel zu wenig geschehen. Der Be-
nur annähernd zu erreichen, sind enorme Verän-                       fund lautet: Deutschland hinkt im europäischen
derungen unserer Wirtschaft und unseres Lebens-                      Vergleich hinterher. Es wurde nicht genügend in
stils notwendig. Die nächste Bundesregierung                         den Breitbandausbau investiert, zum Teil wurden
sollte deshalb in den nächsten vier Jahren massi-                    kontraproduktive Fördermodelle eingesetzt. Bei
ve öffentliche Investitionen ins Auge fassen und                     der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung
so schnell wie möglich konkrete Schritte einlei-                     und des Schulsystems ist Deutschland noch lange
ten. Die Zeit ist beim Klimawandel ein kritischer                    nicht da, wo es sein könnte und sollte. Auch hier
Faktor. Wenn wir die „sozial-ökologische Trans-                      spielt die europäische Dimension eine bedeutende
formation“ nicht schnell genug angehen, werden                       Rolle. Es wird unmöglich sein, eine wertebasier-
wir es nicht mehr schaffen, die Lebensgrundla-                       te künstliche Intelligenz durchzusetzen, wenn die
gen der zukünftigen Generationen zu schützen.                        Bundesrepublik sich nicht europäisch verbündet
Das Ausmaß der dann anstehenden Krisen wäre                          und Standards international verbindlich macht.02
­unabsehbar.                                                         Auch werden wir allein auf nationaler Ebene die
     Die Gestaltung eines solchen Transformati-                      großen Tech-Unternehmen nicht ausreichend re-
onsprozesses ist politisch hochkomplex. Die Ent-                     gulieren können. Um Druck auf die Tech-Gi-
scheidungen, die getroffen werden müssen, brin-                      ganten auszuüben, bedarf es einer engen euro-
gen harte politische Auseinandersetzungen mit                        päischen Kooperation. Und nicht zuletzt gilt es
sich und werfen eine ganze Reihe grundsätzlicher                     auch, die Digitalisierung prinzipiell stärker in ih-
Fragen auf: Wie definieren wir als Gesellschaft                      rer geopolitischen Dimension zu denken, etwa im
Freiheit? Wie viel kann und soll der Markt über-                     Bereich der Industriepolitik, wo es darum gehen
nehmen, welche Rolle soll der Staat spielen? Ne-                     wird, „staatliche und unternehmerische Investiti-
ben den politischen Auseinandersetzungen, die                        onen zu verknüpfen, um den aggressiven Riesen
mit dem Transformationsprozess einhergehen, ist                      China und USA Paroli zu bieten – ob bei Chips,
die Politik zusätzlich mit einem Umsetzungspro-                      E-Autos, Pharma oder künstlicher ­Intelligenz“.03

01 Vgl. Johannes Schneider, Es ist marktwirtschaftlich, nach         02 Vgl. Max Hoppenstedt, Wie Deutschland aus der Digital-
der begrenzten Ressource zu fragen. Interview mit Maja Göpel,        Misere herauskommen kann, 27. 9. 2021, www.spiegel.de/a-
29. 9. 2021, www.zeit.de/kultur/​2021-​09/maja-​goepel-​bundes-      bf15ef10-3d4d-4b9b-9867-f862df17e78f.
tagswahl-​klimakrise-​fdp-​gruene-​wandel-​gesellschaft-​transfor-   03 Alexander Hagelüken, Deutschlands Zukunft braucht mehr
mationsforscherin.                                                   Staat, 28. 9. 2021, www.sueddeutsche.de/1.5424593.

                                                                                                                             05
APuZ 47–49/2021

     Viele dieser Transformationsprozesse sind be-    Nachrichten weiterhin per Fax verschicken müs-
reits durch die Coronakrise beschleunigt worden:      sen, wenn wir keine Häuser haben, deren Isolati-
Wir haben unsere Arbeitsweise schneller digita-       on auch vor Hitzewellen schützt?
lisieren müssen; mit den Einschränkungen wur-
den der Fernreiseverkehr lahmgelegt und die                 FÜR EINEN NEUEN POLITIKMODUS
CO2-Emissionen drastisch reduziert. Dabei sind
zahlreiche wirtschaftliche und soziale Missstän-      Dass die Wäh­ler*­innen sich Wandel wünschen,
de sichtbar geworden. Gesellschaftlich wichtige       geht aus dem Ergebnis der Bundestagswahl deut-
Berufe – Krankenpfleger, Kassiererin, Post- und       lich hervor. Zunächst einmal haben sie sich ein-
Paketbote etwa – müssen dringend aufgewertet          deutig gegen ein Weiterregieren der Union aus-
werden. Kürzungen im Gesundheitswesen füh-            gesprochen. CDU und CSU rutschten von
ren zwar zu weniger Schulden, kosten aber Pa-         32,9 Prozent der Stimmen 2017 auf 24,1 Prozent
tientenleben. Gleichberechtigung ist ein fragi-       2021, ihr bisher schlechtestes Ergebnis. Rund
les Konstrukt, das politisch wesentlich stärkeren     zwölf Millionen Wäh­ler*­innen gaben ihre Zweit-
Rückhalt braucht, damit nicht wieder nur die          stimme der SPD und ihrem Kandidaten Olaf
Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind,        Scholz. Die Deutschen bevorzugen also mehr-
sobald Krippe oder Kita geschlossen werden. Mit       heitlich einen Mitte-Kurs der Volksparteien.
der Coronakrise haben sich überdies die sozialen      Zweitens ist die Kluft zwischen Jung und Alt ge-
Ungleichheiten in unserer Gesellschaft verschärft.    wachsen. Die jungen Wäh­ler*­innen haben massiv
Prekäre Arbeitsverhältnisse sind im wohlhaben-        für die Grünen und die FDP gestimmt, die mit
den Deutschland keine Seltenheit. Viele Men-          den Themen Klimawandel und Digitalisierung
schen haben mit der Krise ihren Lebensunterhalt       Wahlkampf gemacht haben, während die älteren
verloren und sind sozial „abgestiegen“. Kinder        Bevölkerungsgruppen weiterhin SPD und CDU/
aus ärmeren Verhältnissen wurden weiter be-           CSU wählten. Schließlich zeigt sich, dass die AfD
nachteiligt. Sie hatten keinen Zugang zu IT-Ge-       trotz des durchwachsenen Gesamtergebnisses in
räten, die sie für den Unterricht gebraucht hätten;   den ostdeutschen Bundesländern dauerhaft Fuß
sie hatten keine Rückzugsorte, um ihre Hausauf-       gefasst hat; die Partei konnte in Thüringen, Sach-
gaben zu machen; ihnen standen keine Eltern hel-      sen und Sachsen-Anhalt 16 Direktmandate ergat-
fend zur Seite. Zwar scheinen wir das Gröbste         tern. Auch 32 Jahre nach der Wende gibt es noch
der Krise überwunden zu haben, doch der soziale       massive, mittlerweile konsolidierte Unterschie-
Ausgleich sollte für die nächste Bundesregierung      de zwischen Ost und West.04 Insgesamt macht
eine klare politische Priorität darstellen. Konkret   die Bundestagswahl deutlich, dass es nach 16 Jah-
würde das etwa bedeuten, den Mindestlohn an-          ren Kanzlerschaft Angela Merkels zwar einen
zuheben, Hartz IV zu reformieren, die Steuerlas-      Wunsch nach Wandel gibt, dass sich gleichzeitig
ten gerechter zu verteilen und das Bildungssys-       aber auch neue Risse in unserer Gesellschaft auf-
tem inklusiver und fairer zu gestalten.               getan haben, die dringend gekittet werden müs-
     Dabei ist es wichtig, die zukünftigen Ausga-     sen. Ohne starken gesellschaftlichen und demo-
ben in den Bereichen Klima, Digitalisierung und       kratischen Rückhalt werden die anstehenden
Soziales nicht als leidige Kosten zu verstehen,       Transformationsprozesse politisch scheitern.
sondern als Investitionen in die Lebensqualität           Zweifellos wird es mit einer neuen Bun-
aller Bür­ger*­innen – insbesondere der jüngeren      desregierung auch zu politischen Veränderun-
Generation. Allzu oft werden öffentliche Inves-       gen kommen. Doch sollte man auch eine radi-
titionen noch als Schulden verstanden, die uns        kale Änderung unseres bisherigen Politikmodus
und die zukünftigen Generationen „belasten“.          ins Auge fassen. Bisher verhindern unsere poli-
Das bloße Schuldenkalkül ist allerdings kurz-         tischen Rahmenbedingungen den sozial-ökolo-
schlüssig: Nicht zu handeln und nicht zu inves-       gischen Transformationsprozess eher, als dass sie
tieren wäre weitaus gefährlicher. Ohne Investiti-     ihn aktiv vorantreiben. Der traditionelle deutsche
onen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz
werden wir für die Zukunft nicht gerüstet sein.
                                                      04 Vgl. Magdalena Neubig, Das AfD-Wahlergebnis ist ein ge-
Was bringt eine „schwarze Null“, wenn in den          samtdeutsches Problem, 3. 10. 2021, www.deutschlandfunk.de/
Schulen keine digitalen Kompetenzen vermittelt        sachsen-​und-​thueringen-​das-​afd-​wahlergebnis-​ist-​ein.​720.
werden können, wenn die Gesundheitsämter ihre         de.html?​dram:​article_id=​503809.

06
Nach der Bundestagswahl APuZ

Inkrementalismus, wie er für die Merkel-Kanz-                     geschäft könnte dazu führen, dass Fehler nicht
lerschaft der vergangenen 16 Jahre prägend war,                   dadurch noch verschlimmert werden, dass man
ist angesichts der gegebenen Herausforderungen                    sie, wie bislang üblich, permanent zu verheim-
unangemessen. Die letzten Jahre zeichneten sich                   lichen oder zu vertuschen sucht. Insbesondere
vor allem durch ein auf Dauer gestelltes Kri­sen­                 bei komplexen und offenen Prozessen, die in der
ma­nage­ment aus, das viele strategische Debatten                 Geschichte einmalig sind, werden zwangsläufig
links liegen ließ. Natürlich gehört Krisenmanage-                 Fehlentscheidungen getroffen. Po­li­ti­ker*­innen
ment zum politischen Alltag. Wenn allerdings nur                  sind keine unfehlbaren Wesen, und geschichtli-
noch „gemanagt“ wird, kommen die langfristigen                    che Prozesse sind kontingent. Eine mangelhaf-
politischen Prozesse zu kurz und werden die po-                   te Fehlerkultur führt dazu, dass politische Ent­
litischen Anreize vermindert, die großen Trans-                   schei­dungs­trä­ger*­innen dazu neigen, sich aus
formationsprozesse anzugehen. Die mediale Öf-                     Angst vor einem Gesichts- und Machtverlust
fentlichkeit spielt dabei eine wesentliche Rolle.                 ihrer Verantwortung zu entziehen. Genau das
Ob Druck auf die Politik ausgeübt wird oder                       aber führt zu schlechten Entscheidungen. Statt
nicht, liegt vor allem an ihr. Schaut man sich die                sachorientiert nach tragfähigen neuen Lösungen
Inhalte der Pressekonferenzen von Frau Merkel                     oder Korrekturen zu suchen, versucht man, die
in den letzten Jahren an, wird man schnell bemer-                 Verantwortung für getroffene Entscheidungen
ken, dass es darin vor allem um Themen ging, die                  schnell auf andere abzuwälzen. Dieses System
nur sehr kurzfristig relevant waren. Grundsätz-                   gilt es zu durchbrechen. Die kommende Bun-
liche (und langfristige) Fragen der Europa-, Kli-                 desregierung könnte sich hier etwa die Prinzipi-
ma- oder Wirtschaftspolitik haben das Interesse                   en des „humble government“ zu eigen machen,
der Jour­na­list*­innen kaum geweckt.05                           wie sie von der finnischen Denkfabrik Demos
     Ein weiteres Problem ist der Zeithorizont                    Helsinki entwickelt worden sind und von der
der Politik. Angesichts der kurzen Legislaturpe-                  finnischen Regierung bereits umgesetzt werden.
rioden schauen Politiker*­innen viel stärker auf                  Im Kern geht es um eine „lernende Regierung“,
schnelle Erfolge als auf langfristige Gewinne.                    die iterativ vorgeht und aus ihren eigenen (einge-
Letztere werden nur selten belohnt. Wie soll man                  standenen) Fehlern lernt. Prozessverläufe wer-
wiedergewählt werden, wenn die Ergebnisse be-                     den nicht von vornherein unveränderlich fest-
stimmter Entscheidungen (noch) nicht abschätz-                    legt, sondern Entscheidungen müssen ständig
bar sind? Und warum sollten Ent­schei­dungs­trä­                  neu justiert werden. Gleichzeitig gilt es, die Ver-
ger*­innen tiefgreifende Transformationsprozesse                  antwortung für prinzipielle politische Zielset-
angehen, wenn viele Bür­ger*­innen Stabilität und                 zungen wiederherzustellen. So fehlt es etwa an
Status quo bevorzugen? Veränderung bedeutet                       einer Rechenschaftspflicht für absehbare Folgen
Unsicherheit, und Unsicherheit ist ein Angstfak-                  des Nichthandelns: Im Jahr 2050 werden ver-
tor, den man möglichst zu vermeiden versucht.                     mutlich keine Ent­schei­dungs­trä­ger*­innen mehr
Das politische System müsste deswegen politi-                     im Amt sein, die für ihre nicht getroffenen poli-
schen Mut viel stärker belohnen als bisher, insbe-                tischen Entscheidungen zum Klimawandel poli-
sondere dann, wenn unbequeme Entscheidungen                       tisch geradestehen.
dazu beitragen, langfristige Ziele – Klimaneutra-                        Damit verbunden ist die Frage, wie man Po­
lität zum Beispiel – zu realisieren. Man sollte des-              li­ti­ker*­innen dazu verpflichtet, sich mit kompli-
wegen versuchen, „Zukunftsräte“, wie sie von                      zierten, kontroversen, sachlich unübersichtlichen
Patrizia Nanz und Claus Leggewie vorgeschla-                      Themen auseinanderzusetzen, die nicht unmittel-
gen worden sind, zu institutionalisieren.                         bar im eigenen machtpolitischen Interesse liegen.
     Darüber hinaus stellt unsere „Fehlerkul-                     Populäre Entscheidungen sind bekanntlich nicht
tur“ ein ernstzunehmendes Hindernis für die                       unbedingt die besten Entscheidungen. Zwar ist es
Handlungsfähigkeit der Politik dar. Ein ande-                     demokratisch, die Mehrheitsmeinung zu berück-
rer Umgang mit Fehlern im politischen Tages-                      sichtigen, allerdings kann das Mehrheitsprinzip
                                                                  auch zu gefährlichen Schieflagen führen. So re-
                                                                  präsentieren die Parteien eine Mehrheit der (äl-
05 Vgl. Nicolas Heronymus et al., Was Angela Merkel umtreibt,
30. 6. 2021, www.zeit.de/politik/deutschland/​2021-​06/angela-​
                                                                  teren) Bevölkerung in Deutschland, während die
merkel-​wochenberichte-​bundeskanzlerin-​themen-​deutschland-​    18- bis 29-Jährigen nur gut 14 Prozent der Wahl-
umfragen.                                                         berechtigten ausmachen. Die über 60-Jährigen

                                                                                                                    07
APuZ 47–49/2021

bringen es dagegen auf rund 37 Prozent.06 Das                     änderungen erfolgreich umsetzen. Dazu muss
Problem liegt auf der Hand: Die Jüngeren werden                   auch ein öffentlicher Raum wiederhergestellt wer-
die Kosten für ein Scheitern der Klimapolitik zu                  den, der es erlaubt, die damit verbundenen Kon-
tragen haben. Dabei wird es nicht nur darum ge-                   flikte auszutragen, und der zu einem Ausgleich
hen, immer „mehr und drastischere Reduktions-                     der verschiedenen Interessen beiträgt, während
lasten zu schultern, um die Klimakrise zu begren-                 gleichzeitig Minderheiten geschützt werden. Das
zen, sondern auch die immer schlimmeren Folgen                    erfordert vor allem auch, dass die nächste Bundes-
der Klimakrise selbst zu bewältigen“.07 Um hier                   regierung sich wesentlich stärker, als es bislang der
eine Machtbalance herzustellen, könnte man etwa                   Fall war, dafür einsetzt, die Polarisierung unserer
ein Wahlrecht ab 16 Jahren in Erwägung ziehen.                    Gesellschaft zu überwinden, etwa indem effizi-
     Gleichzeitig werden politisch sehr oft Par-                  ente Regelungen gegen die im Netz grassierende
tikularinteressen vertreten, die für die Mehr-                    Desinformation durchgesetzt werden.
heit schädlich sind. Beispiel Energiewende: Wir                       Diese Erweiterung der Demokratie bedeutet
wissen alle, dass erneuerbare Energien ausge-                     auch, dass wir die nationale Politik noch viel stär-
baut werden müssen. Viele Bür­ger*­innen möch-                    ker mit der europäischen Ebene verknüpfen. Vie-
ten jedoch weder Stromtrassen noch Windräder                      le Kompetenzen liegen längst nicht mehr in Ber-
in ihren Hintergärten sehen, und Po­li­ti­ker*­innen              lin, sondern in Brüssel, wo die Bundesregierung
wiederum möchten nicht die Unterstützung die-                     regelmäßig mit 26 anderen Regierungen mit­ent­
ser Wählergruppe verlieren und ziehen es des-                     scheidet. Trotzdem werden die meisten politi-
halb vor, weitreichende Entscheidungen für den                    schen Themen nach wie vor ausschließlich im na-
Klimaschutz vor sich herzuschieben. Die Über-                     tionalen Rahmen diskutiert, ohne dass über die
repräsentation von Partikularinteressen in un-                    Grenzen hinweg gedacht würde. Das mangeln-
serem politischen System wird besonders dann                      de Interesse an Europa in Deutschland ist poli-
problematisch, wenn sie dazu führt, dass die Po-                  tisch außerordentlich problematisch. Das viel
litik sich nicht mehr auf das Grundsätzliche fo-                  beschworene „Demokratiedefizit“ der EU ist
kussiert, nämlich eine faire und gute Zukunft für                 hierbei nicht die hauptsächliche Herausforde-
alle Bürgerinnen und Bürger – auch für diejeni-                   rung, sondern das mangelnde Interesse der nati-
gen, die weniger (finanzielle) Mittel haben, ihre                 onalen Po­li­ti­ker*­innen, sich ernsthaft mit der EU
Interessen durchzusetzen. Die Wiederherstellung                   zu beschäftigen. Auch hier geht es letztlich wie-
politischer Gleichheit erfordert mithin neue „An-                 der um eine simple machtpolitische Frage: Wel-
reizsysteme“, damit jene Po­li­ti­ker*­innen nicht                ches Interesse haben nationale Po­li­ti­ker*­innen,
machtpolitisch benachteiligt werden, die sich,                    Macht an die EU abzugeben, auch wenn die EU
jenseits jeder Klientelpolitik, für Bildung, Ge-                  dadurch handlungsfähiger würde? Es ist bequem,
sundheit und Wohnraum für alle einsetzen.                         Brüssel in schwierigen Situationen als Sünden-
                                                                  bock zu benutzen, anstatt selbst Verantwortung
         DEMOKRATIE ERWEITERN –                                   zu übernehmen. Ein schlagendes Beispiel für das
       UND DABEI EUROPA MITDENKEN                                 gängige Prinzip „Erfolge nationalisieren, Schei-
                                                                  tern europäisieren“ waren die Impfstoffbeschaf-
Über die Veränderung des bisherigen Politik-                      fungsmaßnahmen der EU-Kommission. Die EU
modus hinaus wird die nächste Bundesregierung                     wurde für ihre Politik von nationalen Ent­schei­
auch daran arbeiten müssen, die demokratischen                    dungs­trä­ger*­innen permanent kritisiert, obwohl
Prozesse in unserer Gesellschaft zu erweitern                     Bund und Länder für Fehlentscheidungen nicht
und zu vertiefen. Nur dann, wenn alle Bürgerin-                   minder verantwortlich waren.
nen und Bürger des Landes gleichermaßen an den                        Die nächste Bundesregierung sollte sich des-
Transformationsprozessen beteiligt werden, kann                   wegen intensiver als bisher mit Demokratisie-
die Politik die anstehenden, weitreichenden Ver-                  rungsprozessen auseinandersetzen, und zwar auf
                                                                  nationaler, lokaler, regionaler und europäischer
                                                                  Ebene. Unsere Demokratie braucht Reformen,
06 Vgl. Okan Bellikli, Wo sind nur die U40-Themen?, 5. 9. 2021,
                                                                  die das Gemeinwohl wieder ins Zentrum der poli-
www.spiegel.de/a-38f87ab4-69bb-4250-903f-c1b9ef317c3f.
07 Bernd Ulrich, Die Befreiung der Freiheit, 30. 4. 2021, www.
                                                                  tischen Interessen stellen und die Po­li­ti­ker*­innen
zeit.de/politik/deutschland/​2021-​04/karlsruhe-​bundesverfas-    dazu veranlassen, sich verantwortungsbewusst
sungsgericht-​klimaschutz-​urteil-​grundgesetz-​freiheit.         auch gegenüber den zukünftigen Generationen

08
Nach der Bundestagswahl APuZ

zu verhalten. Es dürfen nicht diejenigen benach-         auch fragwürdig. Es besteht die Chance, dass mit
teiligt werden, die langfristige politische Verände-     einem neuen politischen Spitzenpersonal auch
rungen voranbringen wollen. Und nicht zuletzt            neue Ideen und eine neue Dynamik in die deut-
braucht es Prozesse und Institutionen, die einen         sche Politik kommen. Fortschritte in der Klima-
gerechten Interessenausgleich ermöglichen.               politik, der Digitalisierung und im Bereich der
                                                         sozialen Gerechtigkeit wären wünschenswert.
          RADIKALE VERÄNDERUNG                               Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird
           STATT TRIPPELSCHRITTE                         es sein, die hier skizzierten Herausforderungen
                                                         so schnell und so effektiv wie möglich anzuge-
Im europäischen und internationalen Vergleich            hen. Eine Fortsetzung der Trippelschrittpolitik
nimmt Deutschland eine privilegierte Position            wäre für die Zukunft des Landes verheerend. Im
ein. Es weist eine niedrige Arbeitslosigkeit auf,        Jahr 2025 werden wir sehen, ob die Kluft zwi-
kann sich auf eine starke Wirtschaft stützen und         schen dem, was noch zu tun ist, und dem, was
befindet sich auf einem sehr hohen Wohlstands-           man erreicht hat, noch weiter angewachsen sein
niveau. Das Land verfügt über ein stabiles politi-       wird – oder ob die nächste Bundesregierung ei-
sches System mit starken demokratischen Parteien         nen mutigeren Weg eingeschlagen hat, um unsere
und vergleichsweise rationalen Ent­schei­dungs­trä­      Zukunft zu ­sichern.
ger*­innen. Doch diese Verhältnisse sind nicht in
Stein gemeißelt. Viele wichtige Entscheidungen
sind in den letzten Jahren nicht getroffen worden,       SOPHIE PORNSCHLEGEL
die jetzt dringend nachgeholt werden müssen.             ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre
    Deshalb ist nach 16 Jahren „Merkel-Ära“ ein          in Brüssel und Policy Fellow des Progressiven
politischer Wandel in der Tat zu begrüßen. Alles         Zentrums in Berlin.
andere wäre aus demokratietheoretischer Sicht            s.pornschlegel@epc.eu

Zum Weiterlesen.
                                                                                              bpb.de/
                                                                                               shop

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                                                       Wie funktioniert das politische System?
                                                       Wie steht es um das Wirtschaftsmodell?
                                                       Vor welchen Herausforderungen
                                                       steht die französische Gesellschaft?
                                                       Und welche Rolle spielt Frankreich
                                                       auf internationaler Ebene?

      2021                                             Der neue Länderbericht Frankreich
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APuZ 47–49/2021

     WAHLPOLITISCHE ACHTERBAHNFAHRT
           Wer wählte wen bei der Bundestagswahl 2021?
                                      Rüdiger Schmitt-Beck

Nach einer vorbereitenden Übergangsphase, de-         werden können.04 Untersucht wird die Wahl aller
ren Beginn bei der Bundestagswahl 2005 veror-         im Bundestag vertretenen Parteien, mit besonde-
tet werden kann, wird die Bundestagswahl 2021         rem Akzent auf SPD und CDU/CSU.
wohl als Wendepunkt in die Wahlgeschichte
Deutschlands eingehen. Abschmelzende Binde-                    DER WAHLSOZIOLOGISCHE
kraft traditioneller politischer Loyalitäten, stei-            „TRICHTER DER KAUSALITÄT“
gende Volatilität des Wahlverhaltens, Niedergang
der Volksparteien und Fragmentierung des Par-         Die nachfolgende Analyse der Hintergründe der
teiensystems sowie in der Konsequenz zuneh-           Parteiwahl orientiert sich im Kern an der wahl-
mende Schwierigkeiten der Regierungsbildung           soziologischen Heuristik des „Trichters der Kau-
bei wachsender Zahl lösungsbedürftiger Groß-          salität“,05 erweitert diese jedoch an einigen Stel-
probleme sind nur einige der Stichworte, die die-     len, um den institutionellen Charakteristika von
se bewegte Periode kennzeichnen.01 Gemessen           Bundestagswahlen und den besonderen Umstän-
an diesen Herausforderungen auch für die poli-        den der Bundestagswahl 2021 Rechnung zu tra-
tikwissenschaftliche Analyse ist das Ziel des vor-    gen. Das resultierende Basismodell individueller
liegenden Beitrags bescheiden. Es geht um eine        Wahlentscheidungen integriert die wichtigsten
erste grobe Bestandsaufnahme der Hintergrün-          theoretischen Strömungen der Wahlsoziologie
de der Parteiwahl bei der Bundestagswahl 2021.        und hat sich bei der Erklärung des Wahlverhal-
Auf Basis des ersten zu dieser Wahl verfügbaren       tens bei Bundestagswahlen bewährt.06 Ihm zu-
Datensatzes der German Longitudinal Election          folge sind diese Entscheidungen multikausaler
Study (GLES) wird bewährtes theoretisches und         Natur und durch eine umfangreiche Palette von
methodisches Besteck eingesetzt, um in quer-          Faktoren erklärbar, die teilweise in einer zeitli-
schnittlicher Perspektive zu untersuchen, welche      chen und ursächlichen Abfolge stehen. Grund-
Faktoren zur Wahl welcher Partei geführt haben.       legend für das Modell ist die Unterscheidung
Dieser Ansatz wird auch einige Anhaltspunk-           zwischen stabilen Langfristfaktoren, die eher in-
te liefern, um die fundamentalen Veränderungen        direkt wirken, und situativ wechselhaften Kurz-
des elektoralen Parteiensystems besser zu verste-     fristfaktoren, die der Wahlentscheidung unmittel-
hen, die die Wählerschaft bei dieser Wahl herbei-     bar vorgelagert sind.
geführt hat.                                              Bei den langfristigen Faktoren handelt es sich
    Grundlage der Analyse ist eine während des        um fest in der Persönlichkeit verankerte politi-
Wahlkampfs durchgeführte Befragung von wahl-          sche Prädispositionen. Sie verweisen auf Kon-
berechtigten Bür­ger:­innen. Die Erhebung wurde       fliktkonstellationen, die in sozialen Strukturen
online durchgeführt und basiert auf einer Quo-        wurzeln und teilweise historisch weit zurückrei-
tenstichprobe.02 Diese ist gut zur Analyse der        chen. Diese wurden im Parteienwettbewerb dau-
Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidungen             erhaft politisiert. Sie haben zur Herausbildung
und ihren möglichen Hintergründen geeignet,           gruppenspezifischer Wahlnormen und affektiver
aber weniger gut für die Abbildung von Vertei-        Parteibindungen geführt, die im Zuge der fami-
lungen dieser Merkmale in der Wählerschaft.03         liären Sozialisation weitergegeben werden und
Die nachfolgend getroffenen Verteilungsaussagen       sich dadurch partiell auch von ihren strukturel-
stützen sich daher überwiegend auf publizierte        len Hintergründen abgelöst haben. Bei Wahlen
Befunde qualitativ hochwertiger Meinungsum-           begründen demzufolge Gruppenzugehörigkeiten
fragen, die hier nicht im Einzelnen ausgewiesen       und ihnen nachgelagerte Parteibindungen stabi-

10
Nach der Bundestagswahl APuZ

le Affinitäten zu bestimmten Parteien, von de-                          tur soziopolitischer Konfliktlinien (sogenannte
nen allerdings durchaus auch abgewichen werden                          Cleavages) verstanden werden können? Die Da-
kann.1234                                                               ten zeigen, dass das Wahlverhalten weitaus stär-
    Diese können das Wahlverhalten direkt be-                           ker mit politischen Einstellungen als mit sozial-
einflussen, indem sie unmittelbar Entschei-                             strukturellen Merkmalen verknüpft gewesen ist.
dungen für bestimmte Parteien nahelegen.                                Irrelevant waren letztere jedoch keineswegs, und
Insbesondere steuern sie aber auch als Wahrneh-                         die zutage tretenden Effekte entsprechen zumin-
mungsfilter, wie Personen die politischen Infor-                        dest teilweise tradierten Mustern sozialstruktu-
mationen verarbeiten, die im Vorfeld von Wah-                           rell fundierter Stimmabgabe.56
len auf sie einströmen. Dadurch können sie auch                             Für die deutsche Politik waren traditionell die
auf indirekte Weise Ausdruck an der Wahlurne                            sozioökonomische und die konfessionell-religiö-
finden. Sie sind den für Wahlentscheidungen di-                         se Konfliktlinie prägend.07 Dass auch diesmal so-
rekt relevanten, auf die situativen Umstände der                        wohl Mitglieder der katholischen Kirche als auch
jeweils aktuell anstehenden Wahl bezogenen                              Kirchgänger eher für die CDU/CSU stimmten,
Kurzfristfaktoren vorgelagert und färben die-                           deutet auf die fortbestehende, wenngleich im lang-
se in mehr oder weniger parteiischer Weise. Das                         fristigen Vergleich geschmälerte Relevanz der tra-
orthodoxe, für US-amerikanische Verhältnisse                            dierten konfessionell-religiösen Spannungslinie
entwickelte „Trichter“-Modell stellt zwei Ar-                           hin. Bei der Bundestagswahl 2021 stand dem eine
ten von Kurzfristfaktoren ins Zentrum: Wahr-                            ebenfalls schon aus früherer Forschung bekannte,
nehmungen und Einstellungen der Wäh­ler:­innen                          im Vergleich zu Konfessionslosen erkennbar ab-
zu den Kandidierenden und zu den im zeitlichen                          geschwächte Unterstützung sowohl katholischer
Kontext der Wahl wichtigen politischen Sach-                            als auch evangelischer Wäh­ler:­innen für die Linke,
problemen und Streitfragen (Issues). Da Bun-                            aber auch die AfD gegenüber.
destagswahlen stets zur Bildung von Koalitions-                             Die wahlpolitische Relevanz der sozioöko-
regierungen führen, müssen bei ihrer Analyse                            nomischen Konfliktlinie ist in den vergangenen
zudem auch die Einstellungen der Wäh­ler:­innen                         Jahrzehnten stärker erodiert. Ihr Kennzeichen
zu den verschiedenen Koalitionsoptionen be-                             war traditionell eine erhöhte Neigung der Arbei-
rücksichtigt werden.                                                    terschaft, aber auch von Gewerkschaftsmitglie-
                                                                        dern, zur SPD. Die Betrachtung der Berufsgrup-
                    SOZIALSTRUKTUR                                      pen (aktueller und bei Rentnern früher ausgeübter
                                                                        Beruf) zeigt für die Arbeiter keine statistisch be-
Inwieweit waren die Entscheidungen für oder                             deutsam erhöhte Tendenz, die SPD zu wählen,
gegen die einzelnen Parteien bei der Bundes-                            wohl aber eine verminderte Neigung zur CDU/
tagswahl 2021 von Zusammenhangsmustern ge-                              CSU als ihrem wichtigsten Antagonisten. Klarer
kennzeichnet, die als Reflexe der Tiefenstruk-                          im Sinne klassischen Cleavage-Wählens ist der
                                                                        positive Zusammenhang zwischen der Mitglied-
                                                                        schaft in einer Gewerkschaft und der Stimmabga-
01 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck et al. (Hrsg.), The Changing               be für die Sozialdemokratie. Insgesamt markanter
German Voter, Oxford 2022 (i. E.).
                                                                        ist aber, dass neben den Arbeitern auch einfache
02 Es handelt sich um das GLES-Tracking T50 (ZA7708), das
vom 15. 9.–24. 9. 2021 erhoben wurde. Der Autor ist den Kol­leg:­
                                                                        und mittlere Angestellte und Beamte der Union
innen von der GLES und der GESIS (Marc Debus, Thorsten Faas,
Sigrid Roßteutscher, Harald Schoen, Manuela Blumenberg) für             05 Vgl. Angus Campbell et al., The American Voter, New York
den Zugang zu einer Vorabversion des Datensatzes zu großem              1960, S. 24–32.
Dank verpflichtet. Die tabellarischen Befunde der berichteten           06 Vgl. Hans Rattinger et al., Zwischen Langeweile und Extre-
Auswertungen sind zu finden unter: www.mzes.uni-mannheim.de/​           men: Die Bundestagswahl 2009, Baden-Baden 2011, S. 147–
publications/​misc/Schmitt-Beck_Wahlpolitische_Achterbahnfahrt_​        263; Rüdiger Schmitt-Beck et al., Zwischen Fragmentierung und
Tabellenanhang.pdf.                                                     Konzentration: Die Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2014,
03 Vgl. Evelyn Bytzek/Ina Bieber, Does Survey Mode Matter for           S. 179–324; Sigrid Roßteutscher et al., Zwischen Polarisierung
Studying Electoral Behaviour? Evidence From the 2009 German             und Beharrung: Die Bundestagswahl 2017, Baden-Baden 2019,
Longitudinal Election Study, in: Electoral Studies 43/2016, S. 41–51.   S. 181–355.
04 Siehe hierzu das Politbarometer der Forschungsgruppe                 07 Vgl. Martin Elff/Sigrid Roßteutscher, All Gone? Change
Wahlen und den Deutschlandtrend von Infratest dimap:                    and Persistence in the Impact of Social Cleavages on Voting
www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Politbarometer/;                      Behavior in Germany Since 1949, in: Rüdiger Schmitt-Beck et al.
www.infratest-​dimap.de.                                                (Anm. 1).

                                                                                                                                     11
APuZ 47–49/2021

in geringerem Maße zuneigten als die Selbststän-                     destagswahl 2017 auch noch nicht bis zur Stufe
digen. Dieselben Gruppen, ergänzt um die An-                         mehrheitlicher parteipolitischer Bindungslosig-
gestellten und Beamten in hohen Positionen, vo-                      keit der Wählerschaft.09
tierten gleichzeitig deutlich verstärkt für die SPD.                      Langfristig stabile Parteibindungen haben
     Neben den klassischen Konfliktlinien hat                        auch bei der Bundestagswahl 2021 zu den domi-
sich in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa                        nanten Prägekräften des Wahlverhaltens gehört.
eine neue Konfliktlinie herausgebildet, über de-                     Ihre Bedeutung war jedoch nicht für alle Parteien
ren Wesen in der Wahlsoziologie noch keine Ei-                       gleich groß. Der SPD scheint es besonders gut ge-
nigkeit besteht. Sie ist beschrieben worden als                      lungen zu sein, ihr Kernpotenzial affektiv gebun-
Gegensatz zwischen postmaterialistischen, liber-                     dener Wäh­ler:­innen zu aktivieren. Das zeigt sich
tären, globalisierungsfreundlichen beziehungs-                       besonders deutlich im direkten Vergleich mit der
weise kosmopolitischen Haltungen auf der einen                       CDU/CSU, die diesmal offenbar Schwierigkei-
Seite und materialistischen, autoritären, globali-                   ten hatte, die eigenen An­häng­er:­innen zu mobili-
sierungsfeindlichen beziehungsweise kommuni-                         sieren. Bei der vorangegangenen Bundestagswahl
taristischen Positionen am Gegenpol. Parteipo-                       war das noch umgekehrt gewesen.10 Aus – aller-
litisch ist sie definiert durch den Antagonismus                     dings weitaus schmäleren – Reservoirs treuer Par­
zwischen grünen und rechtspopulistischen Par-                        tei­an­häng­er:­innen speisten sich aber auch die Stim-
teien.08 Ihre Wirksamkeit bei der Bundestagswahl                     menanteile der kleineren Parteien in nicht geringem
2021 zeigt sich vor allem daran, dass geringer Ge-                   Maße. Gleichzeitig waren die festen Anhänger al-
bildete eher für die AfD stimmten, hoch gebilde-                     ler Parteien deutlich weniger für konkurrierende
te, aber auch jüngere Wäh­ler:­innen hingegen eher                   Parteien erreichbar als die wachsende Gruppe der
für die Grünen. Sehr markante, nicht unbedingt                       parteipolitisch Ungebundenen. Die massiven Ver-
auf den „neuen Cleavage“ zurückzuführende Zu-                        schiebungen der Stimmenanteile zwischen den Par-
sammenhänge mit dem Lebensalter treten darüber                       teien dürften also vor allem auf das Konto derje-
hinaus aber auch bei allen anderen Parteien zuta-                    nigen Stimm­bür­ger:­innen gehen, die sich nicht an
ge. Während die Union und in noch weit stärke-                       eine Partei gebunden fühlten.
rem Maße die SPD vor allem von älteren Wäh­ler:­
innen unterstützt wurden, fanden nicht nur die                                    SPIT­Z EN­K AN­D I­DAT:­INNEN
Grünen, sondern auch die FDP, die Linke und die
AfD mehr Rückhalt bei den Jüngeren.                                  Die Personalisierungsthese behauptet, dass die
     Wenn zusätzlich auch politische Wahrneh-                        Erosion affektiver Parteibindungen zu einer grö-
mungen und Einstellungen berücksichtigt wer-                         ßeren Bedeutung der Einstellungen zu den Kan-
den, schwächen sich diese Zusammenhänge mit                          didierenden geführt habe. Wahlergebnisse wür-
sozialstrukturellen Merkmalen stark ab, oft ver-                     den deswegen immer stärker davon geprägt, wie
schwinden sie ganz. Das deutet darauf hin, dass                      populär die Spit­zen­kan­di­dat:­innen der Partei-
ihre Wirkungen auf das Wahlverhalten ganz oder                       en in der Wählerschaft sind.11 In Deutschland ist
teilweise durch politische Einstellungen vermit-                     hierbei vor allem an die Kandidierenden für die
telt wurden.                                                         Kanzlerschaft zu denken. Diese traten bei der
                                                                     Bundestagswahl 2021 erstmals als Trio auf, weil
                  PARTEIBINDUNGEN                                    neben CDU/CSU (CDU-Chef Armin Laschet)
                                                                     und SPD (Vizekanzler und Finanzminister Olaf
Ebenso wie in vielen anderen westlichen Demo-                        Scholz) auch die Grünen in Gestalt ihrer Co-Vor-
kratien haben sich auch in Deutschland die affek-
tiven Parteibindungen während der vergangenen
                                                                     09 Vgl. Kai Arzheimer, Another Dog That Didn’t Bark? Less
Jahrzehnte im Zuge eines langfristigen Erosions-                     Dealignment and More Partisanship in the 2013 Bundestag
prozesses (sogenanntes dealignment) deutlich                         Election, in: German Politics 1/2017, S. 49–64; Roßteutscher
abgeschwächt, wenngleich nicht kontinuierlich,                       et al. (Anm. 6), S. 207–217.
sondern in Phasen, und zumindest bis zur Bun-                        10 Vgl. Roßteutscher et al. (Anm. 6), S. 207–217.
                                                                     11 Vgl. Diego Garzia/Frederico Ferreira da Silva/Andrea De
                                                                     Angelis, Partisan Dealignment and the Personalisation of Politics
08 Vgl. Robert Ford/Will Jennings, The Changing Cleavage             in West European Parliamentary Democracies, 1961–2018, in:
Politics of Western Europe, in: Annual Review of Political Science   West European Politics 2020, doi:10.1080/01402382.2020.184
23/2020, S. 295–314.                                                 5941 (online first).

12
Nach der Bundestagswahl APuZ

sitzenden Annalena Baerbock eine Aspirantin auf               mann mehrheitlich den beiden Kon­kur­rent:­innen
das Kanzleramt nominiert hatten. Im Wahlkampf                 als Regierungschef vorzog. Wer die grüne Spitzen-
Spitzenkandidierende als Gesicht der Partei zu                kandidatin im Kanzleramt sehen wollte, votierte
präsentieren, ist aber auch bei den kleineren Par-            deutlich eher für ihre Partei und nicht für die SPD.
teien selbstverständliche Praxis, selbst wenn die-            Präferenzen für Armin Laschet hingegen kosteten
se keine Aussichten haben, die Führung der Bun-               weder die SPD noch die Grünen Stimmen.
desregierung zu übernehmen.                                       Im Hinblick auf die Kanzlerkandidaten scheint
     Die empirische Evidenz zur Personalisie-                 es also bei der Bundestagswahl 2021 eine Art Rol-
rungsthese ist nicht eindeutig. Insgesamt deu-                lentausch zwischen Union und SPD gegeben zu
tet sie eher auf ein Auf und Ab des Kandidie-                 haben. Während die Sozialdemokraten viele Stim-
rendeneffekts hin, je nach Persönlichkeit und                 men dem öffentlichen Ansehen ihres Spitzenkan-
Umständen der Wahl. Fest steht jedoch, dass die               didaten Olaf Scholz verdankten, war dessen Wett-
scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel zu-                  bewerber Armin Laschet für die Union eher eine
mindest seit der Bundestagswahl 2009 immer au-                Hypothek. Auch die Noch-Amtsinhaberin Angela
ßerordentlich beliebt gewesen ist und dass sich               Merkel war bei den Wäh­ler:­innen weitaus beliebter
diese Popularität in starker elektoraler Unterstüt-           als der auf ihre Nachfolge hoffende Kandidat ih-
zung für die CDU/CSU niedergeschlagen hat.                    rer Partei. Was erklärt diese Diskrepanz? Betrach-
Ihre wechselnden sozialdemokratischen Heraus-                 tet man die Bewertungen Merkels und Laschets im
forderer (Peer Steinbrück, Frank-Walter Stein-                direkten Vergleich, so zeigt sich, dass Laschet vor
meier, Martin Schulz) erschienen den Wäh­ler:­                allem bei Frauen und noch ausgeprägter bei jün-
innen stets weniger attraktiv und brachten der                geren Wäh­ler:­innen sehr viel geringere Wertschät-
SPD nicht viele zusätzliche Stimmen.12                        zung erfuhr als Merkel.
     Bei der Bundestagswahl 2021 verkehrte sich                   Auch Personen, die in der Covid-19-Pande-
dieses Muster in sein Gegenteil. Die vorliegenden             mie restriktive Maßnahmen einer Politik der Lo-
Daten deuten darauf hin, dass Armin Laschet, der              ckerungen vorzogen, die Zuwanderung erleichtern
schon bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden,                 wollten und weitreichende staatliche Vorgaben in
dann erneut bei seiner Nominierung zum Kanz-                  der Klimapolitik favorisierten, beurteilten Merkel
lerkandidaten und schließlich auch während des                deutlich positiver als Laschet. Etwas weniger aus-
gesamten Wahlkampfs in seiner eigenen Partei                  geprägt zeigt sich ein ähnliches Muster für Perso-
(und erst recht in der Schwesterpartei CSU) nie-              nen, die einer großzügigeren Sozialpolitik den Vor-
mals unangefochten war, der Union keine einzige               zug vor Steuererleichterungen gaben. Vor allem bei
zusätzliche Stimme gebracht hat, sondern im Ge-               Wäh­ler:­innen mit gesellschaftspolitisch, aber auch
genteil möglicherweise sogar Wäh­ler:­innen veran-            sozioökonomisch linkeren Einstellungen blieb La-
lasst hat, lieber für die Grünen zu stimmen. Bun-             schets Ansehen also weit hinter Merkels Beliebt-
desfinanzminister Olaf Scholz, der schon ein Jahr             heit zurück. Auch wurde Angela Merkel im Ver-
vor der Wahl unstrittig nominierte Kanzlerkandi-              gleich zu Armin Laschet umso günstiger gesehen,
dat der SPD, trat hingegen in zweierlei Hinsicht              je positiver die Leistungen der von ihr geführten
in die Fußstapfen seiner Noch-Regierungschefin:               Bundesregierung bewertet wurden.
durch sein hohes Ansehen in der Wählerschaft,                     Da Angela Merkel bei der Bundestagswahl
das zwar nicht an die Spitzenwerte der Amtsinha-              2021 nicht mehr zur Wiederwahl stand, sollten
berin heranreichte, aber deutlich höher war als das           ihre Bewertungen eigentlich keine Effekte auf
seiner beiden Kon­kur­rent:­innen, und durch das              Wahlentscheidungen ausgeübt haben. Allerdings
große Gewicht dieser Einstellungen für die Wahl-              zeigt sich, dass Wäh­   ler:­
                                                                                          innen trotzdem an sie
entscheidungen. Selbst bei Berücksichtigung des               dachten, als sie ihre Stimme abgaben. Anders als
Anteils dieser Popularität, der auf die Filterwir-            bei den drei Bundestagswahlen zuvor, als sie im
kung von Bindungen an die SPD zurückzuführen                  Wahlkampf unangefochten an der Spitze der Uni-
ist, profitierten die Sozialdemokraten enorm von              on stand, kam ihre große Beliebtheit dieses Mal
dem Umstand, dass die Wählerschaft ihren Front-               jedoch nicht der eigenen Partei zugute, sondern
                                                              der wichtigsten Konkurrenzpartei unter Führung
12 Vgl. Rattinger et al. (Anm. 6), S. 205–221; Schmitt-Beck
                                                              ihres Vizekanzlers Olaf Scholz, der sich zudem
et al. (Anm. 6), S. 267–279; Roßteutscher et al. (Anm. 6),    auch in seiner Selbstpräsentation als Kanzlerkan-
S. 247–261.                                                   didat an ihrem Vorbild zu orientieren schien. Der

                                                                                                                13
APuZ 47–49/2021

Effekt ist nicht groß, aber statistisch signifikant.   erwiesen.13 Das bestätigt sich auch bei der Bun-
Diejenigen, die Merkel auf der Bewertungsskala         destagswahl 2021. Ein klares Muster zeigt sich
das Prädikat +5 zuerkannten, hatten eine um ei-        nur für die Klimapolitik, die auch die Themen­
nen vollen Prozentpunkt höhere Neigung, für die        agenda der Wählerschaft dominierte. Wer eine
SPD zu stimmen, als Personen, die sie sehr nega-       zupackendere Politik zur Begrenzung des men-
tiv beurteilten (−5). Die gerechneten Modelle le-      schengemachten Klimawandels für erforderlich
gen den Schluss nahe, dass dieser Effekt mit der       hielt, unterstützte eher die Grünen, bemerkens-
Beurteilung der Performanz der Bundesregierung         werterweise aber auch die FDP. Wer weniger kli-
zusammenhing.                                          mapolitische Eingriffe wollte, tendierte hingegen
    Die Bewertungen der Spit­zen­kan­di­dat:­innen     zur Union. Wahrnehmungen der Wirtschaftslage
der kleineren Parteien beeinflussten das Wahl-         scheinen bei dieser Wahl ohne Relevanz geblie-
verhalten in deutlich geringerem Umfang als die        ben zu sein.
Kanzlerpräferenzen. Der stärkste Effekt ist für             Bezüglich der Bedeutung der wahrgenom-
den FDP-Chef Christian Lindner zu verzeich-            menen Regierungsperformanz für die Wahlent-
nen. Dietmar Bartsch von der Linken und Alice          scheidungen zeigt sich ein ähnlicher Rollentausch
Weidel von der AfD waren beachtlichen Anteilen         zwischen SPD und Union wie bei den Kanzler-
der Wählerschaft gar nicht bekannt, und für die-       präferenzen. Während langer Jahre großkoali-
jenigen, die sich zu einem Urteil in der Lage sa-      tionärer Partnerschaft mit der Union hatte die
hen, sind nur schwache Effekte zu verzeichnen.         SPD darunter gelitten, dass die Wäh­ler:­innen ihre
                                                       Leistungen immer nur dem Konto der Kanzle-
                     ISSUES                            rinnenpartei CDU/CSU gutzuschreiben schie-
                                                       nen. Anders als anscheinend bisweilen von Sozi-
Um die Bedeutung politischer Issues – lösungs-         aldemokraten geglaubt, war dieses Muster jedoch
bedürftiger Sachprobleme und Streitfragen –            nicht einer besonderen „vampiristischen“ Fähig-
abzuschätzen, muss differenziert vorgegangen           keit Angela Merkels geschuldet; vielmehr war es
werden. „Positionsissues“ beziehen sich auf rich-      Ausdruck einer bekannten Gesetzmäßigkeit von
tungspolitisch umstrittene Problemfelder, be-          Koalitionsregierungen. Da die Wäh­ler:­innen bei
züglich derer die Wäh­    ler:­
                              innen gegensätzliche     solchen „Kombi-Regierungen“ schwer erken-
Präferenzen und die Parteien entsprechend unter-       nen können, welcher Partner für welche Leistun-
schiedliche Politiken im Angebot haben, sodass         gen verantwortlich ist, tendieren sie dazu, diese
sich Wahlentscheidungen am Kriterium der größ-         pauschal der Partei des Regierungschefs zuzu-
ten politischen Nähe ausrichten können. Wählen         schreiben.14 Möglicherweise hat der bevorstehen-
auf Basis von „Valenzissues“ bezieht sich hinge-       de Abgang der Kanzlerin dazu geführt, dass die
gen nicht auf richtungspolitische Auseinanderset-      Attributionslogik dieses Belohnungsmechanis-
zungen, sondern auf die Leistungen von Parteien        mus unterbrochen und stattdessen der bisheri-
als Problemlöser. Diese können retrospektiv oder       ge Juniorpartner SPD stärker in der Kontinuität
prospektiv beurteilt werden. Im ersten Fall wer-       der Amtsinhaberin wahrgenommen wurde. Dass
den Regierungsparteien für erbrachte Leistungen        der amtierende Vizekanzler mit dem Ziel angetre-
durch Wiederwahl belohnt und für nicht erbrach-        ten war, in der neuen Regierung die Führung zu
te Leistungen durch Stimmenentzug bestraft. Von        übernehmen, dürfte diese Übertragung erleichtert
besonderer Bedeutung ist hierbei oft die Wirt-         haben. Auch gaben die Wäh­ler:­innen der SPD für
schaftslage. Prospektiv orientiert ist die wahrge-     ihre Regierungsarbeit etwas bessere Noten als der
nommene Kompetenz von Parteien, für aktuell            CDU und der CSU. Vor diesem Hintergrund pro-
wichtige Probleme eine Lösung zu finden.               fitierte die SPD dieses Mal erheblich stärker von
    Verglichen mit den Persönlichkeitseffekten         Leistungsbewertungen der amtierenden Regie-
der Kandidierenden fallen die Wirkungen der            rung als die Union.
Wahrnehmungen und Einstellungen zu politi-
schen Sachfragen überwiegend schwächer aus.
                                                       13 Vgl. Rattinger et al. (Anm. 6), S. 179–190; Schmitt-Beck et al.
Orientierungen zu Positionsissues, die erhebliche
                                                       (Anm. 6), S. 239–265; Roßteutscher et al. (Anm. 6), S. 229–294.
kognitive Anforderungen an die Wäh­       ler:­
                                              innen    14 Vgl. Heike Klüver/Jae-Jae Spoon, Helping or Hurting? How
stellen, haben sich bei früheren Bundestagswah-        Governing as a Junior Coalition Partner Influences Electoral
len als wenig prägend für Wahlentscheidungen           Outcomes, in: Journal of Politics 4/2020, S. 1231–1242.

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