AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Nach der Bundestagswahl
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71. Jahrgang, 47–49/2021, 22. November 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Nach der Bundestagswahl Sophie Pornschlegel Jessica Fortin-Rittberger · WAS DIE NEUE Corinna Kröber BUNDESREGIERUNG DER BUNDESTAG: NUN TUN MUSS EIN „REPRÄSENTATIVES“ PARLAMENT? Rüdiger Schmitt-Beck WER WÄHLTE WEN Reimut Zohlnhöfer BEI DER BUNDESTAGSWAHL? EINE REFORMBILANZ DER REGIERUNGEN UNTER Karl-Rudolf Korte ANGELA MERKEL BUNDESTAGSWAHLKAMPF IN ZEITEN DER PANDEMIE Frank Decker BRAUCHEN WIR EINE Heike Merten AMTSZEITBEGRENZUNG WÄHLEN IN ZEITEN FÜR BUNDESKANZLER? DER PANDEMIE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Nach der Bundestagswahl APuZ 47–49/2021 SOPHIE PORNSCHLEGEL JESSICA FORTIN-RITTBERGER · WAS DIE NEUE BUNDESREGIERUNG CORINNA KRÖBER NUN TUN MUSS DER BUNDESTAG: Über die wichtigsten gesellschaftlichen, EIN „REPRÄSENTATIVES“ PARLAMENT? wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen In der Demokratie sollte das Parlament idealer- Transformationsprozesse wurde im Wahlkampf weise ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. Trotz ebenso wenig gesprochen wie über die Rolle kleinerer Verbesserungen, etwa bei der Reprä- Deutschlands in der EU und die Relevanz sentation von Frauen und jüngeren Menschen, europäischer Politik. Das muss sich ändern. wird auch der neu gewählte Bundestag diesem Seite 04–09 Anspruch nicht wirklich gerecht. Seite 34–40 RÜDIGER SCHMITT-BECK WER WÄHLTE WEN BEI DER REIMUT ZOHLNHÖFER BUNDESTAGSWAHL 2021? EINE REFORMBILANZ DER REGIERUNGEN Die Bundestagswahl 2021 könnte als Wen- UNTER ANGELA MERKEL depunkt in die Wahlgeschichte Deutschlands Ein klares Reformprofil kann den Regierungen eingehen. Jenseits bekannter Muster zeigen sich unter Angela Merkel nicht attestiert werden. tiefgreifende Veränderungen, die insbesondere Vielmehr mussten diese auf tiefgreifende Krisen für die ehemals dominanten Volksparteien eine reagieren, was die Kapazitäten und Ressourcen ungewisse Zukunft signalisieren. der Akteure band und wenig eigene Schwer- Seite 10–16 punktsetzung zuließ. Seite 42–47 KARL-RUDOLF KORTE BUNDESTAGSWAHLKAMPF FRANK DECKER IN ZEITEN DER PANDEMIE BRAUCHEN WIR EINE AMTSZEITBEGRENZUNG Der weitgehend zumutungsfreie Bundestags- FÜR BUNDESKANZLER? wahlkampf 2021 war geprägt durch eine Nachfra- Angela Merkels vierte Amtsperiode war das ge nach Zukunftssicherheit, die nicht alle Parteien Schulbeispiel eines gescheiterten Machtüber- gleichermaßen bedienen konnten. Die Pandemie gangs in der parlamentarischen Demokratie. und der Kandidaturverzicht der Bundeskanzlerin Deshalb aber eine Amtszeitbegrenzung für prägten den Wahlkampf nachhaltig. Bundeskanzler zu fordern, wird dem parlamen- Seite 17–23 tarischen Regierungssystem nicht gerecht. Seite 49–54 HEIKE MERTEN WÄHLEN IN ZEITEN DER PANDEMIE Die termingerechte Durchführung von Wahlen ist als wesentlicher Vorgang demokratischer Legitimation unverzichtbar. In Pandemie- und Krisenzeiten sind aber sowohl das Wahlverfah- ren als auch die Ausübung des Stimmrechts vor besondere Herausforderungen gestellt. Seite 26–33
EDITORIAL Die Bundestagswahl 2021 markiert eine Zäsur. Nach 16 Jahren endet die Amtszeit der „ewigen Kanzlerin“ Angela Merkel. Die heute unter 25-Jährigen, immerhin fast ein Viertel der Bevölkerung, haben in ihrer Lebenszeit keinen anderen Bundeskanzler bewusst erlebt. Sie und viele andere werden die Regie- rungszeit der ersten deutschen Bundeskanzlerin als prägend, aber auch als Zeit der Krisen und der Krisenreaktionen in Erinnerung behalten. Die Finanz- und Eurokrise, die „Flüchtlingskrise“, die Klima- und die Coronakrise prägten diese Regierungsjahre merklich. Auch in anderer Hinsicht bedeutet diese Bundestagswahl einen Einschnitt: Zum ersten Mal fand sie unter den Bedingungen einer Pandemie statt, die nicht nur die politischen Wettbewerber, sondern auch die demokratischen Institutionen und Verfahren vor Herausforderungen stellte. Zum ersten Mal trat eine Amtsinhaberin nicht mehr zur Wahl an, während die Grünen erstmals in ihrer Parteigeschichte eine eigene Kanzlerkandidatin aufstellten. Zum ersten Mal machten die Briefwähler fast die Hälfte aller Wählenden aus. Und zum ersten Mal scheint vor dem Hintergrund abnehmender politischer Loyalitäten, einer steigenden Volatilität des Wahlverhaltens und einer zunehmenden Frag- mentierung des Parteiensystems eine Koalition dreier unterschiedlicher Parteien möglich. Die zu lösenden Probleme und Herausforderungen sind mit der Bundes- tagswahl nicht kleiner geworden. Auch die nächste Bundesregierung wird sich in neuen und alten Krisen zu bewähren haben, neben der Krisenbewältigung aber auch neue Impulse setzen müssen, etwa beim klimagerechten Umbau der Wirtschaft oder der Erarbeitung eines gerechteren Steuersystems. Dass ihr das gelingen wird, ist nicht sicher. Es spricht aber auch nichts dagegen, dass die Bun- destagswahl 2021 in der Rückschau einmal als Anfang eines neuen Aufbruchs wahrgenommen werden wird. Sascha Kneip 03
APuZ 47–49/2021 ESSAY NEUANFANG 2021? Was die neue Bundesregierung nun tun muss Sophie Pornschlegel Trotz der ideologischen Unterschiede zwischen schen Wähler*innen mit Fotos eines im Kontext den politischen Parteien gab es in der diesjähri- der Flutkatastrophe ungehörig lachenden Armin gen Kampagne zur Bundestagswahl eine gemein- Laschet oder mit medial aufgebauschten Plagiats- same Devise: die Zukunft Deutschlands gestalten. vorwürfen gegen Annalena Baerbock beschäftigt, Die SPD nannte ihr Wahlprogramm „Zukunfts- kurzum: mit emotionalisierenden Personalfragen, programm“; die CDU versprach ein „modernes hinter denen die Sachfragen verschwanden. Deutschland“; die Grünen warben mit dem Slo- Themen der Europa- und Außenpolitik gan: „Bereit, weil Ihr es seid“; die FDP fasste den tauchten in der Wahlkampagne ebenfalls nicht Bedarf nach Veränderung in den Satz „Nie gab es auf. Die EU wurde in den Triell-Talkshows mit mehr zu tun“. In der Tat, es gibt in der Bundesre- den Kandidat*innen nicht ein einziges Mal er- publik zahlreiche Herausforderungen, die in den wähnt. Dabei stehen wir vor globalen Herausfor- vergangenen Jahren entweder unzureichend oder derungen, die auf nationaler Ebene bekanntlich gar nicht angegangen worden sind: die Bekämp- nicht gelöst werden können. Es wird wenig nüt- fung des Klimawandels beziehungsweise der Um- zen, wenn Deutschland 2050 klimaneutral ist, in bau zu einer klimaneutralen Wirtschaft; die Di- Polen aber weiterhin Braunkohle gefördert wird. gitalisierung, ob in der öffentlichen Verwaltung Eine deutsche Besteuerung von Tech-Unterneh- oder in den Schulen; große Infrastrukturprojek- men ist ohne eine internationale Kooperation te in den Bereichen Mobilität, Energie oder der sinnlos. Genauso wenig ist eine deutsche Chi- Telekommunikation. Die Botschaft der Parteien na-Strategie erfolgversprechend, wenn sie nicht war jedenfalls eindeutig: Die nächste Bundesre- europäisch abgestimmt ist. Und schließlich sind gierung muss die Weichen für die Zukunft stellen. deutsche Bürger*innen weitaus stärker von den Leider hielten die Kampagnenslogans nicht, Entscheidungen in Brüssel betroffen, als ihnen in was sie versprachen. Die Wahlkampagne selbst der Regel bewusst ist. Es wäre deswegen ihr gutes war so gut wie gar nicht auf die Zukunft ausge- Recht gewesen, zu erfahren, was die nächste Bun- richtet. Das politische System schien in erster Li- desregierung in diesem Bereich plant. Nichts von nie mit sich selbst beschäftigt. Es ist zwar ver- alledem wurde diskutiert. ständlich, dass die Öffentlichkeit sich nach dem Die Kampagne hinterließ das etwas beunruhi- Ende der „Ära Merkel“ vor allem für die Persona- gende Gefühl, dass unsere Entscheidungsträger* lien der unterschiedlichen Kanzlerkandidat*innen innen – und womöglich auch viele unserer Mit interessiert, dennoch war das Ausbleiben inhalt- bürger*innen – sich der Dimension der globalen licher Auseinandersetzungen zu den anstehenden Herausforderungen, mit denen wir in den nächs- Zukunftsthemen und Sachfragen bemerkenswert: ten Jahren konfrontiert sein werden, nur vage be- Es gab keine Diskussionen zu den unterschiedli- wusst sind. Und noch besorgniserregender ist der chen Lösungsansätzen der Parteien, Klimaneu Umstand, dass die Entscheidungsträger*innen im tralität zu erreichen; es wurde nicht deutlich, was Wahlkampf so gut wie gar nicht über die gesell- unter der Floskel „Digitalisierung“ jeweils ge- schaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und meint war; es gab keine Auseinandersetzungen sozialen Transformationsprozesse gesprochen zur Frage, wie die dringend benötigten öffentli- haben, die uns in den nächsten Jahren, ja Jahr- chen Investitionen mit der im Grundgesetz festge- zehnten bevorstehen. Man kann nur hoffen, dass schriebenen Schuldenbremse kompatibel gemacht die nächste Bundesregierung diese großen Aufga- werden könnten. Stattdessen wurden die deut- ben tatsächlich auch angehen wird. 04
Nach der Bundestagswahl APuZ GRO ẞ E blem konfrontiert: Wie können wir derart tief- TRANSFORMATIONSPROZESSE greifende Veränderungen in kurzer Zeit auf den Weg bringen? Wie lässt sich der Umbau unseres Zunächst einmal wird es darum gehen, einen kon- Wirtschaftsmodells erfolgreich bewerkstelligen? kreten Fahrplan zu entwickeln für die Einhaltung Darüber hinaus gilt es, die anstehenden Verände- des Ziels von maximal 1,5 Grad Erderwärmung rungen so gerecht wie möglich zu gestalten. Die sowie der rechtlich bindenden europäischen Kli- Kosten der Transformation dürfen nicht einfach maziele: Klimaneutralität bis 2050, Reduktion auf die Ärmeren abgewälzt werden. Das Risiko des CO2-Ausstoßes um 55 Prozent bis 2030. In ist groß, dass unsere Gesellschaft sich noch stär- Deutschland selbst sind ebenfalls Zielsetzungen ker spaltet und polarisiert, wenn die Frage der fixiert, so beispielsweise in der Nachhaltigkeits- Gerechtigkeit nur unzureichend berücksichtigt strategie der Bundesregierung. Darüber hinaus wird. Und schließlich muss der gesamte Transfor- gilt es, die diesjährige Entscheidung des Bundes- mationsprozess in einen breiteren europäischen verfassungsgerichts zum Klimapaket zu berück- und internationalen Rahmen eingebettet werden, sichtigen, die feststellt, dass die Bundesregierung der noch viel zu oft als bloßes Anhängsel betrach- die zukünftigen Generationen nicht ausreichend tet wird. Deutschland kann nur im Rahmen der vor den Folgen des Klimawandels schützt, das EU eine handlungsfähige Rolle in internationalen Klimapaket deswegen teilweise verfassungswid- Verhandlungen spielen, die auch die Staaten mit rig ist.01 Diese Zielsetzungen sind, wie gesagt, den größten CO2-Emissionen dazu bewegt, ver- rechtlich verbindlich. Was zur Debatte steht, ist bindliche Klimaziele zu akzeptieren. die konkrete Umsetzung der Maßnahmen, die zu Auch im Bereich der Digitalisierung ist in den ihrer Realisierung notwendig sind. Um sie auch letzten Jahren viel zu wenig geschehen. Der Be- nur annähernd zu erreichen, sind enorme Verän- fund lautet: Deutschland hinkt im europäischen derungen unserer Wirtschaft und unseres Lebens- Vergleich hinterher. Es wurde nicht genügend in stils notwendig. Die nächste Bundesregierung den Breitbandausbau investiert, zum Teil wurden sollte deshalb in den nächsten vier Jahren massi- kontraproduktive Fördermodelle eingesetzt. Bei ve öffentliche Investitionen ins Auge fassen und der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung so schnell wie möglich konkrete Schritte einlei- und des Schulsystems ist Deutschland noch lange ten. Die Zeit ist beim Klimawandel ein kritischer nicht da, wo es sein könnte und sollte. Auch hier Faktor. Wenn wir die „sozial-ökologische Trans- spielt die europäische Dimension eine bedeutende formation“ nicht schnell genug angehen, werden Rolle. Es wird unmöglich sein, eine wertebasier- wir es nicht mehr schaffen, die Lebensgrundla- te künstliche Intelligenz durchzusetzen, wenn die gen der zukünftigen Generationen zu schützen. Bundesrepublik sich nicht europäisch verbündet Das Ausmaß der dann anstehenden Krisen wäre und Standards international verbindlich macht.02 unabsehbar. Auch werden wir allein auf nationaler Ebene die Die Gestaltung eines solchen Transformati- großen Tech-Unternehmen nicht ausreichend re- onsprozesses ist politisch hochkomplex. Die Ent- gulieren können. Um Druck auf die Tech-Gi- scheidungen, die getroffen werden müssen, brin- ganten auszuüben, bedarf es einer engen euro- gen harte politische Auseinandersetzungen mit päischen Kooperation. Und nicht zuletzt gilt es sich und werfen eine ganze Reihe grundsätzlicher auch, die Digitalisierung prinzipiell stärker in ih- Fragen auf: Wie definieren wir als Gesellschaft rer geopolitischen Dimension zu denken, etwa im Freiheit? Wie viel kann und soll der Markt über- Bereich der Industriepolitik, wo es darum gehen nehmen, welche Rolle soll der Staat spielen? Ne- wird, „staatliche und unternehmerische Investiti- ben den politischen Auseinandersetzungen, die onen zu verknüpfen, um den aggressiven Riesen mit dem Transformationsprozess einhergehen, ist China und USA Paroli zu bieten – ob bei Chips, die Politik zusätzlich mit einem Umsetzungspro- E-Autos, Pharma oder künstlicher Intelligenz“.03 01 Vgl. Johannes Schneider, Es ist marktwirtschaftlich, nach 02 Vgl. Max Hoppenstedt, Wie Deutschland aus der Digital- der begrenzten Ressource zu fragen. Interview mit Maja Göpel, Misere herauskommen kann, 27. 9. 2021, www.spiegel.de/a- 29. 9. 2021, www.zeit.de/kultur/2021-09/maja-goepel-bundes- bf15ef10-3d4d-4b9b-9867-f862df17e78f. tagswahl-klimakrise-fdp-gruene-wandel-gesellschaft-transfor- 03 Alexander Hagelüken, Deutschlands Zukunft braucht mehr mationsforscherin. Staat, 28. 9. 2021, www.sueddeutsche.de/1.5424593. 05
APuZ 47–49/2021 Viele dieser Transformationsprozesse sind be- Nachrichten weiterhin per Fax verschicken müs- reits durch die Coronakrise beschleunigt worden: sen, wenn wir keine Häuser haben, deren Isolati- Wir haben unsere Arbeitsweise schneller digita- on auch vor Hitzewellen schützt? lisieren müssen; mit den Einschränkungen wur- den der Fernreiseverkehr lahmgelegt und die FÜR EINEN NEUEN POLITIKMODUS CO2-Emissionen drastisch reduziert. Dabei sind zahlreiche wirtschaftliche und soziale Missstän- Dass die Wähler*innen sich Wandel wünschen, de sichtbar geworden. Gesellschaftlich wichtige geht aus dem Ergebnis der Bundestagswahl deut- Berufe – Krankenpfleger, Kassiererin, Post- und lich hervor. Zunächst einmal haben sie sich ein- Paketbote etwa – müssen dringend aufgewertet deutig gegen ein Weiterregieren der Union aus- werden. Kürzungen im Gesundheitswesen füh- gesprochen. CDU und CSU rutschten von ren zwar zu weniger Schulden, kosten aber Pa- 32,9 Prozent der Stimmen 2017 auf 24,1 Prozent tientenleben. Gleichberechtigung ist ein fragi- 2021, ihr bisher schlechtestes Ergebnis. Rund les Konstrukt, das politisch wesentlich stärkeren zwölf Millionen Wähler*innen gaben ihre Zweit- Rückhalt braucht, damit nicht wieder nur die stimme der SPD und ihrem Kandidaten Olaf Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind, Scholz. Die Deutschen bevorzugen also mehr- sobald Krippe oder Kita geschlossen werden. Mit heitlich einen Mitte-Kurs der Volksparteien. der Coronakrise haben sich überdies die sozialen Zweitens ist die Kluft zwischen Jung und Alt ge- Ungleichheiten in unserer Gesellschaft verschärft. wachsen. Die jungen Wähler*innen haben massiv Prekäre Arbeitsverhältnisse sind im wohlhaben- für die Grünen und die FDP gestimmt, die mit den Deutschland keine Seltenheit. Viele Men- den Themen Klimawandel und Digitalisierung schen haben mit der Krise ihren Lebensunterhalt Wahlkampf gemacht haben, während die älteren verloren und sind sozial „abgestiegen“. Kinder Bevölkerungsgruppen weiterhin SPD und CDU/ aus ärmeren Verhältnissen wurden weiter be- CSU wählten. Schließlich zeigt sich, dass die AfD nachteiligt. Sie hatten keinen Zugang zu IT-Ge- trotz des durchwachsenen Gesamtergebnisses in räten, die sie für den Unterricht gebraucht hätten; den ostdeutschen Bundesländern dauerhaft Fuß sie hatten keine Rückzugsorte, um ihre Hausauf- gefasst hat; die Partei konnte in Thüringen, Sach- gaben zu machen; ihnen standen keine Eltern hel- sen und Sachsen-Anhalt 16 Direktmandate ergat- fend zur Seite. Zwar scheinen wir das Gröbste tern. Auch 32 Jahre nach der Wende gibt es noch der Krise überwunden zu haben, doch der soziale massive, mittlerweile konsolidierte Unterschie- Ausgleich sollte für die nächste Bundesregierung de zwischen Ost und West.04 Insgesamt macht eine klare politische Priorität darstellen. Konkret die Bundestagswahl deutlich, dass es nach 16 Jah- würde das etwa bedeuten, den Mindestlohn an- ren Kanzlerschaft Angela Merkels zwar einen zuheben, Hartz IV zu reformieren, die Steuerlas- Wunsch nach Wandel gibt, dass sich gleichzeitig ten gerechter zu verteilen und das Bildungssys- aber auch neue Risse in unserer Gesellschaft auf- tem inklusiver und fairer zu gestalten. getan haben, die dringend gekittet werden müs- Dabei ist es wichtig, die zukünftigen Ausga- sen. Ohne starken gesellschaftlichen und demo- ben in den Bereichen Klima, Digitalisierung und kratischen Rückhalt werden die anstehenden Soziales nicht als leidige Kosten zu verstehen, Transformationsprozesse politisch scheitern. sondern als Investitionen in die Lebensqualität Zweifellos wird es mit einer neuen Bun- aller Bürger*innen – insbesondere der jüngeren desregierung auch zu politischen Veränderun- Generation. Allzu oft werden öffentliche Inves- gen kommen. Doch sollte man auch eine radi- titionen noch als Schulden verstanden, die uns kale Änderung unseres bisherigen Politikmodus und die zukünftigen Generationen „belasten“. ins Auge fassen. Bisher verhindern unsere poli- Das bloße Schuldenkalkül ist allerdings kurz- tischen Rahmenbedingungen den sozial-ökolo- schlüssig: Nicht zu handeln und nicht zu inves- gischen Transformationsprozess eher, als dass sie tieren wäre weitaus gefährlicher. Ohne Investiti- ihn aktiv vorantreiben. Der traditionelle deutsche onen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz werden wir für die Zukunft nicht gerüstet sein. 04 Vgl. Magdalena Neubig, Das AfD-Wahlergebnis ist ein ge- Was bringt eine „schwarze Null“, wenn in den samtdeutsches Problem, 3. 10. 2021, www.deutschlandfunk.de/ Schulen keine digitalen Kompetenzen vermittelt sachsen-und-thueringen-das-afd-wahlergebnis-ist-ein.720. werden können, wenn die Gesundheitsämter ihre de.html?dram:article_id=503809. 06
Nach der Bundestagswahl APuZ Inkrementalismus, wie er für die Merkel-Kanz- geschäft könnte dazu führen, dass Fehler nicht lerschaft der vergangenen 16 Jahre prägend war, dadurch noch verschlimmert werden, dass man ist angesichts der gegebenen Herausforderungen sie, wie bislang üblich, permanent zu verheim- unangemessen. Die letzten Jahre zeichneten sich lichen oder zu vertuschen sucht. Insbesondere vor allem durch ein auf Dauer gestelltes Krisen bei komplexen und offenen Prozessen, die in der management aus, das viele strategische Debatten Geschichte einmalig sind, werden zwangsläufig links liegen ließ. Natürlich gehört Krisenmanage- Fehlentscheidungen getroffen. Politiker*innen ment zum politischen Alltag. Wenn allerdings nur sind keine unfehlbaren Wesen, und geschichtli- noch „gemanagt“ wird, kommen die langfristigen che Prozesse sind kontingent. Eine mangelhaf- politischen Prozesse zu kurz und werden die po- te Fehlerkultur führt dazu, dass politische Ent litischen Anreize vermindert, die großen Trans- scheidungsträger*innen dazu neigen, sich aus formationsprozesse anzugehen. Die mediale Öf- Angst vor einem Gesichts- und Machtverlust fentlichkeit spielt dabei eine wesentliche Rolle. ihrer Verantwortung zu entziehen. Genau das Ob Druck auf die Politik ausgeübt wird oder aber führt zu schlechten Entscheidungen. Statt nicht, liegt vor allem an ihr. Schaut man sich die sachorientiert nach tragfähigen neuen Lösungen Inhalte der Pressekonferenzen von Frau Merkel oder Korrekturen zu suchen, versucht man, die in den letzten Jahren an, wird man schnell bemer- Verantwortung für getroffene Entscheidungen ken, dass es darin vor allem um Themen ging, die schnell auf andere abzuwälzen. Dieses System nur sehr kurzfristig relevant waren. Grundsätz- gilt es zu durchbrechen. Die kommende Bun- liche (und langfristige) Fragen der Europa-, Kli- desregierung könnte sich hier etwa die Prinzipi- ma- oder Wirtschaftspolitik haben das Interesse en des „humble government“ zu eigen machen, der Journalist*innen kaum geweckt.05 wie sie von der finnischen Denkfabrik Demos Ein weiteres Problem ist der Zeithorizont Helsinki entwickelt worden sind und von der der Politik. Angesichts der kurzen Legislaturpe- finnischen Regierung bereits umgesetzt werden. rioden schauen Politiker*innen viel stärker auf Im Kern geht es um eine „lernende Regierung“, schnelle Erfolge als auf langfristige Gewinne. die iterativ vorgeht und aus ihren eigenen (einge- Letztere werden nur selten belohnt. Wie soll man standenen) Fehlern lernt. Prozessverläufe wer- wiedergewählt werden, wenn die Ergebnisse be- den nicht von vornherein unveränderlich fest- stimmter Entscheidungen (noch) nicht abschätz- legt, sondern Entscheidungen müssen ständig bar sind? Und warum sollten Entscheidungsträ neu justiert werden. Gleichzeitig gilt es, die Ver- ger*innen tiefgreifende Transformationsprozesse antwortung für prinzipielle politische Zielset- angehen, wenn viele Bürger*innen Stabilität und zungen wiederherzustellen. So fehlt es etwa an Status quo bevorzugen? Veränderung bedeutet einer Rechenschaftspflicht für absehbare Folgen Unsicherheit, und Unsicherheit ist ein Angstfak- des Nichthandelns: Im Jahr 2050 werden ver- tor, den man möglichst zu vermeiden versucht. mutlich keine Entscheidungsträger*innen mehr Das politische System müsste deswegen politi- im Amt sein, die für ihre nicht getroffenen poli- schen Mut viel stärker belohnen als bisher, insbe- tischen Entscheidungen zum Klimawandel poli- sondere dann, wenn unbequeme Entscheidungen tisch geradestehen. dazu beitragen, langfristige Ziele – Klimaneutra- Damit verbunden ist die Frage, wie man Po lität zum Beispiel – zu realisieren. Man sollte des- litiker*innen dazu verpflichtet, sich mit kompli- wegen versuchen, „Zukunftsräte“, wie sie von zierten, kontroversen, sachlich unübersichtlichen Patrizia Nanz und Claus Leggewie vorgeschla- Themen auseinanderzusetzen, die nicht unmittel- gen worden sind, zu institutionalisieren. bar im eigenen machtpolitischen Interesse liegen. Darüber hinaus stellt unsere „Fehlerkul- Populäre Entscheidungen sind bekanntlich nicht tur“ ein ernstzunehmendes Hindernis für die unbedingt die besten Entscheidungen. Zwar ist es Handlungsfähigkeit der Politik dar. Ein ande- demokratisch, die Mehrheitsmeinung zu berück- rer Umgang mit Fehlern im politischen Tages- sichtigen, allerdings kann das Mehrheitsprinzip auch zu gefährlichen Schieflagen führen. So re- präsentieren die Parteien eine Mehrheit der (äl- 05 Vgl. Nicolas Heronymus et al., Was Angela Merkel umtreibt, 30. 6. 2021, www.zeit.de/politik/deutschland/2021-06/angela- teren) Bevölkerung in Deutschland, während die merkel-wochenberichte-bundeskanzlerin-themen-deutschland- 18- bis 29-Jährigen nur gut 14 Prozent der Wahl- umfragen. berechtigten ausmachen. Die über 60-Jährigen 07
APuZ 47–49/2021 bringen es dagegen auf rund 37 Prozent.06 Das änderungen erfolgreich umsetzen. Dazu muss Problem liegt auf der Hand: Die Jüngeren werden auch ein öffentlicher Raum wiederhergestellt wer- die Kosten für ein Scheitern der Klimapolitik zu den, der es erlaubt, die damit verbundenen Kon- tragen haben. Dabei wird es nicht nur darum ge- flikte auszutragen, und der zu einem Ausgleich hen, immer „mehr und drastischere Reduktions- der verschiedenen Interessen beiträgt, während lasten zu schultern, um die Klimakrise zu begren- gleichzeitig Minderheiten geschützt werden. Das zen, sondern auch die immer schlimmeren Folgen erfordert vor allem auch, dass die nächste Bundes- der Klimakrise selbst zu bewältigen“.07 Um hier regierung sich wesentlich stärker, als es bislang der eine Machtbalance herzustellen, könnte man etwa Fall war, dafür einsetzt, die Polarisierung unserer ein Wahlrecht ab 16 Jahren in Erwägung ziehen. Gesellschaft zu überwinden, etwa indem effizi- Gleichzeitig werden politisch sehr oft Par- ente Regelungen gegen die im Netz grassierende tikularinteressen vertreten, die für die Mehr- Desinformation durchgesetzt werden. heit schädlich sind. Beispiel Energiewende: Wir Diese Erweiterung der Demokratie bedeutet wissen alle, dass erneuerbare Energien ausge- auch, dass wir die nationale Politik noch viel stär- baut werden müssen. Viele Bürger*innen möch- ker mit der europäischen Ebene verknüpfen. Vie- ten jedoch weder Stromtrassen noch Windräder le Kompetenzen liegen längst nicht mehr in Ber- in ihren Hintergärten sehen, und Politiker*innen lin, sondern in Brüssel, wo die Bundesregierung wiederum möchten nicht die Unterstützung die- regelmäßig mit 26 anderen Regierungen mitent ser Wählergruppe verlieren und ziehen es des- scheidet. Trotzdem werden die meisten politi- halb vor, weitreichende Entscheidungen für den schen Themen nach wie vor ausschließlich im na- Klimaschutz vor sich herzuschieben. Die Über- tionalen Rahmen diskutiert, ohne dass über die repräsentation von Partikularinteressen in un- Grenzen hinweg gedacht würde. Das mangeln- serem politischen System wird besonders dann de Interesse an Europa in Deutschland ist poli- problematisch, wenn sie dazu führt, dass die Po- tisch außerordentlich problematisch. Das viel litik sich nicht mehr auf das Grundsätzliche fo- beschworene „Demokratiedefizit“ der EU ist kussiert, nämlich eine faire und gute Zukunft für hierbei nicht die hauptsächliche Herausforde- alle Bürgerinnen und Bürger – auch für diejeni- rung, sondern das mangelnde Interesse der nati- gen, die weniger (finanzielle) Mittel haben, ihre onalen Politiker*innen, sich ernsthaft mit der EU Interessen durchzusetzen. Die Wiederherstellung zu beschäftigen. Auch hier geht es letztlich wie- politischer Gleichheit erfordert mithin neue „An- der um eine simple machtpolitische Frage: Wel- reizsysteme“, damit jene Politiker*innen nicht ches Interesse haben nationale Politiker*innen, machtpolitisch benachteiligt werden, die sich, Macht an die EU abzugeben, auch wenn die EU jenseits jeder Klientelpolitik, für Bildung, Ge- dadurch handlungsfähiger würde? Es ist bequem, sundheit und Wohnraum für alle einsetzen. Brüssel in schwierigen Situationen als Sünden- bock zu benutzen, anstatt selbst Verantwortung DEMOKRATIE ERWEITERN – zu übernehmen. Ein schlagendes Beispiel für das UND DABEI EUROPA MITDENKEN gängige Prinzip „Erfolge nationalisieren, Schei- tern europäisieren“ waren die Impfstoffbeschaf- Über die Veränderung des bisherigen Politik- fungsmaßnahmen der EU-Kommission. Die EU modus hinaus wird die nächste Bundesregierung wurde für ihre Politik von nationalen Entschei auch daran arbeiten müssen, die demokratischen dungsträger*innen permanent kritisiert, obwohl Prozesse in unserer Gesellschaft zu erweitern Bund und Länder für Fehlentscheidungen nicht und zu vertiefen. Nur dann, wenn alle Bürgerin- minder verantwortlich waren. nen und Bürger des Landes gleichermaßen an den Die nächste Bundesregierung sollte sich des- Transformationsprozessen beteiligt werden, kann wegen intensiver als bisher mit Demokratisie- die Politik die anstehenden, weitreichenden Ver- rungsprozessen auseinandersetzen, und zwar auf nationaler, lokaler, regionaler und europäischer Ebene. Unsere Demokratie braucht Reformen, 06 Vgl. Okan Bellikli, Wo sind nur die U40-Themen?, 5. 9. 2021, die das Gemeinwohl wieder ins Zentrum der poli- www.spiegel.de/a-38f87ab4-69bb-4250-903f-c1b9ef317c3f. 07 Bernd Ulrich, Die Befreiung der Freiheit, 30. 4. 2021, www. tischen Interessen stellen und die Politiker*innen zeit.de/politik/deutschland/2021-04/karlsruhe-bundesverfas- dazu veranlassen, sich verantwortungsbewusst sungsgericht-klimaschutz-urteil-grundgesetz-freiheit. auch gegenüber den zukünftigen Generationen 08
Nach der Bundestagswahl APuZ zu verhalten. Es dürfen nicht diejenigen benach- auch fragwürdig. Es besteht die Chance, dass mit teiligt werden, die langfristige politische Verände- einem neuen politischen Spitzenpersonal auch rungen voranbringen wollen. Und nicht zuletzt neue Ideen und eine neue Dynamik in die deut- braucht es Prozesse und Institutionen, die einen sche Politik kommen. Fortschritte in der Klima- gerechten Interessenausgleich ermöglichen. politik, der Digitalisierung und im Bereich der sozialen Gerechtigkeit wären wünschenswert. RADIKALE VERÄNDERUNG Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird STATT TRIPPELSCHRITTE es sein, die hier skizzierten Herausforderungen so schnell und so effektiv wie möglich anzuge- Im europäischen und internationalen Vergleich hen. Eine Fortsetzung der Trippelschrittpolitik nimmt Deutschland eine privilegierte Position wäre für die Zukunft des Landes verheerend. Im ein. Es weist eine niedrige Arbeitslosigkeit auf, Jahr 2025 werden wir sehen, ob die Kluft zwi- kann sich auf eine starke Wirtschaft stützen und schen dem, was noch zu tun ist, und dem, was befindet sich auf einem sehr hohen Wohlstands- man erreicht hat, noch weiter angewachsen sein niveau. Das Land verfügt über ein stabiles politi- wird – oder ob die nächste Bundesregierung ei- sches System mit starken demokratischen Parteien nen mutigeren Weg eingeschlagen hat, um unsere und vergleichsweise rationalen Entscheidungsträ Zukunft zu sichern. ger*innen. Doch diese Verhältnisse sind nicht in Stein gemeißelt. Viele wichtige Entscheidungen sind in den letzten Jahren nicht getroffen worden, SOPHIE PORNSCHLEGEL die jetzt dringend nachgeholt werden müssen. ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre Deshalb ist nach 16 Jahren „Merkel-Ära“ ein in Brüssel und Policy Fellow des Progressiven politischer Wandel in der Tat zu begrüßen. Alles Zentrums in Berlin. andere wäre aus demokratietheoretischer Sicht s.pornschlegel@epc.eu Zum Weiterlesen. bpb.de/ shop NEU! Welche historischen Entwicklungslinien prägen das heutige Frankreich? Wie funktioniert das politische System? Wie steht es um das Wirtschaftsmodell? Vor welchen Herausforderungen steht die französische Gesellschaft? Und welche Rolle spielt Frankreich auf internationaler Ebene? 2021 Der neue Länderbericht Frankreich Bestell-Nr. 10661 bietet grundlegende Informationen 4,50 Euro zu all diesen Aspekten. 09
APuZ 47–49/2021 WAHLPOLITISCHE ACHTERBAHNFAHRT Wer wählte wen bei der Bundestagswahl 2021? Rüdiger Schmitt-Beck Nach einer vorbereitenden Übergangsphase, de- werden können.04 Untersucht wird die Wahl aller ren Beginn bei der Bundestagswahl 2005 veror- im Bundestag vertretenen Parteien, mit besonde- tet werden kann, wird die Bundestagswahl 2021 rem Akzent auf SPD und CDU/CSU. wohl als Wendepunkt in die Wahlgeschichte Deutschlands eingehen. Abschmelzende Binde- DER WAHLSOZIOLOGISCHE kraft traditioneller politischer Loyalitäten, stei- „TRICHTER DER KAUSALITÄT“ gende Volatilität des Wahlverhaltens, Niedergang der Volksparteien und Fragmentierung des Par- Die nachfolgende Analyse der Hintergründe der teiensystems sowie in der Konsequenz zuneh- Parteiwahl orientiert sich im Kern an der wahl- mende Schwierigkeiten der Regierungsbildung soziologischen Heuristik des „Trichters der Kau- bei wachsender Zahl lösungsbedürftiger Groß- salität“,05 erweitert diese jedoch an einigen Stel- probleme sind nur einige der Stichworte, die die- len, um den institutionellen Charakteristika von se bewegte Periode kennzeichnen.01 Gemessen Bundestagswahlen und den besonderen Umstän- an diesen Herausforderungen auch für die poli- den der Bundestagswahl 2021 Rechnung zu tra- tikwissenschaftliche Analyse ist das Ziel des vor- gen. Das resultierende Basismodell individueller liegenden Beitrags bescheiden. Es geht um eine Wahlentscheidungen integriert die wichtigsten erste grobe Bestandsaufnahme der Hintergrün- theoretischen Strömungen der Wahlsoziologie de der Parteiwahl bei der Bundestagswahl 2021. und hat sich bei der Erklärung des Wahlverhal- Auf Basis des ersten zu dieser Wahl verfügbaren tens bei Bundestagswahlen bewährt.06 Ihm zu- Datensatzes der German Longitudinal Election folge sind diese Entscheidungen multikausaler Study (GLES) wird bewährtes theoretisches und Natur und durch eine umfangreiche Palette von methodisches Besteck eingesetzt, um in quer- Faktoren erklärbar, die teilweise in einer zeitli- schnittlicher Perspektive zu untersuchen, welche chen und ursächlichen Abfolge stehen. Grund- Faktoren zur Wahl welcher Partei geführt haben. legend für das Modell ist die Unterscheidung Dieser Ansatz wird auch einige Anhaltspunk- zwischen stabilen Langfristfaktoren, die eher in- te liefern, um die fundamentalen Veränderungen direkt wirken, und situativ wechselhaften Kurz- des elektoralen Parteiensystems besser zu verste- fristfaktoren, die der Wahlentscheidung unmittel- hen, die die Wählerschaft bei dieser Wahl herbei- bar vorgelagert sind. geführt hat. Bei den langfristigen Faktoren handelt es sich Grundlage der Analyse ist eine während des um fest in der Persönlichkeit verankerte politi- Wahlkampfs durchgeführte Befragung von wahl- sche Prädispositionen. Sie verweisen auf Kon- berechtigten Bürger:innen. Die Erhebung wurde fliktkonstellationen, die in sozialen Strukturen online durchgeführt und basiert auf einer Quo- wurzeln und teilweise historisch weit zurückrei- tenstichprobe.02 Diese ist gut zur Analyse der chen. Diese wurden im Parteienwettbewerb dau- Zusammenhänge zwischen Wahlentscheidungen erhaft politisiert. Sie haben zur Herausbildung und ihren möglichen Hintergründen geeignet, gruppenspezifischer Wahlnormen und affektiver aber weniger gut für die Abbildung von Vertei- Parteibindungen geführt, die im Zuge der fami- lungen dieser Merkmale in der Wählerschaft.03 liären Sozialisation weitergegeben werden und Die nachfolgend getroffenen Verteilungsaussagen sich dadurch partiell auch von ihren strukturel- stützen sich daher überwiegend auf publizierte len Hintergründen abgelöst haben. Bei Wahlen Befunde qualitativ hochwertiger Meinungsum- begründen demzufolge Gruppenzugehörigkeiten fragen, die hier nicht im Einzelnen ausgewiesen und ihnen nachgelagerte Parteibindungen stabi- 10
Nach der Bundestagswahl APuZ le Affinitäten zu bestimmten Parteien, von de- tur soziopolitischer Konfliktlinien (sogenannte nen allerdings durchaus auch abgewichen werden Cleavages) verstanden werden können? Die Da- kann.1234 ten zeigen, dass das Wahlverhalten weitaus stär- Diese können das Wahlverhalten direkt be- ker mit politischen Einstellungen als mit sozial- einflussen, indem sie unmittelbar Entschei- strukturellen Merkmalen verknüpft gewesen ist. dungen für bestimmte Parteien nahelegen. Irrelevant waren letztere jedoch keineswegs, und Insbesondere steuern sie aber auch als Wahrneh- die zutage tretenden Effekte entsprechen zumin- mungsfilter, wie Personen die politischen Infor- dest teilweise tradierten Mustern sozialstruktu- mationen verarbeiten, die im Vorfeld von Wah- rell fundierter Stimmabgabe.56 len auf sie einströmen. Dadurch können sie auch Für die deutsche Politik waren traditionell die auf indirekte Weise Ausdruck an der Wahlurne sozioökonomische und die konfessionell-religiö- finden. Sie sind den für Wahlentscheidungen di- se Konfliktlinie prägend.07 Dass auch diesmal so- rekt relevanten, auf die situativen Umstände der wohl Mitglieder der katholischen Kirche als auch jeweils aktuell anstehenden Wahl bezogenen Kirchgänger eher für die CDU/CSU stimmten, Kurzfristfaktoren vorgelagert und färben die- deutet auf die fortbestehende, wenngleich im lang- se in mehr oder weniger parteiischer Weise. Das fristigen Vergleich geschmälerte Relevanz der tra- orthodoxe, für US-amerikanische Verhältnisse dierten konfessionell-religiösen Spannungslinie entwickelte „Trichter“-Modell stellt zwei Ar- hin. Bei der Bundestagswahl 2021 stand dem eine ten von Kurzfristfaktoren ins Zentrum: Wahr- ebenfalls schon aus früherer Forschung bekannte, nehmungen und Einstellungen der Wähler:innen im Vergleich zu Konfessionslosen erkennbar ab- zu den Kandidierenden und zu den im zeitlichen geschwächte Unterstützung sowohl katholischer Kontext der Wahl wichtigen politischen Sach- als auch evangelischer Wähler:innen für die Linke, problemen und Streitfragen (Issues). Da Bun- aber auch die AfD gegenüber. destagswahlen stets zur Bildung von Koalitions- Die wahlpolitische Relevanz der sozioöko- regierungen führen, müssen bei ihrer Analyse nomischen Konfliktlinie ist in den vergangenen zudem auch die Einstellungen der Wähler:innen Jahrzehnten stärker erodiert. Ihr Kennzeichen zu den verschiedenen Koalitionsoptionen be- war traditionell eine erhöhte Neigung der Arbei- rücksichtigt werden. terschaft, aber auch von Gewerkschaftsmitglie- dern, zur SPD. Die Betrachtung der Berufsgrup- SOZIALSTRUKTUR pen (aktueller und bei Rentnern früher ausgeübter Beruf) zeigt für die Arbeiter keine statistisch be- Inwieweit waren die Entscheidungen für oder deutsam erhöhte Tendenz, die SPD zu wählen, gegen die einzelnen Parteien bei der Bundes- wohl aber eine verminderte Neigung zur CDU/ tagswahl 2021 von Zusammenhangsmustern ge- CSU als ihrem wichtigsten Antagonisten. Klarer kennzeichnet, die als Reflexe der Tiefenstruk- im Sinne klassischen Cleavage-Wählens ist der positive Zusammenhang zwischen der Mitglied- schaft in einer Gewerkschaft und der Stimmabga- 01 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck et al. (Hrsg.), The Changing be für die Sozialdemokratie. Insgesamt markanter German Voter, Oxford 2022 (i. E.). ist aber, dass neben den Arbeitern auch einfache 02 Es handelt sich um das GLES-Tracking T50 (ZA7708), das vom 15. 9.–24. 9. 2021 erhoben wurde. Der Autor ist den Kolleg: und mittlere Angestellte und Beamte der Union innen von der GLES und der GESIS (Marc Debus, Thorsten Faas, Sigrid Roßteutscher, Harald Schoen, Manuela Blumenberg) für 05 Vgl. Angus Campbell et al., The American Voter, New York den Zugang zu einer Vorabversion des Datensatzes zu großem 1960, S. 24–32. Dank verpflichtet. Die tabellarischen Befunde der berichteten 06 Vgl. Hans Rattinger et al., Zwischen Langeweile und Extre- Auswertungen sind zu finden unter: www.mzes.uni-mannheim.de/ men: Die Bundestagswahl 2009, Baden-Baden 2011, S. 147– publications/misc/Schmitt-Beck_Wahlpolitische_Achterbahnfahrt_ 263; Rüdiger Schmitt-Beck et al., Zwischen Fragmentierung und Tabellenanhang.pdf. Konzentration: Die Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2014, 03 Vgl. Evelyn Bytzek/Ina Bieber, Does Survey Mode Matter for S. 179–324; Sigrid Roßteutscher et al., Zwischen Polarisierung Studying Electoral Behaviour? Evidence From the 2009 German und Beharrung: Die Bundestagswahl 2017, Baden-Baden 2019, Longitudinal Election Study, in: Electoral Studies 43/2016, S. 41–51. S. 181–355. 04 Siehe hierzu das Politbarometer der Forschungsgruppe 07 Vgl. Martin Elff/Sigrid Roßteutscher, All Gone? Change Wahlen und den Deutschlandtrend von Infratest dimap: and Persistence in the Impact of Social Cleavages on Voting www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Politbarometer/; Behavior in Germany Since 1949, in: Rüdiger Schmitt-Beck et al. www.infratest-dimap.de. (Anm. 1). 11
APuZ 47–49/2021 in geringerem Maße zuneigten als die Selbststän- destagswahl 2017 auch noch nicht bis zur Stufe digen. Dieselben Gruppen, ergänzt um die An- mehrheitlicher parteipolitischer Bindungslosig- gestellten und Beamten in hohen Positionen, vo- keit der Wählerschaft.09 tierten gleichzeitig deutlich verstärkt für die SPD. Langfristig stabile Parteibindungen haben Neben den klassischen Konfliktlinien hat auch bei der Bundestagswahl 2021 zu den domi- sich in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa nanten Prägekräften des Wahlverhaltens gehört. eine neue Konfliktlinie herausgebildet, über de- Ihre Bedeutung war jedoch nicht für alle Parteien ren Wesen in der Wahlsoziologie noch keine Ei- gleich groß. Der SPD scheint es besonders gut ge- nigkeit besteht. Sie ist beschrieben worden als lungen zu sein, ihr Kernpotenzial affektiv gebun- Gegensatz zwischen postmaterialistischen, liber- dener Wähler:innen zu aktivieren. Das zeigt sich tären, globalisierungsfreundlichen beziehungs- besonders deutlich im direkten Vergleich mit der weise kosmopolitischen Haltungen auf der einen CDU/CSU, die diesmal offenbar Schwierigkei- Seite und materialistischen, autoritären, globali- ten hatte, die eigenen Anhänger:innen zu mobili- sierungsfeindlichen beziehungsweise kommuni- sieren. Bei der vorangegangenen Bundestagswahl taristischen Positionen am Gegenpol. Parteipo- war das noch umgekehrt gewesen.10 Aus – aller- litisch ist sie definiert durch den Antagonismus dings weitaus schmäleren – Reservoirs treuer Par zwischen grünen und rechtspopulistischen Par- teianhänger:innen speisten sich aber auch die Stim- teien.08 Ihre Wirksamkeit bei der Bundestagswahl menanteile der kleineren Parteien in nicht geringem 2021 zeigt sich vor allem daran, dass geringer Ge- Maße. Gleichzeitig waren die festen Anhänger al- bildete eher für die AfD stimmten, hoch gebilde- ler Parteien deutlich weniger für konkurrierende te, aber auch jüngere Wähler:innen hingegen eher Parteien erreichbar als die wachsende Gruppe der für die Grünen. Sehr markante, nicht unbedingt parteipolitisch Ungebundenen. Die massiven Ver- auf den „neuen Cleavage“ zurückzuführende Zu- schiebungen der Stimmenanteile zwischen den Par- sammenhänge mit dem Lebensalter treten darüber teien dürften also vor allem auf das Konto derje- hinaus aber auch bei allen anderen Parteien zuta- nigen Stimmbürger:innen gehen, die sich nicht an ge. Während die Union und in noch weit stärke- eine Partei gebunden fühlten. rem Maße die SPD vor allem von älteren Wähler: innen unterstützt wurden, fanden nicht nur die SPITZ ENK AND IDAT:INNEN Grünen, sondern auch die FDP, die Linke und die AfD mehr Rückhalt bei den Jüngeren. Die Personalisierungsthese behauptet, dass die Wenn zusätzlich auch politische Wahrneh- Erosion affektiver Parteibindungen zu einer grö- mungen und Einstellungen berücksichtigt wer- ßeren Bedeutung der Einstellungen zu den Kan- den, schwächen sich diese Zusammenhänge mit didierenden geführt habe. Wahlergebnisse wür- sozialstrukturellen Merkmalen stark ab, oft ver- den deswegen immer stärker davon geprägt, wie schwinden sie ganz. Das deutet darauf hin, dass populär die Spitzenkandidat:innen der Partei- ihre Wirkungen auf das Wahlverhalten ganz oder en in der Wählerschaft sind.11 In Deutschland ist teilweise durch politische Einstellungen vermit- hierbei vor allem an die Kandidierenden für die telt wurden. Kanzlerschaft zu denken. Diese traten bei der Bundestagswahl 2021 erstmals als Trio auf, weil PARTEIBINDUNGEN neben CDU/CSU (CDU-Chef Armin Laschet) und SPD (Vizekanzler und Finanzminister Olaf Ebenso wie in vielen anderen westlichen Demo- Scholz) auch die Grünen in Gestalt ihrer Co-Vor- kratien haben sich auch in Deutschland die affek- tiven Parteibindungen während der vergangenen 09 Vgl. Kai Arzheimer, Another Dog That Didn’t Bark? Less Jahrzehnte im Zuge eines langfristigen Erosions- Dealignment and More Partisanship in the 2013 Bundestag prozesses (sogenanntes dealignment) deutlich Election, in: German Politics 1/2017, S. 49–64; Roßteutscher abgeschwächt, wenngleich nicht kontinuierlich, et al. (Anm. 6), S. 207–217. sondern in Phasen, und zumindest bis zur Bun- 10 Vgl. Roßteutscher et al. (Anm. 6), S. 207–217. 11 Vgl. Diego Garzia/Frederico Ferreira da Silva/Andrea De Angelis, Partisan Dealignment and the Personalisation of Politics 08 Vgl. Robert Ford/Will Jennings, The Changing Cleavage in West European Parliamentary Democracies, 1961–2018, in: Politics of Western Europe, in: Annual Review of Political Science West European Politics 2020, doi:10.1080/01402382.2020.184 23/2020, S. 295–314. 5941 (online first). 12
Nach der Bundestagswahl APuZ sitzenden Annalena Baerbock eine Aspirantin auf mann mehrheitlich den beiden Konkurrent:innen das Kanzleramt nominiert hatten. Im Wahlkampf als Regierungschef vorzog. Wer die grüne Spitzen- Spitzenkandidierende als Gesicht der Partei zu kandidatin im Kanzleramt sehen wollte, votierte präsentieren, ist aber auch bei den kleineren Par- deutlich eher für ihre Partei und nicht für die SPD. teien selbstverständliche Praxis, selbst wenn die- Präferenzen für Armin Laschet hingegen kosteten se keine Aussichten haben, die Führung der Bun- weder die SPD noch die Grünen Stimmen. desregierung zu übernehmen. Im Hinblick auf die Kanzlerkandidaten scheint Die empirische Evidenz zur Personalisie- es also bei der Bundestagswahl 2021 eine Art Rol- rungsthese ist nicht eindeutig. Insgesamt deu- lentausch zwischen Union und SPD gegeben zu tet sie eher auf ein Auf und Ab des Kandidie- haben. Während die Sozialdemokraten viele Stim- rendeneffekts hin, je nach Persönlichkeit und men dem öffentlichen Ansehen ihres Spitzenkan- Umständen der Wahl. Fest steht jedoch, dass die didaten Olaf Scholz verdankten, war dessen Wett- scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel zu- bewerber Armin Laschet für die Union eher eine mindest seit der Bundestagswahl 2009 immer au- Hypothek. Auch die Noch-Amtsinhaberin Angela ßerordentlich beliebt gewesen ist und dass sich Merkel war bei den Wähler:innen weitaus beliebter diese Popularität in starker elektoraler Unterstüt- als der auf ihre Nachfolge hoffende Kandidat ih- zung für die CDU/CSU niedergeschlagen hat. rer Partei. Was erklärt diese Diskrepanz? Betrach- Ihre wechselnden sozialdemokratischen Heraus- tet man die Bewertungen Merkels und Laschets im forderer (Peer Steinbrück, Frank-Walter Stein- direkten Vergleich, so zeigt sich, dass Laschet vor meier, Martin Schulz) erschienen den Wähler: allem bei Frauen und noch ausgeprägter bei jün- innen stets weniger attraktiv und brachten der geren Wähler:innen sehr viel geringere Wertschät- SPD nicht viele zusätzliche Stimmen.12 zung erfuhr als Merkel. Bei der Bundestagswahl 2021 verkehrte sich Auch Personen, die in der Covid-19-Pande- dieses Muster in sein Gegenteil. Die vorliegenden mie restriktive Maßnahmen einer Politik der Lo- Daten deuten darauf hin, dass Armin Laschet, der ckerungen vorzogen, die Zuwanderung erleichtern schon bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden, wollten und weitreichende staatliche Vorgaben in dann erneut bei seiner Nominierung zum Kanz- der Klimapolitik favorisierten, beurteilten Merkel lerkandidaten und schließlich auch während des deutlich positiver als Laschet. Etwas weniger aus- gesamten Wahlkampfs in seiner eigenen Partei geprägt zeigt sich ein ähnliches Muster für Perso- (und erst recht in der Schwesterpartei CSU) nie- nen, die einer großzügigeren Sozialpolitik den Vor- mals unangefochten war, der Union keine einzige zug vor Steuererleichterungen gaben. Vor allem bei zusätzliche Stimme gebracht hat, sondern im Ge- Wähler:innen mit gesellschaftspolitisch, aber auch genteil möglicherweise sogar Wähler:innen veran- sozioökonomisch linkeren Einstellungen blieb La- lasst hat, lieber für die Grünen zu stimmen. Bun- schets Ansehen also weit hinter Merkels Beliebt- desfinanzminister Olaf Scholz, der schon ein Jahr heit zurück. Auch wurde Angela Merkel im Ver- vor der Wahl unstrittig nominierte Kanzlerkandi- gleich zu Armin Laschet umso günstiger gesehen, dat der SPD, trat hingegen in zweierlei Hinsicht je positiver die Leistungen der von ihr geführten in die Fußstapfen seiner Noch-Regierungschefin: Bundesregierung bewertet wurden. durch sein hohes Ansehen in der Wählerschaft, Da Angela Merkel bei der Bundestagswahl das zwar nicht an die Spitzenwerte der Amtsinha- 2021 nicht mehr zur Wiederwahl stand, sollten berin heranreichte, aber deutlich höher war als das ihre Bewertungen eigentlich keine Effekte auf seiner beiden Konkurrent:innen, und durch das Wahlentscheidungen ausgeübt haben. Allerdings große Gewicht dieser Einstellungen für die Wahl- zeigt sich, dass Wäh ler: innen trotzdem an sie entscheidungen. Selbst bei Berücksichtigung des dachten, als sie ihre Stimme abgaben. Anders als Anteils dieser Popularität, der auf die Filterwir- bei den drei Bundestagswahlen zuvor, als sie im kung von Bindungen an die SPD zurückzuführen Wahlkampf unangefochten an der Spitze der Uni- ist, profitierten die Sozialdemokraten enorm von on stand, kam ihre große Beliebtheit dieses Mal dem Umstand, dass die Wählerschaft ihren Front- jedoch nicht der eigenen Partei zugute, sondern der wichtigsten Konkurrenzpartei unter Führung 12 Vgl. Rattinger et al. (Anm. 6), S. 205–221; Schmitt-Beck ihres Vizekanzlers Olaf Scholz, der sich zudem et al. (Anm. 6), S. 267–279; Roßteutscher et al. (Anm. 6), auch in seiner Selbstpräsentation als Kanzlerkan- S. 247–261. didat an ihrem Vorbild zu orientieren schien. Der 13
APuZ 47–49/2021 Effekt ist nicht groß, aber statistisch signifikant. erwiesen.13 Das bestätigt sich auch bei der Bun- Diejenigen, die Merkel auf der Bewertungsskala destagswahl 2021. Ein klares Muster zeigt sich das Prädikat +5 zuerkannten, hatten eine um ei- nur für die Klimapolitik, die auch die Themen nen vollen Prozentpunkt höhere Neigung, für die agenda der Wählerschaft dominierte. Wer eine SPD zu stimmen, als Personen, die sie sehr nega- zupackendere Politik zur Begrenzung des men- tiv beurteilten (−5). Die gerechneten Modelle le- schengemachten Klimawandels für erforderlich gen den Schluss nahe, dass dieser Effekt mit der hielt, unterstützte eher die Grünen, bemerkens- Beurteilung der Performanz der Bundesregierung werterweise aber auch die FDP. Wer weniger kli- zusammenhing. mapolitische Eingriffe wollte, tendierte hingegen Die Bewertungen der Spitzenkandidat:innen zur Union. Wahrnehmungen der Wirtschaftslage der kleineren Parteien beeinflussten das Wahl- scheinen bei dieser Wahl ohne Relevanz geblie- verhalten in deutlich geringerem Umfang als die ben zu sein. Kanzlerpräferenzen. Der stärkste Effekt ist für Bezüglich der Bedeutung der wahrgenom- den FDP-Chef Christian Lindner zu verzeich- menen Regierungsperformanz für die Wahlent- nen. Dietmar Bartsch von der Linken und Alice scheidungen zeigt sich ein ähnlicher Rollentausch Weidel von der AfD waren beachtlichen Anteilen zwischen SPD und Union wie bei den Kanzler- der Wählerschaft gar nicht bekannt, und für die- präferenzen. Während langer Jahre großkoali- jenigen, die sich zu einem Urteil in der Lage sa- tionärer Partnerschaft mit der Union hatte die hen, sind nur schwache Effekte zu verzeichnen. SPD darunter gelitten, dass die Wähler:innen ihre Leistungen immer nur dem Konto der Kanzle- ISSUES rinnenpartei CDU/CSU gutzuschreiben schie- nen. Anders als anscheinend bisweilen von Sozi- Um die Bedeutung politischer Issues – lösungs- aldemokraten geglaubt, war dieses Muster jedoch bedürftiger Sachprobleme und Streitfragen – nicht einer besonderen „vampiristischen“ Fähig- abzuschätzen, muss differenziert vorgegangen keit Angela Merkels geschuldet; vielmehr war es werden. „Positionsissues“ beziehen sich auf rich- Ausdruck einer bekannten Gesetzmäßigkeit von tungspolitisch umstrittene Problemfelder, be- Koalitionsregierungen. Da die Wähler:innen bei züglich derer die Wäh ler: innen gegensätzliche solchen „Kombi-Regierungen“ schwer erken- Präferenzen und die Parteien entsprechend unter- nen können, welcher Partner für welche Leistun- schiedliche Politiken im Angebot haben, sodass gen verantwortlich ist, tendieren sie dazu, diese sich Wahlentscheidungen am Kriterium der größ- pauschal der Partei des Regierungschefs zuzu- ten politischen Nähe ausrichten können. Wählen schreiben.14 Möglicherweise hat der bevorstehen- auf Basis von „Valenzissues“ bezieht sich hinge- de Abgang der Kanzlerin dazu geführt, dass die gen nicht auf richtungspolitische Auseinanderset- Attributionslogik dieses Belohnungsmechanis- zungen, sondern auf die Leistungen von Parteien mus unterbrochen und stattdessen der bisheri- als Problemlöser. Diese können retrospektiv oder ge Juniorpartner SPD stärker in der Kontinuität prospektiv beurteilt werden. Im ersten Fall wer- der Amtsinhaberin wahrgenommen wurde. Dass den Regierungsparteien für erbrachte Leistungen der amtierende Vizekanzler mit dem Ziel angetre- durch Wiederwahl belohnt und für nicht erbrach- ten war, in der neuen Regierung die Führung zu te Leistungen durch Stimmenentzug bestraft. Von übernehmen, dürfte diese Übertragung erleichtert besonderer Bedeutung ist hierbei oft die Wirt- haben. Auch gaben die Wähler:innen der SPD für schaftslage. Prospektiv orientiert ist die wahrge- ihre Regierungsarbeit etwas bessere Noten als der nommene Kompetenz von Parteien, für aktuell CDU und der CSU. Vor diesem Hintergrund pro- wichtige Probleme eine Lösung zu finden. fitierte die SPD dieses Mal erheblich stärker von Verglichen mit den Persönlichkeitseffekten Leistungsbewertungen der amtierenden Regie- der Kandidierenden fallen die Wirkungen der rung als die Union. Wahrnehmungen und Einstellungen zu politi- schen Sachfragen überwiegend schwächer aus. 13 Vgl. Rattinger et al. (Anm. 6), S. 179–190; Schmitt-Beck et al. Orientierungen zu Positionsissues, die erhebliche (Anm. 6), S. 239–265; Roßteutscher et al. (Anm. 6), S. 229–294. kognitive Anforderungen an die Wäh ler: innen 14 Vgl. Heike Klüver/Jae-Jae Spoon, Helping or Hurting? How stellen, haben sich bei früheren Bundestagswah- Governing as a Junior Coalition Partner Influences Electoral len als wenig prägend für Wahlentscheidungen Outcomes, in: Journal of Politics 4/2020, S. 1231–1242. 14
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