Verdikt - Fachbereich Bund + Länder NRW
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November 2020 19. Jahrgang 2.20 verdikt Mitteilungen der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di verdikt Mitteilungen der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di 4 Besoldung von Justizangestellten und Richterschaft 16 Sozialer Dialog in der Europäischen Union 18 Wie ich die Wende und die deutsche Einheit erlebte 20 Mein Weg in den Osten – hirsch, hirsch … 27 Anmerkungen zum Supreme Court
verdikt 2.20 , Seite 2 3 Editorial BRENNPUNKT 4 Eingruppierung von Beschäftigten in Serviceeinheiten – zum Urteil des BAG | Karl Otte 5 Grundsätze amtsangemessener Besoldung – zum Beschluss des BVerfG | Uwe Boysen RECHTSPOLITISCHES 8 Die Staatsgewalt im Zwielicht | Rafael Behr 11 Die Arbeitsverweigerung gewisser Minister | Uwe Boysen 12 Das Urteil des BVerfG gegen den EuGH: eine epochale Streiterklärung | Joseph Brink 16 Sozialer Dialog in der Europäischen Union | Monika Maria Sommer JUSTIZPOLITISCHES – DEUTSCH-DEUTSCHE JUSTIZGESCHICHTEN 18 Wie ich die Wende und die deutsche Einheit erlebte | Silke Staudte 20 Mein Weg in den Osten – hirsch, hirsch | Christian Eicke 22 »Diener zweier Herren« von Inga Markovitz – eine Leseempfehlung | Hans-Ernst Böttcher AUS DER JUSTIZ 25 Syrische Staatsfolter vor Gericht | Bernd Asbrock 26 Nationalsozialistisches Justizunrecht als Teil der Juristenausbildung – Ein Brief an das BMJV vom BAK Richter*innen und Staatsanwalt*innen INTERNATIONALES 27 Anmerkungen zum Supreme Court der USA in Zeiten der Trump-Präsidentschaft | Konstanze Plett LÄNDERSPLITTER 32 Niedersachsen 32 Hessen 33 Brandenburg RECHTLITERARISCH 34 aus »Justizpalast« von Petra Morsbach RECHTSLINKS 34 Juristische Podcasts | Uwe Boysen AUFGELESEN 35 GLOSSE 35 Alle Kläger werden Schwestern | Mira Reichts-Schonlange, RiAG Ihrmichauch IMPRESSUM 35
verdikt 2.20, Seite 3 [ED I T O R I A L] Liebe Leserinnen, liebe Leser von verdikt, . das staatliche Gewaltmonopol ist in Ge- tegration und damit die europäischen Pers- fahr, so könnte man glauben, wenn man eini- pektiven schwächen. Dabei hat Deutschland ge der Äußerungen aus dem Sommer 2020 an doch in diesem Halbjahr 2020 die EU-Rats- sich vorüberziehen lässt (dazu Boysen, Seite präsidentschaft, und will nicht nur als Zahl- 11). Da zeichnen interessierte Politiker implizit meister, sondern auch mit sozialpolitischen das Bild von marodierenden Horden, die nur Themen Initiative zeigen, unter anderem mit das Ziel haben, sich mit der Polizei, also der dem Thema Arbeitnehmerrechte im sozialen herrschenden Ordnung, zu prügeln, sie zu be- Dialog (dazu der Beitrag von Sommer, S. 16). schimpfen oder zu bespucken. Dass auch die Polizeiführung ein solches Bild inzwischen in . Dass auch der neuerliche »Lockdown ihre Strategien wohlwollend aufgenommen light« zur Beunruhigung Anlass gibt, dürfte hat, zeigt Behr am Beispiel der Vorkommnis- unstreitig sein, wenngleich aus ganz unter- se beim G7-Gipfel in Hamburg (Seite 8). Nach schiedlichen Gründen, deren Tragweite selbst Gründen für die aufflammende Gewaltbereit- in der Redaktion durchaus verschieden be- schaft wird kaum gefragt, kann man sie doch urteilt wird. Sie schwanken zwischen »aus herrlich schon heute für vor der Tür stehende Gesundheitsschutzgründen« (bzw. Leben) Wahlkämpfe nutzen. geradezu »geboten«, über »im Hinblick auf diesen Schutz noch zulässig« bis zu »wegen . Zwar ist Deutschland (noch) weit davon fehlender demokratischer Legitimation sehr entfernt, eine zerrissene Gesellschaft zu wer- zweifelhaft«. Die nächsten Monate werden den, wie wir sie in den USA sehen. Einen wirk- zeigen, welche Tendenz sich bei den Verant- lichen Kampf um die verfassungsrechtliche wortlichen, aber auch in der Bevölkerung Hoheit wie beim US-Supreme Court (zu ihm durchsetzen wird. Plett, Seite 27) können wir bei der Nominie- rung von VerfassungsrichterInnen in der Bun- . Doch es gibt auch kleine Lichtblicke, etwa desrepublik derzeit nicht ausmachen. Und was die Gehälter der Kolleginnen und Kolle- trotz Corona-Leugnern und Flüchtlingshas- gen angeht und das – Gott sei Dank – nicht sern steht die ganz überwiegende Mehrheit nur im richterlichen Bereich (dazu unser der Deutschen zu Werten wie Freiheit und Brennpunkt auf Seite 4 ff.). Die Auffassung Gleichheit. Dennoch haben sich auch bei uns von ver.di, dass gute Arbeit auch in der Justiz teilweise Streit- und Umgangsformen einge- eine auskömmliche Vergütung verdient, wird nistet, die beunruhigen. damit auf verschiedenen Ebenen bestätigt. Hoffen wir, dass sich diese Entwicklung auch . Beunruhigen kann auch das viel disku- 2021 fortsetzt und dass wir uns im nächsten tierte Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020, des- Jahr – jedenfalls in Grenzen – von Corona ver- sen Hintergründe Brink (Seite 12) beleuchtet. abschieden können. Auch wenn das BVerfG es leugnet, so wird die Entscheidung doch rechts-nationalen Kräften Für die Redaktion in die Karten spielen und die europäische In- Uwe Boysen
verdikt 2.20 , Seite 4 [BRENNPUNKT] Karl Otte Eingruppierung von Beschäftigten in Serviceeinheiten . Manche Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift werden bemerkt die, bezogen auf den Aufgabenkreis des Beschäftigten, zu einem bei haben, dass sich in den ihnen zuarbeitenden Serviceeinheiten eine natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen. Die ta- gewisse Unruhe verbreitet hat. Dort tätige Tarifbeschäftigte sind der rifliche Wertigkeit (schwierig oder einfach) der verschiedenen Einzel- Auffassung, dass ihnen eine höhere als die bisher gewährte Vergütung tätigkeiten, die einen Arbeitsvorgang bilden, spielt dabei keine Rolle. zusteht, wobei sie sich auf Entscheidungen des BAG berufen. Die Jus- Bezogen auf die klagende Urkundsbeamtin kam das BAG zu dem Er- tizverwaltungen haben bisher versucht, Begehrlichkeiten abzuweh- gebnis, deren gesamte oder zumindest ganz überwiegende Tätigkeit ren, was jetzt aber kaum noch möglich sein wird. sei ein einheitlicher Arbeitsvorgang, da die Betreuung der Aktenvor- gänge in der Senatsgeschäftsstelle vom Eingang bis zum Abschluss . Zum Verständnis ist es erforderlich, ein wenig in das komplizierte des Verfahrens bei natürlicher Betrachtungsweise einem abgrenzba- Eingruppierungsrecht einzutauchen. Tarifbeschäftigte an Gerichten ren Arbeitsergebnis diene. und Staatsanwaltschaften werden in den Ländern nach dem TV-L, beim Bund nach dem TVöD vergütet. In den zugehörigen Entgeltord- . Im nächsten Schritt hatte das BAG die Frage zu klären, wie damit nungen finden sich Regeln für die Eingruppierung von Mitarbeitern umzugehen ist, dass in dem großen Arbeitsvorgang sowohl schwierige von Serviceeinheiten/Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, dort Ge- als auch einfache Tätigkeiten enthalten sind. Laienhaft könnte man schäftsstellenverwalterinnen und -verwalter genannt. Eingangsvergü- hier auf die Idee einer quantitativen Abgrenzung kommen, also fra- tung ist die Entgeltgruppe 5. Die Zuordnung zu höheren Entgeltgrup- gen, ob die schwierigen Tätigkeiten 20, 30 oder 50 % der auf den Ar- pen wird daran festgemacht, ob in bestimmtem Umfange »schwierige beitsvorgang entfallenden Arbeitszeit ausmachen. Hier gelten jedoch Tätigkeiten« anfallen. Liegt der Anteil der schwierigen Tätigkeiten bei besondere Eingruppierungsregeln: Ein Arbeitsvorgang kann nicht in mindestens einem Fünftel, erfolgt eine Eingruppierung in die Entgelt- Zeitanteile zerlegt werden, er erfüllt insgesamt das Heraushebungs- gruppe 6, bei mindestens einem Drittel in die Entgeltgruppe 8 und bei merkmal der Schwierigkeit, wenn in ihm in »rechtlich nicht ganz un- mindestens 50 % in die Entgeltgruppe 9a. In einer Protokollerklärung erheblichem Ausmaß« schwierige Tätigkeiten anfallen. Es reicht ein wird beispielhaft aufgeführt, was unter »schwierigen Tätigkeiten« zu geringer Anteil, im zur Entscheidung gestellten Fall waren das 11,54 %, fassen ist. Genannt wird hier die Anordnung von Zustellungen, die wahrscheinlich reichen 5,1 %. Die Klägerin war damit in Entgeltgruppe Ladung von Amts wegen, die Erteilung von Rechtskraft- und Not- 9a eingruppiert. fristzeugnissen, die Aufgaben des Kostenbeamten etc. In aller Regel werden Beschäftigte von Serviceeinheiten der Entgeltgruppe 6 zuge- . Die Entscheidung des BAG stieß in Teilen der Literatur und Recht- ordnet, man billigt Ihnen also zu, im Umfange von mindestens 20 % sprechung auf erhebliche Kritik: Da es Zeitanteile von weniger als schwierige Tätigkeiten auszuüben. 20 % an schwierigen Tätigkeiten in der Praxis nicht gäbe, führe sie dazu, dass alle Mitarbeiter von Serviceeinheiten einheitlich nach Ent- . Dieses Eingruppierungsschema, das inhaltsgleich aus dem alten geltgruppe 9a vergütet werden müssten. Der Wille der Tarifvertrags- BAT übernommen wurde, ist aus der Zeit gefallen. Anders als früher, parteien nach einer Hierarchisierung werde konterkariert, das perso- als es in den Geschäftsstellen eine Arbeitsteilung zwischen einfache- nalpolitische Bedürfnis, Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, sei nicht ren und komplexeren Aufgaben gab, hat sich, befördert auch durch mehr umsetzbar. Mehrere Kammern des LAG Berlin stellten sich gegen eine Kienbaumstudie, ein Organisationskonzept durchgesetzt, das das BAG und wiesen Klagen ab. Dem Willen der Tarifvertragsparteien durch eine ganzheitliche Bearbeitung geprägt ist. Dieses wird durch könne nur Rechnung getragen werden, wenn von den allgemeinen Re- EDV-Programme und die elektronische Akte, die eine integrative Ver- geln zur Bewertung von Arbeitsvorgängen abgewichen und darauf ab- fahrensbearbeitung vorgeben, noch verstärkt. Dem tarifvertraglichen gestellt werde, in welchem zeitlichen Umfang schwierige Tätigkeiten Schema liegt demgegenüber noch eine Vorstellung zugrunde, nach der tatsächlich erbracht werden würden (u. a. Urteil vom 12.02.2020 – 15 schwierige und einfache Tätigkeiten entweder auf verschiedene Per- Sa 1260/19 –). In rekordverdächtiger Geschwindigkeit hat das BAG die sonen aufgeteilt oder aber, bei Wahrnehmung durch eine Person, klar vorgenannte Entscheidung aufgehoben, klargestellt, dass es an seiner gegeneinander abgrenzbar sind. Rechtsprechung festhält und der dortigen Klägerin, Beschäftigte in der Serviceeinheit eines Amtsgerichts, Vergütung nach Entgeltgruppe 9a . Seit dem Urteil des BAG vom 28.02.2018 – 4 AZR 816/16 – ist die TV-L zugesprochen (Urteil vom 09.09.2020 – 4 AZR 195/20 –, zu Redak- im TV-L/TVöD vorgegebene Staffelung obsolet. In dem dort zugrunde tionsschluss lag nur eine Pressemitteilung vor). liegenden Fall hatte eine in einer Geschäftsstelle des BVerwG tätige Ur- kundsbeamtin, die nach Entgeltgruppe 6 vergütet wurde, auf Eingrup- . Die Umsetzung der Rechtsprechung des BAG ist damit unabweis- pierung in die Entgeltgruppe 9a geklagt. Bei der Prüfung der Recht- bar. Dennoch sind Verzögerungsversuche der Justizverwaltungen mäßigkeit einer Eingruppierung wird im ersten Schritt untersucht, ob wahrscheinlich. Den Betroffenen sei empfohlen, ihre Ansprüche auf und wie die zu bewertende Tätigkeit in Arbeitsvorgänge einzuordnen Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9a schriftlich gegenüber dem ist. Arbeitsvorgänge sind nach tariflicher Definition Arbeitsleistungen, Arbeitgeber geltend zu machen, um die tarifliche Ausschlussfrist zu
verdikt 2.20, Seite 5 unterbrechen. Es geht in einem Bereich, in dem der Frauenanteil signi- . Was die Umsetzung eines Bedürfnisses nach einer Staffelung der fikant hoch ist, um viel Geld. In der Stufe 3 erhöht sich der Entgeltan- Vergütungen betrifft, sind die Tarifvertragsparteien gefragt. Einen Vor- spruch von jetzt 2.994,55 € (TV-L) um 281,89 € brutto, in der höchsten schlag dazu hat der Präsident des Landesarbeitsgerichts Baden-Würt- Stufe 6 um 613, 45 €. temberg unterbreitet. Angesichts der insgesamt gestiegenen Anforde- rungen sei es sinnvoll, als Eingangsvergütungsgruppe Entgeltgruppe 8 vorzusehen und Steigerungen nach 9a und 9b zu ermöglichen (Natter, ZTR 2018, 623). Uwe Boysen Bundesverfassungsgericht konkretisiert Grundsätze zur amtsangemessenen Besoldung – Berlin und Nordrhein-Westfalen müssen nachbessern! Der Beschluss vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 4/18 – Rahmen der Gesamtabwägung sowohl widerlegt als auch erhärtet werden. Gelte das lediglich für ein oder zwei Parameter, müssten die . Das BVerfG hat die Besoldung der Richter*innen des Landes Berlin Ergebnisse der ersten Stufe, insbesondere das Maß der Über- bzw. Un- in den Jahren 2009 bis 2015 teilweise für nicht mit dem Alimentations- terschreitung der Parameter, zusammen mit den auf der zweiten Stufe prinzip vereinbar erklärt. Dabei geht es für den Zeitraum vom 1. Januar ausgewerteten Kriterien im Rahmen der Gesamtabwägung eingehend 2009 bis zum 31. Dezember 2015 um die Besoldungsgruppen R 1 und R gewürdigt werden (BVL 4/18, Ls. 6 und Rn. 85). 2 sowie für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 31. Dezember 2015 darüber hinaus um die Besoldungsgruppe R 3. Der Gesetzgeber wird aufgefor- Keine pauschalen Bewertungen dert, zeitnah verfassungskonforme Regelungen zu treffen. Es ist damit zu rechnen, dass dies Auswirkungen auch auf die A-Besoldung haben . Neu ist eine konkretere Einordnung des sog. Mindestabstandsge- wird. bots. Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss die Beamtenbesol- dung das Niveau der sozialrechtlichen Grundsicherung mindestens . In diesem und weiteren Beschlüssen – 2 BVL 6-8/17 – konkretisiert um 15 % überschreiten. Klargestellt wird jetzt, dass dieses Mindest- das Gericht seine Rechtsprechung zur amtsangemessenen Besoldung abstandsgebot bei der Prüfung der Parameter der 1. Stufe (systemin- aus dem Jahr 2015 (BVerfG – 2 BvL 18/09 – dazu auch Boysen, verdikt terner Besoldungsvergleich) in den Blick zu nehmen sei. Eine Fehler- H. 1.2015, S. 4; zum Verfahren 2 BVL 8/16 vor dem BVerfG siehe auch haftigkeit des Besoldungsniveaus in den unteren Besoldungsgruppen die Stellungnahme des Bundesfachausschusses vom Februar 2017, ab- betreffe zwangsläufig das gesamte Besoldungsgefüge. gedruckt in verdikt 1.17, S. 15). Auf der ersten Prüfungsstufe wird mit Hilfe von fünf Parametern (Vergleich der Besoldungsentwicklung mit . Für die Ermittlung und Berechnung des Mindestabstands der Be- der Entwicklung der Tarifentlohnung im öffentlichen Dienst, des No- amten- und Richterbesoldung zum sozialhilferechtlichen Grundsiche- minallohnindex sowie des Verbraucherpreisindex, systeminterner Be- rungsniveau stellt das Gericht klar, dass – beispielsweise bei Miet- und soldungsvergleich und Quervergleich mit der Besoldung des Bundes Heizkosten – die tatsächlichen Bedürfnisse und nicht nur Pauschalie- und anderer Länder) ein Orientierungsrahmen für eine grundsätzlich rungen zu Grunde gelegt werden müssen. Die Orientierung an einem verfassungsgemäße Ausgestaltung der Alimentationsstruktur und Durchschnittswert kommt somit jedenfalls dann nicht in Betracht, des Alimentationsniveaus ermittelt (2 BVL 4/18, Ls. 4; Einzelheiten wenn die Varianz so groß ist, dass er in einer größeren Anzahl von Fäl- ab Rn. 29 ff.). Dabei betont das Gericht noch einmal die Indizwirkung len erkennbar nicht ausreichen würde (zum Ganzen Rn. 52 und 56). In verletzter Prüfparameter für eine verfassungswidrige Unteralimen- seiner Argumentation zu diesen Punkten taucht das BVerfG tief in die tation: Seien mindestens drei Parameter der ersten Prüfungsstufe Schluchten von SGB II und SGB 12 ein und macht u. a. Ausführungen erfüllt, bestehe die Vermutung einer der angemessenen Beteiligung zu den Kosten der Unterkunft und Heizung (Rn. 55 ff. bzw. 63 f.), zum an der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Bedarf von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen für Bildung Verhältnisse und des Lebensstandards nicht genügenden und damit und Teilhabe (Rn. 64 ff.) sowie zu den auf bestimmte Lebensumstände verfassungswidrigen Unteralimentation. Diese Vermutung könne im zurückzuführenden Mehrbedarfen (Rn. 68 ff.).
verdikt 2.20 , Seite 6 Bezugsgröße Nettoalimentation . Dem wird im konkreten Fall die Nettoalimentation, die einer vier- größerem Umfang Bewerber zum Zuge kommen, die nicht in beiden köpfigen Familie auf der Grundlage der untersten Besoldungsgruppe Examina ein Prädikatsexamen erreicht haben (BVL 4/18, Rn. 188). Als zur Verfügung steht, gegenübergestellt (Rn. 72). Bezugspunkt ist das einen weiteren Indikator nimmt das Gericht einen Vergleich mit den Gehalt als Ganzes. Dazu zählen neben dem Grundgehalt solche Bezü- Einkommen vor, die außerhalb des öffentlichen Dienstes erreichbar gebestandteile, die allen Beamten einer Besoldungsgruppe gewährt sind, »wobei die Besonderheiten des Status und des beamtenrechtli- werden (Rn. 73 mwN). Die Kosten einer die Beihilfeleistungen des chen Besoldungs- und Versorgungssystems nicht außer Acht gelassen Dienstherrn ergänzenden Krankheitskosten- und Pflegeversicherung werden dürfen« (Rn. 89). Zu berücksichtigen ist darüber hinaus das Ni- sind vom Nettogehalt abzuziehen (Rn. 76 ff., dort auch mit Ausfüh- veau der Beihilfeleistungen (Rn. 90). Dabei erkennt das Gericht, dass rungen zu den Kosten einer privaten Krankenversicherung nach § 193 die Bruttobezüge der aktiven Richter und Staatsanwälte von vornher- VVG). ein – unter Berücksichtigung der künftigen Pensionsansprüche – nied- riger festgesetzt werden (Rn. 91). Prädikatsexamen, Einstellung und Besoldung Vergleichsmaßstab Entwicklung der Besoldung mit derjenigen . Lesenswert sind noch die Erwägungen des Gerichts zum Zusam- der Einkommen der Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst menhang zwischen Prädikatsexamen, Einstellung und Besoldung, und des Nominallohn- sowie des Verbraucherpreisindex die – neben weiteren Kriterien – auf der zweiten Stufe des Ver- gleichsschemas geprüft werden. Zunächst singt das Gericht erneut . Im konkreten Fall stellt das BVerfG in erster Linie auf einen Ver- das hohe Lied des Beamtenethos und verwendet Formulierungen gleich der Entwicklung der Besoldung mit derjenigen der drei soeben wie: »besondere Qualität und Verantwortung eines Amtsträgers«, genannten Parameter ab. Schon daran zeigt sich, wie wichtig es auch öffentlicher Dienst »als Lebensberuf« oder »stabile Sicherung einer für Richter*innen ist, wenn Gewerkschaften sich für angemessene gesetzestreuen Verwaltung«. »Zu den hergebrachten Grundsätzen Lohnerhöhungen einsetzen. Weiter stellt das Gericht die durchgehend des Richteramtsrechts, die der Gesetzgeber darüber hinaus zu be- deutliche Verletzung des Mindestabstandsgebots in den unteren Be- achten hat, zählt insbesondere der Grundsatz der sachlichen und soldungsgruppen fest (vgl. Rn. 101 ff.). Dieser Befund wird durch die persönlichen Unabhängigkeit. (…) Die richterliche Unabhängigkeit Heranziehung weiterer alimentationsrelevanter Kriterien, namentlich muss auch durch die Besoldung der Richter gewährleistet werden der Absenkung der Einstellungsvoraussetzungen, im Rahmen der Ge- (…). Wie Besoldung und Versorgung des Richters geregelt werden, ist samtabwägung bestätigt (vgl. Rn. 170 ff.). Das Gericht berücksichtigt von ganz erheblicher Bedeutung für das innere Verhältnis zu seinem auch die im Einzelnen aufgeführten Einschnitte im Bereich des Bei- Amt und für die Unbefangenheit, mit der er sich seine richterliche hilfe- und Versorgungsrechts, die das zum laufenden Lebensunterhalt Unabhängigkeit bewahrt (…); (zur internationalen Perspektive zu- verfügbare Einkommen zusätzlich gemindert haben (vgl. BVerfGE 139, letzt die Studie der European Commission for the Efficiency of Justice 64 und 2 BVL 4/18, Rn. 175). »European judicial systems – Efficiency and quality of justice« des Europarates Nr. 26 , wonach sich die Richter- Teilweise Verfassungswidrigkeit auch der Besoldungsvorschrif- besoldung in Deutschland wie schon in den Vorjahren verglichen mit ten in Nordrhein-Westfalen zur Alimentation von kinderreichen dem durchschnittlichen Bruttojahresgehalt am unteren Ende aller Richter*innen und Staatsanwält*innen Mitgliedstaaten des Europarates bewegt; Rn. 87).« . Auch diese hat das BVerfG teilweise für verfassungswidrig erklärt. . Ob die Alimentation ihre qualitätssichernde Funktion erfüllt, über- durchschnittlich qualifizierte Kräfte für den höheren Justizdienst an- . In seinem Beschluss – 2 BvL 6-8/17 – stellt es fest, dass die Be- zuwerben, beurteilt der Senat vorrangig nach den Ergebnissen in der soldung von kinderreichen Richter*innen und Staatsanwält*innen Ersten und Zweiten Staatsprüfung. Sinkt – auch im Vergleich zu den in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2013 bis 2015 ebenfalls wegen Ergebnissen aller Absolventen im Vergleichszeitraum – das Notenni- Verletzung des von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentations- veau über einen Zeitraum von fünf Jahren in erheblicher Weise und/ prinzips teilweise verfassungswidrig ist. Dabei geht es um die Besol- oder werden die Voraussetzungen für die Einstellung in den höheren dungsgruppe R2 und für 2013 um drei, für 2014 und 2015 um vier un- Justizdienst spürbar herabgesetzt, kann man in der Regel davon aus- terhaltsberechtigte Kinder, für die ein Familienzuschlag bezogen wird. gehen, dass die Ausgestaltung der Besoldung nicht genügt, um die At- Das Gericht gibt hier dem Gesetzgeber auf, spätestens zum 31. Juli 2021 traktivität des Dienstes eines Richters oder Staatsanwalts zu gewähr- eine verfassungskonforme Regelung zu schaffen. leisten (vgl. BVerfGE 139, 64 ). Das Gleiche gilt, wenn in
verdikt 2.20, Seite 7 Bedeutung des Familienzuschlags . Der Familienzuschlag ist der familienbezogene Bestandteil in- Richter*innen und Beamt*innen sowie ihre Familien lebenslang an- nerhalb der Besoldung und wird als soziale Komponente zusätzlich gemessen zu alimentieren. Sie müssen ihnen einen Lebensunterhalt zum Grundgehalt gezahlt. Seine Höhe richtet sich überwiegend nach gewähren, der ihrem Dienstrang und der mit ihrem Amt verbundenen dem Familienstand und der Zahl der kindergeldberechtigten Kinder. Verantwortung angemessen ist und der der Entwicklung des allgemei- Das BVerfG hat nun in Fortsetzung seiner früheren Rechtsprechung nen Lebensstandards entspricht. (Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91) entschieden, dass die den Richter*innen (und Beamt*innen) ab dem dritten Kind gewährten . ver.di hat in der Vergangenheit ihre Mitglieder wiederholt bei Zuschläge deren Nettoeinkommen so erhöhen müssen, dass ih- rechtlichen Schritten gegen eine zu niedrige Besoldung unterstützt. nen für jedes dieser Kinder mindestens 115 % des grundsicherungs- Kolleg*innen wurden dazu vielfach von ver.di Muster-Widersprüche rechtlichen Gesamtbedarfs nach dem SGB II zur Verfügung steht (a. zur Verfügung gestellt, mit denen sie die Höhe der gewährten Besol- a. O., Rn. 32). Der Besoldungsgesetzgeber habe die Besoldung so zu dung reklamieren konnten. regeln, dass auch kinderreiche Richter*innen und Beamt*innen eine ihrem Amt angemessene Lebensführung aufrechterhalten können. Bei . Durch die Entscheidungen des BVerfG ist jetzt gesichert, dass ent- der Bemessung des zusätzlichen Bedarfs für das dritte und die wei- sprechend zeitnah geltend gemachte Widersprüche für die Wahrung teren Kinder kann der Gesetzgeber von den Leistungen der sozialen der Ansprüche ausreichen. Betroffene Kolleg*innen können demnach Grundsicherung ausgehen. Auch hier wird jedoch klargestellt, dass unter Umständen mit Nachzahlungen rechnen, sobald der Gesetzge- er dabei alle Elemente des Lebensstandards konkret und realitätsge- ber entsprechende verfassungskonforme Besoldungsregelungen er- recht berücksichtigen muss. Ggf. muss er sich etwa durch stichpro- lassen hat. benartige Auskunftsersuchen gegenüber den Sozial- und Schulbe- hörden einen möglichst genauen Eindruck bezüglich der Bedarfe von . Außerdem unterstreichen die Beschlüsse des höchsten deutschen Grundsicherungsempfänger*innen verschaffen und daraus entspre- Gerichts noch einmal die Berechtigung der Forderung von ver.di, dass chende Ansätze ableiten. die Gesetzgeber in der Verantwortung sind, eine amtsangemessene Alimentation für ihre Beamt*innen und Richter*innen zu gewährleis- ten. Beamt*innen sollten nicht gezwungen sein, den Rechtsweg zu be- Übertragung auf Beamt*innen? schreiten, um eine solche Besoldung durchzusetzen. Im Übrigen soll- . Die Ausführungen des Gerichts in beiden Entscheidungen sind te die Höhe der Besoldung eine politische Entscheidung bleiben, die grundsätzlich auch auf kinderreiche Beamt*innenfamilien der A-Be- maßgeblich von der Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst abhängt. soldung übertragbar. Wichtig ist, dass es nicht darauf ankommt, ob Ver.di setzt sich für gute Tarifabschlüsse und die zeit- und wirkungs- die Betroffenen sich noch im Widerspruchsverfahren befinden oder gleiche Übertragung auf die Beamt*innenbesoldung ein. bereits geklagt haben. Es reicht vielmehr aus, dass sie sich gegen die Höhe ihrer Besoldung zeitnah mit den statthaften Rechtsbehelfen ge- . Gleichzeitig muss die Forderung nach Rückkehr zu einer bundes- wehrt haben, so dass der Haushaltsgesetzgeber nicht im Unklaren ge- einheitlichen Besoldung von Richterinnen und Richtern, wie sie in der blieben ist, in wie vielen Fällen es möglicherweise zu Nachzahlungen Berliner Erklärung des ver.di-Bundesfachausschusses aus dem Jahr kommen wird (vgl. 2 BVL 4/18 Rn. 183). 2016 (abgedruckt in verdikt 2.16, S. 11) erhoben und auch von anderen Richterorganisationen geteilt wird, aufrecht erhalten bleiben. Die Fö- deralisierung des Besoldungsrechts war ein Fehler, heißt es dort zu Eine vorläufige Einschätzung Recht. Sie hat zu einem Flickenteppich in der Besoldung und Versor- . ver.di sieht sich durch die referierten Entscheidungen bestätigt. gung geführt. Eine unterschiedliche Besoldung der Richter*innen und Das BVerfG betont nachdrücklich noch einmal die Bedeutung des zu Staatsanwält*innen nach Kassenlage von Bund und Ländern darf es den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählenden nicht geben. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das gilt auch für die Alimentationsprinzips. Danach sind die Dienstherren verpflichtet, Richterbesoldung!
verdikt 2.20 , Seite 8 [RECHTSPOLITISCHES] Rafael Behr* Die Staatsgewalt im Zwielicht zwischen »potestas« und »violentia«. Ein Essay. Potestas gegen violentia: Gewalt als . Um erfolgreich arbeiten zu können, müs- Gänze geschützt. Auf der Handlungsebene Alleinstellungsmerkmal der Polizei sen Polizeibeamte und -beamtinnen dann heißt das, dass Polizisten auch eine Haltung * allerdings gewaltfähig gemacht werden, sie der Gewalterwartung erlernen müssen, auch . Das Thema »Gewalt« gehört sicher zu den dürfen aber nicht gewaltaffin sein. Aufgabe wenn diese nicht sein darf. Das ist der heute Hochkontrovers-Themen der Postmoderne, der Organisation ist es, genau diesen Ge- oft ausgeblendete Teil der gesellschaftlichen denn sie ist unterhaltsam und abstoßend waltlegitimationskanal herzustellen und zu Vertragstheorien. Deshalb wird Gewalt gegen zugleich. Dabei ist es nicht nur die Phänome- nutzen, der zwischen Radikalpazifismus und die Polizei als verwerflicher angesehen bzw. nologie der Gewalt, die schwer zu fassen ist, Gewaltlust liegt. Dies funktioniert völlig un- wird oft ausgeblendet, dass illegitime Gewalt auch die Diskurse um Gewalt sind so hetero- abhängig von individuellen Dispositionen, auf beiden Seiten des Rechts Schmerzen und gen, dass man sie schlecht auf einen Nenner von einem Wesen des Menschen, von der An- Unrecht verursacht. bringen kann. Ich will mich im Folgenden auf nahme einer genetischen Veranlagung oder die Gewalt in und von der Polizei beschrän- der einer autoritären Persönlichkeit. . Erst die Kontextrahmung normiert die ken. Ich behandele also Gewalt als innerorga- Gewalt. Auf der einen Seite des Rechts heißt nisatorisches Phänomen und als Alleinstel- . Polizisten und Polizistinnen müssen mit es dann unmittelbarer Zwang oder Körperver- lungsmerkmal der polizeilichen Arbeit. dem »crimen« in Kontakt kommen, ohne letzung im Amt, während die Gewalttätigkeit sich von ihm infizieren zu lassen. Sie können des Gegners Widerstand gegen Vollstreckungs- . Man kann zwar sehr abstrakt die Staats- sich nicht nur fernhalten wie unsereins, son- beamte oder tätlicher Angriff auf Vollstre- gewalt (potestas) von der zerstörerischen dern müssen die Grenze zwischen »Gut« und ckungsbeamte oder Körperverletzung oder an- oder mindestens unbotmäßigen Individu- »Böse« bewachen, ohne überzulaufen. Es liegt deres ist. Staatsgewalt ist auf der juristischen algewalt (violentia) unterscheiden, aber auf in der Verantwortung der Personalführung Ebene seelen- und körperlos, sie hat keine Af- der Handlungsebene fügt auch die Staatsge- der Polizei, dafür zu sorgen, dass die Bediens- fekte, keine Gefühle, keine Angst, keine Wut, walt Schmerzen zu, und es gibt dort sowohl teten nicht Teil des »Bösen« werden, das sie kennt keine Rachegelüste, hat keine Schmer- gesetzlich gerechtfertigten als auch unge- bekämpfen sollen zen, keine Wunden, keine Verletzungen, setzlich zugefügten Schmerz, und schließ- staatliche Gewalt fühlt nicht. Auf der Hand- lich werden auch den Gewaltmonopolisten . Der gesellschaftliche Auftrag an die Po- lungsebene ähnelt sie aber phänomenolo- (vulgo: Polizistinnen und Polizisten) solche lizei besteht in der individuellen (physisch, gisch sehr ihrem Gegenstück, der verbotenen zugefügt und zugemutet. Die Art und Weise psychisch, sozial) und der institutionellen Gewaltanwendung mit Schädigungsabsicht. der Gewaltausübung der Polizei folgt einer Existenzsicherung. Anders als militärische Hier wird sie nämlich körperlich, sie wird spezifischen Organisationskultur. Schließlich Institutionen hat die Polizei dabei diese Auf- transformiert von der Idee zur Handlung bzw. wohnt auch in der legitimen Gewaltausübung gabe unterschiedslos gegenüber allen Per- vom Produkt zum (Interaktions-)Prozess. Und immer die Versuchung der Überschreitung sonen auszuüben, die mit ihr in Berührung vor allem wird sie von Menschen ausgeführt, der Befugnisse: potestas wird stets bedroht kommen, also gegenüber Opfern wie Tätern die nicht wie Automaten funktionieren. von der Versuchung durch violentia. Das gilt einer Straftat, aber auch gegenüber Zeugen für alle Amtshandlungen; auch diejenigen, und Unbeteiligten. Von der »Bürgerpolizei« zur »law-and- die legal beginnen, können illegal enden oder order«-Polizei temporär ein Quäntchen Illegalität enthal- . Die Grundbedingung der Herausbildung ten.1 des (demokratischen) staatlichen Gewalt- . Nach meiner Einschätzung zeigte sich * Der Autor ist Professor für Polizeiwissenschaften mit den monopols beinhaltet, dass die Polizei auch spätestens im Zuge des G20-Gipfels 2017 in Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie am Fachhoch- die Aufgabe hat, Gewalt auf sich zu ziehen. Hamburg ein polizeilicher Paradigmenwech- schulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. Er leitet den Nur deshalb gibt es in der Bundesrepub- sel, nämlich als Übergang von der »Bürger- Forschungsbereich Kultur und Sicherheit (FoKuS). 1 Ich denke hier an eine Festnahme, bei der ein Mensch lik Deutschland den § 113 StGB (Widerstand polizei« in eine »law-and-order«-Polizei. Die zu Boden gebracht und fixiert werden soll. Erstens ist eine gegen Vollstreckungsbeamte), der sie bei schon seit den Anschlägen in Paris im Jahr solche Handlung nicht im Ruhepuls zu bewerkstelligen, d. h. der Durchführung von Amtshandlungen 2015 (Bataclan und Stade de France) spürbare von den Beamt*innen wird ein Mindestmaß an Aggressivität erwartet. Zweitens kann es sein, dass der Mensch die Arme schützt. Erst seit 2017 gibt es einen zusätzli- Aufrüstung der Polizei zeigte sich erstmals in zur Fesselung nicht freiwillig frei gibt, dann wird ein sog. chen Schutzparagrafen, der sich auf die blo- Deutschland einem größeren Publikum mit »Schockschlag« angewendet, vielleicht ist noch ein zweiter ße Berufsrolle bezieht: Mit dem § 114 StGB einer Ausrüstungs-, Personal- und Waffen- und dritter Schlag auf den Oberkörper notwendig. Aber viel- leicht setzt der festnehmende Beamte gleich zehn Schläge werden nun Vollstreckungsbeamt*innen in show grandiosen Ausmaßes: Das sehr offen- oder mehr. Oder er dreht den Arm bewusst etwas weiter als sive und extrem selbstbewusste Auftreten unbedingt für die Fixierung notwendig, dann befindet er sich für einige Sekunden im illegalen Spektrum.
verdikt 2.20 , Seite 9 des Gesamteinsatzleiters, Hartmud Dudde, man vorgab, alle Menschen gleichermaßen . Wenn es um den Kern des Selbstverständ- trug sein Übriges dazu bei, die Welt glauben schützen zu wollen, obwohl bereits aus dem nisses geht, erweist sich die Diskussion um zu machen, die Polizei habe die Lage voll im Rahmenbefehl hervorging, dass der Schutz eine Fehlerkultur innerhalb der Polizei als Griff. Das war, wie sich später herausstellte, der Staatsgäste oberste Priorität habe. Diesen Makulatur. Die Geheimhaltung polizeilichen mitnichten so. Der Gipfel hat vielmehr ge- Widerspruch löste die Polizeiführung nicht Herrschaftswissens verunmöglicht es der zeigt, dass das Sicherheitsversprechen von in einer für die Öffentlichkeit nachvollzieh- Polizei, Funktionsweisen einer »lernenden Or- Polizei und Politik letztlich auf einer Simu- baren Weise auf, was für das Vertrauen in ganisation« auszubilden. Durch die Verwei- lation beruht: Durch die Demonstration von eine rechtsstaatlich arbeitende Polizei nicht gerung eines Dialogs mit der Zivilgesellschaft Dominanz und Beherrschbarkeit wurde eine förderlich ist. Im Gegenteil: Ein solches Lavie- (z. B. über ein unabhängiges Kontrollgremi- Handlungsfähigkeit suggeriert, die faktisch ren zwischen Gesagtem und Getanem beein- um, das über Staatsanwaltschaft und Gericht weder beim G20-Gipfel noch im Zusammen- trächtigt das Vertrauensverhältnis zwischen hinausgeht), büßt die Polizei mehr an Repu- hang von IS-Terrorismus oder den meisten Zivilgesellschaft und Polizei mehr als hand- tation und Ansehen ein als durch einzelne anderen Sicherheitsfragen in der Form einge- werkliche beziehungsweise taktische Fehler Einsatzfehler. Immer deutlicher kristallisiert löst werden kann. Die Simulation funktioniert während des Einsatzes. Der Gipfel-Einsatz sich heraus, dass weder Kontrolle von au- dennoch, weil es zur Polizei keine Alternative hat zum Ausdruck gebracht, was sich schon ßen gewünscht wird, noch ein eigener Wille gibt. Die Inszenierung von Effektivität folgt längere Zeit in der Polizei abspielt, nämlich zur substantiellen Veränderung vorhanden einer besonderen Logik: Verläuft ein Protest der schleichende Wechsel von der kundenori- ist. Dieser Befund bezieht sich nicht auf die im Sinne der polizeilichen Vorstellung fried- entierten »Bürgerpolizei« hin zur autoritären Einsatzkräfte, sondern auf die Leitungsebene lich, wird das als Erfolg bewertet und auf die »law-and-order«-Polizei. und die für sie politisch Verantwortlichen. Die gute Polizeiarbeit zurückgeführt. Scheitert Botschaft in Richtung Politik und Zivilgesell- das polizeiliche Konzept, wird das in der Regel schaft lautet: »Die Polizei hat keine nennens- Auftrag und Selbstverständnis der Polizei damit begründet, dass niemand mit einem werten Fehler gemacht« und »Außenstehen- solchen Ausmaß an Gewalt hätte rechnen . Etwa beginnend mit den 90er Jahren ha- de können die Dimension des Einsatzes nicht können. Eine wirkliche Überprüfung einzelner ben sich sowohl der Auftrag der Polizei als ermessen.« Mit diesem Stilmittel wird Kritik Maßnahmen und ihrer situativen wie nachge- auch ihr Selbstverständnis deutlich gewan- und werden Kritiker*innen delegitimiert. lagerten Effekte findet in beiden Fällen nicht delt. Während das traditionelle Polizeiver- statt. Bezogen auf den G20-Gipfel lassen sich ständnis die Sicherung staatlicher Interessen Eine neue Qualität der Gewalt? als Folge der angeführten Simulation von beinhaltete und allenfalls an der Gewährleis- Beherrschbarkeit mehrere Antinomien fest- tung allgemeiner Gerechtigkeit orientiert war, . Wie bei fast allen größeren Polizeieinsät- stellen: Einerseits wurde postuliert, dass ein verschiebt sich der Fokus von der vornehm- zen in der jüngeren Vergangenheit (z. B. die Gipfel dieser Größenordnung in einer Metro- lich repressiven Ermittlungsarbeit hin zu der Randale in Stuttgart am 20./21. Juni und in pole wie Hamburg und damit im Herzen der Sicherung des gesellschaftlichen Friedens, Frankfurt am Main am 18./19. Juli 2020) sprach Zivilgesellschaft stattfinden können müsse. verbunden mit einer besonderen Form »poli- die Polizei auch beim G20-Gipfel von einer Begleitet wurde diese Forderung damit, dass zeilicher Fürsorge«. Prävention war nicht nur neuen Qualität der Gewalt. Dies ist schon des- Beschwichtigungs-Narrative entstanden, die mehr Schlagwort, sondern wurde essentiell. halb schwer zu verifizieren, weil die Referenz- das genaue Ausmaß der Sicherheitsaktivitä- Der Polizeieinsatz während des Gipfeltreffens größen nicht genannt wurden. Auf welchen ten verschleierten (der erste Bürgermeister, markiert das Ende dieser Ära. Insbesondere die Zeitraum und auf welche Ereignisse bezieht Olaf Scholz, sagte in diesem Kontext, dass die Nachbereitung des Gipfels, die von Seiten der sich das »Neue« an der Gewalt? Die neue Qua- Auswirkungen des Gipfels sich nicht sehr von Polizei nahezu frei von Selbstkritik war, hat lität wird tatsächlich nur behauptet und der denen eines Hafengeburtsages unterschie- gezeigt, dass Sicherheit und Prävention zum Terminus dient vor allem dazu, das Ausmaß den2). Andererseits wurde diese Metropole Fetisch geworden sind, ebenso wie Recht und der Zerstörung zu beschreiben und darzustel- für den Gipfel aber weitgehend ihrer urbanen Ordnung. Der durch den immensen Vertrau- len, warum die Polizei nicht in der Lage war, Funktion beraubt, etwa indem zahlreiche ensverlust auf Seiten der Anwohner*innen dies zu verhindern. Ein Blick auf das Protest- Sicherheitszonen eingerichtet wurden, aus der Hamburger Innenstadt, insbesondere des Policing der vergangenen 30 Jahre offenbart denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Schanzenviertels, entstandene Imageschaden aber, dass Gewaltintensitäten wie beim Eine weitere Antinomie bestand darin, dass der Polizei wurde meines Wissens nach inner- G20-Gipfel 2017 schon lange zuvor erreicht 2 Vgl. https://www.mopo.de/hamburg/g20/nach-vergleich- halb der Polizei nicht als ernstzunehmendes wurden, möglicherweise nur nicht so konzen- mit-hafengeburtstag-zoff-um-g20--cdu-nennt-gruene- Problem wahrgenommen. triert in einem relativ kleinen, überschauba- -scheinheilig--27863764, 3.10.20).
verdikt 2.20 , Seite 10 ren Gebiet.3 Eine wissenschaftlich-historische »Feindbild«. Unter die Begriffe »Linke«, »Auto- dem gesellschaftlichen Frieden dient – und Perspektive, die insbesondere die Arbeiten nome« oder »Chaoten« wurden alle Personen die Ereignisse im Rahmen des G20-Gipfels Donatella della Portas einbezöge, könn- subsumiert, die nicht eindeutig als »Bürgerli- zeigen es nur allzu deutlich. Dem gesell- te schnell zeigen, dass in Hamburg sowohl che« erkennbar waren. Das wurde auch in der schaftlichen Frieden und dem Vertrauen in national wie auch international betrachtet Öffentlichkeitsarbeit der Hamburger Polizei die Polizei bzw. die Kontrollorgane der Polizei keine neue Qualität der Gewalt zu Tage trat. deutlich vermittelt, die immer wieder beton- ist es auch nicht förderlich, dass nach einem Vielmehr verdeutlichen die Hamburger Er- te, die vielfach vorhandenen »bürgerlichen mehrtägigen harten, und auf beiden Seiten eignisse das Unvermögen oder vielleicht gar Demonstrationen« seien nicht das Problem teilweise brutal ausgetragenen, Einsatz von den Unwillen, aus früheren Geschehnissen zu gewesen, sondern die Ausschreitungen der insgesamt etwa 31.000 Polizist*innen und lernen. Auch die weitgehend unpolitischen, Linken. »Links« geriet somit schon im Vorfeld einer Vielzahl von Gewaltbildern uns glauben eher spontan-destruktiven Gewaltereignisse, tatsächlicher Auseinandersetzung durch die gemacht wird, dass kein einziger justiziabler die man, vielleicht etwas grob, als »Event- Rhetorik der Polizei zum Feindbild sui gene- polizeilicher Übergriff passiert sein soll, der in Gewalt« bezeichnen könnte, in Stuttgart und ris. Man kann das durchaus auch als einen einer gerichtlichen Hauptverhandlung hätte Frankfurt sind nicht neu – weder im Ausmaß Sonderfall von »social profiling« beschreiben, münden können. Ich bin sicher, dass, hätte noch im Entstehungszusammenhang. Schon indem »Links-sein« schon mit »Gewalttätig- man mit gleicher Intensität und manpower die sog. »Schwabinger Krawalle« im Jahr 19624 sein« assoziiert wurde. nach übergriffigen Polizist*innen gesucht, haben gezeigt, dass Spontanerhebungen ge- wie das bei den anderen Gewalttätern durch gen die Obrigkeit durchaus Kontinuität in die »Soko Schwarzer Block« geschah, man »Cop culture« beeinflusst Polizeikultur der Bundesrepublik haben, und dass sie auch auch einige Fälle von illegitimer Polizeigewalt schon früher viel Schaden angerichtet haben . Dass die Polizei in einem solch aufge- vor Gericht hätte verhandeln können. (man denke an die 1.-Mai-Krawalle in Berlin ladenen Klima, in dem der G20-Gipfel nun oder die sog. »Chaostage« in Hannover). stattfand, als kundenorientierte Dienstleis- . Insofern erkenne ich nicht nur, aber auch tungsorganisation einer multikulturellen Ge- eine neue Form der Unnachgiebigkeit und . Allgemein lotet die Polizei anhand ihrer ei- sellschaft agieren würde, als die sie sich noch Unerbittlichkeit in der Polizei als Folge des genen vor allem erfahrungsbasierten Gesell- zur Fußballweltmeisterschaft 2006 darge- Gipfelgeschehens, die ich früher so nicht schaftsdiagnosen den Legitimitätskorridor stellt hatte, war eine illusorische Vorstellung. gesehen habe. Sie zeigt sich insbesondere für sozialen Protest nach eigenem Ermessen Im Moment jedenfalls hat das Bild der kun- in Formen des zunehmend selbstverständ- (vor allem nach polizeitaktischen Erwägun- denorientierten Dienstleistungsorganisation lich werdenden Einsatzes von Gewalt, aber gen) aus. Gleichzeitig definierte sie den (für keine Konjunktur. Auch das Bild des relativ auch in Formen der mentalen, verbalen und sie) als illegitim geltenden Teil des Protests, pazifizierten Schutzmanns oder der pazifi- physischen Aufrüstung (was man in einem indem sie die daran beteiligten Akteur*innen zierenden Schutzfrau befindet sich aktuell in weiteren Sinn als »Militarisierung« begreifen als gewaltbereit – und damit als potenziel- der Defensive. Die polizeiliche Bühne betritt kann, nämlich hinsichtlich der Einsatzlo- le Straf- oder Gewalttäter, Chaotinnen oder gegenwärtig wieder der Kriegerpolizist, gern gik, die immer mehr dazu tendiert, sich an Terroristen bezeichnete. Der Legitimitäts- auch als Held im »Kampf gegen das Böse« »worst-case-Szenarien« zu orientieren), zu- korridor wurde so schon im Vorfeld des G20- (wahlweise auch »die Linken«) attribuiert. Die nehmende Gereiztheit gegenüber Kritik, Grob- Gipfels auf sog. »bürgerliche Demonstrati- Polizeikultur kann davon nicht unbeeindruckt heit gegenüber politisch nicht Akzeptierten, onen« eingeengt. Frühzeitig wurde von der bleiben. Bislang gab es eine relativ deutliche Härte, Unerbittlichkeit und Unnachgiebigkeit Polizei »linker Protest« in die Nähe der Gewalt Arbeitsteilung zwischen »Basis« (Cop Culture) bei der Verfolgung von G20-Straftäter*innen, gerückt. Der Begriff »(Linke) Chaoten« entwi- und »Überbau« (Polizeikultur) in der Polizei. Kompromisslosigkeit bei der Durchsetzung ckelte eine gewisse Eigendynamik, amalga- Dabei fungierte die offizielle Polizeikultur der eigenen Ziele (beispielsweise im Bereich mierte später mit dem Begriff des »Autono- stets als Wächterin der täglich praktizierten des Versammlungsrechts), zunehmende Ro- men« beziehungsweise »Linksautonomen« Polizist*innenkultur und domestizierte die bustheit durch die Einrichtung immer neu- und generierte ein ausgesprochen diffuses, Gewalt der Polizei. Nunmehr fordern gerade er Spezialkräfte, Schärfe im Umgang mit in seiner Wirkung aber sehr umfassendes die Hüter der Polizeigewalt einen offensive- Kritiker*innen. Diese Merkmale zusammen- ren Umgang mit ihr5. Ich bezweifle, dass das fassend kann man durchaus von einem neu- 3 Beispiele wären die alljährlich wiederkehrenden Krawalle zum 1. Mai in Berlin, in deren Rahmen zahlreiche Geschäfte 5 Z. B. fordert ein internes Strategiepapier der Polizei en polizeilichen Rigorismus sprechen, der sich geplündert wurden, sowie die Ausschreitungen im Rahmen Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2018, dass die Polizei an auch für eine Instrumentalisierung durch des G8-Gipfels in Genua oder des EU-Gipfels in Göteborg »Robustheit« deutlich zulegen müsse (vgl. https://www.spie- eine rechtspopulistische Politik anbietet, (beide 2001) sowie die Protesttage der Blockupy-Bewegung in gel.de/panorama/justiz/polizei-in-nrw-soll-robuster-werden- Frankfurt insbesondere 2015. a-1195662.html, 5.10.20), worauf dann auch prompt das Land aber nicht mit ihr identisch ist. 4 Vgl. https://www.spiegel.de/geschichte/schwabinger- im Februar 2019 sog. »Beweis- und Festnahme-Einheiten« krawalle-1962-polizei-gegen-studenten-a-947609.html, aufstellte (vgl. https://polizei.nrw/presse/land-stellt-erste- 4.10.20 beweissicherungs-und-festnahmeeinheit-in-dienst, 5.10.20), allerdings als letztes Bundesland.
verdikt 2.20, Seite 11 Uwe Boysen Die Arbeitsverweigerung gewisser Minister . Früher hießen Innenminister Polizeiminister. Seit der »Zivili- Drohung einer Strafanzeige verband, die er nun doch nicht erstatten sierung« der Polizei ist das nicht mehr so. Wenn man allerdings die mag. Die Autorin schreibt am Ende ihres Beitrags zur Frage, wie man Statements betrachtet, die einige von ihnen im Sommer dieses Jah- Polizisten einsetzen könnte: »Spontan fällt mir nur eine geeignete Op- res abgesondert haben, so muss man den Eindruck gewinnen, dass tion ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu sie diesen Titel wieder annehmen sollten. Eine derartige von keinerlei Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umge- Rechtskenntnis und sozialer Wirklichkeitsverarbeitung gestörte Des- ben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am informationskeule haben deutsche Minister schon lange nicht mehr wohlsten.« Bedeutet »ihresgleichen« tatsächlich Müll? Darüber kann geschwungen. Vier Beispiele mögen das belegen. man getrost streiten. Liest man aber den ganzen Beitrag, so wird der satirische, wenngleich vielleicht geschmacklose Duktus, durchaus . Da ist zunächst die Empörung über das am 21. Juni dieses Jahres in deutlich, jedenfalls kein Fall für den Staatsanwalt. Kraft getretene Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz, das den Polizeiminister des Bundes Seehofer und seinen Kollegen Polizeiminis- . Bleibt noch der kritisierte Vorwurf der SPD-Kovorsitzenden Esken ter Caffier aus Mecklenburg-Vorpommern zu der Drohung veranlasste, über rassistische Strukturen in der deutschen Polizei. Ja, Frau Esken, Bundes- bzw. Landespolizei nicht mehr zu Einsätzen ins Land Berlin zu hat solche Vorurteile thematisiert, aber gleichzeitig sehr deutlich entsenden. Grund sei die »Beweislastumkehr«, die in § 7 des Berliner gemacht, dass wir es in Deutschland eben gerade nicht mit amerika- Gesetzes enthalten sei. Dieselbe Polizeisirene bedient auch der pen- nischen Verhältnissen zu tun haben. Dass sie einen Generalverdacht sionierte Bremer Polizist Dieter Oehlschläger in einem Interview im gegenüber allen Polizistinnen und Polizisten geäußert habe, kann »Stern« Nr. 31 (»Mein Leben oder seins«). Wer in der Lage ist, den Geset- man ihrem Statement beim besten (oder schlechtesten?) Willen kaum zestext zu lesen – die Minister und der pensionierte Kommissar, der die entnehmen, auch wenn Reinhard Müller in der FAZ meint, sie fragen Rechtskundeausbildung der Polizei über den grünen Klee lobt, können zu müssen, wo sie denn lebe. Inzwischen kann man diese Frage ge- das offensichtlich nicht! – und juristisch auch nur über das Wissen von trost an Herrn Müller zurückgeben und angesichts der Vorgänge in Studierenden verfügt, die ein wenig Zivilprozessrecht gehört haben, Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Meck- der wird unschwer feststellen, dass es sich in § 7 des Gesetzes mitnich- lenburg-Vorpommern ihn fragen, wo er denn lebt. Und dass es auch ten um eine Beweislastumkehr handelt. Dort heißt es: »Werden Tatsa- in Deutschland Racial Profiling gibt, wissen wir und die Gerichte doch chen glaubhaft gemacht, die das Vorliegen eines Verstoßes gegen § 2 wahrlich nun nicht erst seit Ende Mai 2020. Rechtsradikale Strukturen (Diskriminierungsverbot) oder § 6 (Maßregelungsverbot) überwiegend in der Frankfurter Polizei sowie der immer noch nicht aufgeklärte Fall wahrscheinlich machen, obliegt es der öffentlichen Stelle, den Verstoß Oury Jalloh und seine Begleitumstände sagen ein Übriges. zu widerlegen.« Der Grund dafür, dass hier eine Glaubhaftmachung durch den Beschwerdeführer oder die Beschwerdeführerin genügen . Und dann ist da noch die Begründung des Herrn Bundespolizeimi- soll, ist schnell erklärt. Warum eine polizeiliche Maßnahme notwendig nisters, warum er keine wissenschaftliche Studie zur Frage des Racial war, die möglicherweise diskriminierend ist, lässt sich für Betroffene Profiling oder des Rassismus bei der Polizei beauftragen möchte. Kurz nämlich kaum zuverlässig ermitteln, während die zuständigen Behör- gefasst: Gesetzlich Verbotenes müsse nicht mehr untersucht werden. den zwangsläufig über das entsprechende Wissen verfügen müssen. Dass es gerade darauf ankommen kann, sich wissenschaftlich zu ver- gewissern, ob und wie gesetzliche Verbote auch von der Polizei befolgt . Ein weiteres gegen das Gesetz aufgefahrenes Geschütz (oder sollte werden, scheint nicht mehr ins Ministerhirn vorgedrungen zu sein. ich sagen Wasserwerfer?) betrifft § 8 (Schadensersatz und Rechtsweg). Das Wort »Rechtstatsachenforschung« besteht offenbar aus zu vielen Dazu wird behauptet, die Beamten könnten sich Schadensersatzfor- Einzelteilen, als das er schon einmal davon gehört hätte. Aber wenn derungen ausgesetzt sehen. Auch hier belehrt uns ein Blick in das von ich so weiterschreibe, bekomme ich möglicherweise auch bald eine den Herren Polizeiministern so ungeliebte Gesetz eindeutig eines an- Strafanzeige zugestellt. Also versuche ich, wieder etwas abgeklärter deren: § 8 Abs. 1 Satz 1 lautet nämlich: »Bei einem Verstoß gegen § 2 zu werden! oder § 6 ist die öffentliche Stelle, in deren Verantwortungsbereich die Diskriminierung stattgefunden hat, verpflichtet, der diskriminierten . Im Übrigen gibt es ja jetzt einen sog. Kompromiss auf Regierungs- Person den hierdurch entstehenden Schaden zu ersetzen.« Von Re- ebene, bei dem ich, hört man dem Herrn Polizeiminister zu, nicht er- gressansprüchen gegen die Beamtinnen oder Beamten steht da nichts! kenne, wo er denn wirklich nachgegeben hätte. Eine Fokussierung auf rechtsradikale Umtriebe darf es nach seiner Meinung offenbar nicht . Weiter ist Herr Polizeiminister und »Gelegenheitsjurist« (Der Tages- geben, stattdessen eine große Studie zu Rassismus in der Gesellschaft, spiegel) Seehofer erbost über einen Artikel der »Taz« vom 15.06.2020. als wenn es die nicht schon längst mit Untersuchungen der Friedrich- Von ihm behauptet er, Polizisten würden mit Müll verglichen. Leider Ebert-Stiftung oder der Universität Leipzig gebe. Mit der Wahrheitsver- scheint er auch hier seine Lesebrille oder gar seinen Verstand nicht drängung des Ministers setzt sich allerdings die verheerende Tendenz ganz dabei gehabt zu haben, als er seine – zulässige – Kritik mit der fort, rechte Umtriebe klein zu reden, bzw. gegenüber linker Gewalt
verdikt 2.20 , Seite 12 aufzurechnen, als wenn es weder das Oktoberfestattentat von 1980, Polizist*innen ablenken zu können. Aufklärung statt Verdummung, noch den NSU, noch so viele andere Gewalttaten von rechts gegeben das müsste ihr Programm sein. Solange sie das nicht ernst nehmen, hätte. weigern sie sich, den ihnen gestellten Aufgaben nachzukommen. . Doch warum habe ich den Beitrag mit »Arbeitsverweigerung« beti- . Ich frage mich darüber hinaus, in was für einer Diskussionskultur telt? Die Antwort ist einfach: Die Minister sollten sich gerade um die wir uns mittlerweile bewegen, in der Anschuldigungen erhoben wer- problematischen Strukturen innerhalb ihrer Polizei- und Sicherheits- den, die ganz offensichtlich unzutreffend oder aus dem Zusammen- apparate kümmern, anstatt zu glauben, mit ihren wilden Rundum- hang gerissen sind. Bekommen wir demnächst – jedenfalls auf diesem schlägen vom eigentlichen Thema rechtsextremer Tendenzen einiger Gebiet – amerikanische Verhältnisse? Joseph Brink Das Urteil des BVerfG gegen den EuGH: eine epochale Streiterklärung . Sechzig Jahre konnten das Bundesverfas- politik auf die Seite der europakritischen, rech- . Nach dieser Verfassungsdogmatik sind sungsgericht (BVerfG) und der Europäische ten Opposition gegen EuGH und EZB. die deutschen Verfassungsorgane im Fal- Gerichtshof (EuGH) nebeneinander Verfas- le offensichtlicher und strukturell bedeut- sungsrecht sprechen und sich gleichzeitig . Mit seinem Urteil vom 5. Mai 2020 (2 BvR samer Kompetenzüberschreitungen durch trotz überschneidender Rechtskreise des 859/15) macht das BVerfG erstmals Gebrauch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen gegenseitigen Respekts versichern. Seit Mai von der Streitaxt der sogenannten ultra-vires- der EU verpflichtet, im Rahmen ihrer Kom- 2020 ist eine neue Epoche angebrochen: das Dogmatik und versagt dem EuGH die Gefolg- petenzen und mit allen zur Verfügung ste- BVerfG hält die Rechtsprechung des EuGH schaft. Der EuGH handele in seiner Rechtspre- henden Mitteln aktiv auf die Einhaltung der zum Rechtsrahmen der Europäischen Zentral- chung zur EZB-Anleihekaufpolitik jenseits EU-Integrationsgrenzen und die Aufhebung bank (EZB) für zu kurz gegriffen und abwegig. seiner Aufgaben nach dem EU-Recht. Diese der nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwir- Es trägt die Rechtsprechung des EuGH zum Dogmatik postuliert, dass über die Reichwei- ken sowie – solange die Maßnahmen fort- Programm der EZB zum Staatsanleihenkauf te des EU-Verfassungsrechts nicht der EuGH wirken – geeignete Vorkehrungen zu treffen, (PSPP) nicht mehr mit, weder »solange« noch allein entscheidet, sondern als Wächter der damit deren innerstaatliche Auswirkungen so »vielleicht.« Die einst ausgewogene Sprache nationalen Zuständigkeiten und der Grenzen weit wie möglich begrenzt bleiben. Deutsche des BVerfG ist in eine Fehdesprache umge- der EU-Handlungsbefugnisse maßgeblich das Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte schlagen. Das verspricht nichts Gutes für die BVerfG (und die anderen Verfassungsgerichte dürfen auch an der Umsetzung, Vollziehung Zukunft, was das Verhältnis der deutschen der Mitgliedstaaten). In seiner Dogmatik er- oder Operationalisierung von ultra-vires- und europäischen Verfassungsgerichte zuei- legt sich das BVerfG die Verpflichtung auf, Akten nicht mitwirken. Der Bundesbank wird nander betrifft. Im Gegenteil: die rechtliche die ultra-vires-Kontrolle nur in äußerst »of- mit dem Urteil in der Konsequenz untersagt, Verunsicherung, die diese Rechtsprechung fensichtlichen« Ausnahmefällen auszuüben, nach einer Übergangsfrist an der Umsetzung für die europäische Währungs- und Wirt- und zuvor die streitigen Rechts- und Kompe- der kritisierten Rats- und EZB-Beschlüsse schaftspolitik mit sich bringt, kann gerade tenzfragen dem EuGH zur Vorabentscheidung zum Anleihekaufprogramm weiter mitzuwir- in Wirtschaftskrisen zulasten von Arbeitneh- vorzulegen, und ihm jedenfalls erst nach des- ken. Die Praxis kooperativer Verfassungsge- merInnen und ihren Gewerkschaften gehen. sen (aus BVerfG-Sicht nicht nachvollziehba- richtsbarkeit wird also aufgegeben: in seinen Welche Verwerfungen kommen auf uns zu? rer) Vorabentscheidung die Gefolgschaft zu Leitsätzen und seiner Mitteilung zum Urteil versagen. Eine einfache Meinungsverschie- sagt das BVerfG ohne jede »Diplomatisierung denheit mit dem EuGH soll nicht ausreichen; des Rechts:« die Grenze der deutschen Euro- Die Verfassungsdogmatik des BVerfG vielmehr muss sich die Rechtsauffassung des parechtstreue wird in Karlsruhe gezogen. Was . Das BVerfG war mit seinem kooperativen EuGH als schlechterdings nicht haltbar bzw. ist passiert und warum? EU-Kurs sechzig Jahre lang gut gefahren und willkürlich erwiesen haben. Zudem sieht das hatte viel (nicht zuletzt für die europäischen BVerfG eine weitere selbst auferlegte Hürde Warum die verfassungsrechtliche ultra- Grundrechte) erreicht, weil es sich klug verhielt darin, dass sein Verdikt erst dann in Betracht vires-Dogmatik gegen den EuGH? und dem chinesischen Sprichwort folgte: »Die kommt, wenn die fehlerhafte EuGH-Entschei- Hand, die du nicht abhacken kannst, sollst dung zu einer grundgesetzlich wie EU-rele- . Mit seiner neuen verfassungsrechtlichen du schütteln.« Mit dem Schütteln der Hände vanten, strukturellen Gewichtsverlagerung Dogmatik hat sich das BVerfG ein mächtiges ist es jetzt vorbei: das BVerfG bricht aus dem zulasten der Zuständigkeiten der Mitglied- Instrument geschaffen, das es erlaubt, den Konsens der deutschen Verfassungsorgane aus staaten oder der gemeinsamen Verfassungs- EuGH fallbezogen aus den Angeln zu heben. und schlägt sich in Fragen der EU-Währungs- imperative führt. Dessen Rechtsprechung zur Ankaufpolitik
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