Potentielle Schädlichkeit von Chrom im Trinkwasser
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Potentielle Schädlichkeit von Chrom im Trinkwasser Einordnung der epidemiologischen Befunde zum Krebsrisiko nach Exposition von Populationen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser und Vorschlag zur Ableitung einer Expositions- Risikobeziehung Bericht zum Sondervorhaben des Umweltbundesamtes FKZ 363 01 399 2012 Dr. Markus Roller Beratungsbüro für Risikoabschätzung Doldenweg 14 D-44229 Dortmund
2 Inhaltsverzeichnis Seite Kurzfassung 3 1. Einleitung 4 2. Hintergrund 5 2.1 Lungenkrebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom in der Luft am Arbeitsplatz 5 2.2 Lungentumorrisiko von Ratten nach Inhalation von Chrom(VI) 5 2.3 Tumorrisiko von Ratten nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser 9 2.4 Tumorrisiko von Mäusen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser 10 2.5 Quantitative Risikoabschätzung anhand der Daten nach Exposition von männlichen Mäusen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser 12 2.5.1 Expositions-Risikobeziehung für die beiden bei NTP (2008) aufgeführten Dosismaße 12 2.5.2 Quantitative Risikoabschätzung unter Anwendung unterschiedlicher Speziesextrapolationen 14 3. Epidemiologische Daten zum Krebsrisiko nach oraler Cr(VI)-Aufnahme 22 3.1 Epidemiologische Studien zur Trinkwasserexposition in China 22 3.1.1 Rekonstruktion der Datenlage und des Studienhergangs 22 3.1.2 Bewertung der Daten von Beaumont et al. (2008) sowie Kerger et al. (2009a) 30 3.1.3 Mögliche Expositions-Risikobeziehungen aufgrund der chinesischen Daten 32 3.2 Epidemiologische Studien zur Trinkwasserexposition in Griechenland 36 3.3 Krebsrisiko (außer Lungenkrebs) nach inhalativer Exposition 37 4. Wirkungsmechanismus und Problematik wissenschaftlicher Unsicherheiten im bewertungsrelevanten Bereich 44 5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 50 6. Literatur 52 Anhang A Monte-Carlo-Simulation zur Untersuchung der Aussagekraft von Schwellenwert- Modellen 62 Anhang B Biologisch-basiertes Modell zur Frage der Bedeutung des Vorliegens von zwei oder mehr Mechanismen bei der chemischen Kanzerogenese 65 Anhang C Hintergründe im Zusammenhang mit den Publikationen von Zhang und Li (1997) und Kerger et al. (2009a) 70 Anhang D Anmerkungen zur Publikation von Gatto et al. (2010) 74 Anhang E Abschätzungen der jährlichen Krebsfallzahl in einem Expositionsszenario 76
3 Potentielle Schädlichkeit von Chrom im Trinkwasser Einordnung der epidemiologischen Befunde zum Krebsrisiko nach Exposition von Populationen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser und Vorschlag zur Ableitung einer Expositions-Risikobeziehung Kurzfassung Epidemiologische Studien haben deutlich erhöhte Lungenkrebsrisiken nach beruf- licher Exposition gegenüber Chrom(VI) gezeigt. Tierexperimentelle Daten zur Kanze- rogenität von Cr(VI) nach Inhalation liegen nur in begrenztem Maße vor. Nach den vorliegenden Daten sind Ratten bezogen auf die Langzeit-Konzentration in der Luft als deutlich weniger empfindlich hinsichtlich der Lungenkrebs erzeugenden Wirkung von Cr(VI) als Menschen anzusehen. Eine Speziesextrapolationsrechnung anhand der Dosis bezogen auf Alveolaroberfläche führt zu einer noch größeren Diskrepanz. In einer großen Langzeitstudie wurden durch Natriumdichromat im Trinkwasser so- wohl bei Ratten als auch bei Mäusen Tumoren des Verdauungstrakts induziert. Eine epidemiologische Studie in einer Region Chinas, in der Cr(VI)-Kontaminationen des Trinkwassers mit akuten Vergiftungssymptomen auftraten, begründet mit einem rela- tiven Risiko von 1,7 einen Verdacht auf einen Kausalzusammenhang zwischen der oralen Cr-Aufnahme und Magenkrebs, kann diesen aber nicht zweifelsfrei beweisen. Auch hier ergibt sich rechnerisch aus den epidemiologischen Daten ein höheres ex- positionsbezogenes Risiko als bei der empfindlichsten Tierspezies; auch hier ver- größert eine Speziesextrapolationsrechnung anhand der Dosis bezogen auf Ge- websoberfläche die Diskrepanz. Ähnliches gilt grundsätzlich für Daten nach Trink- wasserkontaminationen in Griechenland und bezüglich eines etwaigen Risikos für den Gastrointestinaltrakt durch verschlucktes Cr nach Arbeitsplatzexposition. Zur Interpretation der Studien über Wirkungsmechanismen der Cr(VI)-Kanzerogenese liefert die Literatur ein breites Spektrum, einschließlich der Stützung einer linearen Expositions-Risikobeziehung. Bei einem vom Umweltbundesamt veranstalteten Fachgespräch am 23.1.2012 bestand Konsens, aufgrund der vorliegenden Informa- tionen aus epidemiologischen Studien und Langzeit-Kanzerogenitätsversuchen so- wie der Bewertung der Wirkungsmechanismen eine lineare Extrapolation zur regu- latorischen Bewertung von Cr(VI)-Konzentrationen im Trinkwasser zu verwenden. Aufgrund der Daten der männlichen Mäuse der Langzeitstudie des National Toxico- logy Program ist einer Konzentration von 50 µg Cr(VI)/L mittels linearer Interpolation zur so genannten BMD10 ein expositionsbedingtes Lebenszeit-Krebsrisiko in Höhe von 2 zu 10.000 zuzuordnen, einer Konzentration von 270 ng Cr(VI)/L in Höhe von 1 zu 1 Million. Extrapolationen mittels Mehrstufenmodellen der Kanzerogenese (auch unter der Annahme von mehr als einem aktiven Wirkungsmechanismus) unterschei- den sich von diesen Ergebnissen nur geringfügig. Die - begrenzt aussagefähigen - Daten aus epidemiologischen Studien zur oralen Cr-Aufnahme sprechen eher für ein höheres expositionsbezogenes Risiko. Eine Speziesextrapolationsmethode, die zu einem niedrigeren expositionsbezogenen Risiko führt, hier z.B. ein Scaling anhand der Oberfläche des Gastrointestinaltrakts, ist daher nicht angezeigt. Bei einem expo- sitionsbedingten Lebenszeit-Krebsrisiko in Höhe von 1 zu 1 Million ist in einer Bevöl- kerung wie Deutschland jährlich im statistischen Mittel mit weniger als 1 expositions- bedingten Krebserkrankung zu rechnen.
4 1. Einleitung Epidemiologische Studien haben deutlich erhöhte Lungenkrebsrisiken nach beruf- licher Exposition gegenüber Chrom(VI) gezeigt. Demgemäß und aufgrund weiterer Daten wurde Chromtrioxid gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 bzw. der Verordnung (EG) Nr. 790/2009 als krebserzeugend beim Menschen, nicht nur nach Inhalation, eingestuft: Carc. 1A H350 (Stoffe, die bekanntermaßen beim Menschen karzinogen sind), zusätzlich Muta. 1B H340. Auch für andere Chrom(VI)-Verbindun- gen erfolgten EU-Legaleinstufungen. Zinkchromate einschließlich Zink-Kalium- chromat wurden ebenfalls nach Carc. 1A H350, jedoch ohne Muta.Cat. eingestuft. Grundsätzlich (d.h. mit Ausnahme von Bariumchromat sowie den dort namentlich genannten) wurden Chrom(VI)-Verbindungen nach Carc. 1B H350i eingestuft. Zusätzlich zu Carc. 1B erfolgte außerdem z.B. bei Natrium- und Kaliumchromat sowie -dichromat eine Einstufung nach Muta. 1B H340. Die DFG (2011) führt Chrom(VI)-Verbindungen (einatembare Fraktion) als „Stoffe, die beim Menschen Krebs erzeugen und bei denen davon auszugehen ist, dass sie einen Beitrag zum Krebsrisiko leisten“ (Kanzerogenitäts-Kategorie 1). Zur Frage der quantitativen Beziehungen zwischen einer Exposition des Menschen gegenüber Chrom(VI) sollen hier insbesondere die empirischen Informationen aus folgenden fünf Datenbereichen betrachtet werden: • Lungenkrebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) in der Luft am Arbeitsplatz • Lungentumorrisiko von Ratten nach Inhalation von Chrom(VI) • Tumorrisiko von Ratten nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser • Tumorrisiko von Mäusen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser • Krebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser Die vorliegende Stellungnahme zielt ganz besonders auf die Fragen ab, ob sich anhand der epidemiologischen Daten nach Exposition über das Trinkwasser quanti- tative Informationen zu einer Expositions-Risikobeziehung (ERB) gewinnen lassen bzw. mit welchen Annahmen über eine mögliche Expositions-Risikobeziehung diese Daten vereinbar sind. Darauf wird hier im 3. Kapitel eingegangen. Als Daten-Hinter- grund oder Daten-Umfeld werden im 2. Kapitel zunächst die Informationen aus den ersten vier Bereichen betrachtet und quantitative Expositions-Risikobeziehungen anhand der experimentellen Trinkwasserstudien abgeleitet. Im 4. Kapitel werden Fragen im Zusammenhang mit möglichen Wirkungsmechanismen der Chrom- Kanzerogenese angesprochen. Ein Entwurf dieser Stellungnahme wurde in einem Fachgespräch am 23. Januar 2012 mit folgenden Teilnehmern unter Leitung von Mitarbeitern des Umweltbundes- amtes diskutiert: Dr. Ute Bäumer (Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimen- telle Medizin, ITEM), Dr. Hermann H. Dieter (Umweltbundesamt), Dr. Alexander Eck- hardt (Umweltbundesamt), Prof. Dr. Andrea Hartwig (Karlsruher Institut für Technolo- gie, KIT), Prof. Dr. Dr. Uwe Heinrich (Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experi- mentelle Medizin, ITEM), Rainer Konietzka (Umweltbundesamt), Dr. Markus Roller (Beratungsbüro für Risikoabschätzung, BMR). Ergebnisse dieses Fachgesprächs werden an geeigneten Stellen in diesem Bericht erwähnt.
5 2. Hintergrund 2.1 Lungenkrebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom in der Luft am Arbeitsplatz Im Auftrag der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) habe ich im Rahmen einer quantitativen Risikoabschätzung für die inhalative Exposi- tion am Arbeitsplatz den diesbezüglichen epidemiologischen (und den tierexperimen- tellen) Kenntnisstand aktualisiert ausgewertet (Roller, 2010a). Zuvor haben OSHA (2006) und Roller et al. (2006) unabhängig voneinander bereits quantitative Risiko- abschätzungen für das Lungenkrebsrisiko nach Inhalation von Chrom(VI) am Arbeits- platz veröffentlicht. Grundlage waren insbesondere Publikationen von Mancuso (1997), Braver et al. (1985), Gibb et al. (2000), Luippold et al. (2003) und Sorahan et al. (1998a,b). Die epidemiologischen Daten für Cr(VI) einschließlich der Expositions- daten sind nach Einschätzungen bei OSHA (2006) als besonders aussagefähig anzusehen: „The Gibb et al. study was a particularly strong study for quantitative risk assessment, especially in terms of cohort size and historical exposure data.“ „The epidemiologic database is quite extensive and contains several studies with expo- sure and response data that could potentially be used for quantitative risk assess- ment.“ „In the case of the Gibb cohort, the exposure dataset is extraordinarily com- prehensive and well-documented (..), even ‘‘exquisite’’ according to one NIOSH expert (..)“ „Since the analyses based on these two cohorts are each of high quality and their projected risks are reasonably close (well within an order of magnitude), OSHA believes the excess lifetime risk of lung cancer from occupational exposure to Cr(VI) is best represented by the range of risks that lie between maximum likelihood estimates of the Gibb and Luippold data sets.“ Nach den Analysen ist einer 40jährigen Exposition gegenüber einem Langzeit-Mittel- wert von 1 µg Cr(VI)/m3 ein zusätzliches expositionsbedingtes Lungenkrebsrisiko im Bereich von 2 zu 1.000 bis 9 zu 1.000 zuzuordnen. Eine Verdopplung des Lungen- krebsrisikos wurde in den Studien bei kumulativen Expositionen festgestellt, die Langzeit-Mittelwerten im Bereich von 5 bis 25 µg Cr(VI)/m3 entsprechen. Weitere Studien bzw. Analysen sind mit diesen Ergebnissen vereinbar (Mundt et al., 2002; Crump et al., 2003; Park et al., 2004; Luippold et al., 2005; Birk et al., 2006; Gold- bohm et al., 2006; Park und Stayner, 2006). In von der betroffenen Industrie finanzierten Publikationen wurden die epidemiolo- gischen Daten teilweise als Hinweis auf eine Wirkungsschwelle oder zumindest als mit einer Wirkungsschwelle vereinbar interpretiert (Luippold et al., 2003; Crump et al., 2003; Birk et al., 2006). Bei Roller (2010a) ist eingehend dargestellt, dass aber allein auf Basis der epidemiologischen Daten eine Wirkungsschwelle nicht zu begründen ist. In einer Publikation aus einem Forschungsinstitut der Berufsgenossenschaften (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) wurden die epidemiologischen Daten als ungeeignet für quantitative Aussagen bewertet (Pesch et al., 2008). 2.2 Lungentumorrisiko von Ratten nach Inhalation von Chrom(VI) Es gibt nur einen einzigen Langzeit-Inhalationsversuch mit Ratten, der für quantita- tive Risikoabschätzungen zur Cr-Kanzerogenität verwendet werden kann (Glaser et al., 1986). Bild 1 zeigt die Daten. Die Lage der Datenpunkte scheint eine Wirkungs-
6 schwelle nahezulegen. Dies ist von besonderem Interesse im Hinblick auf die mög- lichen Wirkungsmechanismen. Dem so genannten Wirkungsmechanismus bzw. dem so genannten Wirkprinzip von Kanzerogenen wird in der regulatorischen Toxikologie heute große Bedeutung beigemessen. Publikationen von Neumann et al. (1997a,b), Greim (2001) und Hengstler et al. (2003) haben dabei Wegmarken gesetzt. Aus den Publikationen und aus Gesprächen in Gremien lässt sich schließen, dass für einen krebserzeugenden Stoff ohne eingehendere Diskussion am ehesten dann nicht von einer Wirkungsschwelle ausgegangen wird, wenn der Stoff oder einer seiner im Stoffwechsel regelmäßig gebildeten Metaboliten kovalent an DNA binden und so Punktmutationen (nachweisbar im Ames-Test) verursachen können. In allen anderen Fällen steht letztlich (ob berechtigt oder nicht) die These einer Wirkungsschwelle im Raum und muss eingehender erörtert werden. Im 4. Kapitel werden grundlegende Fragen zu möglichen Mechanismen der Cr-Kanzerogenese diskutiert und es wird auf die Ergebnisse des in der Einleitung genannten Fachgesprächs Bezug genommen. Hier sollen zunächst die Daten der Langzeit-Tierversuche auf ihren empirischen Informationsgehalt hinsichtlich einer Wirkungsschwelle geprüft werden. Zu diesem Zweck wird ein Twostage-Threshold-Modell (TST-Modell) verwendet, das sich folgendermaßen formulieren lässt: P * ( D) = 1 − e − (b0 + b1 ⋅D + b2 ⋅D 2 ) mit 0 wenn d ≤θ D= . d −θ andernfalls Dabei bedeuten: P*(D): Lebenszeitrisiko für die zur Diskussion stehenden Tumoren d: Dosis θ: Dosisschwelle b0, b1, b2: zu ermittelnde Modellparameter Bild 1 zeigt in Form der dünnen schwarzen Kurve die Maximum-Likelihood-Schät- zung des dosisabhängigen Lebenszeitrisikos gemäß dem TST-Modell. Erwartungs- gemäß erhält man einen relativ hohen Schätzwert eines Dosis-Schwellenwertes: 201,6 µg/m3. Die Gruppengrößen in dem Versuch sind aber relativ klein, damit ist die statistische Aussagesicherheit der Daten relativ gering. Dies lässt sich in Form eines alternativen Modellverlaufs deutlich machen, der statistisch nicht-signifikant von der Maximum-Likelihood-Schätzung verschieden ist, in Bild 1 durch eine dickere graue Kurve markiert. Dieser Modellverlauf wurde erhalten, indem derjenige höchste Wert für den Parameter b1 des linearen Terms gesucht wurde, der für θ gleich Null bei Maximierung der Likelihoodfunktion hinsichtlich der übrigen Modellparameter gerade nicht zu einer signifikant unterschiedlichen Likelihood führt (α = 0,05, einseitige Fragestellung; hier Log-Likelihood für θ = 201,6: -12,180; Log-Likelihood-Differenz1 „alternatives Modell“: 13,533 - 12,180 = 1,353). Dieser Modellverlauf ist so etwas wie eine obere 95%-Konfidenzgrenze des TST-Modells im unteren Dosisbereich. Dabei 1 Beim so genannten Likelihood-Quotienten-Test kann eine Log-Likelihood-Differenz geprüft werden, 2 indem das Zweifache dieser Differenz mit der Chi -Verteilung verglichen wird. Hier 2 mal 1,353 = 2 2,706; die Chi -Verteilung mit 1 Freiheitsgrad ergibt für 2,706 den p-Wert 0,10, was bei einseitiger Fragestellung einem p-Wert von 0,05 entspricht.
7 ist also zunächst festzustellen: Die Wirkungsschwelle ist nicht signifikant. Darüber hinaus stellt ein Modell mit einem praktisch linearen Verlauf zwischen dem Nullpunkt und dem Punkt bei der niedrigsten von Null verschiedenen Tumorhäufigkeit kein statistisch signifikant schlechteres Modell dar als die Maximum-Likelihood-Schätzung des Schwellen-Modells. % Lebenszeit-Lungentumorrisiko der Ratten 20 der Studie von Glaser et al. (1986) Inhalation 15 10 alternativer Verlauf 5 (95%-Konf.grenze des TST-Modells) TST-Modell 0 0 200 400 Langzeit-Mittelwert der Cr(VI)-Konz. [µg/m3] (Arbeitsplatz-Szenario) Bild 1 Dosis-Risiko- und Schwellenanalyse der Daten des Kanzerogenitäts- versuchs von Glaser et al. (1986). Im Vergleich zu den epidemiologischen Daten ist außerdem festzuhalten, dass bei den Ratten bis zu einem Langzeit-Mittelwert von zirka 200 µg Cr(VI)/m3 keine von Null verschiedene Tumorhäufigkeit aufgetreten ist. Dies steht in deutlichem Gegen- satz zu den epidemiologischen Daten am Arbeitsplatz, wo signifikant erhöhte Lungenkrebsrisiken bei Langzeit-Mittelwerten von weniger als 40 µg/m3 festgestellt wurden. Roller et al. (2006) haben eine um einen Faktor von zirka 10 höhere kanzerogene Potenz von Cr(VI) für die menschliche Lunge im Vergleich mit den Ratten der Studie von Glaser er al. (1986) berechnet. Tatsächlich ist für den umwelt- relevanten Expositionsbereich ein eher größerer Unterschied anzunehmen, weil die Berechnungen von Roller et al. (2006) auf Werten des „beobachtbaren Risikobe- reichs“ beruhen und die experimentellen Daten einen sublinearen Verlauf mit „Null- Tumorhäufigkeiten“ im Bereich arbeitsplatztypischer Expositionen (bei epidemio- logisch erkennbar erhöhten Risiken) aufweisen. Wichtige Anmerkung! Im vorliegenden Fall hat die Schwellenanalyse ganz klar ergeben, dass keine statis- tische Signifikanz für eine Schwelle besteht. Es ist aber zu betonen, dass solche Analysen generell unsicher sind, auch dann wenn sich statistische Signifikanz für einen Schwellenwert ergibt. Solche Versuchsdaten sind nicht geeignet, Tumorrisiken von z.B. 1 % und von Null voneinander zu unterscheiden, auch nicht mit scheinbar anspruchsvollen mathematischen Verfahren. In Anhang A habe ich eine Analyse mit so genannter Monte-Carlo-Simulation beschrieben. Dabei wurde mit dem TST- Modell in vier von fünf Beispielen, in denen in Wahrheit keine Schwelle bestand, ein Schwellenwert als Maximum-Likelihood-Schätzung erhalten. Davon war der Schwel- lenwert in zwei Beispielen statistisch signifikant. In einem Beispiel lag der Schwellen- wert in Höhe einer Dosis, die in Wahrheit ein Exzess-Risiko in Höhe von zirka 6 %
8 verursacht. Diese Beispiele zeigen, dass keine Gewähr für eine Wirkungsschwelle besteht, selbst wenn mit einem Schwellenwert-Modell ein statistisch signifikanter Schwellenwert berechnet wird! % Lebenszeit-Risiko für bestimmte Tumoren 15 bei männl. Ratten der Studie von NTP (2008) 10 Trinkwasser alternativer Verlauf 5 (95%-Konf.grenze) TST-Modell 0 0 2 4 6 Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d] % Lebenszeit-Risiko für bestimmte Tumoren 30 bei weibl. Ratten der Studie von NTP (2008) 20 alternativer Verlauf 10 (95%-Konf.grenze) TST-Modell 0 0 2 4 6 8 Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d] Bild 2 Dosis-Risiko- und Schwellenanalyse der Daten des Kanzerogenitäts- versuchs mit Ratten von NTP (2008). Bei den Tumoren, welche hier die Prozentsätze von Tieren mit „bestimmten Tumoren“ bilden, handelt es sich um Plattenepithelpapillome bzw. -karzinome von Mundschleimhaut bzw. Zunge. Das Twostage-Modell ist ein spezieller Fall eines Multistage-Modells. Das Multistage- Modell beruht ursprünglich auf mechanistischen Vorstellungen zum Mehrstufenpro- zess der Krebsentstehung (siehe auch Anhang B). Dabei ist angenommen, dass ein Stoff direkt (primär gentoxisch) mutagen auf mehr als 1 Stufe des Mehrstufenprozes- ses der Krebsentstehung wirkt. Unter diesen Bedingungen ergibt sich eine sublineare (nach unten durchhängende, insgesamt S-förmige) Form der Beziehung zwischen Dosis und Tumorrisiko. Wie auch meine Simulationsrechnungen gezeigt haben, be- steht die „Tücke“ bei der Auswertung solcher Daten in folgender Eigenschaft: Wenn ein mathematisches Schwellen-Modell an die experimentellen Ausprägungen eines solchen in Wahrheit sublinearen Risikoverlaufs (ohne Schwelle) mittels Regressions- analyse „angepasst“ wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass sich die
9 „beste Anpassung“ mit einem Schwellenwert größer als Null ergibt. Offensichtlich hat dies mit den mathematischen Eigenschaften des Verfahrens zu tun. 2.3 Tumorrisiko von Ratten nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser Bild 2 zeigt die Datenlage der Langzeit-Kanzerogenitätsstudie mit Cr(VI)-Gabe über das Trinkwasser an männliche und weibliche Ratten (NTP, 2008). Ähnlich wie die Daten des Inhalationsversuchs an Ratten (Bild 1) scheinen die Daten eine Wirkungs- schwelle nahe zu legen. Ich habe die Daten mit derselben Methode (wie 2.2) anhand des TST-Modells analysiert, und wiederum ähnlich wie bei dem Inhalationsversuch ist festzustellen, dass die Dosisschwelle statistisch nicht-signifikant ist, sondern stattdessen die Datenlage auch mit einem alternativen Verlauf mit einer Niedrigdosis- Linearität vereinbar ist. Dies gilt sowohl für die männlichen als auch die weiblichen Tiere (graue Kurven in Bild 2). % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren 50 bei männl. Mäusen der Studie von NTP (2008) 40 Trinkwasser 30 20 TST-Modell (ML-Schätzung des 10 Schwellenwertes = 0) 0 0 2 4 6 8 Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d] % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren 100 bei weibl. Mäusen der Studie von NTP (2008) 80 TST-Modell alternativer Verlauf (ohne höchste (95%-Konf.grenze; 60 Dosis) ohne höchste Dosis) 40 20 Modell der männl. Mäuse 0 0 2 4 6 8 10 Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d] Bild 3 Dosis-Risiko- und Schwellenanalyse der Daten des Kanzerogenitätsver- suchs mit Mäusen von NTP (2008). Bei den Tumoren, welche hier die Pro- zentsätze von Tieren mit „Dünndarmtumoren“ bilden, handelt es sich um Adenome bzw. Karzinome von Duodenum, Jejunum bzw. Ileum.
10 2.4 Tumorrisiko von Mäusen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser Bild 3 zeigt die Datenlage der Langzeit-Kanzerogenitätsstudie mit Cr(VI)-Gabe über das Trinkwasser an männliche und weibliche Mäuse (NTP, 2008). In der Diskussion (und bei Kerger et al., 2009a) wurde zu diesem Versuch kritisch angemerkt, dass die Wasseraufnahme der Mäuse gering gewesen sei und deshalb mit einer Dehydrie- rung zu rechnen sei. Ich habe deshalb die Daten zur Trinkwasseraufnahme der Mäu- se in dieser Studie mit Daten zur Trinkwasseraufnahme in NTP-Studien verglichen, welche in den Jahren unmittelbar davor und danach veröffentlicht wurden. Tab. 1 enthält eine Auswahl dieser Daten; Auswahl bedeutet, dass einheitlich bei allen Studien die Messwerte nach 4 Wochen, nach zirka einem Jahr und nach zirka einein- halb Jahren herangezogen wurden. Dabei sind nur die Daten der männlichen Mäuse betrachtet, weil dies die Spezies ist, welche von US EPA und Cal/EPA zur Risikoab- schätzung für Cr(VI) im Trinkwasser verwendet wurde. Die Tab. 1 zeigt, dass sich der Wasserverbrauch der männlichen Mäuse der Kontroll- gruppe der Chrom-Studie (NTP, 2008) nicht auffällig vom Wasserverbrauch der männlichen Mäuse der Kontrollgruppen von Trinkwasserstudien, die kurz davor oder kurz danach durchgeführt wurden, unterscheidet. Die Verbrauchswerte sind durch- weg niedriger als der Wert von 6 mL/d, der (für eine relativ junge Maus von 30 g Ge- wicht) in Leitfäden oder Nachschlagewerken als „Standard“ genannt wird (die Körper- gewichte der NTP-Mäuse liegen eher im Bereich von 50 g). Grund und Bedeutung dieser tendenziell eher niedrigeren Werte der NTP-Studien sind mir unklar. Ich kann nur feststellen, dass diese Werte für die NTP-Studien „normal“ zu sein scheinen. Die Verbrauchswerte der unteren Dosisstufen der Chrom-Studie zeigen gegenüber diesem „Standard“ keine auffällige Abweichung. Auch die Anzahl der Dosisstufen der Chrom-Studie ist nicht zu kritisieren, im Gegenteil. Nach internationalen Richtlinien sind für Kanzerogenitätsversuche 3 Dosisstufen vorgesehen. Dies ist auch bei den meisten Studien der Tab. 1 der Fall. Bei zwei Studien - darunter die Chrom-Studie - wurde eine weitere (vierte) Dosis geprüft. Dabei ist allerdings festzustellen, dass der Wasserverbrauch bei dieser vierten (höchsten) Chromdosis auffällig niedriger ist als bei den Kontrollen. Aus Figure 4 bei NTP (2008) ist zu erkennen, dass die Gewichts- entwicklung der Mäuse der höchsten Dosisstufe gegenüber der Kontrolle (und den unteren Dosen) verzögert war. Dabei war aber die Überlebensquote (2 Jahre) in der höchsten Dosis mit 32/50 bei den männlichen (42/50 bei den weiblichen) Tieren nicht (bzw. nicht bemerkenswert) geringer als bei den Kontrollen (männl.: 33/50; weibl.: 37/50). Etwa zu vermutende Einschränkungen der Aussagekraft der Tumorhäufig- keiten der höchsten Dosisstufe wegen der verminderten Wasseraufnahme dürften bei den männlichen Mäusen - wie Bild 3 zeigt - keine wesentliche Rolle für das Ergebnis der Risikoabschätzung spielen, weil auch bei der dritten Dosis eine signifi- kante Erhöhung der Tumorhäufigkeit auftrat und die oberste Dosisstufe den Verlauf der Dosis-Risikobeziehung nicht wesentlich verändert. Freilich kann man auch bei der dritten Dosisstufe einen etwas niedrigeren Wasser- verbrauch als bei den Kontrollen und den beiden unteren Dosisstufen erkennen. Dies trifft auch bei etlichen der anderen in Tab. 1 zitierten Studien mit verschiedenen Stoffen zu. Sind damit alle diese Daten als ungeeignet für Risikoaussagen für den
11 Tab. 1 Wasserverbrauch der männlichen Mäuse in Kanzerogenitätsstudien des NTP mit Verabreichung von Stoffen im Trinkwasser; Veröffentlichungen von NTP (2005) bis NTP (2011). Jahr der Wasserverbrauch der männlichen Mäuse [g/d] Veröffent- Kontrollen 1. Dosis 2. Dosis 3. Dosis 4. Dosis lichung 4 Wochen 2005 3,6 4,0 3,8 3,9 -- 2006 nur weibliche Mäuse eingesetzt 2007 4,3 4,3 4,0 3,9 -- 2008 (Cr) 3,8 3,7 3,9 3,5 2,5 2009 4,2 3,9 3,9 4,0 -- 2010 3,7 3,6 2,8 2,6 -- 2011 4,5 4,9 5,2 5,0 5,1 52-53 Wochen 2005 3,8 3,6 3,7 3,7 -- 2006 nur weibliche Mäuse eingesetzt 2007 4,4 4,8 4,2 3,9 -- 2008 (Cr) 4,4 4,4 4,6 3,9 2,7 2009 4,6 4,7 4,5 4,1 -- 2010 4,2 3,4 2,8 2,4 -- 2011 4,6 4,5 4,7 4,5 5,3 76-77 Wochen 2005 3,9 4,0 4,1 4,0 -- 2006 nur weibliche Mäuse eingesetzt 2007 4,6 4,6 4,6 4,5 -- 2008 (Cr) 5,0 4,9 5,0 4,2 3,3 2009 5,3 5,2 5,0 4,6 -- 2010 5,1 3,8 3,3 2,9 -- 2011 5,0 4,8 5,5 4,8 3,5 Menschen zu betrachten? Meines Erachtens bleibt für eine - im Sinne des grund- gesetzlich vorgesehenen Gesundheitsschutzes - verantwortungsvolle Durchführung und Auswertung solcher Kanzerogenitätsversuche keine andere Wahl, als diese Tumorhäufigkeiten zunächst zu nehmen wie sie beobachtet sind. Insbesondere von Seiten derjenigen Industrien, welche die Stoffe produzieren oder von entsprechen-
12 den Kontaminationen betroffen sind, wird gefordert, toxikologische Untersuchungen nur oder vor allem mit „realistischen“ Expositionen durchzuführen. Damit ließe sich sicherlich auch in Kanzerogenitätsversuchen das Auftreten eventuell störender sonstiger toxischer oder unerwünschter Effekte (z.B. verminderte Palatabilität des Trinkwassers) vermeiden. Ich habe bereits mehrfach begründet, dass die Umsetzung dieses Ansatzes aber letztlich die regulatorische Toxikologie ad absurdum führen würde (Roller, 2007, 2010b, 2011). Vor dem beschriebenen Hintergrund habe ich vorgeschlagen, die Daten der männ- lichen Mäuse der Trinkwasser-Kanzerogenitätsstudie von NTP (2008) als grundsätz- lich valide Kanzerogenitätsstudie zu behandeln und diese Daten - so wie sie sind - auch für eine quantitative Risikoabschätzung für die Spezies „Maus“ zu verwenden. Bei dem Fachgespräch am 23.1.2012 (s. Einleitung) wurde eingewandt, dass sich bei den weiblichen Mäusen die höchste Empfindlichkeit zeige. Dies ist allerdings eine Interpretationsfrage. Geht man vom BMD-Multistage-Modell ohne Schwellenwert aus, dann ergibt sich rechnerisch im unteren Dosisbereich aus den Daten der weib- lichen Mäuse tatsächlich eine höhere Steigung, d.h. eine höhere Empfindlichkeit, im Vergleich mit den Daten der männlichen Mäuse (Roller, 2010a). Bild 3 zeigt dage- gen, dass sich bei Anlegen eines Twostage-Threshold-Modells aus den Daten der weiblichen Mäuse - rechnerisch, als Maximum-Likelihood-Schätzwert - eine Wir- kungsschwelle, d.h. ein expositionsbedingtes Risiko von Null im untersten Dosisbe- reich ergibt, während das Twostage-Threshold-Modell für die männlichen Mäuse einen Maximum-Likelihood-Schätzwert für die Wirkungsschwelle in Höhe einer Dosis von Null ergibt, somit ein höheres Risiko im untersten Dosisbereich (eine sichere Aussage über eine Schwelle ist anhand der Daten aus den Langzeitversuchen nicht möglich, s.o.). Die relativ geringe Erhöhung der Tumorhäufigkeit bei der vierten Dosis im Vergleich zur dritten Dosis führt bei den weiblichen Mäusen zu Interpretationspro- blemen. Den am besten konsistenten Dosis-Wirkungsverlauf zeigen die Daten der männlichen Tiere. Bei dem Fachgespräch am 23.1.2012 bestand daher letztlich Kon- sens, die Daten der männlichen Mäuse für eine Risikoabschätzung zu benutzen. Auch US EPA und Cal/EPA haben für ihre Risikoabschätzungen diese Daten benutzt. 2.5 Quantitative Risikoabschätzung anhand der Daten nach Exposition von männlichen Mäusen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser 2.5.1 Expositions-Risikobeziehung für die beiden bei NTP (2008) aufgeführten Dosismaße In dem Bericht von NTP (2008) sind zwei Dosismaße angegeben: Konzentration des Stoffs im Trinkwasser und durchschnittliche körpergewichtsbezogene Zufuhrrate pro Tag. Unter dem Oberbegriff „Stoff“ wollen wir hier nur die Masse der Cr(VI)-Ionen, d.h. nicht die Masse des eingewogenen Natriumdichromatdihydrats verstehen. Tab. 2 enthält die Daten.
13 Tab. 2 Ergebnisse des Kanzerogenitätsversuchs mit Gabe von Natrium- dichromat (Na2Cr2O7 • 2H2O) mit dem Trinkwasser an männliche B6C3F1-Mäuse; Expositions- und Beobachtungsdauer 24 Monate (NTP, 2008) Chrom(VI)-Exposition Anzahl Männl. Mäuse mit Adenom oder untersuchte Karzinom von Duodenum, männl. Jejunum bzw. Ileum Mäuse Konz. im Zufuhrrate Anzahl Prozentsatz = Trinkwasser Schätzwert des [mg Cr/L] [mg Cr/kg/d] Tumorrisikos 0 0 50 1 2,0 % 5 0,38 50 3 6,0 % 10 0,91 50 2 4,0 % 30 2,44 50 7 14,0 % 90 5,93 50 20 40,0 % Auf Folgendes ist hinzuweisen: NTP (2008) gibt die Konzentration im Trinkwasser unmittelbar sowohl bezogen auf die Substanz als auch auf Cr, die Zufuhrrate aber nur bezogen auf die Substanz. Für Tab. 2 habe ich daher die Zufuhrraten an Na- dichromatdihydrat anhand des Molekulargewichts der Substanz von 298,0 auf Cr umgerechnet. Zu beachten ist, dass zwischen den Werten der Trinkwasserkonzen- tration und Zufuhrrate kein mathematisch konstanter Umrechnungsfaktor über alle Dosisstufen hinweg besteht. Dies ist auf die etwas unterschiedliche Körpergewichts- entwicklung und den etwas unterschiedlichen Trinkwasserverbrauch in den einzelnen Dosisgruppen zurückzuführen. Bei NTP (2008) sind auch die jeweiligen berechneten Zufuhrraten der einzelnen Gruppen zu verschiedenen Versuchszeiten, d.h. bei unter- schiedlichem Alter der Tiere, angegeben. Die in der Zusammenfassung genannten und hier für Tab. 2 verwendeten Werte sind Durchschnittswerte über die gesamte Versuchszeit. Da zwischen den Trinkwasserkonzentrationen und Zufuhrraten mathe- matisch keine konstante Relation besteht, habe ich Regressionsanalysen getrennt für die beiden Dosismaße durchgeführt (BMDS Version 2.2, Multistage-Cancer- Modell). Die Form der Dosis-Risikobeziehung ist bei den beiden Dosismaßen etwas unterschiedlich. Bild 4 zeigt Datenlage und Modell im Vergleich für beide Dosismaße. Man erhält folgende Werte für die BMD10 (Maximum-Likelihood-Schätzwert): Konz. im Trinkwasser: BMD10 = EC10 = 26,6 mg Cr/L Zufuhrrate: BMD10 = EA10 = 2,25 mg Cr/kg/d Für die BMD10 ausgedrückt als Konzentration im Trinkwasser mag die Abkürzung EC10 - für Effective Concentration - verwendet werden, für die BMD10 ausgedrückt als Zufuhrrate die Abkürzung EA10 - für Effective Administration Rate. Bei Annahme einer linearen Expositions-Risikobeziehung (ERB) ergibt sich demnach für männliche B6C3F1-Mäuse ein Tumorrisiko in Höhe von 10 % durch lebenslangen Konsum von Trinkwasser mit einer Cr(VI)-Konzentration von gerundet 27 mg/L, in Höhe von 1 zu
14 10.000 bei einer Cr(VI)-Konzentration von 27 µg/L und in Höhe von 1 zu 1 Million bei einer Cr(VI)-Konzentration von 0,27 µg/L (270 ng/L). % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren 50 bei männl. Mäusen der Studie von NTP (2008) 40 30 20 Multistage-Cancer- Modell 10 0 0 20 40 60 80 100 Cr(VI)-Konzentration im Trinkwasser [mg/L] % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren 50 bei männl. Mäusen der Studie von NTP (2008) 40 30 20 Multistage-Cancer- Modell 10 0 0 1 2 3 4 5 6 Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d] Bild 4 Dosis-Risikoanalysen für die männlichen Mäuse des Kanzerogenitäts- versuchs von NTP (2008). Bei den Tumoren, welche hier die Prozentsätze von Tieren mit „Dünndarmtumoren“ bilden, handelt es sich um Adenome bzw. Karzinome von Duodenum, Jejunum bzw. Ileum. 2.5.2 Quantitative Risikoabschätzung unter Anwendung unterschiedlicher Speziesextrapolationen Naturwissenschaftlich ist unklar, anhand welchen Dosismaßes oder Extrapolations- maßstabes das bei männlichen Mäusen der NTP-Studie festgestellte Cr-bedingte Tumorrisiko quantitativ korrekt auf den Menschen zu übertragen ist. Solche Kenntnis- Unsicherheiten bestehen nicht nur im vorliegenden Fall einer Exposition gegenüber Cr(VI) über das Trinkwasser, sondern generell bei krebserzeugenden Effekten. Roller et al. (2006) haben dargelegt, dass hinsichtlich krebserzeugender Wirkungen insofern ein fundamentaler Unterschied zu nicht-kanzerogenen Effekten besteht, als eine gleiche Empfindlichkeit beider Spezies gegenüber gleichen Konzentrationen des ultimalen Kanzerogens im Gewebe eine unterschiedliche Empfindlichkeit der Ziel-
15 zellen oder sonstige gravierende Unterschiede voraussetzt. Das heißt: Üblicherweise geht man bei „konventionellen“ Giftwirkungen davon aus, dass gleiche Konzentratio- nen des Gifts im Zielgewebe verschiedener Spezies dann annähernd dieselbe Effekt- stärke bei den Spezies bewirken, wenn die Zielzellen annähernd gleich empfindlich sind. Schädigung desselben Anteils der Zellen am Organ bzw. desselben Massean- teils des Organs würde dann zu einem ähnlichen - nicht-kanzerogenen - Effekt für beide Individuen führen. Dagegen würde bei gleichen Empfindlichkeiten der Zielzel- len zweier unterschiedlich zellreicher Spezies, z.B. Maus und Mensch, und gleicher Leistungsstärke sonstiger Abwehrmechanismen wegen der größeren Zahl an Ziel- zellen und der längeren Lebenszeit ein wesentlich höheres Tumorrisiko bei der zell- reicheren Spezies verursacht werden. Es müssen gravierende Unterschiede in den Mechanismen, z.B. in den Empfindlichkeiten je Zelle, bei Mensch und Maus bestehen, damit dieselbe Konzentration des ultimalen Kanzerogens im Zielge- webe zum selben expositionsbedingten Tumorrisiko führt. Dies führt zu folgen- dem Widerspruch: Damit dieselbe Konzentration eines Gifts im Zielgewebe zur sel- ben nicht-kanzerogenen Effekthöhe führt, sollten die Zellen ähnlich empfindlich sein, damit aber dieselbe Konzentration des Stoffs im Zielgewebe zur selben kanzeroge- nen Effekthöhe (Tumorrisiko) führt, sollten die Zellen unterschiedlich empfindlich sein. Hinsichtlich nicht-kanzerogener Wirkungen sollten die Zellen also gleich emp- findlich, gleichzeitig hinsichtlich kanzerogener Wirkungen unterschiedlich empfindlich sein. Leider wird dieser Gegensatz in der regulatorischen Toxikologie wenig themati- siert, sondern in der Art einer Setzung geht man bisweilen davon aus, dass bei glei- cher Konzentration eines Kanzerogens im Zielgewebe sowohl seine nicht-kanzeroge- nen als auch seine kanzerogenen Wirkungen zu gleichen Effekthöhen bei Menschen und Labortieren führen. Mir sind bisher keine empirischen Belege bekannt, dass durch eine solche Speziesextrapolation das aus Kanzerogenitätsversuchen berech- nete expositionsbedingte Risiko näher an das epidemiologisch feststellbare Risiko herangerückt wird. Roller et al. (2006) haben die oben skizzierten Aspekte näher diskutiert und sehr umfangreiche vergleichende Auswertungen der Ergebnisse von epidemiologischen Studien und Kanzerogenitätsversuchen vorgenommen. Es zeigte sich, dass das in epidemiologischen Studien der Exposition zuzuschreibende Krebsrisiko eher höher war als das expositionsbezogen in Kanzerogenitätsversuchen an Ratten, Mäusen oder Hamstern festgestellte Tumorrisiko. Nach eingehender Diskussion lautete die Empfehlung bei Roller et al. (2006) zur Beurteilung eines stoffbedingten Krebsrisikos in der regulatorischen Toxikologie das Tumorrisiko der empfindlichsten Spezies zu betrachten und sich so zu verhalten, als wäre das expositionsbedingte Krebsrisiko des Menschen genauso hoch wie das Risiko jener Tierspezies. Auch heute bin ich der Überzeugung, dass bisher die Kenntnisse über Wirkungsmechanismen der Kanzerogenese, Empfindlichkeiten einzelner Zellarten bei verschiedenen Spezies, über die Vorgänge bei der Initiation, Promotion und Progression von Tumorzellen sowie über immunologische Schutzreaktionen bei weitem nicht ausreichen, um naturwissenschaftlich fundiert eine Speziesextrapolation stoffbedingter Krebsrisiken vorzunehmen. Obwohl die Auswertungen von Roller et al. (2006) eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit gezeigt haben, dass durch expositionsbedingte Tumorrisiken in Kanzerogenitätsversuchen das expositionsbedingte Krebsrisiko des Menschen unterschätzt (!) wird, halte ich es in der Regel sowohl naturwissenschaftlich als auch ethisch am ehesten vertretbar, keine „scheinwissenschaftliche“ Speziesextrapolation vorzunehmen, sondern lediglich das expositionsbedingte Risiko der Versuchstierart
16 zu berechnen und dem Risikomanagement zu empfehlen, sich so zu verhalten, als ob beim Menschen ein expositionsbedingtes Krebsrisiko in dieser Höhe bestünde; vorausgesetzt es liegen keine epidemiologischen Daten vor, die dieser Vorgehensweise entgegenstehen. Tab. 4 Parameterwerte für grundlegende Größen zur Speziesextrapolation Größe Quelle Maus Ratte Mensch Atemtagesvolumen „Standard“ 0,05 0,23 20 [m3/d] MAK (2011) 0,31 Trinkwasser pro „Standard“ 6 30 2000 Tag [mL/d] NTP (2008) 4,2 Körpergewicht [kg] „Standard“ 0,03 0,35 70 NTP (2008) 0,05 Alveolaroberfläche Roller et al. (2006) 0,4095 62,7 [m2] MAK (2011) 0,295 56,778 Intestinal- Eigene Berechng. 0,0025 0,6 oberfläche [m2] Wikipedia (2011a) 180 Wie beschrieben werden aber in der regulatorischen Toxikologie unterschiedliche Ansätze der Speziesextrapolation von Krebsrisiken favorisiert. Deshalb seien nachfolgend einige Varianten der Speziesextrapolation des bei den männlichen Mäusen der NTP-Studie ausgeprägten Risikos dargestellt. In der Chrom-Diskussion wurde unter anderem vorgeschlagen, die Übertragung bezogen auf die Fläche der Dünndarmschleimhaut vorzunehmen. Dies entspricht im methodischen Ansatz einer Übertragung des Risikos für die Lunge nach Inhalation bezogen auf die Lungen- bzw. Alveolaroberfläche. Für das Risiko nach Inhalation stehen als „Gold Standard“ relativ gute Daten aus der Epidemiologie zur Verfügung. Deshalb wird hier auch ein Vergleich zur Extrapolation des Cr-bedingten Tumorrisikos von der Ratte anhand der Alveolaroberfläche illustriert. Tab. 4 enthält die für die Extrapolationen benötigten grundlegenden Parameterwerte für den Menschen und die Versuchstierspezies. Diese Parameterwerte sind nicht durchweg als unveränderliche, gut gesicherte Festwerte zu betrachten. Größen wie die Alveolaroberflächen oder die Oberfläche der Dünndarmschleimhaut mögen mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet sein. Tab. 4 gibt für die Alveolaroberflächen von Ratte und Mensch zwei jeweils relativ dicht beieinander liegende Werte, die einerseits in den 1990er Jahren in der Literatur präferiert schienen (Yu und Xu, 1987; siehe auch Pott und Roller, 1997; Roller et al., 2006) und andererseits für die aktuelle Ableitung des Allgemeinen Staubgrenzwerts durch die MAK-Kommission verwendet wurden (MAK, 2011). Bei Internetrecherchen habe ich bezüglich der Dünndarmober- flächen mehrere Hinweise, aber keine für unsere Fragestellung zuverlässig erschei- nenden konkreten Werte für Mensch und Maus gefunden. Auf der Basis verschiede- ner Quellen habe ich deshalb zunächst Länge und mittleren Durchmesser von
17 Duodenum, Jejunum und Ileum von Mensch und Maus abgeschätzt und daraus die Oberfläche eines länglichen Zylinders (Röhre) berechnet (De Zwart et al., 1999; Langenbeck, 1996; RIVM, 2008; Wikipedia, 2011a,b; Wilson, 1967). Die Längenan- gaben zum menschlichen Dünndarm scheinen dadurch mit Unsicherheiten behaftet, dass häufig die Länge des Dünndarms bei Autopsien gemessen wurde, dass aber davon auszugehen ist, dass der Darm beim Verstorbenen durch Ausfall von Muskel- tonus länger erscheint als er beim Lebenden ist. Gleichwohl habe ich mich an den Längenangaben der Autopsien orientiert, weil für unsere Zwecke die Oberfläche der Schleimhaut von Interesse ist. Für die Maus liegen kaum Werte vor, ich habe deshalb vor allem in (vermuteter) Relation zur Ratte geschätzt. Mit Werten von 6 m Länge und ca. 3 cm Durchmesser für den Menschen sowie 30 cm Länge und ca. 0,25 cm Durchmesser bei der Maus ergeben sich die Werte einer Oberfläche des Dünndarm in einem einfachen Röhrenmodell von 6000 cm2 und 25 cm2. Man mag dies auch als die geschätzte Fläche der Submucosa (oder Serosa) auffassen. Tab. 5 Ergebnisse von Speziesextrapolations-Rechnungen für oral sowie für inhalativ aufgenommenes Cr(VI) nach unterschiedlichen Methoden Zeile Dosismaßstab, Speziesextrapolationsmethode EC 1 : 1 Million Nr. [ng/L] nach Exposition über Trinkwasser 1 Konzentration im Trinkwasser, männl. Mäuse 270 2 Zufuhrrate, Scaling nach Grundumsatz, 129 Exponent 0,75 3 Zufuhrrate, Scaling nach Grundumsatz, 81 Exponent 0,686 (White & Seymour, 2005) 4 Zufuhrrate, Scaling nach Intestinalfläche, „Submucosa“ 135 bzw. Röhrenmodell 5 Zufuhrrate, Scaling nach Intestinaloberfläche, zusätzl. 810 Faktor 6 für Oberflächenvergr. beim Menschen 6 Zufuhrrate, Scaling nach Intestinaloberfläche, ca. 40.000 Resorptionsoberfläche beim Menschen 7 Konz. im Trinkwasser, Scaling nach Intestinalfläche, 136 „Submucosa“ bzw. Röhrenmodell Schwellenwert [mg/m3] nach Exposition über Atemluft 8 Konzentration in der Atemluft, Ratten 200 9 Scaling nach Alveolaroberfläche, wie Roller et al. (2006) 352 10 Scaling nach Alveolaroberfläche, wie MAK (2011) 443
18 Für unsere Zwecke muss die exakte Fläche der Darmschleimhaut von Mensch und Maus nicht bekannt sein, sondern es genügt das Verhältnis der Flächen bei den beiden Spezies. Aufgrund der anatomischen Informationen ist anzunehmen, dass die Oberfläche der Submucosa in der Mucosa durch Faltungen beim Menschen stärker vergrößert ist als bei der Maus. Dem kann durch Verwendung beliebiger Faktoren, um welche die Oberfläche beim Menschen größer angesetzt wird als bei der Maus, Rechnung getragen werden. Dabei ist es die Frage, ob für unsere Fragestellung eher die Zahl der (teilungsfähigen) Epithelzellen gesucht ist als die „eigentliche“ Schleim- hautoberfläche. In mehreren Quellen wird für die resorptive Oberfläche der Dünn- darmschleimhaut beim Menschen ein Wert im Bereich von 200 m2 genannt, z.B. 180 m2 bei Wikipedia (2011a; Tab. 4). Unter Berücksichtigung submikroskopischer Strukturen könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Oberfläche vielleicht gar nicht eindeutig berechenbar ist, sondern dass es sich eher um eine „fraktale Dimension“ handelt2. Für unsere Fragestellung mag dieses Problem aber dadurch beherrschbar sein, dass man auf Basis des Röhrenmodells mehrere Szenarien einer beim Menschen stärker ausgeprägten Oberflächenvergrößerung betrachtet. Tab. 5 gibt einige Ergebnisse der Risikoabschätzung und Speziesextrapolationen. Ich gehe davon aus, dass für den Schutz der Bevölkerung vor Kanzerogenen im Trinkwasser konventionsgemäß insbesondere ein Risikowert von 1 in 1 Million als wünschenswerte Akzeptanzgrenze von Interesse ist. Deshalb ist in Tab. 5 jeweils diejenige Konzentration von Cr(VI) im Trinkwasser angegeben, welche im Szenario lebenslangen ausschließlichen Genusses dieses Trinkwassers gemäß dem jeweili- gen Berechnungsverfahren mit einem expositionsbedingten Krebsrisiko in Höhe von 1 in 1 Million assoziiert ist. Unter der Annahme einer linearen Expositions-Risikobe- ziehung bei Mäusen ergibt sich für die männlichen Mäuse der NTP-Studie ein Risiko- wert von 1 in 1 Million bei einer Cr(VI)-Konzentration von 270 ng/L in dem Trink- wasser. Datengrundlage dieser Berechnung sind ausschließlich die dokumentierten, über die gesamte Versuchszeit je Dosisgruppe konstant gehaltenen Werte der Cr- Konzentrationen im Trinkwasser sowie die Anzahlen von untersuchten Tieren und Tieren mit potentiell expositionsbedingtem Tumor (d.h. hier: Tumoren des Dünn- darms). Diese Datengrundlage ist unter den in Tab. 5 aufgeführten Rechenergeb- nissen diejenige Rechenbasis, die mit den wenigsten Mess- und Annahme-Unsicher- heiten behaftet ist. Die Relation Risiko 1 zu 1 Million durch 270 ng/L ist für männliche Mäuse ermittelt und gilt insofern für männliche Mäuse wie sie in der NTP-Studie verwendet wurden. Verwendet man diese Expositions-Risikobeziehung wie die Expositions-Risikobeziehung beim Menschen, dann ist darin eine große prinzipielle Unsicherheit enthalten: Ist „der Mensch“ genauso empfindlich wie die männlichen Mäuse der NTP-Studie? Diese Frage ist ungeklärt. 2 Unter einer fraktalen Dimension verstehe ich eine Größe mit einer nicht-ganzzahligen „Anzahl“ von Dimensionen. Bei der Oberfläche der Dünndarmschleimhaut handelt es sich vielleicht nicht um eine Fläche mit 2 Dimensionen, sondern um ein „Zwischending“ zwischen Fläche und Raumkörper, also z.B. in 2,5 Dimensionen. Unter dem Titel „Body surface area misconceptions“ hat Slone (1993) dieses Problem u.a. am Beispiel der Länge der Küste Britanniens verdeutlicht. Es gibt in der Literatur sehr unterschiedliche Angaben zur Länge der Küste Britanniens. Offenbar gibt es kein eindeutiges Ergeb- nis, sondern das Ergebnis hängt vom Maßstab ab: Je feiner der Maßstab, d.h. je mehr kleine Buchten, einzelne Felsen oder gar Steine vermessen werden, umso größer ist der Wert für die Länge der Küste. In diesem Sinne spricht Slone (1993) auch der Lunge die Eigenschaft fraktaler Dimension zu und zieht dies auch für die Körperoberfläche in Betracht.
19 In Tab. 5 sind weitere Expositions-Risiko-Relationen aufgeführt, welche unterschied- lichen Speziesextrapolationsmethoden entsprechen. Dazu wurden die EC10- bzw. EA10-Werte von Abschnitt 2.5.1 (bzw. die entsprechenden EC- und EA-Werte für das Risiko 1 : 1 Million) nach folgenden Formeln umgerechnet: ARM Tier BezugsgrößeMensch EC Mensch = ECTier ARM Mensch BezugsgrößeTier KörpergewichtTier BezugsgrößeMensch EC Mensch = EATier ARM Mensch BezugsgrößeTier mit: ARM: Aufnahmerate des Mediums, z.B. Atemzeitvolumen, Trinkwasseraufnahme je Tag Bezugsgröße: z.B. Zahlenwert des Körpergewichts (in kg) hoch ¾, Alveolaroberfläche, Intestinaloberfläche In der zweiten Datenzeile von Tab. 5 ist das Ergebnis einer Extrapolation mittels der Zufuhrrate unter Scaling nach Grundumsatz aufgeführt. Gegenüber der ersten Zeile enthält dieses Ergebnis weitere Mess-Unsicherheiten. Dort liegt nämlich als Dosis- maß die Zufuhrrate gemäß der 2. Spalte von Tab. 2 zugrunde. Zur Angabe der mittleren Zufuhrraten in mg/kg/d je Dosisgruppe waren bei NTP (2008) sowohl die Körpergewichte als auch die täglich konsumierten Trinkwassermengen zu messen und in die Berechnung einzubeziehen. Im Hinblick auf den Prozess der Kanzeroge- nese ist dabei die Angabe über die gesamte Versuchszeit gemittelter Zufuhrraten unbefriedigend. Die Zufuhrraten mögen im Laufe des Versuchs - bei konstanter Cr- Konzentration im Trinkwasser - variieren. Es wäre (akademisch) wünschenswert, dies im Rahmen eines Dosis-Zeit-Risikomodells mit zeitlich variabler Dosisrate zu berücksichtigen (ich rechne dabei allerdings nicht mit grundlegend anderen Ergeb- nissen). Das Ergebnis in der 2. Datenzeile von Tab. 5 steht nicht mehr wie die erste Datenzeile für die Expositions-Risikobeziehung der Mäuse. Sie enthält vielmehr die Annahme, dass dieselben mittleren Zufuhrraten bei verschiedenen Spezies dann dasselbe expositionsbedingte Krebsrisiko verursachen, wenn außerdem ein Scaling mit einem Exponenten von 0,75 für das Körpergewicht vorgenommen wird. Diese allometrische Umrechnung wird üblicherweise als „Scaling nach Grundumsatz“ bezeichnet. White und Seymour (2005) haben publiziert, dass unterschiedliche allometrische Exponenten mit verschiedenen Maßen des Energieumsatzes kor- respondieren. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass für die „true Basal Metabolic Rate“ ein Exponent in Höhe von 0,686 anzusetzen ist. Naturwissenschaftlich ist die Frage ungeklärt, ob die Zufuhrrate mit einem allometrischen Scaling eher mit dem Exponenten 0,75 oder dem Exponenten 0,686 zu einer besseren Risikoabschätzung für den Menschen führt. Falls Maus und Mensch unter Berücksichtigung eines allometrischen Exponenten 0,686 bei gleichen lebenslangen Zufuhrraten von Cr(VI) dasselbe expositionsbedingte Krebsrisiko erleiden, dann bedeutet dies, dass bei der Maus 270 ng/L mit einem Risiko von 1 zu 1 Million verbunden sind, beim Menschen dazu aber nur eine Konzentration von 81 ng/L benötigt wird. Bezogen auf die Stoffkonzentration im Umweltmedium wäre „der Mensch“ dann also um einen Faktor von mehr als 3 empfindlicher als „die Maus“.
20 Es wurde auch vermutet, dass Menschen und Mäuse genau dann dasselbe stoff- bedingte Krebsrisiko erleiden könnten, wenn die Zufuhrraten von Cr(VI) mit dem Trinkwasser bezogen auf die Intestinaloberfläche gleich sind. Die dritte und siebente Datenzeile von Tab. 5 geben jeweils ein Ergebnis, wenn als Intestinaloberflächen die von mir abgeschätzten „Röhrenflächen“ angenommen werden. Diese beiden Daten- zeilen zeigen, dass es hier unerheblich ist, ob von der EC oder der EA ausgegangen wird, obwohl (wie oben dargestellt) die experimentellen Konzentrationen im Trink- wasser und die experimentellen mittleren Zufuhrraten nicht zu einer exakt gleichen Form der Expositions-Risikobeziehungen führen (Bild 4). Von großem Einfluss auf das Ergebnis ist es dagegen, welcher Faktor für die Oberflächenvergrößerung der menschlichen Dünndarmschleimhaut im Vergleich zu Mäusen angesetzt wird. Intuitiv könnte man vermuten, dass dieselbe Cr-Konzentration im Trinkwasser ein höheres Risiko verursachen würde, wenn die Besatzdichte potentieller Zielzellen durch Auffaltungen der Mucosa vergrößert würde, wenn also relativ mehr Zielzellen eine „Angriffsfläche“ böten. Ein Organismus mit einer relativ kleinen Zahl potentieller Zielzellen bzw. geringen Zelldichte hätte dabei ein geringeres Risiko. Dies entspricht aber nicht der Logik dieser Extrapolationsmethode. Vielmehr wird dabei angenom- men, dass der Organismus erst dann ein gleiches Krebsrisiko erleidet, wenn die Kanzerogendosis je Zelle gleich ist. Wenn also mehr Zellen vorhanden sind, dann müssen auch umso mehr Kanzerogeneinheiten zugeführt werden, um dasselbe Risiko für den Organismus zu erreichen. Damit ist zwingend verbunden, dass dann entweder die Empfindlichkeit je Zelle stark verringert sein muss oder dass andere (unbekannte) kompensierende Mechanismen vorhanden sind3. Nach Datenzeile 6 von Tab. 5 müsste eine Cr(VI)-Konzentration von 40.000 ng/L = 40 µg/L vorhanden sein, um ein Risiko von 1 zu 1 Million zu erreichen, falls die resorptive Dünndarm- oberfläche des Menschen entscheidend wäre und sich die resorptive Dünndarmober- fläche der Maus dagegen kaum von meiner „Röhrenschätzung“ unterscheiden würde. Der Mensch wäre bezogen auf das Umweltmedium dann um einen Faktor von mehr als 100 weniger empfindlich als die Mäuse, und die einzelnen Darmepithel- zellen des Menschen müssten ganz erheblich weniger empfindlich sein als die entsprechenden Zellen der Mäuse. Sicherlich ist der Vergleich der resorptiven Oberfläche von 180 m2 mit dem einfachen Röhrenmodell für Mäuse von 25 cm2 ein Extrembeispiel. Tab. 5 zeigt aber, dass beträchtliche neue Aussageunsicherheiten durch den Wunsch eingeführt werden können, „physiologisch“ und „anatomisch“ begründete Speziesextrapolations- methoden benutzen zu wollen. Letztlich sollten empirische Daten vorliegen, welche solche Extrapolationsmethoden rechtfertigen. Bei ihrem umfangreichen Vergleich expositionsbezogener Krebsrisiken bei Versuchstieren und in der Epidemiologie haben Roller et al. (2006) keine Hinweise auf einen relativ besseren Speziesextra- polationsmaßstab gefunden als die Stoffkonzentrationen in der Umwelt. Denselben Schluss muss man aus dem unteren Teil von Tab. 5 ziehen, in dem die Extrapolation über die Dosis je cm2 Alveolaroberfläche mit der Cr(VI)-Konzentration in der Luft hin- sichtlich des Lungentumorrisikos von Mensch und Ratte verglichen ist. In Abschnitt 2.2 ist erläutert, dass man für Ratten einen Schwellenwert in Höhe von zirka 200 µg/m3 für ein Arbeitsplatz-Expositionszeitmuster aus dem Inhalationsversuch von 3 Eine solche notwendige Voraussetzung einer ganz erheblich geringeren Empfindlichkeit je Zelle gegenüber dem ultimalen Kanzerogen (bei gleichzeitig gleicher Empfindlichkeit hinsichtlich nicht- kanzerogener Wirkung) wird in der regulatorischen Toxikologie kaum thematisiert.
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