Potentielle Schädlichkeit von Chrom im Trinkwasser

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Potentielle Schädlichkeit von Chrom im Trinkwasser

      Einordnung der epidemiologischen Befunde
   zum Krebsrisiko nach Exposition von Populationen
         gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser
     und Vorschlag zur Ableitung einer Expositions-
                   Risikobeziehung

                             Bericht zum Sondervorhaben
                                des Umweltbundesamtes
                                         FKZ 363 01 399

                                                           2012

                                                 Dr. Markus Roller
                              Beratungsbüro für Risikoabschätzung
                                                     Doldenweg 14
                                                D-44229 Dortmund
2

Inhaltsverzeichnis
                                                                               Seite
Kurzfassung                                                                       3
1.      Einleitung                                                                4
2.    Hintergrund                                                                 5
2.1   Lungenkrebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom in
      der Luft am Arbeitsplatz                                                    5
2.2   Lungentumorrisiko von Ratten nach Inhalation von Chrom(VI)                  5
2.3   Tumorrisiko von Ratten nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im
      Trinkwasser                                                                 9
2.4   Tumorrisiko von Mäusen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im
      Trinkwasser                                                                10
2.5   Quantitative Risikoabschätzung anhand der Daten nach Exposition von
      männlichen Mäusen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser                       12
2.5.1 Expositions-Risikobeziehung für die beiden bei NTP (2008) aufgeführten
      Dosismaße                                                                  12
2.5.2 Quantitative Risikoabschätzung unter Anwendung unterschiedlicher
      Speziesextrapolationen                                                     14
3.    Epidemiologische Daten zum Krebsrisiko nach oraler Cr(VI)-Aufnahme         22
3.1   Epidemiologische Studien zur Trinkwasserexposition in China                22
3.1.1 Rekonstruktion der Datenlage und des Studienhergangs                       22
3.1.2 Bewertung der Daten von Beaumont et al. (2008) sowie Kerger et
      al. (2009a)                                                                30
3.1.3 Mögliche Expositions-Risikobeziehungen aufgrund der chinesischen
      Daten                                                                      32
3.2   Epidemiologische Studien zur Trinkwasserexposition in Griechenland         36
3.3   Krebsrisiko (außer Lungenkrebs) nach inhalativer Exposition                37
4.      Wirkungsmechanismus und Problematik wissenschaftlicher
        Unsicherheiten im bewertungsrelevanten Bereich                           44
5.      Zusammenfassung und Schlussfolgerungen                                   50
6.      Literatur                                                                52
Anhang A
Monte-Carlo-Simulation zur Untersuchung der Aussagekraft von Schwellenwert-
Modellen                                                                         62
Anhang B
Biologisch-basiertes Modell zur Frage der Bedeutung des Vorliegens
von zwei oder mehr Mechanismen bei der chemischen Kanzerogenese                  65
Anhang C
Hintergründe im Zusammenhang mit den Publikationen von Zhang
und Li (1997) und Kerger et al. (2009a)                                          70
Anhang D
Anmerkungen zur Publikation von Gatto et al. (2010)                              74
Anhang E
Abschätzungen der jährlichen Krebsfallzahl in einem Expositionsszenario          76
3

Potentielle Schädlichkeit von Chrom im Trinkwasser
Einordnung der epidemiologischen Befunde zum Krebsrisiko nach Exposition von
Populationen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser und Vorschlag zur Ableitung
einer Expositions-Risikobeziehung

Kurzfassung

Epidemiologische Studien haben deutlich erhöhte Lungenkrebsrisiken nach beruf-
licher Exposition gegenüber Chrom(VI) gezeigt. Tierexperimentelle Daten zur Kanze-
rogenität von Cr(VI) nach Inhalation liegen nur in begrenztem Maße vor. Nach den
vorliegenden Daten sind Ratten bezogen auf die Langzeit-Konzentration in der Luft
als deutlich weniger empfindlich hinsichtlich der Lungenkrebs erzeugenden Wirkung
von Cr(VI) als Menschen anzusehen. Eine Speziesextrapolationsrechnung anhand
der Dosis bezogen auf Alveolaroberfläche führt zu einer noch größeren Diskrepanz.
In einer großen Langzeitstudie wurden durch Natriumdichromat im Trinkwasser so-
wohl bei Ratten als auch bei Mäusen Tumoren des Verdauungstrakts induziert. Eine
epidemiologische Studie in einer Region Chinas, in der Cr(VI)-Kontaminationen des
Trinkwassers mit akuten Vergiftungssymptomen auftraten, begründet mit einem rela-
tiven Risiko von 1,7 einen Verdacht auf einen Kausalzusammenhang zwischen der
oralen Cr-Aufnahme und Magenkrebs, kann diesen aber nicht zweifelsfrei beweisen.
Auch hier ergibt sich rechnerisch aus den epidemiologischen Daten ein höheres ex-
positionsbezogenes Risiko als bei der empfindlichsten Tierspezies; auch hier ver-
größert eine Speziesextrapolationsrechnung anhand der Dosis bezogen auf Ge-
websoberfläche die Diskrepanz. Ähnliches gilt grundsätzlich für Daten nach Trink-
wasserkontaminationen in Griechenland und bezüglich eines etwaigen Risikos für
den Gastrointestinaltrakt durch verschlucktes Cr nach Arbeitsplatzexposition. Zur
Interpretation der Studien über Wirkungsmechanismen der Cr(VI)-Kanzerogenese
liefert die Literatur ein breites Spektrum, einschließlich der Stützung einer linearen
Expositions-Risikobeziehung. Bei einem vom Umweltbundesamt veranstalteten
Fachgespräch am 23.1.2012 bestand Konsens, aufgrund der vorliegenden Informa-
tionen aus epidemiologischen Studien und Langzeit-Kanzerogenitätsversuchen so-
wie der Bewertung der Wirkungsmechanismen eine lineare Extrapolation zur regu-
latorischen Bewertung von Cr(VI)-Konzentrationen im Trinkwasser zu verwenden.
Aufgrund der Daten der männlichen Mäuse der Langzeitstudie des National Toxico-
logy Program ist einer Konzentration von 50 µg Cr(VI)/L mittels linearer Interpolation
zur so genannten BMD10 ein expositionsbedingtes Lebenszeit-Krebsrisiko in Höhe
von 2 zu 10.000 zuzuordnen, einer Konzentration von 270 ng Cr(VI)/L in Höhe von
1 zu 1 Million. Extrapolationen mittels Mehrstufenmodellen der Kanzerogenese (auch
unter der Annahme von mehr als einem aktiven Wirkungsmechanismus) unterschei-
den sich von diesen Ergebnissen nur geringfügig. Die - begrenzt aussagefähigen -
Daten aus epidemiologischen Studien zur oralen Cr-Aufnahme sprechen eher für ein
höheres expositionsbezogenes Risiko. Eine Speziesextrapolationsmethode, die zu
einem niedrigeren expositionsbezogenen Risiko führt, hier z.B. ein Scaling anhand
der Oberfläche des Gastrointestinaltrakts, ist daher nicht angezeigt. Bei einem expo-
sitionsbedingten Lebenszeit-Krebsrisiko in Höhe von 1 zu 1 Million ist in einer Bevöl-
kerung wie Deutschland jährlich im statistischen Mittel mit weniger als 1 expositions-
bedingten Krebserkrankung zu rechnen.
4

1.    Einleitung

Epidemiologische Studien haben deutlich erhöhte Lungenkrebsrisiken nach beruf-
licher Exposition gegenüber Chrom(VI) gezeigt. Demgemäß und aufgrund weiterer
Daten wurde Chromtrioxid gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 bzw. der
Verordnung (EG) Nr. 790/2009 als krebserzeugend beim Menschen, nicht nur nach
Inhalation, eingestuft: Carc. 1A H350 (Stoffe, die bekanntermaßen beim Menschen
karzinogen sind), zusätzlich Muta. 1B H340. Auch für andere Chrom(VI)-Verbindun-
gen erfolgten EU-Legaleinstufungen. Zinkchromate einschließlich Zink-Kalium-
chromat wurden ebenfalls nach Carc. 1A H350, jedoch ohne Muta.Cat. eingestuft.
Grundsätzlich (d.h. mit Ausnahme von Bariumchromat sowie den dort namentlich
genannten) wurden Chrom(VI)-Verbindungen nach Carc. 1B H350i eingestuft.
Zusätzlich zu Carc. 1B erfolgte außerdem z.B. bei Natrium- und Kaliumchromat
sowie -dichromat eine Einstufung nach Muta. 1B H340. Die DFG (2011) führt
Chrom(VI)-Verbindungen (einatembare Fraktion) als „Stoffe, die beim Menschen
Krebs erzeugen und bei denen davon auszugehen ist, dass sie einen Beitrag zum
Krebsrisiko leisten“ (Kanzerogenitäts-Kategorie 1).

Zur Frage der quantitativen Beziehungen zwischen einer Exposition des Menschen
gegenüber Chrom(VI) sollen hier insbesondere die empirischen Informationen aus
folgenden fünf Datenbereichen betrachtet werden:

• Lungenkrebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) in der
  Luft am Arbeitsplatz
• Lungentumorrisiko von Ratten nach Inhalation von Chrom(VI)
• Tumorrisiko von Ratten nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser
• Tumorrisiko von Mäusen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser
• Krebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser

Die vorliegende Stellungnahme zielt ganz besonders auf die Fragen ab, ob sich
anhand der epidemiologischen Daten nach Exposition über das Trinkwasser quanti-
tative Informationen zu einer Expositions-Risikobeziehung (ERB) gewinnen lassen
bzw. mit welchen Annahmen über eine mögliche Expositions-Risikobeziehung diese
Daten vereinbar sind. Darauf wird hier im 3. Kapitel eingegangen. Als Daten-Hinter-
grund oder Daten-Umfeld werden im 2. Kapitel zunächst die Informationen aus den
ersten vier Bereichen betrachtet und quantitative Expositions-Risikobeziehungen
anhand der experimentellen Trinkwasserstudien abgeleitet. Im 4. Kapitel werden
Fragen im Zusammenhang mit möglichen Wirkungsmechanismen der Chrom-
Kanzerogenese angesprochen.

Ein Entwurf dieser Stellungnahme wurde in einem Fachgespräch am 23. Januar
2012 mit folgenden Teilnehmern unter Leitung von Mitarbeitern des Umweltbundes-
amtes diskutiert: Dr. Ute Bäumer (Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimen-
telle Medizin, ITEM), Dr. Hermann H. Dieter (Umweltbundesamt), Dr. Alexander Eck-
hardt (Umweltbundesamt), Prof. Dr. Andrea Hartwig (Karlsruher Institut für Technolo-
gie, KIT), Prof. Dr. Dr. Uwe Heinrich (Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experi-
mentelle Medizin, ITEM), Rainer Konietzka (Umweltbundesamt), Dr. Markus Roller
(Beratungsbüro für Risikoabschätzung, BMR). Ergebnisse dieses Fachgesprächs
werden an geeigneten Stellen in diesem Bericht erwähnt.
5

2.    Hintergrund

2.1   Lungenkrebsrisiko des Menschen nach Exposition gegenüber Chrom in der
      Luft am Arbeitsplatz

Im Auftrag der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI)
habe ich im Rahmen einer quantitativen Risikoabschätzung für die inhalative Exposi-
tion am Arbeitsplatz den diesbezüglichen epidemiologischen (und den tierexperimen-
tellen) Kenntnisstand aktualisiert ausgewertet (Roller, 2010a). Zuvor haben OSHA
(2006) und Roller et al. (2006) unabhängig voneinander bereits quantitative Risiko-
abschätzungen für das Lungenkrebsrisiko nach Inhalation von Chrom(VI) am Arbeits-
platz veröffentlicht. Grundlage waren insbesondere Publikationen von Mancuso
(1997), Braver et al. (1985), Gibb et al. (2000), Luippold et al. (2003) und Sorahan et
al. (1998a,b). Die epidemiologischen Daten für Cr(VI) einschließlich der Expositions-
daten sind nach Einschätzungen bei OSHA (2006) als besonders aussagefähig
anzusehen: „The Gibb et al. study was a particularly strong study for quantitative risk
assessment, especially in terms of cohort size and historical exposure data.“ „The
epidemiologic database is quite extensive and contains several studies with expo-
sure and response data that could potentially be used for quantitative risk assess-
ment.“ „In the case of the Gibb cohort, the exposure dataset is extraordinarily com-
prehensive and well-documented (..), even ‘‘exquisite’’ according to one NIOSH
expert (..)“ „Since the analyses based on these two cohorts are each of high quality
and their projected risks are reasonably close (well within an order of magnitude),
OSHA believes the excess lifetime risk of lung cancer from occupational exposure to
Cr(VI) is best represented by the range of risks that lie between maximum likelihood
estimates of the Gibb and Luippold data sets.“

Nach den Analysen ist einer 40jährigen Exposition gegenüber einem Langzeit-Mittel-
wert von 1 µg Cr(VI)/m3 ein zusätzliches expositionsbedingtes Lungenkrebsrisiko im
Bereich von 2 zu 1.000 bis 9 zu 1.000 zuzuordnen. Eine Verdopplung des Lungen-
krebsrisikos wurde in den Studien bei kumulativen Expositionen festgestellt, die
Langzeit-Mittelwerten im Bereich von 5 bis 25 µg Cr(VI)/m3 entsprechen. Weitere
Studien bzw. Analysen sind mit diesen Ergebnissen vereinbar (Mundt et al., 2002;
Crump et al., 2003; Park et al., 2004; Luippold et al., 2005; Birk et al., 2006; Gold-
bohm et al., 2006; Park und Stayner, 2006).

In von der betroffenen Industrie finanzierten Publikationen wurden die epidemiolo-
gischen Daten teilweise als Hinweis auf eine Wirkungsschwelle oder zumindest als
mit einer Wirkungsschwelle vereinbar interpretiert (Luippold et al., 2003; Crump et al.,
2003; Birk et al., 2006). Bei Roller (2010a) ist eingehend dargestellt, dass aber allein
auf Basis der epidemiologischen Daten eine Wirkungsschwelle nicht zu begründen
ist. In einer Publikation aus einem Forschungsinstitut der Berufsgenossenschaften
(Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) wurden die epidemiologischen Daten als
ungeeignet für quantitative Aussagen bewertet (Pesch et al., 2008).

2.2   Lungentumorrisiko von Ratten nach Inhalation von Chrom(VI)

Es gibt nur einen einzigen Langzeit-Inhalationsversuch mit Ratten, der für quantita-
tive Risikoabschätzungen zur Cr-Kanzerogenität verwendet werden kann (Glaser et
al., 1986). Bild 1 zeigt die Daten. Die Lage der Datenpunkte scheint eine Wirkungs-
6

schwelle nahezulegen. Dies ist von besonderem Interesse im Hinblick auf die mög-
lichen Wirkungsmechanismen. Dem so genannten Wirkungsmechanismus bzw. dem
so genannten Wirkprinzip von Kanzerogenen wird in der regulatorischen Toxikologie
heute große Bedeutung beigemessen. Publikationen von Neumann et al. (1997a,b),
Greim (2001) und Hengstler et al. (2003) haben dabei Wegmarken gesetzt. Aus den
Publikationen und aus Gesprächen in Gremien lässt sich schließen, dass für einen
krebserzeugenden Stoff ohne eingehendere Diskussion am ehesten dann nicht von
einer Wirkungsschwelle ausgegangen wird, wenn der Stoff oder einer seiner im
Stoffwechsel regelmäßig gebildeten Metaboliten kovalent an DNA binden und so
Punktmutationen (nachweisbar im Ames-Test) verursachen können. In allen anderen
Fällen steht letztlich (ob berechtigt oder nicht) die These einer Wirkungsschwelle im
Raum und muss eingehender erörtert werden. Im 4. Kapitel werden grundlegende
Fragen zu möglichen Mechanismen der Cr-Kanzerogenese diskutiert und es wird auf
die Ergebnisse des in der Einleitung genannten Fachgesprächs Bezug genommen.
Hier sollen zunächst die Daten der Langzeit-Tierversuche auf ihren empirischen
Informationsgehalt hinsichtlich einer Wirkungsschwelle geprüft werden.

Zu diesem Zweck wird ein Twostage-Threshold-Modell (TST-Modell) verwendet, das
sich folgendermaßen formulieren lässt:
P * ( D) = 1 − e − (b0 + b1 ⋅D + b2 ⋅D
                                         2
                                             )

mit
   0                  wenn d ≤θ
D=                                .
    d −θ              andernfalls
Dabei bedeuten:
P*(D):          Lebenszeitrisiko für die zur Diskussion stehenden Tumoren
d:              Dosis
θ:              Dosisschwelle
b0, b1, b2:     zu ermittelnde Modellparameter

Bild 1 zeigt in Form der dünnen schwarzen Kurve die Maximum-Likelihood-Schät-
zung des dosisabhängigen Lebenszeitrisikos gemäß dem TST-Modell. Erwartungs-
gemäß erhält man einen relativ hohen Schätzwert eines Dosis-Schwellenwertes:
201,6 µg/m3. Die Gruppengrößen in dem Versuch sind aber relativ klein, damit ist die
statistische Aussagesicherheit der Daten relativ gering. Dies lässt sich in Form eines
alternativen Modellverlaufs deutlich machen, der statistisch nicht-signifikant von der
Maximum-Likelihood-Schätzung verschieden ist, in Bild 1 durch eine dickere graue
Kurve markiert. Dieser Modellverlauf wurde erhalten, indem derjenige höchste Wert
für den Parameter b1 des linearen Terms gesucht wurde, der für θ gleich Null bei
Maximierung der Likelihoodfunktion hinsichtlich der übrigen Modellparameter gerade
nicht zu einer signifikant unterschiedlichen Likelihood führt (α = 0,05, einseitige
Fragestellung; hier Log-Likelihood für θ = 201,6: -12,180; Log-Likelihood-Differenz1
„alternatives Modell“: 13,533 - 12,180 = 1,353). Dieser Modellverlauf ist so etwas wie
eine obere 95%-Konfidenzgrenze des TST-Modells im unteren Dosisbereich. Dabei

1
  Beim so genannten Likelihood-Quotienten-Test kann eine Log-Likelihood-Differenz geprüft werden,
                                                   2
indem das Zweifache dieser Differenz mit der Chi -Verteilung verglichen wird. Hier 2 mal 1,353 =
              2
2,706; die Chi -Verteilung mit 1 Freiheitsgrad ergibt für 2,706 den p-Wert 0,10, was bei einseitiger
Fragestellung einem p-Wert von 0,05 entspricht.
7

ist also zunächst festzustellen: Die Wirkungsschwelle ist nicht signifikant. Darüber
hinaus stellt ein Modell mit einem praktisch linearen Verlauf zwischen dem Nullpunkt
und dem Punkt bei der niedrigsten von Null verschiedenen Tumorhäufigkeit kein
statistisch signifikant schlechteres Modell dar als die Maximum-Likelihood-Schätzung
des Schwellen-Modells.

         % Lebenszeit-Lungentumorrisiko der Ratten
         20 der Studie von Glaser et al. (1986)                    Inhalation

          15

          10
                   alternativer Verlauf
           5       (95%-Konf.grenze des
                   TST-Modells)
                                          TST-Modell
           0
               0                  200               400
                   Langzeit-Mittelwert der Cr(VI)-Konz. [µg/m3]
                   (Arbeitsplatz-Szenario)

Bild 1   Dosis-Risiko- und Schwellenanalyse der Daten des Kanzerogenitäts-
         versuchs von Glaser et al. (1986).

Im Vergleich zu den epidemiologischen Daten ist außerdem festzuhalten, dass bei
den Ratten bis zu einem Langzeit-Mittelwert von zirka 200 µg Cr(VI)/m3 keine von
Null verschiedene Tumorhäufigkeit aufgetreten ist. Dies steht in deutlichem Gegen-
satz zu den epidemiologischen Daten am Arbeitsplatz, wo signifikant erhöhte
Lungenkrebsrisiken bei Langzeit-Mittelwerten von weniger als 40 µg/m3 festgestellt
wurden. Roller et al. (2006) haben eine um einen Faktor von zirka 10 höhere
kanzerogene Potenz von Cr(VI) für die menschliche Lunge im Vergleich mit den
Ratten der Studie von Glaser er al. (1986) berechnet. Tatsächlich ist für den umwelt-
relevanten Expositionsbereich ein eher größerer Unterschied anzunehmen, weil die
Berechnungen von Roller et al. (2006) auf Werten des „beobachtbaren Risikobe-
reichs“ beruhen und die experimentellen Daten einen sublinearen Verlauf mit „Null-
Tumorhäufigkeiten“ im Bereich arbeitsplatztypischer Expositionen (bei epidemio-
logisch erkennbar erhöhten Risiken) aufweisen.

Wichtige Anmerkung!
Im vorliegenden Fall hat die Schwellenanalyse ganz klar ergeben, dass keine statis-
tische Signifikanz für eine Schwelle besteht. Es ist aber zu betonen, dass solche
Analysen generell unsicher sind, auch dann wenn sich statistische Signifikanz für
einen Schwellenwert ergibt. Solche Versuchsdaten sind nicht geeignet, Tumorrisiken
von z.B. 1 % und von Null voneinander zu unterscheiden, auch nicht mit scheinbar
anspruchsvollen mathematischen Verfahren. In Anhang A habe ich eine Analyse mit
so genannter Monte-Carlo-Simulation beschrieben. Dabei wurde mit dem TST-
Modell in vier von fünf Beispielen, in denen in Wahrheit keine Schwelle bestand, ein
Schwellenwert als Maximum-Likelihood-Schätzung erhalten. Davon war der Schwel-
lenwert in zwei Beispielen statistisch signifikant. In einem Beispiel lag der Schwellen-
wert in Höhe einer Dosis, die in Wahrheit ein Exzess-Risiko in Höhe von zirka 6 %
8

verursacht. Diese Beispiele zeigen, dass keine Gewähr für eine Wirkungsschwelle
besteht, selbst wenn mit einem Schwellenwert-Modell ein statistisch signifikanter
Schwellenwert berechnet wird!

         % Lebenszeit-Risiko für bestimmte Tumoren
         15 bei männl. Ratten der Studie von NTP (2008)

          10
                                                                    Trinkwasser
                    alternativer Verlauf
           5        (95%-Konf.grenze)

                                          TST-Modell
           0
               0                2            4              6
                         Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d]

          % Lebenszeit-Risiko für bestimmte Tumoren
          30 bei weibl. Ratten der Studie von NTP (2008)

          20

                   alternativer Verlauf
          10       (95%-Konf.grenze)

                                           TST-Modell
           0
               0            2           4           6           8
                         Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d]

Bild 2   Dosis-Risiko- und Schwellenanalyse der Daten des Kanzerogenitäts-
         versuchs mit Ratten von NTP (2008). Bei den Tumoren, welche hier die
         Prozentsätze von Tieren mit „bestimmten Tumoren“ bilden, handelt es sich
         um Plattenepithelpapillome bzw. -karzinome von Mundschleimhaut bzw.
         Zunge.

Das Twostage-Modell ist ein spezieller Fall eines Multistage-Modells. Das Multistage-
Modell beruht ursprünglich auf mechanistischen Vorstellungen zum Mehrstufenpro-
zess der Krebsentstehung (siehe auch Anhang B). Dabei ist angenommen, dass ein
Stoff direkt (primär gentoxisch) mutagen auf mehr als 1 Stufe des Mehrstufenprozes-
ses der Krebsentstehung wirkt. Unter diesen Bedingungen ergibt sich eine sublineare
(nach unten durchhängende, insgesamt S-förmige) Form der Beziehung zwischen
Dosis und Tumorrisiko. Wie auch meine Simulationsrechnungen gezeigt haben, be-
steht die „Tücke“ bei der Auswertung solcher Daten in folgender Eigenschaft: Wenn
ein mathematisches Schwellen-Modell an die experimentellen Ausprägungen eines
solchen in Wahrheit sublinearen Risikoverlaufs (ohne Schwelle) mittels Regressions-
analyse „angepasst“ wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass sich die
9

„beste Anpassung“ mit einem Schwellenwert größer als Null ergibt. Offensichtlich hat
dies mit den mathematischen Eigenschaften des Verfahrens zu tun.

2.3      Tumorrisiko von Ratten nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser

Bild 2 zeigt die Datenlage der Langzeit-Kanzerogenitätsstudie mit Cr(VI)-Gabe über
das Trinkwasser an männliche und weibliche Ratten (NTP, 2008). Ähnlich wie die
Daten des Inhalationsversuchs an Ratten (Bild 1) scheinen die Daten eine Wirkungs-
schwelle nahe zu legen. Ich habe die Daten mit derselben Methode (wie 2.2) anhand
des TST-Modells analysiert, und wiederum ähnlich wie bei dem Inhalationsversuch
ist festzustellen, dass die Dosisschwelle statistisch nicht-signifikant ist, sondern
stattdessen die Datenlage auch mit einem alternativen Verlauf mit einer Niedrigdosis-
Linearität vereinbar ist. Dies gilt sowohl für die männlichen als auch die weiblichen
Tiere (graue Kurven in Bild 2).

           % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren
            50 bei männl. Mäusen der Studie von NTP (2008)

            40
                                                                      Trinkwasser
            30

            20                          TST-Modell
                                        (ML-Schätzung des
            10                          Schwellenwertes = 0)

             0
                 0        2           4           6            8
                       Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d]

           % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren
           100   bei weibl. Mäusen der Studie von NTP (2008)

            80          TST-Modell                      alternativer Verlauf
                        (ohne höchste                   (95%-Konf.grenze;
            60          Dosis)                          ohne höchste Dosis)

            40

            20               Modell der männl. Mäuse

             0
                 0      2        4         6        8       10
                       Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d]

Bild 3     Dosis-Risiko- und Schwellenanalyse der Daten des Kanzerogenitätsver-
           suchs mit Mäusen von NTP (2008). Bei den Tumoren, welche hier die Pro-
           zentsätze von Tieren mit „Dünndarmtumoren“ bilden, handelt es sich um
           Adenome bzw. Karzinome von Duodenum, Jejunum bzw. Ileum.
10

2.4   Tumorrisiko von Mäusen nach Exposition gegenüber Chrom(VI) im
      Trinkwasser

Bild 3 zeigt die Datenlage der Langzeit-Kanzerogenitätsstudie mit Cr(VI)-Gabe über
das Trinkwasser an männliche und weibliche Mäuse (NTP, 2008). In der Diskussion
(und bei Kerger et al., 2009a) wurde zu diesem Versuch kritisch angemerkt, dass die
Wasseraufnahme der Mäuse gering gewesen sei und deshalb mit einer Dehydrie-
rung zu rechnen sei. Ich habe deshalb die Daten zur Trinkwasseraufnahme der Mäu-
se in dieser Studie mit Daten zur Trinkwasseraufnahme in NTP-Studien verglichen,
welche in den Jahren unmittelbar davor und danach veröffentlicht wurden. Tab. 1
enthält eine Auswahl dieser Daten; Auswahl bedeutet, dass einheitlich bei allen
Studien die Messwerte nach 4 Wochen, nach zirka einem Jahr und nach zirka einein-
halb Jahren herangezogen wurden. Dabei sind nur die Daten der männlichen Mäuse
betrachtet, weil dies die Spezies ist, welche von US EPA und Cal/EPA zur Risikoab-
schätzung für Cr(VI) im Trinkwasser verwendet wurde.

Die Tab. 1 zeigt, dass sich der Wasserverbrauch der männlichen Mäuse der Kontroll-
gruppe der Chrom-Studie (NTP, 2008) nicht auffällig vom Wasserverbrauch der
männlichen Mäuse der Kontrollgruppen von Trinkwasserstudien, die kurz davor oder
kurz danach durchgeführt wurden, unterscheidet. Die Verbrauchswerte sind durch-
weg niedriger als der Wert von 6 mL/d, der (für eine relativ junge Maus von 30 g Ge-
wicht) in Leitfäden oder Nachschlagewerken als „Standard“ genannt wird (die Körper-
gewichte der NTP-Mäuse liegen eher im Bereich von 50 g). Grund und Bedeutung
dieser tendenziell eher niedrigeren Werte der NTP-Studien sind mir unklar. Ich kann
nur feststellen, dass diese Werte für die NTP-Studien „normal“ zu sein scheinen. Die
Verbrauchswerte der unteren Dosisstufen der Chrom-Studie zeigen gegenüber
diesem „Standard“ keine auffällige Abweichung. Auch die Anzahl der Dosisstufen der
Chrom-Studie ist nicht zu kritisieren, im Gegenteil. Nach internationalen Richtlinien
sind für Kanzerogenitätsversuche 3 Dosisstufen vorgesehen. Dies ist auch bei den
meisten Studien der Tab. 1 der Fall. Bei zwei Studien - darunter die Chrom-Studie -
wurde eine weitere (vierte) Dosis geprüft. Dabei ist allerdings festzustellen, dass der
Wasserverbrauch bei dieser vierten (höchsten) Chromdosis auffällig niedriger ist als
bei den Kontrollen. Aus Figure 4 bei NTP (2008) ist zu erkennen, dass die Gewichts-
entwicklung der Mäuse der höchsten Dosisstufe gegenüber der Kontrolle (und den
unteren Dosen) verzögert war. Dabei war aber die Überlebensquote (2 Jahre) in der
höchsten Dosis mit 32/50 bei den männlichen (42/50 bei den weiblichen) Tieren nicht
(bzw. nicht bemerkenswert) geringer als bei den Kontrollen (männl.: 33/50; weibl.:
37/50). Etwa zu vermutende Einschränkungen der Aussagekraft der Tumorhäufig-
keiten der höchsten Dosisstufe wegen der verminderten Wasseraufnahme dürften
bei den männlichen Mäusen - wie Bild 3 zeigt - keine wesentliche Rolle für das
Ergebnis der Risikoabschätzung spielen, weil auch bei der dritten Dosis eine signifi-
kante Erhöhung der Tumorhäufigkeit auftrat und die oberste Dosisstufe den Verlauf
der Dosis-Risikobeziehung nicht wesentlich verändert.

Freilich kann man auch bei der dritten Dosisstufe einen etwas niedrigeren Wasser-
verbrauch als bei den Kontrollen und den beiden unteren Dosisstufen erkennen. Dies
trifft auch bei etlichen der anderen in Tab. 1 zitierten Studien mit verschiedenen
Stoffen zu. Sind damit alle diese Daten als ungeeignet für Risikoaussagen für den
11

Tab. 1   Wasserverbrauch der männlichen Mäuse in Kanzerogenitätsstudien des
         NTP mit Verabreichung von Stoffen im Trinkwasser; Veröffentlichungen von
         NTP (2005) bis NTP (2011).

   Jahr der               Wasserverbrauch der männlichen Mäuse [g/d]
  Veröffent-
                Kontrollen     1. Dosis        2. Dosis   3. Dosis   4. Dosis
   lichung
                                   4 Wochen
     2005           3,6           4,0            3,8        3,9         --
     2006                        nur weibliche Mäuse eingesetzt
     2007           4,3           4,3            4,0        3,9         --
  2008 (Cr)         3,8           3,7            3,9        3,5         2,5
     2009           4,2           3,9            3,9        4,0         --
     2010           3,7           3,6            2,8        2,6         --
     2011           4,5           4,9            5,2        5,0         5,1
                                 52-53 Wochen
     2005           3,8           3,6            3,7        3,7         --
     2006                        nur weibliche Mäuse eingesetzt
     2007           4,4           4,8            4,2        3,9         --
  2008 (Cr)         4,4           4,4            4,6        3,9         2,7
     2009           4,6           4,7            4,5        4,1         --
     2010           4,2           3,4            2,8        2,4         --
     2011           4,6           4,5            4,7        4,5         5,3
                                 76-77 Wochen
     2005           3,9           4,0            4,1        4,0         --
     2006                        nur weibliche Mäuse eingesetzt
     2007           4,6           4,6            4,6        4,5         --
  2008 (Cr)         5,0           4,9            5,0        4,2         3,3
     2009           5,3           5,2            5,0        4,6         --
     2010           5,1           3,8            3,3        2,9         --
     2011           5,0           4,8            5,5        4,8         3,5

Menschen zu betrachten? Meines Erachtens bleibt für eine - im Sinne des grund-
gesetzlich vorgesehenen Gesundheitsschutzes - verantwortungsvolle Durchführung
und Auswertung solcher Kanzerogenitätsversuche keine andere Wahl, als diese
Tumorhäufigkeiten zunächst zu nehmen wie sie beobachtet sind. Insbesondere von
Seiten derjenigen Industrien, welche die Stoffe produzieren oder von entsprechen-
12

den Kontaminationen betroffen sind, wird gefordert, toxikologische Untersuchungen
nur oder vor allem mit „realistischen“ Expositionen durchzuführen. Damit ließe sich
sicherlich auch in Kanzerogenitätsversuchen das Auftreten eventuell störender
sonstiger toxischer oder unerwünschter Effekte (z.B. verminderte Palatabilität des
Trinkwassers) vermeiden. Ich habe bereits mehrfach begründet, dass die Umsetzung
dieses Ansatzes aber letztlich die regulatorische Toxikologie ad absurdum führen
würde (Roller, 2007, 2010b, 2011).

Vor dem beschriebenen Hintergrund habe ich vorgeschlagen, die Daten der männ-
lichen Mäuse der Trinkwasser-Kanzerogenitätsstudie von NTP (2008) als grundsätz-
lich valide Kanzerogenitätsstudie zu behandeln und diese Daten - so wie sie sind -
auch für eine quantitative Risikoabschätzung für die Spezies „Maus“ zu verwenden.
Bei dem Fachgespräch am 23.1.2012 (s. Einleitung) wurde eingewandt, dass sich
bei den weiblichen Mäusen die höchste Empfindlichkeit zeige. Dies ist allerdings eine
Interpretationsfrage. Geht man vom BMD-Multistage-Modell ohne Schwellenwert
aus, dann ergibt sich rechnerisch im unteren Dosisbereich aus den Daten der weib-
lichen Mäuse tatsächlich eine höhere Steigung, d.h. eine höhere Empfindlichkeit, im
Vergleich mit den Daten der männlichen Mäuse (Roller, 2010a). Bild 3 zeigt dage-
gen, dass sich bei Anlegen eines Twostage-Threshold-Modells aus den Daten der
weiblichen Mäuse - rechnerisch, als Maximum-Likelihood-Schätzwert - eine Wir-
kungsschwelle, d.h. ein expositionsbedingtes Risiko von Null im untersten Dosisbe-
reich ergibt, während das Twostage-Threshold-Modell für die männlichen Mäuse
einen Maximum-Likelihood-Schätzwert für die Wirkungsschwelle in Höhe einer Dosis
von Null ergibt, somit ein höheres Risiko im untersten Dosisbereich (eine sichere
Aussage über eine Schwelle ist anhand der Daten aus den Langzeitversuchen nicht
möglich, s.o.). Die relativ geringe Erhöhung der Tumorhäufigkeit bei der vierten Dosis
im Vergleich zur dritten Dosis führt bei den weiblichen Mäusen zu Interpretationspro-
blemen. Den am besten konsistenten Dosis-Wirkungsverlauf zeigen die Daten der
männlichen Tiere. Bei dem Fachgespräch am 23.1.2012 bestand daher letztlich Kon-
sens, die Daten der männlichen Mäuse für eine Risikoabschätzung zu benutzen.
Auch US EPA und Cal/EPA haben für ihre Risikoabschätzungen diese Daten
benutzt.

2.5   Quantitative Risikoabschätzung anhand der Daten nach Exposition von
      männlichen Mäusen gegenüber Chrom(VI) im Trinkwasser

2.5.1 Expositions-Risikobeziehung für die beiden bei NTP (2008) aufgeführten
      Dosismaße

In dem Bericht von NTP (2008) sind zwei Dosismaße angegeben: Konzentration des
Stoffs im Trinkwasser und durchschnittliche körpergewichtsbezogene Zufuhrrate pro
Tag. Unter dem Oberbegriff „Stoff“ wollen wir hier nur die Masse der Cr(VI)-Ionen,
d.h. nicht die Masse des eingewogenen Natriumdichromatdihydrats verstehen. Tab.
2 enthält die Daten.
13

Tab. 2        Ergebnisse des Kanzerogenitätsversuchs mit Gabe von Natrium-
              dichromat (Na2Cr2O7 • 2H2O) mit dem Trinkwasser an männliche
              B6C3F1-Mäuse; Expositions- und Beobachtungsdauer 24 Monate
              (NTP, 2008)

    Chrom(VI)-Exposition           Anzahl       Männl. Mäuse mit Adenom oder
                                 untersuchte      Karzinom von Duodenum,
                                   männl.            Jejunum bzw. Ileum
                                   Mäuse
   Konz. im       Zufuhrrate                      Anzahl         Prozentsatz =
 Trinkwasser                                                    Schätzwert des
  [mg Cr/L]      [mg Cr/kg/d]                                    Tumorrisikos
         0              0             50             1                2,0 %
         5           0,38             50             3                6,0 %
      10             0,91             50             2                4,0 %
      30             2,44             50             7               14,0 %
      90             5,93             50             20              40,0 %

Auf Folgendes ist hinzuweisen: NTP (2008) gibt die Konzentration im Trinkwasser
unmittelbar sowohl bezogen auf die Substanz als auch auf Cr, die Zufuhrrate aber
nur bezogen auf die Substanz. Für Tab. 2 habe ich daher die Zufuhrraten an Na-
dichromatdihydrat anhand des Molekulargewichts der Substanz von 298,0 auf Cr
umgerechnet. Zu beachten ist, dass zwischen den Werten der Trinkwasserkonzen-
tration und Zufuhrrate kein mathematisch konstanter Umrechnungsfaktor über alle
Dosisstufen hinweg besteht. Dies ist auf die etwas unterschiedliche Körpergewichts-
entwicklung und den etwas unterschiedlichen Trinkwasserverbrauch in den einzelnen
Dosisgruppen zurückzuführen. Bei NTP (2008) sind auch die jeweiligen berechneten
Zufuhrraten der einzelnen Gruppen zu verschiedenen Versuchszeiten, d.h. bei unter-
schiedlichem Alter der Tiere, angegeben. Die in der Zusammenfassung genannten
und hier für Tab. 2 verwendeten Werte sind Durchschnittswerte über die gesamte
Versuchszeit. Da zwischen den Trinkwasserkonzentrationen und Zufuhrraten mathe-
matisch keine konstante Relation besteht, habe ich Regressionsanalysen getrennt
für die beiden Dosismaße durchgeführt (BMDS Version 2.2, Multistage-Cancer-
Modell). Die Form der Dosis-Risikobeziehung ist bei den beiden Dosismaßen etwas
unterschiedlich. Bild 4 zeigt Datenlage und Modell im Vergleich für beide Dosismaße.
Man erhält folgende Werte für die BMD10 (Maximum-Likelihood-Schätzwert):
Konz. im Trinkwasser:       BMD10 = EC10 = 26,6 mg Cr/L
Zufuhrrate:                 BMD10 = EA10 = 2,25 mg Cr/kg/d
Für die BMD10 ausgedrückt als Konzentration im Trinkwasser mag die Abkürzung
EC10 - für Effective Concentration - verwendet werden, für die BMD10 ausgedrückt als
Zufuhrrate die Abkürzung EA10 - für Effective Administration Rate. Bei Annahme
einer linearen Expositions-Risikobeziehung (ERB) ergibt sich demnach für männliche
B6C3F1-Mäuse ein Tumorrisiko in Höhe von 10 % durch lebenslangen Konsum von
Trinkwasser mit einer Cr(VI)-Konzentration von gerundet 27 mg/L, in Höhe von 1 zu
14

10.000 bei einer Cr(VI)-Konzentration von 27 µg/L und in Höhe von 1 zu 1 Million bei
einer Cr(VI)-Konzentration von 0,27 µg/L (270 ng/L).

         % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren
         50   bei männl. Mäusen der Studie von NTP (2008)

         40

         30

         20                           Multistage-Cancer-
                                      Modell
         10

          0
              0       20      40         60      80      100
                  Cr(VI)-Konzentration im Trinkwasser [mg/L]

         % Lebenszeit-Risiko für Dünndarmtumoren
         50    bei männl. Mäusen der Studie von NTP (2008)

         40

         30

         20                            Multistage-Cancer-
                                       Modell
         10

          0
              0     1     2      3      4      5      6
                     Spezifische Cr(VI)-Zufuhrrate [mg/kg/d]
Bild 4   Dosis-Risikoanalysen für die männlichen Mäuse des Kanzerogenitäts-
         versuchs von NTP (2008). Bei den Tumoren, welche hier die Prozentsätze
         von Tieren mit „Dünndarmtumoren“ bilden, handelt es sich um Adenome
         bzw. Karzinome von Duodenum, Jejunum bzw. Ileum.

2.5.2 Quantitative Risikoabschätzung unter Anwendung unterschiedlicher
      Speziesextrapolationen

Naturwissenschaftlich ist unklar, anhand welchen Dosismaßes oder Extrapolations-
maßstabes das bei männlichen Mäusen der NTP-Studie festgestellte Cr-bedingte
Tumorrisiko quantitativ korrekt auf den Menschen zu übertragen ist. Solche Kenntnis-
Unsicherheiten bestehen nicht nur im vorliegenden Fall einer Exposition gegenüber
Cr(VI) über das Trinkwasser, sondern generell bei krebserzeugenden Effekten.
Roller et al. (2006) haben dargelegt, dass hinsichtlich krebserzeugender Wirkungen
insofern ein fundamentaler Unterschied zu nicht-kanzerogenen Effekten besteht, als
eine gleiche Empfindlichkeit beider Spezies gegenüber gleichen Konzentrationen des
ultimalen Kanzerogens im Gewebe eine unterschiedliche Empfindlichkeit der Ziel-
15

zellen oder sonstige gravierende Unterschiede voraussetzt. Das heißt: Üblicherweise
geht man bei „konventionellen“ Giftwirkungen davon aus, dass gleiche Konzentratio-
nen des Gifts im Zielgewebe verschiedener Spezies dann annähernd dieselbe Effekt-
stärke bei den Spezies bewirken, wenn die Zielzellen annähernd gleich empfindlich
sind. Schädigung desselben Anteils der Zellen am Organ bzw. desselben Massean-
teils des Organs würde dann zu einem ähnlichen - nicht-kanzerogenen - Effekt für
beide Individuen führen. Dagegen würde bei gleichen Empfindlichkeiten der Zielzel-
len zweier unterschiedlich zellreicher Spezies, z.B. Maus und Mensch, und gleicher
Leistungsstärke sonstiger Abwehrmechanismen wegen der größeren Zahl an Ziel-
zellen und der längeren Lebenszeit ein wesentlich höheres Tumorrisiko bei der zell-
reicheren Spezies verursacht werden. Es müssen gravierende Unterschiede in
den Mechanismen, z.B. in den Empfindlichkeiten je Zelle, bei Mensch und Maus
bestehen, damit dieselbe Konzentration des ultimalen Kanzerogens im Zielge-
webe zum selben expositionsbedingten Tumorrisiko führt. Dies führt zu folgen-
dem Widerspruch: Damit dieselbe Konzentration eines Gifts im Zielgewebe zur sel-
ben nicht-kanzerogenen Effekthöhe führt, sollten die Zellen ähnlich empfindlich sein,
damit aber dieselbe Konzentration des Stoffs im Zielgewebe zur selben kanzeroge-
nen Effekthöhe (Tumorrisiko) führt, sollten die Zellen unterschiedlich empfindlich
sein. Hinsichtlich nicht-kanzerogener Wirkungen sollten die Zellen also gleich emp-
findlich, gleichzeitig hinsichtlich kanzerogener Wirkungen unterschiedlich empfindlich
sein. Leider wird dieser Gegensatz in der regulatorischen Toxikologie wenig themati-
siert, sondern in der Art einer Setzung geht man bisweilen davon aus, dass bei glei-
cher Konzentration eines Kanzerogens im Zielgewebe sowohl seine nicht-kanzeroge-
nen als auch seine kanzerogenen Wirkungen zu gleichen Effekthöhen bei Menschen
und Labortieren führen. Mir sind bisher keine empirischen Belege bekannt, dass
durch eine solche Speziesextrapolation das aus Kanzerogenitätsversuchen berech-
nete expositionsbedingte Risiko näher an das epidemiologisch feststellbare Risiko
herangerückt wird.

Roller et al. (2006) haben die oben skizzierten Aspekte näher diskutiert und sehr
umfangreiche vergleichende Auswertungen der Ergebnisse von epidemiologischen
Studien und Kanzerogenitätsversuchen vorgenommen. Es zeigte sich, dass das in
epidemiologischen Studien der Exposition zuzuschreibende Krebsrisiko eher höher
war als das expositionsbezogen in Kanzerogenitätsversuchen an Ratten, Mäusen
oder Hamstern festgestellte Tumorrisiko. Nach eingehender Diskussion lautete die
Empfehlung bei Roller et al. (2006) zur Beurteilung eines stoffbedingten Krebsrisikos
in der regulatorischen Toxikologie das Tumorrisiko der empfindlichsten Spezies zu
betrachten und sich so zu verhalten, als wäre das expositionsbedingte Krebsrisiko
des Menschen genauso hoch wie das Risiko jener Tierspezies. Auch heute bin ich
der Überzeugung, dass bisher die Kenntnisse über Wirkungsmechanismen der
Kanzerogenese, Empfindlichkeiten einzelner Zellarten bei verschiedenen Spezies,
über die Vorgänge bei der Initiation, Promotion und Progression von Tumorzellen
sowie über immunologische Schutzreaktionen bei weitem nicht ausreichen, um
naturwissenschaftlich fundiert eine Speziesextrapolation stoffbedingter Krebsrisiken
vorzunehmen. Obwohl die Auswertungen von Roller et al. (2006) eine relativ hohe
Wahrscheinlichkeit gezeigt haben, dass durch expositionsbedingte Tumorrisiken in
Kanzerogenitätsversuchen das expositionsbedingte Krebsrisiko des Menschen
unterschätzt (!) wird, halte ich es in der Regel sowohl naturwissenschaftlich als auch
ethisch am ehesten vertretbar, keine „scheinwissenschaftliche“ Speziesextrapolation
vorzunehmen, sondern lediglich das expositionsbedingte Risiko der Versuchstierart
16

zu berechnen und dem Risikomanagement zu empfehlen, sich so zu verhalten, als
ob beim Menschen ein expositionsbedingtes Krebsrisiko in dieser Höhe bestünde;
vorausgesetzt es liegen keine epidemiologischen Daten vor, die dieser
Vorgehensweise entgegenstehen.

Tab. 4       Parameterwerte für grundlegende Größen zur Speziesextrapolation

Größe                        Quelle               Maus        Ratte        Mensch
Atemtagesvolumen           „Standard“              0,05       0,23            20
[m3/d]
                          MAK (2011)                          0,31
Trinkwasser pro            „Standard“               6          30            2000
Tag [mL/d]
                          NTP (2008)               4,2
Körpergewicht [kg]         „Standard“              0,03       0,35            70
                          NTP (2008)               0,05
Alveolaroberfläche    Roller et al. (2006)                   0,4095          62,7
[m2]
                          MAK (2011)                          0,295         56,778
Intestinal-            Eigene Berechng.           0,0025                     0,6
oberfläche [m2]
                       Wikipedia (2011a)                                     180

Wie beschrieben werden aber in der regulatorischen Toxikologie unterschiedliche
Ansätze der Speziesextrapolation von Krebsrisiken favorisiert. Deshalb seien
nachfolgend einige Varianten der Speziesextrapolation des bei den männlichen
Mäusen der NTP-Studie ausgeprägten Risikos dargestellt. In der Chrom-Diskussion
wurde unter anderem vorgeschlagen, die Übertragung bezogen auf die Fläche der
Dünndarmschleimhaut vorzunehmen. Dies entspricht im methodischen Ansatz einer
Übertragung des Risikos für die Lunge nach Inhalation bezogen auf die Lungen-
bzw. Alveolaroberfläche. Für das Risiko nach Inhalation stehen als „Gold Standard“
relativ gute Daten aus der Epidemiologie zur Verfügung. Deshalb wird hier auch ein
Vergleich zur Extrapolation des Cr-bedingten Tumorrisikos von der Ratte anhand der
Alveolaroberfläche illustriert.

Tab. 4 enthält die für die Extrapolationen benötigten grundlegenden Parameterwerte
für den Menschen und die Versuchstierspezies. Diese Parameterwerte sind nicht
durchweg als unveränderliche, gut gesicherte Festwerte zu betrachten. Größen wie
die Alveolaroberflächen oder die Oberfläche der Dünndarmschleimhaut mögen mit
beträchtlichen Unsicherheiten behaftet sein. Tab. 4 gibt für die Alveolaroberflächen
von Ratte und Mensch zwei jeweils relativ dicht beieinander liegende Werte, die
einerseits in den 1990er Jahren in der Literatur präferiert schienen (Yu und Xu, 1987;
siehe auch Pott und Roller, 1997; Roller et al., 2006) und andererseits für die aktuelle
Ableitung des Allgemeinen Staubgrenzwerts durch die MAK-Kommission verwendet
wurden (MAK, 2011). Bei Internetrecherchen habe ich bezüglich der Dünndarmober-
flächen mehrere Hinweise, aber keine für unsere Fragestellung zuverlässig erschei-
nenden konkreten Werte für Mensch und Maus gefunden. Auf der Basis verschiede-
ner Quellen habe ich deshalb zunächst Länge und mittleren Durchmesser von
17

Duodenum, Jejunum und Ileum von Mensch und Maus abgeschätzt und daraus die
Oberfläche eines länglichen Zylinders (Röhre) berechnet (De Zwart et al., 1999;
Langenbeck, 1996; RIVM, 2008; Wikipedia, 2011a,b; Wilson, 1967). Die Längenan-
gaben zum menschlichen Dünndarm scheinen dadurch mit Unsicherheiten behaftet,
dass häufig die Länge des Dünndarms bei Autopsien gemessen wurde, dass aber
davon auszugehen ist, dass der Darm beim Verstorbenen durch Ausfall von Muskel-
tonus länger erscheint als er beim Lebenden ist. Gleichwohl habe ich mich an den
Längenangaben der Autopsien orientiert, weil für unsere Zwecke die Oberfläche der
Schleimhaut von Interesse ist. Für die Maus liegen kaum Werte vor, ich habe
deshalb vor allem in (vermuteter) Relation zur Ratte geschätzt. Mit Werten von 6 m
Länge und ca. 3 cm Durchmesser für den Menschen sowie 30 cm Länge und ca.
0,25 cm Durchmesser bei der Maus ergeben sich die Werte einer Oberfläche des
Dünndarm in einem einfachen Röhrenmodell von 6000 cm2 und 25 cm2. Man mag
dies auch als die geschätzte Fläche der Submucosa (oder Serosa) auffassen.

Tab. 5        Ergebnisse von Speziesextrapolations-Rechnungen für oral sowie für
              inhalativ aufgenommenes Cr(VI) nach unterschiedlichen Methoden

Zeile       Dosismaßstab, Speziesextrapolationsmethode               EC 1 : 1 Million
 Nr.                                                                   [ng/L] nach
                                                                     Exposition über
                                                                      Trinkwasser
  1           Konzentration im Trinkwasser, männl. Mäuse                   270
  2              Zufuhrrate, Scaling nach Grundumsatz,                     129
                             Exponent 0,75
  3              Zufuhrrate, Scaling nach Grundumsatz,                     81
                Exponent 0,686 (White & Seymour, 2005)
  4      Zufuhrrate, Scaling nach Intestinalfläche, „Submucosa“            135
                           bzw. Röhrenmodell
  5       Zufuhrrate, Scaling nach Intestinaloberfläche, zusätzl.          810
             Faktor 6 für Oberflächenvergr. beim Menschen
  6           Zufuhrrate, Scaling nach Intestinaloberfläche,            ca. 40.000
                 Resorptionsoberfläche beim Menschen
  7        Konz. im Trinkwasser, Scaling nach Intestinalfläche,            136
                    „Submucosa“ bzw. Röhrenmodell
                                                                      Schwellenwert
                                                                         [mg/m3]
                                                                     nach Exposition
                                                                      über Atemluft
  8               Konzentration in der Atemluft, Ratten                    200
  9      Scaling nach Alveolaroberfläche, wie Roller et al. (2006)         352
 10         Scaling nach Alveolaroberfläche, wie MAK (2011)                443
18

Für unsere Zwecke muss die exakte Fläche der Darmschleimhaut von Mensch und
Maus nicht bekannt sein, sondern es genügt das Verhältnis der Flächen bei den
beiden Spezies. Aufgrund der anatomischen Informationen ist anzunehmen, dass die
Oberfläche der Submucosa in der Mucosa durch Faltungen beim Menschen stärker
vergrößert ist als bei der Maus. Dem kann durch Verwendung beliebiger Faktoren,
um welche die Oberfläche beim Menschen größer angesetzt wird als bei der Maus,
Rechnung getragen werden. Dabei ist es die Frage, ob für unsere Fragestellung eher
die Zahl der (teilungsfähigen) Epithelzellen gesucht ist als die „eigentliche“ Schleim-
hautoberfläche. In mehreren Quellen wird für die resorptive Oberfläche der Dünn-
darmschleimhaut beim Menschen ein Wert im Bereich von 200 m2 genannt, z.B. 180
m2 bei Wikipedia (2011a; Tab. 4). Unter Berücksichtigung submikroskopischer
Strukturen könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Oberfläche vielleicht gar
nicht eindeutig berechenbar ist, sondern dass es sich eher um eine „fraktale
Dimension“ handelt2. Für unsere Fragestellung mag dieses Problem aber dadurch
beherrschbar sein, dass man auf Basis des Röhrenmodells mehrere Szenarien einer
beim Menschen stärker ausgeprägten Oberflächenvergrößerung betrachtet.

Tab. 5 gibt einige Ergebnisse der Risikoabschätzung und Speziesextrapolationen.
Ich gehe davon aus, dass für den Schutz der Bevölkerung vor Kanzerogenen im
Trinkwasser konventionsgemäß insbesondere ein Risikowert von 1 in 1 Million als
wünschenswerte Akzeptanzgrenze von Interesse ist. Deshalb ist in Tab. 5 jeweils
diejenige Konzentration von Cr(VI) im Trinkwasser angegeben, welche im Szenario
lebenslangen ausschließlichen Genusses dieses Trinkwassers gemäß dem jeweili-
gen Berechnungsverfahren mit einem expositionsbedingten Krebsrisiko in Höhe von
1 in 1 Million assoziiert ist. Unter der Annahme einer linearen Expositions-Risikobe-
ziehung bei Mäusen ergibt sich für die männlichen Mäuse der NTP-Studie ein Risiko-
wert von 1 in 1 Million bei einer Cr(VI)-Konzentration von 270 ng/L in dem Trink-
wasser. Datengrundlage dieser Berechnung sind ausschließlich die dokumentierten,
über die gesamte Versuchszeit je Dosisgruppe konstant gehaltenen Werte der Cr-
Konzentrationen im Trinkwasser sowie die Anzahlen von untersuchten Tieren und
Tieren mit potentiell expositionsbedingtem Tumor (d.h. hier: Tumoren des Dünn-
darms). Diese Datengrundlage ist unter den in Tab. 5 aufgeführten Rechenergeb-
nissen diejenige Rechenbasis, die mit den wenigsten Mess- und Annahme-Unsicher-
heiten behaftet ist. Die Relation Risiko 1 zu 1 Million durch 270 ng/L ist für männliche
Mäuse ermittelt und gilt insofern für männliche Mäuse wie sie in der NTP-Studie
verwendet wurden. Verwendet man diese Expositions-Risikobeziehung wie die
Expositions-Risikobeziehung beim Menschen, dann ist darin eine große prinzipielle
Unsicherheit enthalten: Ist „der Mensch“ genauso empfindlich wie die männlichen
Mäuse der NTP-Studie? Diese Frage ist ungeklärt.

2
  Unter einer fraktalen Dimension verstehe ich eine Größe mit einer nicht-ganzzahligen „Anzahl“ von
Dimensionen. Bei der Oberfläche der Dünndarmschleimhaut handelt es sich vielleicht nicht um eine
Fläche mit 2 Dimensionen, sondern um ein „Zwischending“ zwischen Fläche und Raumkörper, also
z.B. in 2,5 Dimensionen. Unter dem Titel „Body surface area misconceptions“ hat Slone (1993) dieses
Problem u.a. am Beispiel der Länge der Küste Britanniens verdeutlicht. Es gibt in der Literatur sehr
unterschiedliche Angaben zur Länge der Küste Britanniens. Offenbar gibt es kein eindeutiges Ergeb-
nis, sondern das Ergebnis hängt vom Maßstab ab: Je feiner der Maßstab, d.h. je mehr kleine Buchten,
einzelne Felsen oder gar Steine vermessen werden, umso größer ist der Wert für die Länge der
Küste. In diesem Sinne spricht Slone (1993) auch der Lunge die Eigenschaft fraktaler Dimension zu
und zieht dies auch für die Körperoberfläche in Betracht.
19

In Tab. 5 sind weitere Expositions-Risiko-Relationen aufgeführt, welche unterschied-
lichen Speziesextrapolationsmethoden entsprechen. Dazu wurden die EC10- bzw.
EA10-Werte von Abschnitt 2.5.1 (bzw. die entsprechenden EC- und EA-Werte für das
Risiko 1 : 1 Million) nach folgenden Formeln umgerechnet:

                      ARM Tier BezugsgrößeMensch
EC Mensch = ECTier
                     ARM Mensch BezugsgrößeTier

                     KörpergewichtTier BezugsgrößeMensch
EC Mensch = EATier
                        ARM Mensch      BezugsgrößeTier

mit:
ARM:                 Aufnahmerate des Mediums, z.B. Atemzeitvolumen,
                     Trinkwasseraufnahme je Tag
Bezugsgröße:         z.B. Zahlenwert des Körpergewichts (in kg) hoch ¾,
                     Alveolaroberfläche, Intestinaloberfläche

In der zweiten Datenzeile von Tab. 5 ist das Ergebnis einer Extrapolation mittels der
Zufuhrrate unter Scaling nach Grundumsatz aufgeführt. Gegenüber der ersten Zeile
enthält dieses Ergebnis weitere Mess-Unsicherheiten. Dort liegt nämlich als Dosis-
maß die Zufuhrrate gemäß der 2. Spalte von Tab. 2 zugrunde. Zur Angabe der
mittleren Zufuhrraten in mg/kg/d je Dosisgruppe waren bei NTP (2008) sowohl die
Körpergewichte als auch die täglich konsumierten Trinkwassermengen zu messen
und in die Berechnung einzubeziehen. Im Hinblick auf den Prozess der Kanzeroge-
nese ist dabei die Angabe über die gesamte Versuchszeit gemittelter Zufuhrraten
unbefriedigend. Die Zufuhrraten mögen im Laufe des Versuchs - bei konstanter Cr-
Konzentration im Trinkwasser - variieren. Es wäre (akademisch) wünschenswert,
dies im Rahmen eines Dosis-Zeit-Risikomodells mit zeitlich variabler Dosisrate zu
berücksichtigen (ich rechne dabei allerdings nicht mit grundlegend anderen Ergeb-
nissen). Das Ergebnis in der 2. Datenzeile von Tab. 5 steht nicht mehr wie die erste
Datenzeile für die Expositions-Risikobeziehung der Mäuse. Sie enthält vielmehr die
Annahme, dass dieselben mittleren Zufuhrraten bei verschiedenen Spezies dann
dasselbe expositionsbedingte Krebsrisiko verursachen, wenn außerdem ein Scaling
mit einem Exponenten von 0,75 für das Körpergewicht vorgenommen wird. Diese
allometrische Umrechnung wird üblicherweise als „Scaling nach Grundumsatz“
bezeichnet. White und Seymour (2005) haben publiziert, dass unterschiedliche
allometrische Exponenten mit verschiedenen Maßen des Energieumsatzes kor-
respondieren. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass für die „true Basal Metabolic
Rate“ ein Exponent in Höhe von 0,686 anzusetzen ist. Naturwissenschaftlich ist die
Frage ungeklärt, ob die Zufuhrrate mit einem allometrischen Scaling eher mit dem
Exponenten 0,75 oder dem Exponenten 0,686 zu einer besseren Risikoabschätzung
für den Menschen führt. Falls Maus und Mensch unter Berücksichtigung eines
allometrischen Exponenten 0,686 bei gleichen lebenslangen Zufuhrraten von Cr(VI)
dasselbe expositionsbedingte Krebsrisiko erleiden, dann bedeutet dies, dass bei der
Maus 270 ng/L mit einem Risiko von 1 zu 1 Million verbunden sind, beim Menschen
dazu aber nur eine Konzentration von 81 ng/L benötigt wird. Bezogen auf die
Stoffkonzentration im Umweltmedium wäre „der Mensch“ dann also um einen Faktor
von mehr als 3 empfindlicher als „die Maus“.
20

Es wurde auch vermutet, dass Menschen und Mäuse genau dann dasselbe stoff-
bedingte Krebsrisiko erleiden könnten, wenn die Zufuhrraten von Cr(VI) mit dem
Trinkwasser bezogen auf die Intestinaloberfläche gleich sind. Die dritte und siebente
Datenzeile von Tab. 5 geben jeweils ein Ergebnis, wenn als Intestinaloberflächen die
von mir abgeschätzten „Röhrenflächen“ angenommen werden. Diese beiden Daten-
zeilen zeigen, dass es hier unerheblich ist, ob von der EC oder der EA ausgegangen
wird, obwohl (wie oben dargestellt) die experimentellen Konzentrationen im Trink-
wasser und die experimentellen mittleren Zufuhrraten nicht zu einer exakt gleichen
Form der Expositions-Risikobeziehungen führen (Bild 4). Von großem Einfluss auf
das Ergebnis ist es dagegen, welcher Faktor für die Oberflächenvergrößerung der
menschlichen Dünndarmschleimhaut im Vergleich zu Mäusen angesetzt wird. Intuitiv
könnte man vermuten, dass dieselbe Cr-Konzentration im Trinkwasser ein höheres
Risiko verursachen würde, wenn die Besatzdichte potentieller Zielzellen durch
Auffaltungen der Mucosa vergrößert würde, wenn also relativ mehr Zielzellen eine
„Angriffsfläche“ böten. Ein Organismus mit einer relativ kleinen Zahl potentieller
Zielzellen bzw. geringen Zelldichte hätte dabei ein geringeres Risiko. Dies entspricht
aber nicht der Logik dieser Extrapolationsmethode. Vielmehr wird dabei angenom-
men, dass der Organismus erst dann ein gleiches Krebsrisiko erleidet, wenn die
Kanzerogendosis je Zelle gleich ist. Wenn also mehr Zellen vorhanden sind, dann
müssen auch umso mehr Kanzerogeneinheiten zugeführt werden, um dasselbe
Risiko für den Organismus zu erreichen. Damit ist zwingend verbunden, dass dann
entweder die Empfindlichkeit je Zelle stark verringert sein muss oder dass andere
(unbekannte) kompensierende Mechanismen vorhanden sind3. Nach Datenzeile 6
von Tab. 5 müsste eine Cr(VI)-Konzentration von 40.000 ng/L = 40 µg/L vorhanden
sein, um ein Risiko von 1 zu 1 Million zu erreichen, falls die resorptive Dünndarm-
oberfläche des Menschen entscheidend wäre und sich die resorptive Dünndarmober-
fläche der Maus dagegen kaum von meiner „Röhrenschätzung“ unterscheiden
würde. Der Mensch wäre bezogen auf das Umweltmedium dann um einen Faktor
von mehr als 100 weniger empfindlich als die Mäuse, und die einzelnen Darmepithel-
zellen des Menschen müssten ganz erheblich weniger empfindlich sein als die
entsprechenden Zellen der Mäuse.

Sicherlich ist der Vergleich der resorptiven Oberfläche von 180 m2 mit dem einfachen
Röhrenmodell für Mäuse von 25 cm2 ein Extrembeispiel. Tab. 5 zeigt aber, dass
beträchtliche neue Aussageunsicherheiten durch den Wunsch eingeführt werden
können, „physiologisch“ und „anatomisch“ begründete Speziesextrapolations-
methoden benutzen zu wollen. Letztlich sollten empirische Daten vorliegen, welche
solche Extrapolationsmethoden rechtfertigen. Bei ihrem umfangreichen Vergleich
expositionsbezogener Krebsrisiken bei Versuchstieren und in der Epidemiologie
haben Roller et al. (2006) keine Hinweise auf einen relativ besseren Speziesextra-
polationsmaßstab gefunden als die Stoffkonzentrationen in der Umwelt. Denselben
Schluss muss man aus dem unteren Teil von Tab. 5 ziehen, in dem die Extrapolation
über die Dosis je cm2 Alveolaroberfläche mit der Cr(VI)-Konzentration in der Luft hin-
sichtlich des Lungentumorrisikos von Mensch und Ratte verglichen ist. In Abschnitt
2.2 ist erläutert, dass man für Ratten einen Schwellenwert in Höhe von zirka 200
µg/m3 für ein Arbeitsplatz-Expositionszeitmuster aus dem Inhalationsversuch von

3
 Eine solche notwendige Voraussetzung einer ganz erheblich geringeren Empfindlichkeit je Zelle
gegenüber dem ultimalen Kanzerogen (bei gleichzeitig gleicher Empfindlichkeit hinsichtlich nicht-
kanzerogener Wirkung) wird in der regulatorischen Toxikologie kaum thematisiert.
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