Simulation des Hochwassers von 1868 und Lehren für die Zukunft - DORA 4RI
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Forum für Wissen 2019: 13–20 13 Simulation des Hochwassers von 1868 und Lehren für die Zukunft Stefan Brönnimann1, Peter Stucki1 und Andreas Zischg2 1 Geographisches Institut und Oeschger-Zentrum für Klimaforschung, Universität Bern, Hallerstr. 12, CH-3012 Bern, stefan.broennimann@giub.unibe.ch, peter.stucki@giub.unibe.ch 2 Geographisches Institut und Mobiliar Lab für Naturrisiken, Universität Bern, andreas.zischg@giub.unibe.ch Numerische Methoden kombiniert mit historischen Daten erlauben, vergangene 1 Einleitung Wetterereignisse wie das Hochwasser von 1868 detailliert und quantitativ zu un- tersuchen. Das Hochwasser betraf vor allem die Kantone Tessin, Graubünden und Nach einem regenreichen Monat ereig- Wallis und führte zu verheerenden Schäden. Ausgehend von Reanalysen und dy- neten sich Ende September und An- namischem Downscaling lässt sich das Ereignis mit hydrologisch-hydraulischen fang Oktober 1868 in den Schweizer Modellen reproduzieren. Damit lassen sich die Folgen des historischen Hochwas- Alpen zwei extreme Niederschlags- sers mit den potenziellen Schäden vergleichen, die ein Hochwasser dieser Grös- ereignisse (Coaz 1869; Arpagaus 1870; senordnung heute verursachen könnte. Das Ereignis kann als ein extremes mete- Stucki et al. 2012, 2018). Während die orologisch-hydrologisches Szenario betrachtet werden. Die betroffenen Flächen erste Niederschlagsphase am 27. und sind heute zwar weit intensiver besiedelt als damals, dafür zeigen die Flussverbau- 28. September vor allem im Tessin und ungen in der Magadinoebene Wirkung. Die Bewältigung der Schäden nach dem Graubünden zu grossen Regenmengen Ereignis prägt die Schweiz bis heute. Das Hochwasser von 1868 verhalf einem na- führte, betraf die zweite Phase vom 1. tional koordinierten Hochwasserschutz zum Durchbruch.1 bis 5. Oktober vor allem die Kantone Tessin, Wallis und Uri. Über acht Tage fielen auf dem San-Bernardino-Pass 1118 Millimeter Niederschlag. Zahlrei- che Flüsse und Seen traten über die Ufer. Im Rheintal bildeten sich Seen, die Magadinoebene stand unter Was- ser. Der Lago Maggiore erreichte am 4. Oktober 1868 den höchsten je gemes- senen Stand von 199,98 m ü. M. Auch im Wallis traten Flüsse über die Ufer (vgl. Abb. 1). Die Folgen des Ereignisses waren verheerend: 51 Menschen starben, Brü- cken wurden weggeschwemmt oder beschädigt, Dörfer und Strassen wur- den von Geschiebe zugedeckt oder von Murgängen zerstört (vgl. Abb. 1). Vor allem der Kanton Tessin war stark be- troffen (vgl. Abb. 2). Umgerechnet auf das Jahr 2000 kann von einem Scha- den von knapp einer Milliarde Franken ausgegangen werden (Pfister 2009); es war eine der schadenreichsten Natur- katastrophen überhaupt in der Schweiz, und die Bewältigung war auch politisch folgenreich (Summermatter 2005). In diesem Beitrag möchten wir das Ereig- nis von 1868 als Extremereignis unter- suchen und die Frage stellen, wie wir 1 Dieser Artikel beruht zu einem gros- sen Teil auf dem Heft von Brönnimann et al. (2018) und dem Fachartikel von Stu- Abb. 1. Oben: Geschiebeablagerungen der Saltina in Brig und Glis von 1868 (WB-Archiv). cki et al. (2018), vgl. auch das Video dazu: Unten: Das Dorf Vals, GR, nach dem Hochwasser von 1868 (Gemeindearchiv Vals). youtu.be/l2AtsZWpsuU. WSL Berichte, Heft 78, 2019
14 Forum für Wissen 2019 (Pfister 2009). Diese Häufung hat kli- matische Gründe, so waren Hochwas- serwetterlagen in der ersten Phase häu- figer, in der zweiten seltener (Brönni- mann et al. 2019b). Aber die selteneren Hochwasser um die Mitte des 20. Jahr- hundert hatten wiederum Rückwir- kungen auf den gesellschaftlichen Um- gang mit Risiken (Pfister 2009), Die Rekonstruktion historischer Hochwas- serereignisse und derer Folgen erfor- dert daher zwingend die interdiszipli- näre Zusammenarbeit von Fachleuten aus den Forschungsbereichen Klima- tologie, Hydrologie und Umweltge- schichte. 2 Wetterrekonstruktion Abb. 2. Schadensbeträge verursacht durch das Hochwasser im September und Oktober 1868 Die Modellkette beginnt mit ei- (in Tausend Schweizer Franken, kCHF) aus zeitgenössischen Erhebungen in fünf Kantonen. ner grossräumigen Wetterrekonstruk- Kreise und Diamanten beziehen sich auf Schadenssummen pro Gemeinde bzw. (im Kanton tion. In dieser Arbeit verwenden wir Tessin) Bezirk. Kreuze zeigen Schäden an Brücken (verändert aus Stucki et al. 2018). die «Twentieth Century Reanalysis» (20CRv2c, Compo et al. 2011). 20CRv2c beruht auf der Assimilation von Mes- aus vergangenen Extremereignissen terrekonstruktionen durch Analogver- sungen des Luftdrucks in ein globa- lernen können (vgl. Brönnimann et al. fahren (Flückiger et al. 2017) erlauben les Wettervorhersagemodell und lie- 2018 für eine ausführlichere, populär- die Anwendung solcher Modellket- fert alle sechs Stunden ein Ensemble wissenschaftliche Übersicht). ten auch für weiter zurückliegende Er- von 56 gleich wahrscheinlichen Reali- Das Hochwasserereignis von 1868 eignisse (vgl. Stucki et al. 2015 für ei- sierungen des Wetters. Die wenigen für wurde von Seiten der Geschichtswis- nen Föhnsturm in der Schweiz). Diese 1868 verfügbaren Stationen reichen be- senschaft gut untersucht (Pfister und Rückwärtsverlängerung in die Ver- reits aus, um über Mitteleuropa eine Brändli 1999; Schmid 2001; Summer- gangenheit ist für die Naturgefahren- sinnvolle Rekonstruktion zu erhalten. matter 2005). Die Arbeiten zeigen, wel- forschung von grosser Bedeutung (vgl. Dies zeigt sich in diesem Fall an der gu- chen Einfluss dieses Ereignis auf den Brönnimann et al. 2019a). Sie führt zu ten Übereinstimmung der 56 Realisie- jungen Bundesstaat hatte und wie es grösseren Stichproben an Extremereig- rungen, so dass für weitere Analysen den Umgang mit Hochwasser und Na- nissen als die kurze Periode gegitterter, wie auch für das dynamische Down turkatastrophen in der Schweiz nach- meteorologischer Felder und erlaubt scaling (vgl. Kap. 3) nur noch der Mit- haltig veränderte. Neu ist, dass auch die damit die Analyse von sehr seltenen telwert der 56 Realisierungen verwen- naturwissenschaftlichen Aspekte quan- und potenziell sehr folgenschweren Er- det wird. titativ mit einer Modellkette, die von eignissen (vgl. auch Wetter 2017). So Die Analyse von 20CRv2c für das Er- Wetterdaten bis zu simulierten Über- konnte beispielsweise der Rekordsee- eignis zeigt eine Abfolge von vier nur flutungsflächen reichen, untersucht stand am Bodensee und der hohe Ab- langsam vorankommenden Höhentiefs, werden können. Dieser quantitative fluss des Rheins im Frühsommers 1817 wobei sich zwei davon zu weit nach Sü- Ansatz lässt sich mit historischen For- numerisch simuliert werden (Rössler den reichenden Trögen entwickelten. schungsfragen verbinden und kann so und Brönnimann 2018). Mit hydrolo- Damit einher gingen Höhenwinde aus zu neuen Erkenntnissen führen. In der gisch-hydraulischen Modellen können südlichen bis sogar südöstlichen Rich- Folge wenden wir eine solche Modell- anschliessend Szenarien simuliert wer- tungen im Bereich der Alpen. Als Bei- kette für das Hochwasserereignis 1868 den, um so neue Schlussfolgerungen spiel zeigt Abbildung 3 die Wetterlage an. für das Hochwasserrisikomanagement am 3. Oktober 1868. Eine grossräumige Die Kombination von atmosphä- der Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Tiefdruckrinne erstreckte sich von den rische Reanalysen mit dynamischem Für Hochwasser ist die Rückwärts- Alpen bis Nordafrika. Dieses Tief ent- Downscaling und hydrologischen (oder verlängerung insofern wichtig, als aus- sprach einem Höhentrog auf ca. fünf anderen) Modellen wird für Ereignisse serordentlich grosse Ereignisse im 19. Kilometer über Meer (500 hPa). Auf in den letzten Jahrzehnten bereits seit Jahrhundert häufig waren (Schmo- der Trogvorderseite herrschte in der längerem eingesetzt (z. B. Wilby et al. cker-Fackel und Näf 2010), wäh- unteren Troposphäre eine nordwärts 2000). Weiter zurückreichende Reana- rend sie um die Mitte des 20. Jahr- gerichtete Strömung, die Feuchtig- lysen (Compo et al. 2011) sowie Wet- hundert bis ca. 1978 seltener wurden keit vom Mittelmeer gegen die Alpen WSL Berichte, Heft 78, 2019
Forum für Wissen 2019 15 führte. Auch Rückwärtstrajektorien (vom Ankunftspunkt über den Alpen rückwärts verfolgte Bahnen der Luft- pakete) für zwei Tage mit starkem Nie- derschlag (27. September und 3. Ok- tober 1868) zeigen eine Herkunft der bodennahen Luftpakete vom Tyrrhe- nischen Meer her (Stucki et al. 2018). Über mehrere Tage konnte dadurch viel Wasserdampf über dem noch war- men Mittelmeer aufgenommen wer- den, der dann beim Aufsteigen über der Alpensüdseite kondensierte. Ent- sprechend führten beide Episoden zu langanhaltenden Starkniederschlägen auf der Alpensüdseite, die den Pegel des Lago Maggiore ansteigen liessen. Die Wetterlagen vor und während Abb. 3. Ausfällbares Wasser in der Atmosphäre (Farbschattierung, kg/m2) und Feuchtetrans- des Hochwasserereignisses waren sehr port (Pfeile, m/s * kg/kg) auf 850 hPa (ca. 1,5 km über Meer), Luftdruck auf Meereshöhe typisch für Überschwemmungen auf (schwarze durchgezogene Linien, hPa), Geopotenzielle Höhe auf 500 hPa (rote, gestrichelte Linien, Dekameter, ca. 5,5 km über Meer) für den 3. Oktober 1868 aus der Twentieth Cen- der Alpensüdseite. Aus meteorolo- tury Reanalysis 20CRv2c. gischer Sicht ergibt sich die ausseror- dentliche Schwere des Ereignisses aus einer Verquickung von vier aufeinan- der Schweizer Wetterdienst aufgrund scaling beruht auf dem WRF-Modell derfolgenden, zum Teil langanhalten- der synoptischen Analysen die Behör- (Skamarok et al. 2008). In vier Schrit- den und sehr regenintensiven Wet- den schon einige Tage im Voraus über ten wurde das Ensemblemittel der terlagen, die auf der grossräumigen die potenziellen Starkniederschläge in- 20CRv2c-Reanalyse bis auf eine Auf- Wetterskala von weit nach Süden rei- formieren. Obwohl damals die absolu- lösung von zwei Kilometer herunter- chenden Kaltlufttrögen geprägt waren. ten Niederschlagsmengen noch deut- skaliert. Als Beispiel zeigt Abbildung 4 Aufgrund der klaren atmosphärischen lich unterschätzt wurden, hatte man den Niederschlag in der Nacht vom Muster könnte dieses extreme Hoch- aus dem analogen Extremereignis vom 26. zum 27. September 1868. Zwar lässt wasser heute wohl sehr früh vorherge- September 1993 gelernt (Bundesamt sich das Ereignis nicht Gitterzelle für sagt werden. Den Wetterdiensten sind für Wasser und Geologie 2002). Gitterzelle mit der Realität verglei- und waren solch regenintensive, vor al- chen, aber die Niederschlagsverteilung lem im Herbst auftretende Südlagen (Abb. 4, rechts) erscheint sehr plausi- bekannt. Für einen sehr ähnlichen Fall bel und physikalisch realistisch. Wo Ende Oktober 2018 wurden im Wetter- 3 Downscaling die feuchte Luft auf die Voralpen trifft, modell der MeteoSchweiz denn auch wird sie angehoben und Kondensation realistische 250 bis 400 mm Nieder- Das Ereignis von 1868 wurde sowohl setzt ein. Dadurch werden hochrei- schlag prognostiziert (MeteoSchweiz dynamisch als auch statistisch herun- chende konvektive Zellen initiiert, aus 2018). Auch im Oktober 2000 konnte terskaliert. Das dynamische Down denen organisierte Gewitter entstehen, Abb. 4. Dynamisches Downscaling des Extremwetters im September 1868 mit dem WRF-Modell. Links: Meridionaler Querschnitt (entlang der gestrichelten Linie im rechten Bild) der relativen Feuchte am 26. September 21 UTC. Die roten Linien links stellen den Vertikalwind dar. Rechts: stündlicher Niederschlag in derselben Nacht, 27. September 3 UTC (vgl. Brönnimann et al. 2018). WSL Berichte, Heft 78, 2019
16 Forum für Wissen 2019 was im Querschnitt (Abb. 4, links) gut Zwar gibt es an einzelnen Tagen Un- den aus dem Modellsystem entfernt, da sichtbar ist. Die Gewitter ziehen mit terschiede zwischen der statistischen die menschlichen Einflüsse auf die Ge- der mittleren Strömung nach Norden, und der dynamischen Methode des wässer im 19. Jh. noch nicht relevant der Niederschlag erreicht das südliche Downscalings. Über das Gesamter- waren. In einem weiteren Schritt wur- Tessin und dringt schliesslich in die Al- eignis aufsummiert sind die Nieder- den der mit dem hydrologischen Mo- pentäler und über den Alpenhaupt- schlagsmengen in beiden Methoden dell simulierte Abfluss des Ticino und kamm vor. aber fast identisch. der Seespiegel des Lago Maggiore in Hinweise für starke Konvektion gibt ein Überflutungsmodell (Vetsch et al. es auch aus damaligen Beobachtun- 2017) eingespeist. Das Modell berech- gen. Während der zwei Hauptnieder- net Fliesstiefen und Fliessgeschwindig- schlagsphasen zwischen dem 26. Sep- 4 Hydrologisch-hydraulische keiten auf Basis der oberen Randbe- tember und dem 4. Oktober 1868 wird Simulationen dingung des Zuflusses und der unteren unter anderem von anhaltendem Re- Randbedingung des Seespiegels. Die gen und schweren Gewittern mit ein- In einem weiteren Schritt wurde ver- Überflutung in der Magadino-Ebene zelnen Hagelzügen berichtet (Arpa- sucht, auch die Flächen zu bestimmen, (Abb. 6, links) ergibt sich aus dem Zu- gaus 1870, Abb. 5). Somit bildet das die infolge des hier rekonstruierten sammenspiel von statischer Überflu- Modell die Situation realistisch ab. meteorologischen Ereignisses überflu- tung durch den See und dynamischer Während der neun Tage produziert das tet worden wären. Wir wollten testen, Überflutung durch den Fluss. Modell nahezu ununterbrochene, aus- ob mit den heutigen hydrologischen Die Rekonstruktion des hydrolo- gedehnte und intensive Niederschläge und hydraulischen Modellen auch die gischen Ereignisses auf Basis des re- über dem Tessin, die durch den anhal- damals überfluteten Flächen und Ge- konstruierten Niederschlags ergab ei- tenden Feuchtigkeitstransport von Sü- bäude rekonstruiert werden können. nen grossen Unterschied in der zeitli- den, orographische Hebung und die Diese Rekonstruktion der Folgen des chen Entwicklung des Seespiegels zu Entwicklung von Gewittern erklärt damaligen Hochwasserereignisses den Messungen. Der modellierte ma- werden können. wurde am Beispiel des Flusses Ticino ximale Pegelstand (196,98 m ü. M.) war Eine zweite Herunterskalierung des und des Lago Maggiore in der Maga- drei Meter unter dem beobachteten Ereignisses erfolgte mit einer Analog- dino-Ebene zwischen Bellinzona und Pegelstand (199,98 m ü. M.). Die mo- methode. Für jeden Tag vom 1. Okto- dem See getestet. dellierten überfluteten Flächen waren ber 1867 bis 31. Oktober 1868 wurde Das rekonstruierte Niederschlags- deshalb sehr gering. Zudem fanden in der meteorologisch ähnlichste Tag muster wurde in einem ersten Schritt der Simulation im oberen Bereich der in den vergangenen 50 Jahren ge- in das hydrologisches Modell PRE- Magadino-Ebene keine Ausuferungen sucht (vgl. Flückiger et al. 2017). Die- VAH (Viviroli et al. 2009) eingespeist. statt. ser Analogtag muss die selbe Wetter- Dieses Modell wurde für die Kurz- Das heutige Gerinne des Flusses mit lage (Schwander et al. 2017) aufweisen frist-Vorhersage von Abflüssen im Ein- den Hochwasserschutzdämmen fasst wie der Tag in der Vergangenheit, und zugsgebiet des Lago Maggiore entwi- den gesamten Spitzenabfluss des dama- die Stationsmessungen von Tempera- ckelt und ist ein gekoppeltes hydrolo- ligen Hochwasserereignisses (Abb. 6, tur und Niederschlag in Lugano, Zü- gisches und hydraulisches System, das rechts). Die Wirkung aller seit dem rich, Mailand und Padua sowie an ei- auch anthropogene Einflüsse auf die Ereignis 1868 umgesetzten Hochwas- nem Gitterpunkt in 20CRv2c über den Hydrologie wie beispielsweise durch serschutzmassnahmen kann somit de- Alpen müssen maximal übereinstim- die Wasserkraft oder die heutige Seere- monstriert werden. Die damaligen men (euklidische Distanz der standar- gulierung mit berücksichtigt (vgl. And- Ausdehnungen können aber nur simu- disierten Messungen). res et al. 2016). Diese Routinen wur- liert werden, wenn der damalige Sys- temzustand der Gewässer rekonstru- iert wird. Dabei müssen vor allem zwei Faktoren berücksichtigt werden. Ers- tens hat sich die Seepegel-Abfluss-Be- ziehung am Seeauslass des Lago Mag- giore deutlich verändert. Dies ist auf eine starke Sohlenerosion während des Hochwasserereignisses 1868 zurück- zuführen (Ambrosetti et al. 1994). Die Flusssohle beim Seeauslass ist deutlich tiefer als damals, damit ist der Fluss- querschnitt wesentlich grösser und es kann bei gleichem Pegelstand viel mehr Wasser aus dem See ausfliessen Abb. 5. Drei Berichte zu Hagel zwischen dem 27. als vor dem Hochwasserereignis von September und dem 2. 1868. Zweitens ist der Ticino in der Ma- Oktober (aus Arpagaus, gadino-Ebene heute kanalisiert und 1870, S. 17, 66 und 111). eingedämmt. Auch dies ist ein wesentli- WSL Berichte, Heft 78, 2019
Forum für Wissen 2019 17 Abb. 6. Simulierte Überflutungsflächen des rekonstruierten Hochwasserereignisses 1868 in der Magadino-Ebene in der historischen Situa- tion (links) und im heutigen Gewässersystem (rechts) (vgl. Brönnimann et al. 2018). Eine historische Karte der tatsächlichen Überschwem- mungsfläche des Ereignisses konnte nicht gefunden werden. Die Karte links stimmt aber gut mit zeitgenössischen Berichten überein. So schriebt Arpagaus (1870, S. 112) «Die Gegend von Biasca bis Bellenz und von Bellenz bis Locarno glich fünf Tage lang einer Fortsetzung des Langensees.» cher Eingriff, der den Flussquerschnitt Wachstum im Gebäudebestand den Hochwasserereignisse definitionsge- wesentlich erweitert hat. Änderungen im Gewässerzustand ge- mäss sehr selten sind und deshalb nicht Um die damalige Überflutung rekon- genübergestellt. Dabei musste der his- in jedem Gebiet in der instrumentellen struieren zu können, muss der histori- torische Gebäudebestand kartiert wer- Messperiode aufgetreten sind, ist die sche Flusslauf in einem digitalen Ge- den. Abschätzung von Wahrscheinlichkei- ländemodell abgebildet werden. So Unterhalb von Bellinzona und in ten und Ausmass von extremen Szena- haben wir auf Basis der historischen Ufernähe des Lago Maggiore auf rien schwierig beziehungsweise grossen Karten und der heute noch sichtba- Schweizer Seite standen im Oktober Unsicherheiten unterworfen. Die For- ren Spuren der ehemaligen Flussarme 1868 in der rekonstruierten Überflu- mulierung von Szenarien ist deshalb ein digitales Geländemodell des histo- tungsfläche (Abb. 6, links), welche aus eine wesentliche Grundlage für die Ge- rischen Flusslaufes rekonstruiert. Mit dem gemessenen Seepegel und dem fahren- und Folgenabschätzung. Die diesem Geländemodell konnte die ehe- simulierten Hochwasserabfluss resul- offenen Fragen betreffen dabei nicht malige Überflutungsfläche der damali- tiert, 436 Gebäude. Betrachtet man den nur die Auftretenswahrscheinlichkeit, gen Geländesituation simuliert werden Gebäudebestand von 2016, würden in sondern auch die erwartete Magnitude (Abb. 6, links). In dieser Simulation derselben überfluteten Fläche (histori- eines extremen Wetterereignisses (Nie- sind beinahe der gesamte Talboden sches Geländemodell) 3934 Gebäude derschlagssumme und -intensität) so- und die Magadino-Ebene vom Hoch- in Mitleidenschaft gezogen werden. wie die Grösse des beregneten Gebie- wasser betroffen, was auch die histo- Das bedeutet, dass der exponierte Sied- tes. Insbesondere für Versicherungsfra- rischen Quellen qualitativ bestätigen. lungsbestand in diesen Flächen um den gen sind das Niederschlagsmuster und Der Vergleich der beiden Simulationen Faktor neun zugenommen hat. Wird das betroffene Gebiet wichtig. Dies zeigt die Wirkung der beiden Änderun- hingegen der heutige Flusslauf berück- kann entscheiden, ob beispielsweise gen im Gewässersystem. Die natürliche sichtigt (heutiges Geländemodell, si- eine Ballung von Risiken vorhanden ist Sohlenerosion beim Seeauslass ver- mulierter Seepegel und simulierter Ab- oder nicht. mindert heute das Ansteigen des See- fluss in Bellinzona, Abb. 6, rechts), sind Das hier vorgestellte Beispiel ei- spiegels und somit einen Rückstau in 944 Gebäude betroffen. Dies bedeu- ner Simulation eines lange zurücklie- die Magadino-Ebene. Die Hochwasser- tet, dass der Hochwasserschutz und die genden Ereignisses zeigt auf, wie eine schutzmassnahmen am Fluss verhin- Vergrösserung des Seeauslasses durch Messreihe mit zusätzlichen extremen dern ein Ausufern des Ticino. Beide Ef- die Sohlenerosion während des Ereig- Ereignissen erweitert werden kann. fekte zusammen reduzieren somit die nisses von 1868 eine positive Wirkung Mit der gekoppelten Rekonstruktion überfluteten Flächen erheblich. haben. 2990 Gebäude profitieren heute sowohl der meteorologischen als auch Das Hochwasserrisiko wird aber von diesen geplanten und ungeplanten der hydrologischen und hydraulischen nicht nur aufgrund der Änderungen im Veränderungen im Gewässersystem. Prozesse, die im Oktober 1868 abge- Gewässersystem beeinflusst, es steigt laufen sind, konnte dieses Ereignis in- auch mit der Anzahl der exponierten tegral abgebildet werden. Solche Re- Werte. Das Bevölkerungs- und Wirt- konstruktionen liefern eine wichtige schaftswachstum hat ein stetes Anstei- 5 Folgerungen für Praxis und Grundlage für die Analyse der räumli- gen von wohnhaften Personen, Ge- Wissenschaft chen und zeitlichen Dynamik früherer bäuden und Infrastruktur in den po- Hochwasserereignisse und zeigen die tenziell von Hochwasserereignissen Das Management von Hochwasserri- Entwicklung des Hochwasserrisikos betroffenen Flächen zur Folge. In ei- siken basiert auf quantitativen Gefah- seit deren Auftreten auf (Zischg et al. nem Modellexperiment haben wir das ren- und Risikoanalysen. Da extreme 2018). Das Beispiel zeigt, wie stark die WSL Berichte, Heft 78, 2019
18 Forum für Wissen 2019 Hochwasserschutzmassnahmen das für die Gewinnung allgemeiner neuer Einige Jahre nach dem Ereignis ge- Abflussgeschehen und die Anzahl der Erkenntnisse über Extremereignisse. hen die Investitionen in der Regel wie- exponierten Gebäude beeinflussen. Zurzeit wird intensiv an der Ent- der zurück. Zischg (2018) gibt einen Diese Analyse der räumlich-zeitlichen wicklung von Simulationsmodellen für Überblick über die Reaktionen der Dynamik von Systemänderungen wie- die Analyse der möglichen Langzeit- verschiedenen Akteure auf Hochwas- derum erlaubt es (a) eine Beurteilung Effekte von Anpassungsmassnahmen serereignisse. Jedes Hochwasserereig- der bisher vorgenommenen Adaptati- geforscht. Diese Modelle sollen aufzei- nis zeigt ausserdem, wie wichtig die In- onsmassnahmen durchzuführen und gen, welche Klimawandel-Anpassungs- standhaltung der bestehenden Schutz- (b) Simulationsmodelle für die Un- massnahmen nachhaltig sind, bezie- bauten ist. Für diese unspektakulären tersuchung der Wirkung zukünftiger hungsweise welche keine langfristigen Massnahmen fehlt in den Gemeinden Massnahmen zu entwickeln. Nebenwirkungen zur Folge haben. Re- oft das Geld. Deshalb werden in man- Das Hochwasserereignis von 1868 konstruierte Ereignisse, die länger zu- chen Fällen neue Hochwasserschutz- hat ausserdem auch politische und ge- rückliegen, können für die Validierung projekte initiiert anstatt die älteren sellschaftliche Entwicklungen ange dieser Modelle eine wertvolle Grund- Bauwerke zu sanieren oder instand zu stossen und Neuerungen im Hoch- lage bilden. halten (Thomi et al. 2015). wasserschutz zum Durchbruch verhol- Für die Praxis des Hochwasserschut- Die oben gezeigte Rekonstruktion fen (Schmid 2001). Hochwasserschutz zes und Risikomanagements können und Quantifizierung der Wirkung der und Forstwesen wurden zur Bundesan- vor allem aus der Analyse der Aus- bestehenden Hochwasserschutzbau- gelegenheit, mit neuen administrativen wirkungen des Hochwasserereignis- ten erleichtern die Kommunikation Strukturen, und Bundessubventionen ses Schlussfolgerungen gezogen wer- über die Notwendigkeit der laufen- waren nun nicht mehr Grossprojekten den. Es hat sich gezeigt, dass ein derart den Instandhaltung von Schutzbauten. in den Talebenen vorbehalten, so dass grosses Ereignis sehr viele politische Dass bauliche Massnahmen über Jahr- in der Folge zahlreiche Wildbachver- Prozesse anstossen kann. Im Nach- zehnte Schutz garantieren, wird heute bauungen durchgeführt wurden (vgl. gang von 1868 wurden neue Konzepte beinahe als Selbstverständlichkeit an- Summermatter 2012). Langfristige Sys- zum Hochwasserschutz eingeführt und genommen. Wenn angegeben werden temänderungen wie beispielsweise in die Aufgabenverteilung zwischen den kann, wie viele Gebäude heute von der Praxis des Risikomanagements, Kantonen und dem Bund wurde neu den bestehenden Schutzbauten profi- das Siedlungswachstum und zukünftige ausverhandelt. Solche einschneidende tieren, könnte dies die Akzeptanz für Adaptationsmassnahmen sind deshalb Ereignisse stellen somit sogenannte Instandhaltungsmassnahmen erhöhen. bei Studien zu den Auswirkungen des «windows of opportunity» dar. Zusammenfassend kann gefolgert wer- Klimawandels auf die Hochwasserrisi- Auch heute noch steigen die für In- den, dass Informationen über histo- ken unbedingt zu berücksichtigen. Für vestitionen in den Hochwasserschutz rische Ereignisse sehr wertvoll in der eine rückblickende Betrachtung zeigt eingesetzten öffentlichen Mittel nach Kommunikation von Risiken sein kön- das vorliegende Beispiel auf, wie die einem grossen Ereignis an. In dieser nen. Veränderungen in der Flussmorpholo- Phase können Hochwasserschutzpro- gie bei der Interpretation von histori- jekte umgesetzt werden, für die es vor- schen Quellen berücksichtigt werden her entweder keine Finanzierung oder Verdankungen können. Eine einfache Übertragung keine Akzeptanz gegeben hat. Auch beispielsweise des damaligen gemesse- heute noch, Jahre nach dem Paradig- Die diesem Artikel zu Grunde liegen- nen Seepegels auf die heutige Situation menwechsel von der Gefahrenabwehr den Arbeiten wurden unterstützt durch würde eine starke Überschätzung der hin zu einem integralen Risikomanage- das Oeschger-Zentrum für Klimafor- heutigen Überflutungsgefahr zur Folge ment (PLANAT 2004), werden Hoch- schung der Universität Bern, durch haben. wasserschutzmassnahmen mehrheit- den Schweizerischen Nationalfonds Aus der vorgestellten Rekonstruk- lich nach einem eingetretenen Ereig- (Projekt CHIMES 169676) und durch tion und Nachmodellierung des Hoch- nis umgesetzt. den European Research Council (PA- wasserereignisses von 1868 können ver- Eine Umfrage unter Gemeinden LAEO-RA 787574). schiedene Schlussfolgerungen formu- zeigte, dass 53 Prozent aller Hochwas- liert werden. Für die Wissenschaft zeigt serschutzprojekte als Reaktion auf ein das Vorgehen das grosse Potenzial einer Ereignis initiiert wurden (Thomi et al. Analyse historischer Ereignisse auf. Die 2015). Dabei ist jedoch oft eine ad-hoc- 6 Literatur bisher lückenhaften Messreihen kön- Wiederherstellung des vorherigen Zu- nen mit den heute verfügbaren Model- standes zu beobachten, der ja zu den Ambrosetti, W.; Barbanti, L.; Bernardi, R.; len so verdichtet werden, dass ein his- augenscheinlichen Problemen geführt Libera, V. de; Rolla, A., 1994: La piena torisches Wetterereignis sehr detailliert hat. Die erhöhte Bereitschaft für In- del Lago Maggiore dell’autunno 1993: un rekonstruiert werden kann. Für die Er- vestitionen in Schutzbauten zeigt sich evento di portata secolare, Documenta forschung von vergangenen Extremer- auch in den Ausgaben der öffentlichen dell’Istituto Italiano di Idrobiologia, 45, eignissen eröffnen sich somit viele neue Hand. In den Jahren nach 1987, 1999 Istituto Italiano di Idrobiologia. Möglichkeiten. Je detaillierter vergan- und 2005 wurden die Investitionen in Andres, N.; Lieberherr, G.; Sideris, I. V.; gene Ereignisse rekonstruiert werden Schutzbauten deutlich erhöht (BAFU Jordan, F.; Zappa, M., 2016: From calib- können, desto ergiebiger sind sie auch 2009, S. 90; BAFU 2019). ration to real-time operations: An assess- WSL Berichte, Heft 78, 2019
Forum für Wissen 2019 19 ment of three precipitation benchmarks Gleason, B.E.; Vose, R.S.; Rutledge, G.; and specific precursors characterize ext- for a Swiss river system. Met. Apps. 23: Bessemoulin, P.; Brönnimann, S.; Bru- reme floods in Switzerland. Meteorol. Z. 448–461. net, M.; Crouthamel, R.I.; Grant, A.N.; 21:531–550. Arpagaus, J. B., 1870: Das Hochwasser des Groisman, P.Y.; Jones, P.D.; Kruk, M.; Stucki, P.; Brönnimann, S.; Martius, Jahres 1868 mit besonderer Berücksich- Kruger, A.C.; Marshall, G.J.; Maugeri, O.; Welker, C.; Rickli, R.; Dierer, S.; tigung des Kantons Graubünden. Denk- M.; Mok, H.Y.; Nordli, Ø.; Ross, T.F.; Bresch, D.; Compo, G.P.; Sardeshmukh, blätter. Chur, Selbstverlag des Verfassers. Trigo, R.M.; Wang, X.L.; Woodruff, S.D.; P., 2015: Dynamical downscaling and loss BAFU, 2009: Wiederbeschaffungswert der Worley, S.J., 2011: The Twentieth Century modeling for the reconstruction of histo- Umweltinfrastruktur. Umfassender Über Reanalysis Project. Q. J. R. 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20 Forum für Wissen 2019 necting the Dots in Flood Risk Assess- Abstract ment with Coupled Component Models, Simulation of the 1868 Flood Event and Lessons for the Future Systems, 6, 9. Numerical methods combined with historical data allow the detailed and quanti Zischg, A.P.; Hofer, P.; Mosimann, M.; tative investigation of past weather events such as the 1868 flood. This flood Röthlisberger, V.; Ramirez, J.A.; Kei- affected Ticino, Grisons and Valais and led to enormous damage. Based on ler, M.; Weingartner, R., 2018: Flood reanalyses and dynamical downscaling, the event can today be reproduced with risk (d)evolution: Disentangling key dri- hydrological-hydraulic models and the historical damage data can be compared vers of flood risk change with a retro-mo- with contemporary flood impacts of a similar magnitude. It can be used as one del experiment. Sci. Total Environ. 639: basis for estimating extreme meteorological and hydrological scenarios for hazard 195–207. assessment. Moreover, it can help quantifying the effects of the river correction and flood protection measures constructed in the aftermath of the flood. Although the floodplains are now much more intensively populated than at that time, the river engineering measures of the Ticino River in the Magadino plain prove to be effective. We can also learn from a historical analysis for the coping strategies. The event strengthened upcoming positions in flood hazard management and set a new course for the practice of flood management in the long term. Keywords: historical weather extremes, downscaling, flooding, hydrological mod eling WSL Berichte, Heft 78, 2019
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