Reisebericht der Studienreise nach Istanbul- 20. April 2013
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Reisebericht der Studienreise nach Istanbul 14. – 20. April 2013 LV Leitung: Roswitha Hölzl StudentInnen: Zainer Katharina, Zinöcker Birgit, Pühringer Romana, Weber Martina, Was- serthal Sarah, Can Cezmi, Prack Paul, Rabenhaupt Julia, Marques-Rodrigues Anita, Raxendor- fer Elisabeth, Gabriel Christoph, Schönbauer Margit, Stiebitzhofer Bernadette, Weixlbaumer Axel Begleitung: Josef Hölzl
Inhalt Vorwort ................................................................................................................................................... 2 Einleitung ................................................................................................................................................. 3 (An)Reiseimpressionen............................................................................................................................ 3 Politik als zentrales Thema .................................................................................................................. 5 Einrichtungen .......................................................................................................................................... 7 1) Mor Cati - Frauenhaus ................................................................................................................. 8 2) Umut Cocuklari Dernegi - Verein für Straßenkinder ..................................................................... 12 3) Friedrich Ebert Stiftung – Deutsche Stiftung................................................................................. 15 4) Fiziksel Engelliler Vakfi - Verein für Menschen m. Behinderung................................................... 18 5) Halkevleri - Volkshäuser ............................................................................................................... 21 6) Üsküdar Genclik Merkezi - Jugendzentrum.................................................................................. 25 Kultur und Freizeit ................................................................................................................................. 28 Die Blaue Moschee ............................................................................................................................ 28 Die Hagia Sophia................................................................................................................................ 29 Die Zisterne ....................................................................................................................................... 30 Der Galataturm.................................................................................................................................. 31 Der große Basar ................................................................................................................................. 32 Die Prinzeninseln ............................................................................................................................... 33 Impressionen, die wir mitnehmen: ....................................................................................................... 34 Fazit ....................................................................................................................................................... 37 1
Vorwort Gut vorbereitet wurde erstmals Istanbul als Ziel einer Studienreise im Rahmen des Bachelor- Studiums angeflogen. Mit 14 Studierenden vom SO12 durfte ich diese Reise Mitte April durchführen, die von Unterschieden geprägt war. Nicht nur das Wetter wies diese auf, auch die Besuche der Einrichtungen konnten nicht gegensätzlicher sein. Alles maßgeblich Prägen- de ist die politische Lage in diesem Land, was Sozialarbeit nicht nur beeinflusst, sondern die- ser spezielle Aufgaben stellt und Herangehensweisen abverlangt. Die türkische Kultur, in der der Zusammenhalt der Familie als Basis der sozialen Beziehungssysteme zu betrachten ist, prägt und beeinflusst die Felder der Sozialarbeit. Vieles an Betreuung, Begleitung und Unter- stützung wird innerhalb der Familie geleistet, was für Einzelne in problematischen Situatio- nen auch als Auffangnetz dient. Aus diesem Grund versucht Sozialarbeit mehr direkten Ein- fluss auf die Auswirkungen der Politik zu nehmen, positioniert sich, leistet Öffentlichkeitsar- beit und setzt sich für Gleichberechtigung, Gleichbehandlung und Gerechtigkeit ein. Die Besuche von Organisationen reichten von einer deutschen Stiftung über vernetzte Volkshäuser mit sozialraumorientierten Ansätzen und stark politischer Arbeit, über Besuche bei Organisationen mit Angeboten für beeinträchtigte Menschen bzw. von Gewalt betroffe- nen Frauen, bis zu einem Einblick in ein Jugendzentrum und dessen politischer Arbeit mit dem Ziel, Jugendlichen präventiv Möglichkeiten anzubieten, um Bildung und entsprechende Stellung in der Gesellschaft sicherzustellen. Vor allem dieser letzte Besuch warf in unserer Gruppe Fragen auf und zeigte deutlich die Unterschiede einerseits in diesem Land aber auch im Vergleich zu Österreich auf. Details zu den einzelnen Einrichtungsbesuchen, Eindrücke in Wort und Bild haben die Studie- renden in diesem Bericht zusammengefasst. An dieser Stelle möchte ich den StudentInnen für ihre Verlässlichkeit, ihr Engagement und Interesse herzlich danken, vor allem jenen Bei- den, die durch ihre Sprachkompetenz die Orientierung und Verständigung vor Ort wunder- bar erleichtert haben. Roswitha Hölzl 2
Einleitung verfasst von Axel Weixlbaumer, Margit Schönbauer Vom 14.04 bis 21.04.2013 unternahm eine Gruppe von Studierenden des Studienlehrganges Soziale Arbeit eine Studienreise nach Istanbul. Die Reisegruppe bestand aus 14 StudentIn- nen, die von Frau Hölzl und ihrem Mann Josef begleitet wurden. Als Quartier dienten zwei Wohnungen, die Dank des großen Engagements in der Vorbereitungsphase der Reise gefun- den wurden und die sich als Glücksgriff herausstellten. Idealerweise befanden sich auch zwei Istanbul - Kundige und der türkischen Sprache mächtige Studierende in unserer Mitte, was die Reise erstens in Hinblick auf die Orientierung in dieser gigantisch großen Stadt, in der offiziell etwa 15 Millionen Menschen leben, enorm vereinfachte und zweitens die sprachli- che Barriere minimierte. Bernadette und Cezmi standen mit Rat und Tat zur Seite, übernah- men die Rolle der ÜbersetzerInnen und erledigten alle wichtigen organisatorischen Tätigkei- ten vor Ort. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Beiden, da die Reise ohne sie sicherlich um einiges schwieriger und chaotischer verlaufen wäre. Die pulsierende Energie der Metropole mit ihrer Farbenpracht, den Menschenmassen und dem für europäische Verhältnisse untypischen Straßenverkehr hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Auffällig sind die Gastfreundschaft und die Hilfsbereitschaft der Menschen, mit denen wir unmittelbar in Kontakt standen. Leider spielte uns das Wetter einen Streich. Es war für diese Jahreszeit ungewöhnlich kalt und regnerisch, was jedoch die Stimmung der gesamten Gruppe nicht zu trüben vermochte. Ein durchwegs positiver, lustiger und wert- schätzender Umgang herrschte unter den Studierenden und es war spannend, sich im inti- meren Raum außerhalb der Fachhochschule kennenzulernen. Man kann behaupten, dass diese Reise die Gruppe richtiggehend zusammenschweißte. Dafür spricht, dass keinerlei Kon- flikte aufkeimten. Und das, obwohl die morgendliche Warteschlange vor dem Bad nach di- versen vorangegangenen nachtschwärmerischen Aktivitäten durchaus eine Nervenprobe darstellte. (An)Reiseimpressionen Es ist Sonntag, der 14 April 2013 um draußen-ist-es-noch-dunkel Uhr, als wir uns auf den Weg zum Flughafen machen. Mit Sack und Pack, und gefühlten 8 kg Manner Schnitten als Gastgeschenke im Schlepptau, treffen wir uns in Wien am Flughafen und können es kaum glauben, dass es jeder von uns ohne größere (gemeint: den Flug verpassende) Pannen bis hier her geschafft hat. Die Stimmung ist neugierig und gespannt – für viele von uns ist die Reise eine lang ersehnte Abwechslung zum hektischen Arbeits- und Studieralltag und ob- wohl uns bewusst ist, dass wir zum Lernen und Horizonterweitern nach Istanbul fliegen, sind wir fest entschlossen, aus diesen 7 Tagen jeden noch so kleinen Schimmer von Urlaubsstim- mung herauszuquetschen. In diesem Sinne stört uns weder das Anstehen bei der Passkon- trolle noch das Anstehen am Visum Schalter am Flughafen in Istanbul – fast liebevoll be- trachten wir den Stempel im Pass: lange haben wir's geplant und jetzt sind wir endlich hier. 3
Bernadette, die schon ein paar Tage früher angereist ist, holt uns vom Flughafen ab - mit einen Stapel Istanbul Cards in der Tasche und einer Engelsgeduld für die Erklärungen, bis wohin wir mit welchem öffentlichen Verkehrsmittel fahren sollen. Sehr schnell wird uns klar, dass wir hier mit unserem Englisch keine weiten Sprünge machen. Wir haben uns für zwei große Wohnungen entschieden, in denen wir als Gruppe gemeinsam wohnen möchten, was sich als ideale Entscheidung herausstellt. Nach dem mehr oder weni- ger (für manche eher weniger) kurzen Weg zu unserer Unterkunft inspizieren wir, wo wir die nächsten paar Tage wohnen werden. Von Waschmaschine bis Kaffeemaschine alles da: passt, sehen wir uns die Stadt an. "Die Stadt", wie sich herausstellt, ist riesig. In Istanbul ist es kalt und regnerisch. In Öster- reich sagt sich inzwischen nach einem langen, kalten Winter und einem noch längeren, kälte- ren Frühling die erste wirklich warme Woche an. Alleine aus Prinzip schon suchen wir uns also ein Lokal, in dem wir beim Abendessen draußen sitzen können. Dass uns danach die Zähne klappern so dass wir fast keinen geraden Satz herausbekommen, ist nebensächlich. Als es Abend wird, treffen wir uns alle vor der Hagia Sophia und beschließen, unseren ersten Abend bei einem gemeinsamen Getränk ausklingen zu lassen. 4
Die Tatsache, dass das Restaurant, das wir uns aussuchen, eine Dachterrasse mit bestem Blick über die Moschee hat, hätte uns vielleicht zu denken geben können, aber am ersten Abend gepflegt mit den Getränkepreisen über's Ohr gehauen zu werden, ist ja fast schon ein Begrüßungsritual, wenn man in einer neuen Stadt ist. Die Stimmung in der Gruppe ist jeden- falls entspannt und fröhlich – ein Zustand, der sich die ganze Woche über halten sollte. Politik als zentrales Thema Im Lauf der Woche stellt sich heraus, dass unsere Reise eine stark politische Färbung be- kommen sollte. In den Einrichtungen herrscht das Thema der derzeitigen repressiven Politik vor, und die Sorge um die Zukunft des Landes war bei den Menschen spürbar. Die Rede ist von massiven Einschränkungen, die der Staat in den letzten Jahren vorantreibt und deren Auswirkungen auf die Freiheit des Einzelnen. Währen in der Türkei der Wirt- schaftsliberalismus blüht, verfolgt die Sozialpolitik einer einen Kurs zurück zu den alten, kon- servativen Werten. Im Fokus der Diskussionen steht die Rolle der Frau, der Familienbegriff allgemein, der Umgang mit ethnischen Minderheiten und anders denkenden Menschen, sowie die Ziele und Zwecke, die die türkische Regierung mit ihren Handeln und Eingriffen verfolgt. Imposant ist es, mit Menschen zu sprechen, die sich trotz der Macht des Staates gegen diesen und für andere Ideale aussprachen, auch wenn sie Gefahr laufen ernsthafte Probleme zu bekommen. Grundsätzlich kann man sagen, dass uns die dortigen Verhältnisse überraschen, da die europäische Medienberichtserstattung nichts von der gegenwärtigen politischen Situation durchblicken lässt. Um das aktuelle politische Spannungsfeld zu verdeutlichen, hier ein kurzer Überblick über die politische Geschichte der Türkei: Die Türkei entstand aus den Trümmern des osmanischen Reiches, welches nach dem verlo- renen ersten Weltkrieg zerfiel und von den westlichen Alliierten besetzt wurde. Der türki- 5
sche General Mustafa Kemal organisierte daraufhin einen Befreiungskampf, aus dem schließ- lich die türkische Republik entstand. Die sogenannten Kemalisten, die Anhänger des Gene- rals, brachen mit der islamischen Tradition und etablierten eine laizistische Staatsideologie (Kemalismus), die sie mit allen Mitteln vorantrieben. Vorbild waren die europäischen Gesell- schaftsmodelle. Ein starkes Militär übernahm die Rolle des „Hüters“ der kemalistischen Wer- te. Jedoch konnte die religiöse Identität der vorwiegend muslimischen Bevölkerung nicht durch ein straffes Zivilisationsprogramm seitens der Regierung revidiert werden. Kemalisten und Islamisten stehen sich seither unvereinbar gegenüber. Die Kemalisten sehen sich selbst als die fortschrittlichen Modernisierer mit dem Ziel Europa, während den Islamisten ein is- lamisches Gesellschaftsmodell vorschwebt. Die Republikanische Volkspartei (die Partei der Kemalisten) hielten bis 2002 die Machtinstrumente des Staates in der Hand. 1990 spaltete sich von der islamistischen Strömung die demokratisch-konservative Gerech- tigkeits- und Entwicklungspartei ab (AKP). Diese präsentierten sich zugleich als europa- freundlich und traditionsbewusst. 2002 gewann diese Partei unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan die Parlamentswahlen und regiert seither mit absoluter Mehrheit. Die kema- listische Elite in Militär, Justiz und Verwaltung vermochte es nicht, den Höhenflug der AKP zu stoppen. Die Wahl 2007 wurde wieder zugunsten der AKP entschieden und das Militär verlor an Einfluss. Glaubt man den Informationen, die wir im Laufe der Woche von verschiedenen Einrichtun- gen und Menschen sammeln durften, scheint sich die AKP in der jüngsten Vergangenheit wieder an ihre islamischen Wurzeln zu erinnern. Die Religion gewinnt an Einfluss, Koranschu- len werden wieder eröffnet und sind nun auch wieder für jünger Kinder, vorwiegend Mäd- chen die von den Eltern aus dem Regelschulbetrieb genommen werden, zugänglich. Sie sind von staatlicher Seite legitimiert, Frauen wird ihr Platz in der Familie angewiesen. Der Begriff Familie wird, wie er in der Türkei verstanden wird, fokussiert. 6
Einrichtungen Aufbauend auf den politischen Hintergründen, die wir im Laufe dieser Woche und besonders von der Friedrich Ebert Stiftung erfahren haben, werden hier nun die einzelnen Einrichtun- gen, die wir besuchen durften, vorgestellt. Nach einem entspannten ersten Abend, erstem Bekanntwerden mit den Ausgehmöglichkei- ten und manch einer traumatischen Erfahrung mit Lammfleisch machen wir uns am nächs- ten Tag auf zur ersten Einrichtung: Ein Frauenhaus mit einer so engagierten Mitarbeiterin, dass wir sie am liebsten auf einen Kaffee entführt hätten um uns mit ihr noch weiterhin aus- zutauschen. Es wird uns bewusst, wie schwierig ist es, sich in eine komplett fremde Mentali- tät hineinzudenken. Uns wird auch bewusst, dass uns für vieles hier der Kontext und Bezugs- rahmen fehlt. Es hätte sich nicht besser treffen können, dass wir gleich am nächsten Tag die Friedrich Ebert Stiftung besuchen. Hier bekommen wir die wichtigsten Basics zur sozialpolitischen Entwick- lung der jüngsten Vergangenheit vor dem Kontext der Geschichte der Türkei allgemein. Was wir auch bekommen: Filterkaffee. Eine Annehmlichkeit die uns mit großem Schrecken fehlt. In Istanbul gibt es Tee (vorzüglich) und Nescafe (weniger vorzüglich). Mit einem ordentlichen Koffeeinschub und den sorgfältig aufbereiteten und verständlich erklären politischen Fakten gestärkt, machen wir uns wieder auf den Weg. Wie wichtig dieser politische Kontext ist, wird uns im Laufe dieser Woche noch sehr deutlich vor Augen geführt. Im Hinblick auf die gegen- sätzlichen Positionen der Volkshäuser und der staatlich geführten Jugendzentren, beispiels- weise, ebenso wie auf die Rolle der Frau und die Familienstruktur. Die gesamten gesell- schaftlichen Rahmenbedingungen waren nur so in einen Kontext zu bringen, der uns ansons- ten mit Sicherheit verborgen geblieben wäre. 7
1) Mor Cati - Frauenhaus Bericht von Anita Marques Rodrigues, Elisabeth Raxendorfer Ansprechpartner: Selime Büyüköze Adresse: Mor Cati Kadin Siginagi Vakfi Katip Mustafa Çelebi Mahllesi Anadolu Sokak No 23 Beyoğlu İstanbul Telefonnummer: 00 90 212 292 52 31/32 Email: morcati@ttmail.com Website: www.morcati.org.tr Datum des Besuches:Montag, 15.04.2013, 10 Uhr Geschichte/Entstehung Mor Cati ist aus der im Jahr 1987 geführten und von der Feministischen Bewegung initiierten Kampagne "Es lebe die Frauensolidarität" hervorgegangen. Der Auslöser war ein Gerichtsur- teil, in dem festgehalten wurde, dass "ein paar Peitschenhiebe auf den Bauch" keinen Scha- den für eine Frau darstellen und daher kein Grund für eine Scheidung wäre. Eine Welle der Empörung schwappte durch das Land und schweißte die ersten, organisierten feministischen Gruppierungen zu einem Strom zusammen, der sich in Form von 2500 Frauen zu einer Kund- gebung im Yogurtcu Park Luft verschaffte. Mit Solgans, Plakaten und Theateraufführungen verschafften sich betroffene Frauen Gehör und ließen sich auch in den folgenden Jahren nicht mehr zum Schweigen bringen. Seit 1990 solidarisieren sich ehrenamtliche Mitarbeite- rinnen von Mor Cati mit Frauen, die Gewalt erfahren. Eine der ersten solcher Einrichtungen 8
in der Türkei. Bald stellte sich heraus, dass es mit Beratung alleine nicht getan war: das Mor Cati Frauenhaus wurde geboren. Inzwischen werden täglich ca. 10 Frauen, die häusliche Ge- walt erfahren, von Mor Cati betreut. Träger/Finanzierung Mor Cati wird nicht vom Staat finanziert, sondern erhält sich fast ausschließlich aus Spenden, Förderungen aus EU Projekten und das Engagement von freiwilligen Helfern und ehrenamtli- chen Mitarbeitern. Gefördert werden fast nur bestimmte Projekte, nicht die Einrichtung als Ganzes. Leitbild/Ziele: Das Ziel von Mor Cati ist es, das Selbstbewusstsein von Frauen im Kampf gegen die Gewalt zu stärken und auf die Problematik Gewalt in der Familie aufmerksam zu machen. Ein großer Wert wird dabei auf Frauensolidarität gelegt – nach der Auffassung von Mor Cati liegt die Ursache von häuslicher Gewalt gegen Frauen in einem grundsätzlichen Ungleichgewicht zwi- schen den Geschlechtern, das alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht. Unsere Ansprech- partnerin erklärt uns geduldig, warum sie sich als Feministin gegen die Institution Familie ausspricht. Automatisch denken wir an unseren eigenen Familienbegriff. Gemein ist hier jedoch die türkische Familienstruktur, indem die Frau dem Mann als Patriarch und Familien- oberhaupt untergeordnet ist und ohne ihn ihre Daseinsberechtigung verliert. Eine Trennung oder gar Scheidung ist nur in den wenigsten Familien sozial akzeptiert und noch weniger Frauen haben dazu überhaupt die Mittel. Es gibt wenig öffentliche Statistiken, die sich ernst- haft mit diesem Thema auseinandersetzen. Man geht davon aus, dass täglich ca. 3 Frauen von ihren Ehemännern oder Ex-Ehemännern getötet werden und etwa 4 von 10 Frauen re- gelmässig häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Mor Cati kämpft auf vielen Wegen für eine Gleichberechtigung von Mann und Frau, und die tatsächliche Umsetzung der an und für sich sehr modernen gesetzlichen Rahmenbedingungen – die jedoch kaum so umgesetzt werden. Dieses Ziel setzt Mor Cati durch Ehrenamtliche Solidarität, psychologische und rechtliche Beratung und im letzten Schritt, Vermittlung in ein Frauenhaus um. Ehrenamtliche Mitarbei- ter, die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen beraten, werden in einem Workshop spezi- ell dafür sensibilisiert. Anschließend erarbeiten sie mit den betroffenen Frauen individuelle Lösungswege, ohne dabei der Frau ein Gefühl der Schuld für ihre Lage zu geben. Betroffene Frauen werden von Mor Cati als Expertinnen in eigener Sache betrachtet, die für sich selbst entscheiden sollen und können. Mor Cati stellt betroffenen Frauen auch psychologische Beratung zur Seite, wenn diese durch den Druck der Gesellschaft, ihre eigene Hilflosigkeit oder Schamgefühle nicht mehr handlungsfähig sind. Das Ziel ist die Stärkung des Selbstbewusstseins und das Verarbeiten dieser Emotionen, so dass diese Frauen wieder die Kraft aufbringen, sich mit ihrer Situation lösungsorientiert auseinander zu setzen. Es ist wichtig, den Frauen zu vermitteln dass sie die Gewalt, die sie erleben, weder verdient noch provoziert haben – etwas, das uns selbstver- 9
ständlich erscheint, in dem gelebten gesellschaftlichen System in der Türkei jedoch keines- wegs eine allgemein vertretene Meinung zu sein scheint. Des Weiteren gibt es rechtliche Beratung für jene Frauen, die nicht um ihre Möglichkeiten Bescheid wissen. Ein großer Teil der Frauen, die Beratung bei Mor Cati in Anspruch nehmen, wissen nicht wie sie ihre Rechte einfordern können. Hier wird die Begleitung von ehrenamt- lichen Anwältinnen durchgeführt. Das Justizsystem handelt leider oft nicht zugunsten der Frauen und Rechtsansprüche werden oft nicht angewendet, wenn keine Unterstützung der Frau stattfindet. Aktivitäten Leitung eines Frauenhauses: Seit seiner Gründung hat Mor Cati verschiedene Frauen- hausprojekte umgesetzt. Das erste, in den Jahren 1995 – 1998 ermöglichte 350 Frauen und 250 Kindern eine Flucht aus ihren Familien. Später, im Oktober 2005 wurde Mor Cati um die Führung eines Frauenhauses gebeten, das in Kooperation mit einer öffentlichen Behörde, der Stadtteilverwaltung von Beyoglu, gegründet werden sollte. Dieses Projekt lief drei Jahre, bis es mit der Begründung eingestellt wurde, dass von seitens der Stadtverwaltung keine finanziellen Mittel mehr gefunden werden konnten. Seit 2009 leitet Mor Cati ein eigenes, autonomes Frauenhaus, in dem derzeit ca. 100 Frauen und Kinder leben. Hier wird großer Wert darauf gelegt, dass die betreuten Frauen möglichst eigenständig bleiben und nicht in ihrer Entscheidung zur Trennung oder Rückkehr in die Familie beeinflusst werden. Es gibt nur zwei Regeln: Im Frauenhaus selbst darf keine Gewalt statt finden und die Adresse muss ge- heim gehalten werden. Die Mitarbeiter von Mor Cati haben immer wieder mit dem Problem zu kämpfen, dass die betroffenen Männer zum Büro kommen und ihrem Ärger Luft machen. Direkt im Nachbargebäude befindet sich ein Polizeiposten, der sich jedoch nicht zuständig fühlt. Dies ist, nach Ansicht von Mor Cati, symbolisch für die gesamte Problematik des Jus- tizsystems. Weitere Aktivitäten von Mor Cati sind Workshops zum Erfahrungsaustausch und zur Sensibi- lisierung der Öffentlichkeit für das Thema häusliche Gewalt. Ein Bewusstsein für die Proble- matik zu schaffen, mit der Frauen täglich konfrontiert sind, ist ein wichtiger Bestandteil von Mor Catis Arbeit. Seit 1998 organisiert Mor Cati jährlich eine Tagung mit Aktivistinnen gegen Gewalt an Frauen. Hier nehmen Fraueninitiativen teil, die Beratungsstellen oder Frauenhäu- ser leiten, sowie Vertreterinnen von Stadtverwaltungen und des Sozialen Dienstes. Diese Vernetzung ist besonders wichtig, damit die Existenz von Mor Cati in der Bevölkerung be- kannter wird. Momentan ist Mor Cati in der Bevölkerung von Istanbul hauptsächlich durch Mundpropaganda bekannt, es ist jedoch noch selten, dass Frauen auch von der Polizei, wenn diese zu einem Konflikt hinzukommen, auf die Möglichkeit eines Frauenhauses aufmerksam gemacht werden. Mor Cati arbeitet hier für eine bessere Zusammenarbeit mit der Exekutive. Zudem findet auf diesen Tagungen ein nationaler Wissenschaftlicher Erfahrungsaustausch statt. 10
Eindruck der VerfasserInnen Für uns ist es teilweise schwierig, uns in die türkische Familienstruktur hineinzudenken. Schnell wird uns klar, dass wir nicht das gleiche meinen, wenn wir von dem Begriff "Familie" sprechen. Während bei uns dieser Begriff weiter gefasst ist, gibt es in der Türkei nur die "konservative" Familienform: die Großfamilie mit starken hierarchischen Strukturen, aus der man sich kaum lösen kann. Unter diesem Aspekt finde ich die Arbeit von Mor Cati bewundernswert und wichtig. Sich offen als Feministin zu bezeichnen, stellt einen schon in Österreich in kein besonders gutes Licht. Während wir hier jedoch "nur" Spötteleien und geringschätzigen Bemerkungen zu befürchten haben, haben die Mitarbeiterin- nen von Mor Cati mit sehr viel wesentlicheren Hindernissen zu kämpfen. Es ist eine große Leistung, was Mor Cati hier mit nur 4 fix angestellten Personen und einem großen Netzwerk aus ehrenamtli- chen Helferinnen leistet. 11
2) Umut Cocuklari Dernegi - Verein für Straßenkinder Bericht von Axel Weixlbaumer Ansprechpartner: Ferhat Sahin Adresse: Umut Çocukları Derneği Kalyoncukulluk Cad. No:23, K:1 Tarlabasi, Beyoglu Istanbul Telefonnummer: 00 90 212 297 49 11 Email: ferhatsahin@umutcocuklari.org.tr Website: http://www.umutcocuklari.org.tr/ Datum des Besuches: Montag, 15.04.2013, 14:00 Uhr Geschichte/Entstehung Der Umut Çocuklari Dernegi (wörtlich: Hoffnungs-Kinder-Verein) ist ein gemeinnütziger Ver- ein, der sich um die Straßenkinder in Istanbul kümmert. Er wurde in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung von Bakirköy/Istanbul im Jahr 1998 als eine "Erster-Schritt-Station" für Straßenkinder von 11 Mitarbeitern aufgebaut. Einer davon, Yusuf Ahmet Kulca, war einst selbst ein Straßenkind und hat und hat als junger Obdachloser Gewalt, Armut, Drogen, Alko- hol und Prostitution selbst erlebt. Durch den großen Erfolg des Vereins konnte in Dolapdere im Jahr 2001 eine weitere Anlaufstelle für Straßenkinder mit Küche und Wäscherei eröffnet werden. 12
Träger/Finanzierung Der Verein wird ausschließlich von Spendengeldern finanziert. Leitbild/Ziele: Umut Çocukları Derneği kümmert sich um die moralische und materielle Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, die aus verschiedenen Gründen die Unterstützung ihres familiä- ren Umfelds verloren haben und auf der Straße leben. Probleme, die sich hier oft stellen, sind die Abhängigkeit von legalen oder illegalen Substanzen, ein schlechter Gesundheitszu- stand und negative Verhaltensweisen. Umut Cocuklari Dernegi arbeitet hier an der Deckung der Grundbedürfnisse, wie Schlafgelegenheiten, Verpflegung und Hygienemöglichkeiten. Um die Gründe für die familiären Probleme dieser Kinder aufzuarbeiten oder zu überwinden, kooperieret diese NGO mit der Polizei, dem Sozialen Dienst und Kinderschutzzentren. Die Ziele des Vereins sind es, den Kindern ein Dach über dem Kopf zu bieten, Bildungsmög- lichkeiten sicher zu stellen und Rehabilitationsmaßnahmen und Entziehungskuren zu organi- sieren. Zudem wird versucht, Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen, eine Vermittler- rolle zu den Eltern zu bieten und Selbstständigkeit beizubringen. Aktivitäten Hauptprojekt des Vereins ist derzeit ein Großprojekt in Çatalca (ca. 30 km von Istanbul ent- fernt), wo auf einer Fläche von 27000 m2 ein Seminarhotel als Einnahmequelle den Betrieb von Ausbildungsstätten (Pflanzen-, Baum- und Tierzucht, schulische Bildung) finanzieren soll. Nach dem Slogan: „Zur Hoffnung ist der Weg weit“ kümmern sich die Mitglieder des Verei- nes heute immer noch um die (je nach Definition) 3.000 bis 15.000 Straßenkinder in Istanbul und auch um deren Familien. Die Kinder kommen aus Problemfamilien, die arm sind, wo misshandelt wird, manche folgen ihren Freunden auf die Straße. In der Einrichtung in Bakirköy können 50 Kinder auf genommen werden. Sie erhalten Unter- richt und werden auch psychologisch betreut. Sie können dort essen, duschen und ihre Klei- dung waschen. Der Verein fördert sozialvernachlässigte Kinder, vermittelt Gesundheitstherapien und Vor- sorgemaßnahmen. Jugendliche im Gefängnis und nach der Entlassung werden betreut und unterstützt. Er unterstützt die Kinder bei der amtlichen Registrierung und anderen Amtsgän- gen. Er hilft auch bei der Durchführung von Ausflügen und gemeinsamen Veranstaltungen. Im Fotoclub der Straßenkinder werden z.B. Kalender und Postkarten hergestellt und ver- kauft. Bei der Gestaltung drücken die Kinder ihre bisherigen Erlebnisse und Erfahrungen aus. In Planung ist ein Schulprojekt am Rande von Istanbul, in dem die Kinder verschiedene Beru- fe erlernen sollen, zB. Koch, Kellner oder Gärtner. Für Eltern, die ihre Kinder suchen, ist der Verein ein Ansprechpartner. 13
Eindruck Die Infos zu dieser Einrichtung stammen leider ausschließlich aus Recherchequellen. Nach einer kurzfristigen Adressänderung sollen wir in einem anderen Stadtteil empfangen wer- den. Gut, denken wir, kein Problem, und hüpfen in ein Taxi zum anderen Ende der Stadt. An und für sich darf man bei Taxifahrten in Istanbul sowieso kein nervöser Beifahrer sein – wenn sich die Taxler jedoch noch während der Fahrt, teilweise auf der Autobahn durch die geöffneten Fenster, gegenseitig beraten, wo das denn nun genau sein soll, wo wir hin müs- sen, dann ist das wahrlich kein unspektakuläres Erlebnis. Angekommen, und gerüstet mit der Adresse suchen wir die richtige Straße. Und suchen. Und rufen an, um nach einer genauen Wegbeschreibung zu fragen, und suchen weiter. Gefühlte 30 Passanten und 8 Busfahrer fra- gen wir, respektive Cezmi, nach dem Weg und müssen schließlich, durchfroren und durch- nässt weil das Wetter schließlich auch einen bösen Sinn für Humor hat, aufgeben. Drei Tage später lesen wir einen unschuldigen, kurzen Satz wie nebenbei im Reiseführer: "[...] wenn Sie jedoch einen Passanten nach dem Weg fragen, kann es sein dass Sie dieser, wenn er den ge- nauen Weg auch nicht kennt, aus reiner Höflichkeit in irgend eine beliebige Richtung schickt," woraufhin wir unglaublich überrascht sind. 14
3) Friedrich Ebert Stiftung – Deutsche Stiftung Bericht von Katharina Zainer, Christoph Gabriel Ansprechpartner: Alexander Geiger Adresse: Cihannüma Mahallesi Mehmet Ali Bay Sk. No.: 12 D: 5 Besiktas, Istanbul Telefonnummer: 00 90 212 310 82 37 Email: contact@festr.org Website: www.festr.org Datum des Besuches: Dienstag, 16.04.2013, 10 Uhr Geschichte/Entstehung: Friedrich Ebert war Sozialdemokrat und der erste Reichspräsident (1919) der Weimarer Re- publik. Friedrich Ebert legte in seinem Testament fest, dass nach seinem Tod eine Stiftung gegründet wird, die den Zweck verfolgt, jungen Studenten und Studentinnen Beihilfen für einen Studiengang an staatlich anerkannten Instituten zu geben. Es sollten aber vorrangig StudentInnen unterstützt werden, die eine Empfehlung der Parteiorganisation (SPD) beibrin- gen. Nach seinem Tod 1925 wurde diese Stiftung dann - als erste ihrer Art - gegründet. 1933 wurde die Stiftung dann jedoch von den Nationalsozialisten verboten. 15
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Stiftung (die im Prinzip ein eingetragener Verein ist) 1945 vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund wiedergegründet. Neben dieser Stiftung gibt es noch fünf weitere Stiftungen bzw. Vereine. Jede Partei im Bun- destag kann eine Stiftung dieser Art gründen, wobei die Stiftungen jedoch inhaltlich unab- hängig agieren. Weltweit gibt es 109 Auslandsbüros der FES mit insgesamt 628 Mitarbeitern. Das Auslandsbüro in Istanbul besteht seit 1988. Wichtig zu Beginn war es jedoch hauptsäch- lich das Vertrauen in der Türkei zu erarbeiten, da sie eher als eine Art „Spione“ vermutet wurden. Das Büro in Istanbul hat acht Mitarbeiter. Es gibt auch noch eine Zweigstelle in An- kara. Träger/Finanzierung: Finanziert wird die Stiftung zu 95% aus öffentlichen Bundesmittel. Je nach Arbeitsbereich kommt das Geld von den verschiedenen Ministerien. Im Jahr 2010 betrug das Gesamt-Etat 149 Mio. Euro für alle Stiftungen, wobei 48 Mio. Euro für Auslandsbüros zur Verfügung stan- den. Leitbild/Ziele: Die FES sieht ihre Hauptaufgabe in erster Linie in der Förderung der politischen und gesell- schaftlichen Bildung von Menschen aus allen Lebensbereichen im Geiste von Demokratie und Pluralismus, begabten jungen Menschen durch Stipendien Zugang zu Studium und For- schung zu ermöglichen und zur internationalen Verständigung und Zusammenarbeit beizu- tragen. Im Prinzip hat die FES in Istanbul drei Hauptziele: das Pflegen der deutsch-türkische Bezie- hungen bzw. die Erweiterung der EU, die Förderung demokratischer Grundwerte und die Förderung und Entwicklung von sozialen Grundwerten. Hierbei hat die FES drei Hauptarbeitsfelder: Die Politische Bildung im Inland, die Talentförde- rung junger StudentInnen, wobei Parteizugehörigkeit keine Rolle, die Veröffentlichung Wis- senschaftliche Publikationen und Beratungsarbeit im Ausland. Konkret organisiert die FES in Istanbul Workshops, Seminare, Vorträge und internationale Konferenzen. Zusammengearbeitet wird hauptsächlich mit Organisationen der Zivilgesell- schaft, Universitäten und Forschungsinstitute, Gewerkschaften, Berufsverbände, Vereine, dem Parlament und Ministerien, Lokalverwaltungen, Medienvertreter sowie internationalen Organisationen. Der Büroleiter hat explizit darauf hingewiesen, dass diese Unterstützung hauptsächlich im Rahmen einer „Know-How-Weitergabe“ zu verstehen ist. Keinesfalls gibt es jedoch Unterstützung in Form von finanziellen Förderungen. Interessante statistische und allgemeine Daten: In das türkische Parlament kommt man nur dann, wenn man die 10%-Hürde schafft. Daher gibt es in der Türkei auch nur vier bestim- mende Parteien im Parlament. 16
Die Türkei belegt laut einer Studie der EMRK bei der Medienfreiheit den 1. Platz bei „Ein- schränkung der Medienfreiheit“. Grund dafür ist die Medienstruktur: Jede Zeitung gehört einem Wirtschaftsunternehmen an, welche wiederum stark von der Politik beeinflusst wer- den. In der Türkei gibt es ein sehr starkes Arm-Reich-Gefälle. Die Arbeitslosenquote beträgt offizi- ell rund 10% (inoffiziell spricht man von ca. 50%). Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 25%, wobei man beachten muss, dass die türkische Bevölkerung allgemein als eine sehr jun- ge Bevölkerung gilt. In der Türkei gibt es europaweit die wenigsten beschäftigten Frauen, was hauptsächlich auf die Familienrolle der Frau zurückzuführen ist. Die Zahl an beschäftigten Frauen ist in den letzten Jahren sogar noch weiter gesunken. Der Mindestlohn beträgt 700 TL (= knapp 300,- EUR). Eine Art Sozialhilfe und ein staatliches Versicherungssystem ist in den letzten Jahren erst eingeführt worden. Obdachlose gibt es sehr wenige, da das Familiengefüge eine sehr große Rolle spielt. Hingewiesen wurde auch auf einen starken Personenkult in der Türkei. Dies konnte der deutsche Praktikant (Geschichts-Student) selbst miterleben, als es um die Wahlen für eine Jugend-Partei ging. Es wurden vorrangig Personen gewählt aufgrund des Erscheinungsbildes und nicht aufgrund der Einstellungen, welche Ansichten der oder diejenige Jugendliche ver- tritt. Ebenfalls angemerkt wurde die noch nicht vollzogene Trennung von Staat und Religion (Lai- zismus). Im Prinzip gibt es eine eigene staatliche Behörde die die Religion „kontrolliert“. Aktivitäten: Aktuell gibt es gerade ein Gemeinschaftsprojekt mit einer Universität betreffend „Einkom- mensstrukturen“. Weiters wurden folgende Projekte bereits abgewickelt: Projekt betreffend Meinungs- und Medienfreiheit, Workshop betreffend Verfassungs-Reform-Prozess -> die FES hat Ideen und Vorschläge abgegeben, Teilnahme an Konferenz betreffend Frauenrechte in der Verfassung. 17
4) Fiziksel Engelliler Vakfi - Verein für Menschen m. Behinderung Bericht von Martina Welser, Sarah Wasserthal Ansprechpartner: Hakan Ünlü Adresse: Fiziksel Engelliler Vakfi Merkez Mah. Ciftecevizler Cad. No: 9/3 Sisli, Istanbul Telefonnummer: 00 90 212 343 77 77 Email: info@fev.org.tr Website: www.fev.org.tr Datum des Besuches: Dienstag, 16.04.2013, 14:00 Uhr Träger/Finanzierung Der Verein für Menschen mit Beeinträchtigung wird ausschließlich durch Sponsorengelder und Subventionen finanziert. Leitbild/Ziele: Die Ziele des Vereins für Menschen mit Beeinträchtigung umfassen: Ein Leben ohne Diskriminierung für die Menschen mit Beeinträchtigung zu schaffen Die Integration im alltäglichen und sozialen Leben zu unterstützen Hilfeleistungen in den Bereichen Ausbildung, Berufsleben, Gesundheit und Beratung zu bieten Ein barrierefreies Wohnen zu fördern 18
Aktivitäten Projekt „Mit Herz arbeiten wir“: Das Ziel dieses Projekt ist es, dass Menschen mit Beeinträchtigung ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie ihrer beruflichen Erfahrung entsprechende Berufe erlernen und ausüben können. Auf diese Art und Weise erlangen sie ökonomische Unabhängigkeit, wodurch ihr Selbstvertrauen gestärkt wird und sie ihren Platz in der Gesellschaft besser fin- den können. Projekt „Glückliche Beeinträchtigte Callcenter“: Dieses Projekt zielt darauf ab, den Menschen und Institutionen Informationen über den Be- griff Beeinträchtigung zu vermitteln. Projekt „Sportliches Ausbildung und Koordination“: „Sportliche Ausbildung und Koordination“ ist in Kooperation mit der Sporthochschule der Universität Marmura ins Leben gerufen worden. Es soll Jugendlichen mit Beeinträchtigung zwischen 13 und 14 Jahren neben der medizinischen Hilfe und diversen Rehabilitationspro- grammen, die ihnen entsprechenden Trainingsmöglichkeiten bieten. Projekt „Weiße Schmetterlinge“: Hier werden im Besonderen Menschen mit geistiger Behinderung gefördert, da sie die größ- ten Schwierigkeiten haben, eine geeignete Arbeitsstelle zu finden. 37 Menschen wurden bisher ausgebildet und absolvierten eine Abschlussprüfung. 23 von ihnen haben die Prüfung erfolgreich bestanden und arbeiten jetzt in verschieden Filialen von Mc Donalds in Istanbul. Projekt „Barrierefrei“: In Kooperation mit der Kunstakademie der Universität Mimar Sinan wurden als Pilotprojekt die Straßen, Gehsteige, Erholungsplätze etc. in zwei Stadtteilen untersucht und die wesentli- chen Probleme, die beeinträchtigte Menschen in Hinblick auf ihre Bewegungsfreiheit dort haben, festgestellt. Diese Informationen/ Lösungsvorschläge sind an das Magistrat weiterge- leitet worden. Projekt „Arbeitsstelle im Kundendient bei THY (Türkische Fluglinie) für beeinträchtigte Men- schen“: Durch die Kooperation mit der türkischen Fluglinie haben 100 Menschen mit Beeinträchti- gung die Möglichkeit bekommen, eine dreimonatige Einschulung im Bereich Kundendienst zu machen. Durch diese erfolgreiche Schulung sind sie jetzt im Kundendienst tätig. Projekt „Sommercamping für beeinträchtigte Menschen“: 19
Ein Kostenfreier Campingplatz, im Rahmen dessen sich beeinträchtigte Menschen mit ihren Familien erholen können, wurde mit Hilfe des Bürgermeisters realisiert. Eindruck Der freundliche Empfang und die heitere Stimmung während unseres Besuchs hinterließ einen grundsympathischen Eindruck. Die MitarbeiterInnen des Vereins verbreiteten eine durchwegs positive Stimmung, was sich schnell auch auf die Gruppe übertrug. Beiderseitiges reges Interesse an den unterschiedlichen Ausprägungen, Entwicklungen und Ideen der Ar- beit mit beeinträchtigen Menschen in den beiden Ländern schuf eine entspannte und inte- ressante Atmosphäre. Natürlich spielt auch hier die Familie eine wichtige Rolle. Nach dem türkischem Sprichwort: „Kein einziges Lamm soll alleine sein, sonst schnappt es der Wolf“ werden viel beeinträchtige Menschen von ihren Familien betreut. Diese sollten eigentlich in Zukunft eine finanzielle Unterstützung Seitens des Staates bekommen, was jedoch leider in der Realität bis jetzt nur eine endlose innenpolitische Diskussion anheizte und somit die tat- sächliche Unterstützung auf sich warten lässt. Auch die finanziellen Zuwendungen des Staa- tes bezüglich anderer Förderangebote sind eher gering. Der Begriff Inklusion wird nach mei- nem Verständnis mit dem Begriff Integration gleichgesetzt. Mittlerweile wird versucht, gro- ße Heime aufzulösen und stattdessen Wohngruppen von 6 bis 8 Personen zu schaffen. Die gesetzliche Lage der Türkei bezüglich Menschen mit Beeinträchtigung gestaltet sich ähnlich den österreichischen Verhältnissen. So stellt die Diskriminierung eines beeinträchtigten Menschen eine Straftat dar, die mit einem Strafrahmen bis zu 6 Monaten Freiheitsstrafe sanktioniert wird. Der fröhliche Optimismus der Mitarbeiter wirkte befreiend leicht und unbeschwert, ihr Um- gang miteinander war eher freundschaftlich als kollegial. Respekt! 20
5) Halkevleri - Volkshäuser Bericht von Paul Prack, Julia Rabenhaupt Ansprechpartner: Avni Can Okur Adresse: Okmeydani Haklevi Mahmutşevketpaşa Mahallesi Harman Sokak No.1 Okmeydanı Şişli, Istanbul Telefonnummer: 00 90 555 479 69 45 Email: bilgi@halkevleri.org.tr Website: http://www.halkevleri.org.tr/istanbul/okmeydani-halkevi Datum des Besuches: Mittwoch, 17.04.2013, 10:00 Uhr Entstehung/Geschichte: Die Volkshäuser entstanden ursprünglich unter Kemal Atatürk mit dem Ziel die Reformen der Regierung in der Bevölkerung zu festigen. 1932 wurden in 17 Städten Volkshäuser eröffnet mit dem Ziel, den Einfluss von konservativen Kreisen zu mindern. Hier wurden kostenlose Literatur und Kunstkurse angeboten. Mit dem Machtwechsel der Regierung wurden die Volkshäuser geschlossen und später verboten. Jetzt entstehen sie wieder als unabhängige Einrichtungen aus der Eigeninitiative von Aktivisten, wobei die Werte, die sie vertreten, größtenteils die gleichen geblieben sind. 21
Träger/Finanzierung Die Volkshäuser sind keine offiziellen, öffentlichen Einrichtungen. Sie verzichten bewusst auf eine staatliche Unterstützung /Förderung um auch in ihrem Programm und in ihrer Arbeits- weise nicht dem staatlichen Einfluss zu unterliegen. Die VH finanzieren sich selbst aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen und alle Leistungen werden durch Freiwilligenarbeit erbracht. Jeder und jede kann und darf sich nach seinen Kompeten- zen an dem Angebot in den Einrichtungen beteiligen. Die Volkshäuser können als Verein (ohne Dachverband) verstanden werden, der auch zur Gänze selbst für seine Infrastruktur (Gebäude, Strom, Materialen ..) aufkommt. Leitbild/Ziele: In Istanbul und Umgebung gibt es ca. 20 Standorte der Volkshäuser. Diese finden sich zu- meist in den einzelnen Vierteln der Metropole. Jedes dieser Häuser bietet ein unterschiedli- ches Programm an, je nach den Bedürfnissen, die sich aus der direkten Umgebung ergeben. Die Vorgehensweise der Volkshäuser setzt oft partizipierend an den Menschen der Nachbar- schaft an, das heißt aus dem jeweilig erhobenen Bedarf wird ein Programm gestaltet. Die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen werden ins „Kursprogramm“ (Wochen- und Mo- natsplan) aufgenommen. Diese Veranstaltungen werden dann beworben (Flyer, Mundpro- paganda, persönliche Einladung der Bevölkerung) und allen steht es frei sich anzumelden und mitzumachen. Die Istanbuler Volkshäuser haben 3 Hauptzielgruppen: Frauen, Jugendliche und Kinder. Je nach Stadtteil handelt es sich oft auch um Menschen kurdischer Abstammung, deren sozialer Status noch schlechter ist, als der der türkischen Bevölkerung. Angebote: Das Angebote für Frauen umfasst Alphabetisierungskurse, Kreativkurse (Beispiel das ge- meinsam gestaltete Tuch der Frauen als Zeichen der Emanzipation). Durch die Gemeinschaft mit anderen Frauen soll der Selbstwert der einzelnen Frauen gestärkt werden. Ebenso gibt es Gesprächsrunden wo Frauen die Möglichkeit bekommen aus der „Isolation der Familie“ heraus zu kommen; sie sollen die Chance bekommen auch außerhalb der Fami- lie Feedback für ihre Persönlichkeit zu erhalten. Hier findet vor Allem Aufklärung darüber statt, was Frauenrechte, Menschenrechte bedeuten und was soziale Gerechtigkeit bedeutet. Es geht weniger darum Frauen, die beispielsweise von familiärer Gewalt betroffen sind, di- rekt zu unterstützen; vielmehr setzt die Arbeit ganzheitlich an, im Sinne der Hilfe zur Selbst- hilfe und Aufbau des Selbstbewusstseins. Über die partizipierende Arbeitsweise lernen die Frauen, dass sie einen Beitrag leisten kön- nen, dass ihre Meinung wichtig ist und sie etwas verändern können. Ziel ist es bei den Frau- 22
en ein Bewusstsein dafür zu etablieren, dass sie ein Recht auf Mitsprache und Mitbestim- mung haben. Die Angebote für Kinder und Jugendliche bestehend aus Kursen im Sommer, vor allem drau- ßen vor den Volkshäusern oder in öffentlichen Parks. Die Programme werden vorrangig von freiwilligen Studenten angeboten. Es gibt Theaterprojekte, wo den Kindern soll die Möglich- keit gegeben werden soll, in Rollen zu schlüpfen, und Musikprojekte. In den Schulen ist der Musikunterricht oft sehr nationalistisch gestaltet, die Auswahl an Instrumenten begrenzt- hier soll ein breiteres, offeneres Angebot gemacht werden; Beim Basteln, Ballspielen, Schach soll den Kindern und Jugendlichen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung geboten werden. Nachhilfe oder auch ergänzender Unterricht zur Schule wird angeboten, da der Lehrplan an den Schulen oft eingeschränkt ist, besonders auf Koranschulen trifft dies zu. Hier findet sich kaum Naturwissenschaften; Geschichte ist oft auf die nationale Historie beschränkt; die Klas- sen sind sehr groß und das Verhältnis Lehrer/ Schüler ist sehr hierarchisch. In den Volkshäu- sern sollen die Kinder und Jugendlichen lernen, sich einzubringen/ nachzufragen und ein individuelles Interesse entwickeln- auch hier geht es wieder um den Lernprozess der aktiven Mitbestimmung. Über die Kinder wird auch der Kontakt zu den Eltern gesucht; es geht darum Bedürfnisse und Verbesserungsvorschläge seitens der Eltern zu erheben und die Mitarbeiter der Volkshäuser fungieren dann ggf als Sprachrohr (Beispiel welches genannt wurde, war die Umwandlung einer Regelschule in eine Koranschule, welche in einem Stadtteil vorgenommen werden soll- te; zusammen mit den MA der Volkshäuser wurde eine Demonstration organisiert bzw. wur- de auch das Gespräch mit verantwortlichen Gemeinderäten gesucht um die Umwandlung abzuwenden.) Generell stehen die Volkshäuser allen umliegenden Bewohnern offen und sind so etwas wie ein allgemeiner Treffpunkt. Es gibt Bücher und Zeitschriften, die man lesen kann und auch das Internet kann genutzt werden. Die Volkshäuser bieten die Möglichkeit sich zu treffen und sich auszutauschen und die Mitarbeiter der Volkshäuser versuchen für alle Alltagsprob- leme der Bevölkerung einen Rahmen zu schaffen oder für die Menschen als Ansprechpart- ner da zu sein. Wenn der Wunsch besteht werden auch Informationen über weitere Hilfen eingeholt und die Menschen werden an andere Institutionen weiterverwiesen (als Beispiel wurde eine Frau genannt, die sich scheiden lassen wollte). Klassische Öffnungszeiten der VH gibt es nicht, auch keinen Dienstplan der Mitarbeiter, wie wir es kennen- die Absprach erfolgt untereinander. Der erste, der am Morgen kommt (ca 10 Uhr) sperrt auf und der letzte am Abend sperrt zu. Die Personen, die aktiv in den Volkshäu- sern mitarbeiten, sehen die Einrichtung als Teil ihres Lebens und verbringen dort auch ihre Zeit als Privatpersonen. Vor allem nämlich können die VH als politische Initiative verstanden werden. Die Mitglieder sehen ihren Auftrag darin in der Türkei eine Opposition zur Regierungspartei darzustellen. 23
Sie stehen für die Umsetzung der lt türkischer Verfassung verankerten Menschenrechte- für soziale Gerechtigkeit, Frauenrechte- ein Großteil der Öffentlichkeitsarbeit läuft hier über persönliche Gespräche, Flyeraktionen und Demonstrationen. Die türkischen Sozialisten, als die sich die Aktiven der Volkshäuser verstehen, sehen mit Be- dauern, dass im Gegensatz zum türkischen Wirtschaftswachstum die gesellschaftliche Ent- wicklung zurückbleibt oder sich sogar rückläufig entwickelt (Frauenbeschäftigung, Trennung von Schule und Religion, freie Meinungsäußerung etc.) und sie versuchen sich gemeinsam dagegen zu engagieren. Auch für den Umweltschutz (Demonstrationen gegen Bauprojekte) und für Menschen mit Behinderung (Öffentlichkeitsarbeit für mehr Rehabilitationseinrichtungen) setzt sich der Verein ein, ebenso suchen sie den Kontakt zu Verantwortlichen wenn es darum geht die Be- völkerung vor Ort in ihrem Bedarf zu unterstützen (Beispiel Bau von Schulen und Krabbel- stuben). Persönlicher Eindruck der VerfasserInnen Mir hat der Besuch der Istanbuler Volkshäuser mit am besten gefallen. Die Menschen, die ich dort kennen lernen durfte haben es in nur kurzer Zeit geschafft, mir sehr viel von dem was sie inspiriert und antreibt, mitzuteilen. Sie streben nach einer positiven Veränderung ihrer Gesellschaft und sind bereit dafür einzustehen. Manche von ihnen verzichten auf einen bes- seren Lebensstandard um ihre Zeit und Energie in die Projekte der Volkshäuser zu investie- ren. 24
6) Üsküdar Genclik Merkezi - Jugendzentrum Bericht von Birgit Zinöcker, Romana Pühringer Ansprechpartner: Veysel Kömürcü Adresse: Üsküdar Genclik Merkezi Burhaniye Mah. Genc Osman sk. No:13 Üsküdar Istanbul Telefonnummer: 00 90 216 557 74 39 Email: uskgencmrkz@uskudar.bel.tr Website: http://www.uskudargenclikmerkezi.com/index.html Datum des Besuches: Donnerstag, 18.04.2013, 10 Uhr Träger/Finanzierung Das Jugendzentrum gehört zum Magistrat und wird auch noch von anderen öffentlichen Stellen finanziell unterstützt, was schon auf den ersten Blick ersichtlich ist. Im krassen Ge- gensatz zu den Volkshäusern scheinen hier beinahe unbegrenzte Mittel zur Verfügung zu stehen. Leitbild/Ziele: Folgende Ziele lassen sich erörtern: die Beratung im Bereich Ausbildung, die Förderung von sportliche Aktivitäten und Wettbewerben, die Vermittlung von Kunst, Kultur und Tradition und das Ziel, dass die Jugendlichen auf dem richtigen Weg bleiben. 25
Da diese Institution von öffentlicher Hand finanziert und von Gedankengut der AKP getragen ist, wage ich zu behaupten, dass hier das vorrangige Ziel zu sein scheint, eine einschlägige politische Jugend zu formieren. Die Vermittlung von Werten und Tradition, deren Inhalt sich leicht mit der AKP in Verbindung bringen lässt, wird meinem Eindruck nach besonderer Wert beigemessen. Es hat den Anschein, als werde mit enormen Mitteln versucht, den Menschen schon in jungen Jahren den „richtigen“ Weg zu weisen. Geführt wird das Jugendzentrum von psychologischen Beratern, die eine jahrelange hoch- qualifizierte Ausbildung durchliefen. Aktivitäten Dieses Jungendzentrumwird täglich von etwa 1100 Besuchern frequentiert, wobei davon 75% weiblich sind. Von staatlicher Seite wurde diese Einrichtung das beste Jugendzentrum in der Türkei ausgezeichnet. Es dient als Vorbild für andere Jugendeinrichtungen in der isla- mischen Welt. Zugänglich ist es für Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Die Angebote des Jugendzentrums sind breitgefächert: Verschiedene Kurse werden abgehalten in Geschichte, Fremdsprachen, Mathematik, Sport, Literatur, etc.. Eine enge Zusammenarbeit mit den staatlichen Universitäten wird forciert. Workshops werden angeboten, Theaterstücke aufgeführt. Zusätzlich zu diesen Bildungsan- geboten besteht die Möglichkeit hier berühmte Persönlichkeiten aus Politik und Literatur zu treffen. Ein großes Sportfest (Jugendolympiade) findet jährlich statt an dem 9000 Jugendliche teil- nehmen und das gerade an dem Tag veranstaltet wurde, an dem wir unseren Besuch abstat- teten. Uns wurde daher die (fragwürdige) Ehre zu Teil, dieses Sportfest zu besuchen und einige Eindrücke zu sammeln, die vorerst verstörend wirkten, jedoch im Kontext einer „poli- tischen“ Reise wiederum eine Bereicherung darstellte. Großen Wert wird auf die Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit gelegt, um einen möglichst hohen Personenkreis anzusprechen. Hierbei werden alle Arten der medialen Präsenz in der Türkei genutzt. Eindruck Der erste Eindruck den wir von der Einrichtung haben, ist vor Allem eines: befremdlich. Von der Lage des Jugendzentrums, mitten in einem gut gepflegten Stadtteil, über die Metallde- tektoren und den Empfangstisch am Eingang bis hin zur modernen Einrichtung und Bauwei- se, die mehr an ein gepflegtes Bürogebäude erinnert, ist hier wirklich gar nichts so wie wir es von einem Jugendzentrum erwartet hätten. Die Präsentation, mit der uns unsere Ansprech- partner ihre Arbeit näher bringen wollen, wirkt, als wären solche Vorträge hier an der Ta- gesordnung. Folie um Folie von händeschüttelnden Politikern und Parteimitgliedern be- 26
kommen wir gezeigt, bis schließlich die einzelnen Projekte vorgestellt werden – wieder mit einem großen Fokus auf politische Sponsoren. Durch die Darstellungen der sozialpolitischen Lage, die wir in den Volkshäusern erfahren haben und die politischen Hintergrundfakten, die wir bei der EFS bekommen haben, färbt unser Skeptizismus jeden Satz, den wir hören: die "richtige" Geschichte soll hier den Jugendlichen gelernt werden, erfahren wir, nicht die, die sie in der Schule lernen. Die exemplarischen Fotos der Projekte zeigen kaum Mädchen ohne Kopftuch und kaum gemischte Gruppen. Das Angebot stünde zwar beiden Geschlechtern gleichermaßen offen, hören wir auf unsere Frage, und in Summe würden sogar mehr Mäd- chen das Kursprogramm in Anspruch nehmen. Bei uns drängt sich der Eindruck auf, dass Theorie und Praxis hier doch etwas weiter auseinander liegen. Die Jugendlichen sollen durch sportliche Ertüchtigung und geistige Forderung (und Verinnerlichung der nationalistischen Werte) am "rechten Weg" gehalten werden. Im Foto, das die Korandiskussionsrunde dar- stellt, entdecken wir keinen einzigen männlichen Teilnehmer. Leider können wir nicht weiter in die Tiefe fragen, da ein gewisser Zeitdruck besteht: es soll gerade heute ein großes Sport- fest statt finden, eine Kinderolympiade, und eigentlich stehen alle unter Stress. Ob wir die- sem Spektakel beiwohnen möchten, werden wir gefragt. Na sicher, denken wir, und werden zum Gelände chauffiert. Was sich hinter dem Wort "Sportfest" verbirgt, wird uns erst klar als wir ankommen: eine riesige Halle, gefüllt mit Kindern, geschmückt mit übergroßen Plakaten von politischen Vertretern. Wir versuchen, uns möglichst unauffällig in die hinterste Reihe zu setzen, werden jedoch ganz nach vorne vor die politischen Zuseher gesetzt. Uns fehlt das Who-is-Who, für einen konkreten Eindruck – dass die ersten paar Reihen in unserem Zuse- herblock jedoch nur von Männern im dunklen Anzug besetzt sind, gibt uns zu denken. Wir fühlen uns sehr fehl am Platz und uns beschleicht das unangenehme Gefühl, dass wir hier zur Verbreitung einer eigenen, politischen Botschaft benutzt werden. So sitzen wir als "Delegati- on von StudentInnen aus Österreich" in den vordersten Sitzen, während Politiker, die wir nicht kennen und die unter Jubel und Blumen von den Kindern begrüßt werden, möglicher- weise politische Inhalte ins Mikrofon brüllen, die wir nicht verstehen und von denen wir uns vielleicht lieber distanziert hätten. Wir warten einen höflichen Zeitpunkt ab, an dem wir wieder gehen können – vom eigentlichen Teil eines Sportfestes, einem Fest oder Sport ha- ben wir nichts gesehen. Es bleibt ein negativer Nachgeschmack: wurden wir hier instrumen- talisiert, so wie es diese Kinder ganz klar werden? In unseren Köpfen finden wir jedenfalls erschreckend viele Parallelen zu dem, was wir schon als Kinder im Geschichtsunterricht ge- lernt haben. Mit großer Erleichterung stellten wir in den nächsten Tagen fest, dass es unsere "Österreich Delegation", so weit wir das beurteilen können, weder in die Nachrichten noch auf die Homepage des Jugendzentrums geschafft hat. Mit dieser Art von Jugendarbeit kön- nen wir uns nämlich ganz und gar nicht anfreunden. Trotzdem finden wir, dass der Besuch des Jugendzentrums eine wertvolle Erfahrung war. Nun haben wir das Gefühl, wirklich ein rundes Bild mit beiden Polen der Gesellschaft in der Türkei bekommen zu haben, auch wenn diese Seite keine angenehme war. 27
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