Seminarzeitung - Welt Ohne Grenzen arbeiter im Weinberg - Priesterseminar Hamburg
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Seminarzeitung Himmelfahrt Ostern 2021 2020 Ausgabe 21 20 Welt ohne Grenzen Arbeiter im Weinberg H e i k e S t r ob l G r e n z ü b e rw i n d u n g d u r c h Menschlichkeit Christian Lillicrap H a m b u r g o d e r S t u t tga rt – H au p t sac h e To r o n to Marcus Bohnen
Inhalt Editorial 3 Ulrich Meier Arbeiter im Weinberg 4 Heike Strobl Grenzenlosigkeit als Grenzerfahrung 5 Matti Melchinger Grenzen niederreißen 7 Kalia d’Albuquerque Martins Zwischen (griech.: meso) 8 Marta Świętochowska-Lackowska „Ich bin ich“ und das ist es, was mich erschafft 11 Lina Dvaranauskienė Grenzüberwindung durch Menschlichkeit 12 Christian Lillicrap Leben in Neuseeland – Priesterseminar in Nordamerika 14 Lesley Waite Hamburg oder Stuttgart – Hauptsache Toronto 16 Marcus Bohnen Grenzen überschreiten – Grenzen abbauen 19 Julian Rögge Unterwegs sein – Wo auf der Erde finde ich den Himmel? 20 Lucienne van Bergenhenegouwen Liebes Hamburger Priesterseminar! 23 Fritjof Winkelmann Stirb und Werde – Pflanzenmetamorphosen 24 Eva Bolten Spendenaufruf 26 Christian Scheffler
3 Editorial Liebe Freunde und Förderer des Hamburger Priesterseminars, welche heilenden Initiativen schulden wir dieser Zeit mit der bereits ein Jahr anhaltenden Pandemie, die durch ihre gesundheitlichen Gefahren und sozia- len Folgeerscheinungen für Menschen auf der ganzen Welt heillose Gruppen- bildung und zunehmend dramatische Vereinzelung mit sich bringt? In der großen Redaktionsrunde der Vollzeitstudierenden vor den Semester ferien war das diesjährige Thema schnell und einvernehmlich verabredet: W ELT OHNE GRENZEN. Dabei stand uns das Ideal eines Christentums vor Augen, dem die Ebenbürtigkeit nicht nur des Menschen mit dem Schöpfergott sondern auch aller Menschen auf dieser Welt untereinander ein Herzensanliegen ist. Daraus geht die Sehnsucht nach Bildung verschiedenartigster geschwisterlicher Ge- meinschaften hervor, als Anfang und Ziel religiöser Erneuerung aus dem ei- nenden Geist Christi. Uns wurde bewusst, dass in der Gemeinschaft der mit dem Hamburger Pries terseminar derzeit Verbundenen – vor allem auch durch die immer wieder für besondere Zeiten nach Hamburg reisenden berufsbegleitenden Seminaristen aus dem europäischen Raum – ein weltweiter und weltoffener Atem in unseren Räumen anwesend ist, den wir uns für die aktuelle Zeitung wünschten. Aus den zahlreichen freudigen Zusagen auf unsere Anfragen hin ist in den letzten zwei Wochen eine Komposition entstanden, die uns in ihrer Vielfalt wie auch in dem gemeinsamen Geist berührt hat. Sie finden in diesem Heft Beiträge von Studierenden und Priestern aus bzw. in Australien, Brasilien, Deutschland, Finnland, Litauen, Österreich, Niederlande, Neuseeland, Polen und Schottland. Unsere Autorinnen und Autoren schreiben über Grenzen, deren Bedeutung und Überwindung, über innere und äußere Reisen, das Unterwegssein in die Fremde und zu sich selbst – und dabei müs- sen sie notwendig auch auf das Ich des Menschen zu sprechen kommen, das Begrenztheit schaffen und zugleich aufheben kann. Wir hoffen, dass sich durch die in dieser Seminarzeitung versammelten Ge- schichten, Gedanken und Bilder etwas von dem als Anregung vermittelt, was uns bei der gemeinsamen Vertiefung in religiöse Erfahrungen und im Zugehen auf das angestrebte priesterliche Wirken in dieser Welt und der aktuell heraus- fordernden Zeit während der Studienarbeit im Seminar bewegt hat. Mit herzlichen Grüßen aus der Redaktion Ihr Ulrich Meier
4 Arbeiter im Weinberg Heike Strobl, Vollzeitstudium „T atkräftig“ nennt sich eine des Lohnes. Am Abend fühlt man sich nach bedarf es nur einer kleinen Be- Organisation in Hamburg, innerlich leer, entkräftet und müde. wegung, die sich von außen nach in- welche Menschen unter- Sieht man dann noch, wie jemand für nen hinwendet. Dort begegnen wir stützt, die aus unterschiedlichen weniger Aufwand denselben Lohn er- uns selbst und gleichzeitig auch Chri- Gründen auf Hilfe angewiesen sind. hält, kann man vielleicht nicht um- stus. Aus dieser Christusliebe heraus Auf Freiwilligkeit beruht diese Art der hin, seinem Ärger auch sprachlich kann es uns gelingen, Liebe zu un- Arbeit. Je nach Vorliebe kann man Ausdruck zu verleihen. serer Arbeit zu entwickeln. Danach zum Beispiel Bäume pflanzen, Wän- Zum Menschsein gehört, dass wir es ist der Schritt zu unserem Nächsten de streichen oder Stühle anfertigen. nicht immer schaffen, allem und je- ein leichter, und wir können uns mit Am Ende eines solchen Tages geht dem mit Liebe zu begegnen. Die Lie- dem freuen, der denselben Lohn er- man nach Hause mit Erinnerungen be im Menschen darf erst noch entwi- hält – auch für weniger Arbeit. Ir- an wundervolle Begegnungen, einem ckelt werden. Dies ist jedoch ein Vor- gendwann gelingt es uns vielleicht, erfüllten Herzen und einem Hände- gang der Langsamkeit, der nach und weit über uns hinauszuwachsen, druck als Dank. nach seit der Erschaffung der Erde ÜBER ALLE GRENZEN DER WELT. Anders bei dem Arbeiter am Wein- vonstatten geht. Seien wir also ge- Mit Liebe, die sich tatkräftig äu- berg, der für einen zuvor vereinbar- duldig mit uns. Schauen wir auf uns ßert, kann es gelingen! ten materiellen Lohn von früh mor- mit einem liebenden Blick und neh- gens bis zum späten Abend arbeite- men wir uns an – mit allem was zu Aus dem sonnigen Süden Deutsch- te. Ich denke, jeder von uns weiß, uns gehört. Dann kann Freude wieder lands schicke ich herzliebe Grüße in wie sich ein Tag anfühlt, wenn eine in unser Leben einziehen. Um dieser alle Länder und zu allen Menschen Tätigkeit verrichtet werden muss, die Lebensfreude Ausdruck zu verleihen, nach Ost und West, nach Süd und man nicht gerne macht, nur wegen ist Tanzen eine gute Möglichkeit. Da- Nord.
5 Grenzenlosigkeit als Grenzerfahrung – eine Welt ohne Grenzen Matti Melchinger, Teilzeit-in-Vollzeit-Studium D ie Welt ohne Grenzen mag grenzenlos? Und die viel wesent- will Karl Böhm mit diesem Satz errei- uns ja als etwas Scheinbares, lichere Frage: Bedeutet Grenzenlo- chen? Er wünscht sich ein Orchester, etwas utopisch Unumsetzbares sigkeit gleich Freiheit? das spielt, als wäre die Musik nicht im Herzen erscheinen. Wenn man da Zu einem Orchester, vor dem er im Moment entstanden, sondern als den Weg der Meditation geht und stand, sagte der Dirigent Karl Böhm würde sie die hörbare Fortführung die Worte: „Welt ohne Grenzen“ in einmal „It’s allready played!“ Gestat- des Unhörbaren sein. Letztendlich sich bewegt, kann man erleben, wie ten Sie mir eine freie Übersetzung: ist das ein Inkarnationsgedanke. Ich sich aus den inneren Bewegungen „Es fand schon statt“, oder „es findet bin mir sicher, dass ihm das nicht be- Umkreise bilden möchten, welche schon statt“. Er meinte damit den Be- wusst war, aber es lässt sich doch so in der Erdenwelt, in der wir leben, ginn der Oper von Wolfgang Amadeus erleben. Gerade wenn man diese Ou- unweigerlich Grenzerfahrungen wer- Mozart Le nozze di Figaro. Wem diese vertüre hört. Eine irdische Inkarnati- den müssen. Die Welt ohne Grenzen Ouvertüre, und besonders der Beginn on von musikalischen Gedanken fin- ist also eine Grenzerfahrung in der davon, ein Begriff ist, wird vielleicht det da statt. begrenzten irdischen Welt. verstehen, was er gemeint hat. Denn Was aber an diesem Beispiel so an- Ich möchte bewusst in diesem es folgte dieser Satz nicht etwa aus schaulich wird, ist, dass jegliches kleinen Text nicht über die Situation den Tiefen der „Erkenntniswelt Karl in uns Inkarnierte sich ja ausbilden schreiben, die uns gerade jetzt doch Böhm“, vielmehr war es der letzte möchte und diesem Ausbilden, die- so sehr als Grenzerfahrung verbindet, Versuch, den Musikern zu erklären, sem Hörbar-machen, oft eine Tat vo- jedoch möchte ich ein Wort voran- was er meinte. Dem waren schon viel rausgehen muss. Manchmal auch ei- stellen, das mir in diesem Jahr der Versuche der Erklärung durch rhyth- ne Verzweiflungstat. In diesem Falle Maßnahmen erfahrbar wurde: mische, theoretische oder auch emo- dieser wunderbare Satz. Jene Ausbil- Die Erweckung von Innen als Fol- tional aufgeladene, fast schon wü- dung der eigenen Kräfte und Wesen ge der Welt begrenzender Vorgaben. tende Vorgaben vorangegangen. Man ist aber nicht etwa die Überwindung Dieses Wort kennzeichnet, so denke kann sagen: Dieser Satz war eine Ver- von Grenzen, sondern die Hineinver- ich, die wesentlichste Fortführung, ja zweiflungstat. Weil nicht in Worte zu dichtung in die Wesenheit der irdisch die das Menschenwesen am höchsten fassen war, was er sagen wollte. Die als Grenzerfahrung erlebbaren Gege- bildende Folge-Möglichkeit der pan- Worte waren begrenzt. Also ging er benheiten. Die Welt ohne Grenzen demischen Ereignisse. In meinem ge- an den äußersten Rand der Gren- kann sich also nur in uns selbst, in samten Leben habe ich, einmal abge- ze und formulierte diesen Satz. Ich dem Christus ins uns, durch die Tat sehen von den mir selbst gegebenen kann seitdem nicht mehr aufhören, des Sakramentes einstellen. Wollen Grenzen, keine derartigen von außen den Satz zu denken, wenn ich die- wir dies in unseren begrenzten Zeiten gegebenen Begrenzungen erlebt. se Ouvertüre höre. Es ist im Übrigen mutig und frei üben! Und, wenn Sie eine freche Mutma- genau das, was Musik kann: An den ßung erlauben, gerade das hat gren- äußersten Rand der irdischen Gren- zenlose geistige Erfahrungen in mir ze gehen. Ich vermute, dass sie nicht begünstigt, vielleicht sogar erst er- darüber hinaus gehen kann, jeden- möglicht. Aber ist die geistige Welt, falls habe ich das noch nicht erlebt. wie sie hier genannt wurde, wirklich Dies aber nur als Einwurf. Was aber
7 Grenzen niederreißen Kalia Cristyane d‘Albuquerque Martins, Vollzeitstudium und Studium für Berufstätige G ibt es Grenzen überhaupt oder existieren sie nur in kennen, dann können wir sie zugleich als Spiegel für indi- unserer Vorstellung der Welt? Eine provokante und viduelle und kollektive Bewusstseinsstufen wahrnehmen. herausfordernde Frage, die man aus verschiedenen Als z. B. die Mauer in Deutschland, die Berliner Mauer, er- Blickwinkeln heraus betrachten kann. Was ist überhaupt richtet wurde, hatte dies durchaus seinen Sinn und Zweck, eine Grenze, eine Begrenzung oder das Ende? ohne dies jetzt bewerten zu wollen. Dafür ist es interessant und aufschlussreich, sich über Der Fall der Mauer macht deutlich: Was früher möglich die verschiedenen Möglichkeiten von Grenze klar zu wer- und erlaubt war – auch gegen den Widerstand einiger – ist den. An unserem physischen Körper können wir erkennen, heute mittlerweile inakzeptabel geworden, weil es nicht dass die Haut die erste große Begrenzung bildet. Sie ist mehr der Entwicklung der Bewusstseinsseele entspricht. da, wo ich aufhöre und die Welt anfängt. Schon die Pla- Das lässt sich auch sehr gut ablesen an dem erfolgten zenta markiert eine Grenze zwischen mir und der Mutter. Stopp des Ausbaus der Grenze zwischen Mexiko und den Sie trennt das Baby von der Welt, aber ernährt es doch USA oder der Chinesischen Mauer, die sich von einem von außerhalb, aus der Peripherie. Ohne Plazenta gäbe es Schutzwall in eine touristische Attraktion gewandelt hat, kein Leben. oder die Bemühungen in Europa im Rahmen der EU. Nach der klassischen Definition gibt es geografische Ist aber auf der persönlichen, individuellen Ebene eine Grenzen zwischen Städten, Regionen und Ländern, von Welt ohne Grenzen und Abgrenzung möglich? Ja, aber … denen man sagen kann, dass hier ein Gebiet, eine Stadt, nur im gedanklich erfassbaren Ideal, in der wahrhaften ein Land aufhört und auf der anderen Seite etwas neues und wirklichen Begegnung der menschlichen Seele mit beginnt. Wenn wir außer acht lassen, wie das zu bewer- dem Christus. Damit dies geschehen kann, muss ich meine ten wäre, ob es richtig der falsch ist, funktioniert das re- eigenen Gedanken und Gefühle zurückstellen, dass heißt lativ gut, aber eben nur eine begrenzte, ein kurze Zeit! meine eigenen Grenzen zurücknehmen, um Platz für den Es gibt geografische, politische, ökonomische und soziale anderen Menschen und seine Gedanken zu schaffen. Die- Veränderungen, die im wahrsten Sinne des Wortes Gren- se Welt ist grenzenlos. Die Begegnung zwischen mir und zen niederreißen. dem anderen ist durchtränkt von Freiheit – von Ich zu São Paulo ist die größte Stadt Brasiliens, was sowohl Ich, von Seele zu Seele –, die immer von dem Christus als die Einwohnerzahl als auch die Fläche betrifft. Man kann Brücke vermittelt ist, so wie er es selber ausgesprochen São Paulo als die Hauptstadt der Region bezeichnen, aber hat: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem auch den Blick auf die Peripherie erweitern, dann spricht Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Ju- man vom GRAN SÃO PAULO, dem großen São Paulo, das in an Ramón Jiménez beschreibt die Anwesenheit und Wir- A-,B- oder C-„Paulisten“ unterteilt ist: kung des Christus in der menschlichen Seele auf dichte- San Andrés rische Art: San Bernardo San Caetano ICH BIN NICHT ICH. Dies sind die Randstädte an der Peripherie, die von Fir- men und deren Arbeitern erbaut wurden und dem groß- Ich bin jener, en SAN PAULO sein Leben verleihen und es ihm geben. Es handelt sich um drei kleinere Städte, die aber in den letz- der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke, ten 50 Jahren gewachsen sind und fast keine Trennungen, keine Grenzen zueinander gebildet haben, zeigen und auf- den ich oft besuche, weisen. Trotzdem sind sie notwendig, um soziale, ökono- mische und politische Grenzen hervorzubringen. und den ich oft vergesse. Auf der einen Seite können wir also durchaus die Nütz- lichkeit und Notwendigkeit von Trennungen und Gren- Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche, zen erkennen. Ohne Grenzen wäre das menschliche Le- ben nicht möglich. Angefangen vom Mutterleib bis hin zu der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse, Städten und Ländern erweisen sie sich als unabdingbar. Der Fall von Grenzen vollzieht sich in Übereinstimmung der umherschweift, wo ich nicht bin, mit einem Bewusstseinswandel. Wenn wir von der Grenze ausgehen und sie in ihrem Wert für die Entwicklung aner- der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.
8 Zwischen (griech.: meso) Marta Lackowska-Świętochowska, Studium für Berufstätige, polnische Gruppe S eit über zehn Jahren interes- meinsamer Verantwortung besteht. „Zwischen“ … siere ich mich für das Konzept Die gemeinschaftsbildende Rolle des … ist ein Wort, das in Zeiten der des Sozialkapitals – eine For- Sozialkapitals manifestiert sich im Pandemie so viel Bedeutung und Ge- schungskategorie, die schwer zu defi- Aufbau von Brücken (Verbindungen, wicht gewonnen hat. Was sich zwi- nieren oder zu messen ist und die sich Beziehungen) unabhängig von Bluts- schen Menschen ergeben kann, wird dem Auge des Betrachters entzieht. verwandtschaft, Nationalität, Rasse im öffentlichen Diskurs plötzlich als Sozialkapital ist eine Eigenschaft, die oder Geschlecht. Es ist der Aufbau Bedrohung aufgeladen – oft ver- nicht einem Individuum zugeschrie- einer Gemeinschaft, die sich den Ge- steckt, unsichtbar, lauernd im Schat- ben wird, sondern den Verbindungen setzen der Vererbung entzieht, weil ten von Unsicherheit und Angst um zwischen Menschen, sowohl denen, sie aus der Freiheit ihrer eigenen Ent- die eigene Gesundheit und die Ge- die integrierte Gemeinschaften bil- scheidungen resultiert. sundheit der Angehörigen. Das „Zwi- den, als auch denen, die einander Der so verstandene Begriff des So- schen“, das anderthalb oder zwei Me- scheinbar fremd sind. Hinter dem zialkapitals entspricht der Kategorie ter groß sein muss und die oxymo- Konzept des Sozialkapitals steht die des „Zwischen“ im Evangelium, das ronische „soziale Distanz“ genannt Überzeugung, dass zwischenmensch- wir zum Beispiel aus dem Wort Jesu wird, als ob Distanz etwas mit Ge- liche Bindungen eine Ressource Christi kennen: „Denn wo zwei oder meinschaft zu tun hätte ... Das „Zwi- (Kapital) darstellen und die Lebens- drei in meinem Namen versammelt schen“, das sein Gesicht unter einer qualität und das Entwicklungstem- sind, da bin ich mitten unter ihnen“ Maske verbergen muss, weil atmende po von bestimmten Gemeinschaften (Mt 18,20). Der auferstandene Chris Gemeinschaft töten kann. Viele indi- bestimmen. Eine Verbindung, die als tus zeigt sich den Jüngern ebenfalls gene Kulturen betrachteten das Teilen Sozialkapital bezeichnet wird, ist in dieser Sphäre: „Während sie so re- des Atems als einen außergewöhn- eine Beziehung des Vertrauens, des deten, stand er selbst mitten unter ih- lichen Moment, als Beweis für höchs- Respekts oder der freundschaftlichen nen und sagte zu ihnen: Friede sei mit tes Vertrauen – man denke nur an den Zusammenarbeit. euch“ (Lk 24,36 und Joh 20,19 bzw. Ausdruck „Rauchen der Friedenspfei- Es scheint auch, dass das Kon- 20,26). Im Altgriechischen taucht an fe“ oder an das hawaiianische Wort zept des Sozialkapitals auf das religi- diesen Stellen das Wort „meso“ auf, „Ohana“, das „Familie“ bedeutet und öse Leben übertragen werden kann. was „zwischen“, als „en meso“ auch buchstäblich „die Gemeinschaft des Ziel der Entwicklung einer modernen „in der Mitte“ bedeutet. Meso wird 30 Atems“ meint. Das Buch Genesis der christlichen Gemeinschaft ist es, so- Mal in den Evangelien verwendet (Mt Hebräischen Bibel spricht auch von wohl die zwischenmenschlichen Bin- 6; Mk 5; Lk 13; Joh 6), weitere 25 einem Hauch, mit dem geistiges Le- dungen zu vertiefen und zu veredeln Mal in der Apostelgeschichte (10) und ben in den Menschen aus Lehm kam: als auch sich nach außen hin zu öff- den Apostolischen Briefen (15). „Da bildete der HERR, Gott, den Men- nen und sich nicht vor Außenstehen- Für eine christliche Gemeinschaft schen ⟨aus⟩ Staub vom Erdboden und den zu verschließen. Die bloße Fes scheint es besonders wichtig zu sein, hauchte in seine Nase Atem des Le- tigung und Vertiefung von nahen einen Raum zwischen den einzelnen bens; so wurde der Mensch eine le- Bindungen ohne Öffnung für andere, Gliedern zu schaffen; einen Raum, der bende Seele“ (1. Mose 2,7). uns unbekannte Menschen führt zu strukturiert und nicht leer ist, son- Unter einem solch rationalen Deck- clan-mafiösen Strukturen. Sich nach dern mit einem subtilen Netz von ge- mantel, voll von Rhetorik über sozi- außen zu öffnen, ohne neue Bezie- genseitigen Beziehungen gefüllt ist. ale Verantwortung, wird das heili- hungen zu pflegen und zu vertiefen, Es ist dieser Raum, der der geistigen ge „Zwischen“ zerstört. „Zwischen“, birgt die Gefahr der Anonymität und Welt zugänglich sein kann – auf den das ist das Sakrament der Begegnung Oberflächlichkeit. Die Öffnung mit sich der Priester während der Men- zwischen Menschen. Das „Zwischen“, gleichzeitiger Bewahrung der tie- schenweihehandlung bezieht, wenn in dem – wie er selbst angekündigt fen, nahen Bindungen ist vergleich- er ausspricht: „Christus in euch!“ Wie hat – Christus mit uns ist. bar mit dem Aufbau eines immer grö- in den oben zitierten Passagen des Kann das „Zwischen“ töten? ßer werdenden Netzes von gegensei- Evangeliums wird der Raum zwischen Diese Frage erinnert an den schwie- tigen Verbindungen. Ein Netzwerk, den Menschen zur conditio sine qua rigen Text von Janusz Korczak über das aus Vertrauen, Akzeptanz, Lie- non dafür, dass Christus unter ihnen das Recht des Kindes auf den Tod. be, Respekt, Verbundenheit und ge- erscheinen kann. Korczak zeigt sehr schön, wie die
9 Erziehungsberechtigten, die auf das körperliche Wohl des Kindes bedacht sind und es vor Schaden bewahren wollen, ihm dabei das Recht auf Le- ben nehmen. „Nicht rennen, sonst fällst du um“; „nicht im Schlamm spielen, sonst erkältest du dich.“ Und paradoxerweise nehmen wir dem Kind, indem wir ihm nicht das Recht geben, zu sterben (sich zu verletzen, krank zu werden), auch sein Recht auf Leben – zu rennen, zu springen, zu planschen. Der uralte Konflikt „Si- cherheit versus Freiheit“ erscheint im Leben eines kleinen Menschen ... Auch Erwachsene haben das Recht zu sterben. Und voll zu leben, bevor sie sterben. Jemandem die Freiheit der Wahl zum Atmen unter dem Vor- wand des allzu kurzen Versprechens von Sicherheit (um Ansteckung und Tod zu vermeiden) wegzunehmen, be- deutet, das Recht wegzunehmen, zu leben und zu sterben. Um ein erfülltes Leben führen zu können, braucht man „Zwischen“ …
11 „Ich bin ich“ und das ist es, was mich erschafft Lina Dvaranauskienė, Teilzeit-in-Vollzeit-Studium M ein Körper definiert mich im Raum und vermittelt sich in nachhaltig gesunden Selbst-Grenzen zu befinden mir das Wissen, dass ich existiere. Er lehrt mich und kraftvoll nach diesem Bewusstseins- und Seelenzu- mit eigenen Sinnesorganen, die Welt um mich stand zu streben. herum und ihre Gesetze wahrzunehmen. Meine Sprache Dennoch ist die Welt ein Ort der Polarität. So wie die formt mich mit ihrem Klang, wenn es sonst nichts gibt. wahren Formen der Dinge nur dann zum Vorschein kom- Sie verleiht mir meine eigene, eigentümliche Form. Mit men, wenn sich Licht und Dunkelheit begegnen, so kann ihr kann ich mich zudecken wie mit einem bunten Schal. der Mensch sein wahres Wesen nur in der Begegnung mit Meine Nationalität schenkt mir die mich kennzeichnende einem anderen Menschen erfahren. Erst dann, wenn sich äußere Gestalt und bildet meine Wurzeln. Wurzeln, die unsere persönlichen Grenzen berühren und überschnei- in einem bestimmten Teil der Welt in den Boden hinab- den, beginnt der Prozess der Erkenntnis und der kreativen gelassen werden und zu denen ich immer wieder zurück- Zusammenarbeit. In diesem Moment wird man zu einer kehren kann, wenn es sonst nichts gibt. Dies sind meine Veränderung ermutigt und bekommt Möglichkeit zu wach- persönlichen leiblichen und seelischen Grenzen. Sie defi- sen, weil man in lebendiger Kommunikation mit einem nieren und identifizieren mich, sie geben mir Sicherheit anderen steht. Und es ist ein kraftvoller Zustand des Zu- und Vertrauen. Sie sind der Ausgangspunkt, von dem aus sammenseins, wenn man sich eins fühlt, obwohl man zu ich messen kann, wie weit oder nah ich einem anderen zweit ist. Gemeinschaft gibt es auch dann, wenn es sonst Menschen bin. nichts gibt. Dies ist der Zustand eines lebendigen Orga- Natürlich gibt es auch andere Grenzen. Solche, die durch nismus, der eine Grundlage für die Schöpfung von etwas die Erwartungen und Ansprüche von anderen Personen ge- Neuem ist, das wächst, sich vervielfältigt und ausbreitet – schaffen werden. Von Eltern, die schon im ersten Moment und das eine machtvolle Wirkung erzeugt: „Denn wo zwei unserer Geburt persönliche Wünsche und Vorstellungen oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich davon haben, wie sich unser Leben entwickeln soll. Von mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). „klugen“ Lehrern, die die Messlatte immer höher legen Diese Worte Christi sind wie ein Leuchtfeuer, an dem und uns nur dann akzeptieren, wenn wir bestimmte An- wir die Fülle wahrer Gemeinschaft erfahren können. Erst forderungen erfüllen. Soziale Normen passen uns an die wenn ich dem anderen erlaube, meine persönlichen Gren- Algorithmen der allgemein akzeptierten Verhaltensregeln zen zu überschreiten, wenn ich die Grenzen der Angst, sozialer Gruppen an. Aber diese Grenzen üben Druck auf des Misstrauens und der Vorurteile aus dem Weg räume, uns aus, lassen Angst und Misstrauen wachsen. Deshalb wenn ich demütig annehme, was auf mich zukommt, dann ist es wichtig, sich selbst zu reflektieren und zu fragen: öffne ich mein Herz für die Zusammenarbeit und das Mit- Wo bin ich jetzt? Sind diese Grenzen meine eigenen, oh- einander. Dann öffne ich mein Herz für das Licht Christi. ne die ich nicht existieren kann, die mich das Gefühl von Für das Licht, in dem ich mich als Ich-Mensch verändern „Ich bin ich“, Sicherheit und Vertrauen erleben lassen? und Teil des allumfassenden seelisch-geistig-göttlichen Jeder Mensch hat dieses ihm innewohnende Bedürfnis, Wandlungsprozesses sein kann.
12 Grenzüberwindung durch Menschlichkeit Christian Lillicrap, Vollzeitstudium N ationale Grenzen verändern terinnen. Die Christengemeinschaft sie meist recht hart und immergrün. sich im Laufe der Zeiten, ist in gewissem Sinne eine spiritu- Devon hat vier ausgeprägte Jahres- abhängig von geografischen, elle Gemeinschaft ohne Grenzen. zeiten – in Sydney gibt es die sechs kulturellen und religiösen Gege- Ja, es gibt die Grenzen der Sprache, subtilen Winde und Veränderungen in benheiten. Sie können eine Gruppe aber selbst mit diesen Grenzen wä- der Umgebung, von denen die Abo- von Menschen anhand von Sprache, re jemand, der mit der Menschenwei- rigines sprechen. Angesichts dieser Bräuchen und Glauben definieren. Sie hehandlung auf Deutsch oder Eng- Unterschiede war es ein großer Trost, können aber auch willkürliche Tren- lisch vertraut ist, in der Lage, bis zu bald nach unserer Ankunft in Sydney nungen aufgrund von politischem einem gewissen Grad demselben Ri- in der Beattie Street in Balmain auf- oder finanziellem Druck darstellen. tual auf Japanisch oder Russisch zu zutauchen. Balmain, eine Halbinsel In mancher Hinsicht wirken sie ver- folgen. Das Ritual und die Symbole mit malerischen viktorianischen Häu- altet, und doch scheinen wir nicht in bleiben dieselben, da sie auf zutiefst sern aus Sandstein, Ziegeln und Holz, der Lage zu sein, ohne sie zu leben, menschlichen Wahrheiten beruhen. ist seit vielen Jahren die Heimat der selbst in dieser Zeit der weit verbrei- Ich entdeckte dies für mich selbst, Christengemeinschaft in Sydney. teten finanziellen Globalisierung. Mir als ich im Jahr 2000 mit meiner Fa- Damals war sie auf einem großen liegt am Herzen, soziale Strukturen milie von South Devon nach Sydney, Grundstück in einer Gegend mit meist zu schaffen und an ihnen festzuhal- Australien, zog. sehr kleinen Blocks. Es gab ein altes ten, die diese Grenzen überschreiten Obwohl in Australien wie in Groß- Haus mit einer langen, schattigen Ve- und den Weg zu einer Bruder- und britannien Englisch gesprochen wird randa im Kolonialstil aus den 1870er Schwesternschaft aller Menschen (wenn auch mit einem anderen Ak- Jahren und darunter einen stufen- fortsetzen. zent!) und beide Orte hohe Nieder- förmigen Garten, der ehemals drei Ich las zum ersten Mal die Worte schlagsmengen und eine daraus resul- Tennisplätze umfasste. In der Ecke „Die Christengemeinschaft“ auf ei- tierende Üppigkeit aufweisen, gibt es des Grundstücks stand eine verfalle- ner Anschlagtafel vor einem sehr ge- grundlegende Unterschiede zwischen ne Kapelle aus dem 19. Jahrhundert, wöhnlich aussehenden Vorstadthaus den beiden Ländern. Devon hat eine die schon lange nicht mehr genutzt aus den 1930er Jahren in Exeter, geringe Bevölkerungsdichte – die von wurde, an die aber vor einigen Jahr- England. Als ich auf dem Weg in die Sydney ist hoch. Die Vögel singen in zehnten ein Holzschuppen angebaut Stadt daran vorbeiging, fragte ich Devon lieblich und sanft – in Sydney wurde. Dies war die Kapelle der Chri- mich, was für eine Art von Kirche das schreien und krächzen viele. Die Son- stengemeinschaft, ein ausgedienter wohl sei, deren Gebäude wie ein Pup- ne, wenn sie überhaupt da ist, ist in Tennis-Pavillon. Am anderen Ende penhaus aussieht. Ich sollte es bald Devon meist relativ sanft – in Syd- des Gartens standen Bienenstöcke herausfinden. Nachdem ich mit mei- ney kann sie so heftig sein, dass sie und viele Arten von einheimischen ner Frau und meinen kleinen Kin- Sie ins Haus jagt und, da sie natür- Bäumen und Pflanzen sowie europä- dern einige Meilen umgezogen war, lich auch tödlich in ihrer Kraft ist, ische Zierpflanzen. Jenseits davon, um näher an der South Devon Stei- Buschfeuer erzeugt. Die wilden Tiere über den Dächern von Balmain, erho- ner School zu sein, entdeckten wir, in Devon, wenn man sie denn sieht, ben sich die schimmernden Wolken- dass die Exeter Christian Community sind meist harmlos und gutmütig – kratzer der Stadt. Es war ein absolut ebenfalls umgezogen war, nämlich in in Sydney sind Kängurus und Walla- bezaubernder Ort, der die Besucher unsere Nähe nach Buckfastleigh. Tat- bys auch nicht aggressiv, aber es gibt von den belebten Straßen in eine Oa- sächlich wurden wir bald in das Le- einige Schlangen, Spinnen und Mee- se der Ruhe einlud. Hier führte die ben der Christengemeinschaft dort resbewohner, die einen töten kön- damalige Pfarrerin Rosalind Pecover einbezogen. Elizabeth Roberts und nen. Pflanzen sind in Devon weich mich und meine Familie über mehre- dann Ann Klemm waren unsere Pries und sommergrün – in Sydney sind re Jahre hinweg durch ihre Predigten
13 in das Verständnis der uns nun umge- sind damit die älteste überlebende im Hafen von Sydney, pflanzte er die benden Natur ein. Ihre Bilder von den Kultur der Welt. Ihre Spiritualität ist Flagge der Aborigines am Strand un- subtilen Veränderungen der Pflanzen, reich und komplex und basiert auf terhalb der White Cliffs of Dover und den Rufen der Vögel, dem Spiel des einer tiefen Verwurzelung mit dem forderte Großbritannien für die Ab- strahlenden Lichts auf den Wasserflä- Land, den Pflanzen, den Tieren und origines. Burnum Burnum besuchte chen in und um Sydney ließen uns dem Kosmos. Sie sind in vielen Ge- auch die Christengemeinschaft in zu einer tieferen Verbindung mit dem genden Sydneys nicht so präsent und Balmain. Ich stelle mir gerne vor, wie finden, was so ganz anders war als ihre Lehre ist nicht leicht zugäng- er mit Rosalind spricht und sich die das Land, das wir hinter uns gelas- lich, obwohl die Stadt über riesige Bienenstöcke ansieht. sen hatten. Ermutigt durch Rosalind, Gebiete mit einheimischem Busch- Im Jahr 2011 wurde ich Mitglied der die mich und meine Familie unter ih- land verfügt. Die 200 Jahre der Kolo- Christengemeinschaft. Bis zu diesem re geistlichen Fittiche nahm, war ich nialisierung haben in gewisser Wei- Zeitpunkt war ich natürlich nicht auf bald sehr engagiert, spielte Musik, se die Kultur und die Gesellschaften eine formale Mitgliedschaft bedacht, ministrierte bei den Sakramenten, der Aborigines verwüstet, aber kei- aber als unsere Priesterin mich fragte, brachte unsere Kinder zum Kinder- neswegs zerstört. Ich bin kein Abo- ob es mich interessiere, dass die gottesdienst und später zum Konfir- rigine. Ich wurde nicht in Australi- Christengemeinschaft auch in zwan- mandenunterricht. Die Leute kamen en geboren. Ich kam als Einwanderer zig Jahren noch existiere, wurde mir aus ganz Sydney. Einige ältere Damen in eine ursprünglich britische Stadt, klar, dass es Zeit war, den Schritt zu reisten zwei Stunden, um dorthin zu die weit von Großbritannien entfernt wagen. Von dieser Zeit an, ermutigt kommen. Oft gab es Besucher aus war und die jetzt sehr kosmopoli- durch die australische und neuseelän- dem Ausland, Priester oder andere, tisch und vor allem nordasiatisch ist. dische Lenkerin, Cheryl Nekvapil, und die Vorträge und Workshops hielten. Es war schwierig, sich mit dem Land nachdem ich einige der Pro-Seminare Es war ein belebter Ort, an dem ich verbunden zu fühlen. von Lisa Devine und anderen besucht mich sofort „zu Hause“ fühlte. Die Christengemeinschaft und die hatte, zog es mich zur Ausbildung für Die christlichen Jahresfeste in Aus- anthroposophische Gemeinschaft ins- das Priestertum, und jetzt befinde ich tralien waren für mich „auf den Kopf gesamt gaben mir einige Werkzeuge mich in Hamburg. gestellt“. Johannizeit ist mitten im an die Hand, um zu beginnen, unter Die Verbindungen, die ich durch Winter, Weihnachten im Hochsom- dem europäischen/asiatischen/ame- die Christengemeinschaft und durch mer. Das ist eine interessante He- rikanischen Furnier zu kratzen und zu meine Arbeit als Musiklehrer sowohl rausforderung für jeden, der Jahr- spüren, worum es in dem Land geht. an der South Devon Steiner Schule als zehnte in der nördlichen Hemisphäre Obwohl ich ihn nie getroffen habe, auch an der Glenaeon Rudolf Steiner verbracht hat. Ich stellte fest, dass liebe ich die Geschichten von Burnum Schule in Sydney geknüpft habe, ha- ich mich nicht einfach auf die ge- Burnum, einem Ältesten, Aktivisten ben es mir ermöglicht, mich als Welt- wohnten Gefühle verlassen konnte, und Schauspieler, der das erste Ab- bürger zu fühlen, und mich ermutigt, die durch eine Verbindung zwischen origine-Mitglied der Anthroposophi- hinter die oberflächlichen, aber kräf- bestimmten Arten von äußeren Be- schen Gesellschaft von Australien tigen Unterschiede von Kultur, Spra- dingungen und einem Fest entste- wurde. Er sagte einmal: „Ihr Steiner- che und sogar Religion zu schauen, hen, zum Beispiel die „Gemütlich- Leute seid die Aborigines des Univer- um zu versuchen, das zu finden, was keit“ von Weihnachten in der nörd- sums“. 1988, am Tag des 200. Jahres- uns alle wirklich verbindet, unsere lichen Hemisphäre oder das Gefühl tages der Ankunft der Ersten Flotte Menschlichkeit. des Erwachens, wenn das Wetter zu Michaeli kühler wird. Der Versuch, an den inneren Bildern der Heiligen Nächte festzuhalten, wenn es drau- ßen 40 Grad warm ist, ist sicher eine gute Übung, mit der ich nicht immer Erfolg hatte. In den letzten Jahren hat Lisa Devine, die derzeitige Pfar- rerin in Sydney, während der Heiligen Nächte wunderbare Kurse für die Ge- meinschaft gehalten. Von Anfang un- serer Zeit in Australien an halfen die Worte der Sakramente, die Farben, die Gesten und die Predigten, mich „geerdet“ zu halten, aber nicht ge- trennt von der Realität der Erfahrung, jetzt auf diesem Kontinent zu leben. Die Aborigines leben seit vielleicht 100.000 Jahren in Australien und
14 Leben in Neuseeland – Priesterseminar in Nordamerika Lesley Waite, Vorbereitungskurs Toronto Seminary in Spring Valley E s ist fast 33 Jahre her, dass die Cook (höchster Berg Neuseelands). „Nachholen“ von Taufen, Konfirmati- Christengemeinschaft in Austra- Flüsse schlängeln sich von den onen und Trauungen, Gedenkgottes- lien (Advent 1988) und Neusee- Südalpen über die Ebenen der Süd- diensten für die Verstorbenen und land (Michaeli 1989) gegründet wur- insel Neuseelands. Das Wasser jedes Beichtsakramenten nach Bedarf, so- de. Diese Gründungen vervollständig Flusses strömt über eine weite Flä- wie der Menschenweihehandlung so ten den Eintritt der Bewegung für che aus Grauwackeschotter, der aus oft wie möglich. Jetzt ist der Rhyth- religiöse Erneuerung in die südliche den Bergen herausgeschwemmt wur- mus solcher Aktivitäten stetiger und Hemisphäre. Vorangegangen waren de, aber wenn der Schnee im späten webt sich durch die Feste in jedem die Gründung in Südamerika im Jahr Frühjahr schmilzt und die Regenfälle Jahr. 1960 und Südafrika im Jahr 1965. zunehmen, füllt sich die gesamte Flä- An Zusammenflüssen sammelt Wenn man einen Globus betrach- che mit schnell fließendem Wasser. sich das Wasser in der Hauptströ- tet, ist der Südpol von einer großen Der erste Besuch eines Priesters mung und ermöglicht auch ruhige gefrorenen Landmasse bedeckt, der (Eileen Hersey) in Neuseeland fand Ansammlungen in kleinen Schleifen; amerikanische und der afrikanische 1968 statt und umfasste alle vier Ge- nie ganz still ist das Wasser an einer Kontinent „tauchen“ mit ihren süd- meinden, die heute von zwei aktiven bestimmten Stelle, sondern ständig lichen „Spitzen“ in die ausgedehnten Priestern – Hartmut Borries und Che- in Bewegung. Ursprünglich lernte ich südlichen Gewässer ein. Australien ryl Prigg – und zwei Priestern im Ru- die Christengemeinschaft in Hawkes steht als die Terra Australis da, die hestand – Kevin Coffey und Elke Bau- Bay während Michael Tapps erstem von den europäischen Entdeckern ge- blies – betreut werden. In Auckland, Besuch in Neuseeland 1979 kennen; sucht wurde, während Neuseeland als dem größten Ballungsraum, sind drei 1984 zog ich nach Christchurch um zwei lange, dünne Inseln erscheint, dieser Priester zu Hause, und in ih- und bereitete mich auf Julian Sleighs von denen wir heute wissen, dass rem Kirchengebäude finden wöchent- ersten Besuch vor. Jetzt lebe ich in sie die Kreuzung zweier großer tek- lich zwei Gottesdienste statt. Die Wellington und habe auch ein bis tonischer Platten überspannen: die drei anderen Gemeinden in Hastings zwei Jahre in Auckland verbracht, so Pazifische Platte, die sich von Kali- (Hawkes Bay), Wellington und Christ- dass ich seit den 1980er Jahren die fornien aus erstreckt, und die Indo- church werden regelmäßig besucht; Gelegenheit hatte, in jeder der vier Australische Platte, die sich an Asien einer der pensionierten Priester lebt Gemeinden mitzuarbeiten. Im Laufe reibt und den Himalaya bildet. Neu- in Hawkes Bay. der Jahre umfasste meine Beziehung seeland liegt an der Spitze – so weit Manchmal, wie die Flüsse, sind die zur Gemeinde die Sekretariats- und östlich und so weit westlich, wie man Gemeinden voller Aktivität, zu an- Finanzverwaltung und die praktische nur kommen kann – seine Südalpen deren Zeiten fühlen sie sich weniger Unterstützung wie den Aufbau von markieren den Schnittpunkt der tek- belebt an. Im Laufe der Jahre brin- Altären, die Arbeit mit Kindern und tonischen Platten. Und der Tag, ge- gen die besuchenden und entsandten das Ministrieren bei Sakramenten. Als messen nach Greenwich Mean Time, Priester, wie die Nebenflüsse eines sich die familiären Verpflichtungen beginnt in den Gewässern des Pa- Flusses, neue Impulse und Aktivi- änderten und ich begann, Deutsch zu zifischen Ozeans direkt östlich von täten, die in den Fluss der sakramen- lernen, konnte ich von Oktober 2003 Neuseeland. talen Feier in den Gemeinden aufge- bis Juli 2004 das Seminar in Stuttgart Der verzweigte Tasman River fließt nommen werden. Vor der Gründung besuchen. Eine weitere „Schleife“, aus den Südalpen; rechts der Mt. beinhalteten die Besuche immer ein ein weiterer „Nebenfluss“ ergab sich,
Der verzweigte Tasman River fließt aus den Südalpen; rechts der Mt. Cook (höchster Berg Neuseelands). als ich mich auf einen Master in Pä- um mit einer geplanten Priesterweihe dann nach Spring Valley im Bundes- dagogik konzentrierte; dann wurde dort im Advent besuchen sollte. Da staat New York um und wurde dort ich im Mai 2019 eingeladen, ein Stu- die Grenzen geschlossen waren und 2011 wieder eröffnet. Erst im Sep- dium zum „Working Priest – Retired“ sich nicht wieder öffneten, verlegte tember 2019 zog das Seminar nach (da ich jetzt über 65 Jahre alt bin) einer der Leiter, Patrick Kennedy, Toronto, Kanada, mit den Leitern Pa- für Neuseeland in Betracht zu ziehen. dieses Vorbereitungsstudium nach trick Kennedy und Jonah Evans um. Fast sofort schloss ich mich der Pro- Spring Valley, USA, wo wir Mitte Ja- Zurzeit, da die Grenzen nach Kanada Seminar-Gruppe in Australien für ih- nuar begannen. Wir sind eine Gruppe geschlossen sind, sind die Lehrgrup- re langen Wochenendkurse an, die im von acht Frauen, die höchste Anzahl pen auf Toronto mit Jonah Evans, Juli und November 2019 und im Ja- von Weihekandidaten, die je in Nord- Hillsdale (bei Great Barrington, USA) nuar 2020 stattfanden. Dort traf ich amerika vorbereitet wurden. Das Stu- und Spring Valley verteilt. Priester- Liza Lillicrap (die in diesem Jahr in dium mit Patrick wird vom örtlichen weihen in Nordamerika wurden bis- Berlin geweiht wurde) und Damien Pfarrer, Paul Newton, und von ande- her meist in der Passionszeit abge- Gilroy aus Adelaide, der hofft, seine ren nordamerikanischen Priestern un- halten; für diese jetzige Gruppe wird Vorbereitung im Jahr 2022 fortzuset- terstützt, die für vier bis sechs Tage es eine andere Gründungsgeste sein, zen. Während des restlichen Jahres während der Unterrichtswoche zu Be- die Gewandfarben zu Himmelfahrt zu 2020 entwickelte und hielt Hartmut such kommen. Oliver Steinrueck ge- tragen. Der auferstandene Christus Borries mit Cheryl Prigg in Auckland lang kürzlich ein 10-tägiger Besuch steht, wie die Berge, in Reinheit und Wochenendkurse für eine sich ent- und er hofft, zur nordamerikanischen Licht im sakramentalen Vollzug der wickelnde Pro-Seminar-Gruppe; wir Synode in der zweiten Maiwoche zu- Christengemeinschaft. Und wie der schafften sechs Treffen während des rückzukehren, mit Priesterweihen Christus selbst, so sind auch die Sa- Jahres. über Christi Himmelfahrt vom 14. bis kramente für die ganze Menschheit Ursprünglich war gedacht, dass ich 16. Mai. da, die seine heilende Kraft erkennt. das Toronto Seminary für ein abschlie- Das North American Seminary be- ßendes viermonatiges Intensivstudi- gann 2003 in Chicago, Illinois, zog
Projekt Brückenbau Was für eine schöne Idee: Ein Beitrag für die Veröffentlichung des Stuttgarter-Hamburger Priesterseminars, dessen erster Teil in der Ham- burger Seminarzeitung veröffentlicht wird, ge- folgt von dem zweiten Teil, der im Stuttgarter Seminarbrief erscheinen soll. In der Anfrage an die Redaktion schwang neben dem Enthu- siasmus der Gemeinsamkeit über die Grenzen der Seminare hinweg auch ein Schmunzeln bei der Vorstellung mit, dass sich die Leserinnen und Leser, die zuerst nur einen Teil zugeschickt bekommen, vielleicht auch neugierig auf den anderen Teil am anderen Ende der Brücke wer- den, und sich womöglich auf den Weg machen. Dank an Lisa, Eline und Marcus für die gute Idee samt praktischer Ausführung! Eure Hamburger Seminarzeitungsredaktion
17 Hamburg oder Stuttgart – Hauptsache Toronto Brückenbau Teil I Marcus Bohnen, STUDIUM FÜR BERUFSTÄTIGE „W issen Sie“, vermittelten mir verschiedene rungsort lässt es sich gut verweilen und studieren. Pfarrer der Christengemeinschaft vor eini- Doch ich lebe und studiere anders. Ich führe eine in- gen Jahren, „… das Studium für Berufstätige nige Fernbeziehung mit meiner Seminarleitung und -ge- am Priesterseminar im Hamburg ist sicherlich eine neue meinschaft. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie Möglichkeit. Wenn Sie aber wirklich gute Studienbedin- denke, und sei es auch deswegen, weil ich zu Hause in gungen haben wollen, dann sollten Sie am Priestersemi- Krefeld am Niederrhein an meinen Studienaufgaben sitze nar in Stuttgart in Vollzeit studieren, wo schon in fast oder irgendwo in Deutschland mir während der Arbeit, neunzigjähriger Tradition Priester ausgebildet werden“. bezogen auf die Studieninhalte, schnell einen Gedanken Ich habe mir die Worte der sehr geschätzten Pfarrer zu oder eine Idee auf einen Zettel schreibe, der mir helfen Herzen genommen und daraufhin im Frühjahr 2018 am soll, mich nach Feierabend zu erinnern und in der Strö- Priesterseminar in Stuttgart eine intensive Orientierungs- mung meiner Ausbildung zu bleiben. Dann, wenn wir uns woche erlebt. Es war schön, und ich fühle seither eine alle in regelmäßigen Abständen aus den verschiedenen starke Verbindung zu diesem spürbar traditionstragenden Ländern Deutschlands und Europas aufmachen, um uns in Ort und zu den Menschen, die dort klösterlich in enger der Johnsallee 17 in Hamburg zum gemeinsamen Studium Gemeinschaft leben, beten, arbeiten und studieren. zu treffen, wird eindrücklich spürbar, wie sehr auch die- Februar 2021, an einem Freitag nach der Abendandacht ser Ort in seiner Besonderheit uns immer wieder anzieht in der Kapelle des Stuttgarter Priesterseminars. Ich ver- und vereint, Kraft spendet und so die von uns gelebte be- abschiede mich von der Seminarleitung und meinen Mit- sondere Studienart rhythmisch formend wirken kann. Die studierenden. Es war wieder eine intensive Studienwoche. Begrüßung und der Abschied sind immer warm und herz- Und obwohl ich der Einzige bin, der heute abreisen muss lich. Letzte Blicke werden ausgetauscht, kurz gewinkt, und das Stuttgarter Seminar verlässt, bin ich froh, mich und wieder ist ein Wochenende oder eine der sogenann- auch als Teil dieser Gemeinschaft zu fühlen. Alle sind ten Langen Wochen, die drei- oder viermal im Jahr statt- herzlich und verabschieden mich, als sei ich schon immer finden, vorüber. Bei der Abreise wird deutlich, wie sehr hier mit ihnen. Der Abschied fällt mir nicht schwer, denn wir zusammengewachsen sind und uns zugehörig fühlen. schon am nächsten Wochenende werde ich meine eige- Jetzt geht es zurück an den jeweiligen Wohnort, und wir ne Seminarleitung und -gemeinschaft wieder sehen am sind frei in der Entscheidung, wie wir unser Studium in- Hamburger Priesterseminar im Rahmen des Studiums für nerhalb eines Ausbildungsmoduls individuell gestalten Berufstätige, wo ich seit dem Wintersemester 2019/2020 und inhaltlich selbst weiter auffüllen. studiere. So kam es, dass ich am Priesterseminar in Stuttgart per Es stimmt, seit meiner Orientierungswoche 2018 war E-Mail anfragte, ob es für mich als Hamburger Student ich noch mehrmals in Stuttgart. Entweder zu den Priester- möglich sei, dort an einem Hauptkurs zum Sakrament der weihen oder aus beruflichen Gründen. Egal aus welchem Letzten Ölung teilzunehmen. Grund hierfür war, dass der Grund ich dort bin, immer richte ich es so ein, dass ich für den Kurs vorgesehene Dozent und Priester zuvor am zur Spittlerstraße 15 hoch fahre oder gehe. Denn hier, im Hamburger Seminar zum Sakrament der Beichte unterrich- Nordosten der Stadt, auf einem Hügel, befindet sich das tet und mich hierbei durch sein Wesen, seine Erfahrung Gebäude und der zum Verweilen einladende Garten des und sein Wissen beeindruckt hatte. Die bejahende Ant- Seminars. Manchmal fahre oder gehe ich aus zeitlichen wort aus Stuttgart kam schnell, und meine Freude war Gründen nur langsam hier vorbei. An anderen Tagen habe groß, wieder für eine Woche in das Stuttgarter Seminar- ich eine Verabredung mit mir bekannten Studenten oder geschehen eintauchen zu dürfen. Dozenten und lasse mir bei einem Spaziergang im Garten An der Außenalster in Hamburg herrscht insbesonde- oder in einem in der Nähe des Seminars gelegenen Café re bei schönem Wetter ein reger Betrieb auf dem Wasser bei Tee und Kuchen erzählen, wie es ihnen in Stuttgart und am Ufer. Es wimmelt nur so von Menschen, die ih- so ergeht. ren unterschiedlichen Handlungsplänen folgend hier eine Die mir damals Rat gebenden Pfarrer hatten sicherlich wuselige Menge bilden. An manchen solcher Tage kann Recht. Hier an diesem Kraft-, Sehnsuchts- und Erinne- man in der Menge Menschen ausmachen, die mitten in
schen dem Hamburger und dem Stuttgarter Priestersemi- nar und erinnern uns daran, dass es ja auch noch das Prie- sterseminar in Toronto/Kanada gibt. Wollen und ein Wort prägen das Gespräch: Brückenbau. Dann stellt sich mir die Frage: Was hat es Dir eigentlich so leicht gemacht, Deine eigene Brücke von Hamburg nach Stuttgart und zurück zu gehen? Und bist Du denn auch über die Brücke gegangen, oder baust Du die Brücke ge- rade mit auf? Worauf gründen eigentlich unsere geistigen Brücken? Wo führt die Brücke hin? Ich sehe: Der Weg über die Brücke nach Toronto ist ja auch gar nicht weit, und … diesem Trubel zu zweit zusammenstehen und intensive … Rilke dichtet1: Gespräche führen oder einfach nur schweigen. Der Strom der anderen Menschen fließt dann an ihnen vorbei, und es scheint so, als hätte sich um die beiden eine vor dem Sieh mich nicht als Stetes und Erbautes, Gewimmel schützende Hülle gebildet. Wenn man dieses an der Außenalster beobachtet und sich geduldig weiter weder Brücke kann ich sein, noch Ziel. umschaut und noch mehrere solcher Paare entdeckt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich hier Studenten und Höchstens Mund dem Wagnis eines Lautes, Studentinnen des berufsbegleitenden Studiums des Ham- burger Priesterseminars zu Gesprächspaaren zusammenge- der mich unbedingter überfiel. funden haben, die mit Hilfe von Leitfragen der Seminar- leitung Studieninhalte besprechen oder aktives Zuhören und Selbstreflexion üben. Geht man zu bestimmten Zeiten durch das Treppenhaus Höchstens Wind in Deinem Blumengrunde, des Stuttgarter Priesterseminars, ist es dort sehr ruhig, und es scheint, man sei der einzige Mensch im ganzen höchstens weichen Regens Niederfall –, Gebäude und manchmal auch der ganzen Welt. In so ei- ner Stimmung entdeckte ich auf einem Foto der Gründer oder, plötzlich, in der freisten Stunde, unserer Christengemeinschaft, das in der zweiten Etage, links an der Wand neben dem „Blauen Saal“ hängt, Fried- beides: Fangender und Ball. rich Rittelmeyer. Guten Tag, sehr verehrter Herr Rittel- meyer, lebten sie nicht lange in Stuttgart und starben schließlich in Hamburg? Dort haben wir am Seminar einen Eline ruft an. Sie ist Studentin in Stuttgart und im Re- großen Saal, der zu Ihren Ehren nach Ihnen benannt ist. daktionsteam für den Seminarbrief und fragt: „Wie geht Er lächelt, und ich schaue mir in Ruhe die anderen Gründer es mit Deinem Artikel für Hamburg – kannst du ihn mir an. So viele – so jung – vor hundert Jahren – eine andere schon schicken, damit Lisa und ich anknüpfen können?“ Zeit. Ich drehe mich um, und eine Mitstudentin aus mei- „Sehr gerne“, sage ich. „Ich bin soweit“. ner Hamburger Seminargruppe, Gabriella, steht vor mir. Sie erprobt, ob sie hierher wechseln will. Wir freuen uns über unser Wiedersehen, als eine weitere „Hamburgerin“, Melina, die ebenfalls seit einigen Wochen hier in Vollzeit studiert, beladen mit Büchern die Treppe hochkommt. Wir lachen – ganz schön viele Nordlichter hier im Süden. Plötzlich wird es voll im Treppenhaus. Seminaristen sau- sen treppauf, treppab mit Schläppchen an den Füßen und in farbige Eurythmieschleier gehüllt zu ihrem Unterricht. Wir Hamburger trennen uns, und ich beschließe noch ei- nen Kaffee zu trinken, bevor es auch mit meinem Kurs weitergeht. Auf dem letzten Treppenabsatz treffe ich Li- sa, eine junge Niederländerin, die hier ebenfalls in der Priesterausbildung ist und von der ich weiß, dass sie sich unter anderem im Rahmen von campus A, einem freien Zusammenschluss anthroposophisch orientierter Studi- en- und Ausbildungsstätten in Stuttgart, engagiert. Ein kurzes Gespräch mit ihr, und es wird deutlich, dass wir uns 1 Rainer Maria Rilke, „Für Heide“, Briefwechsel in Gedichten mit Erika beide daran erfreuen, dass hier gerade eine seminarüber- Mitterer, aus der vierten Antwort, Ragaz, 1./ 4. Juli 1924, Aus: Werke in greifende Begegnung stattfindet. Wir sprechen über die drei Bänden, Zweiter Band, Gedichte und Übertragungen, Insel Verlag, Zusammenarbeit und den studentischen Austausch zwi- Frankfurt am Main und Leipzig 1991, S. 222.
19 Grenzen überschreiten – Grenzen abbauen Julian Rögge, Priester in São Paulo I m Rückblick auf meine Weihe im dieser Pandemie ist ein Thema, das möglich abzubauen. Wie können wir vergangenen Jahr fühle ich: Mit eher neue Grenzen schafft als alte uns auf Augenhöhe, ohne unnötige der Priesterweihe habe ich eine abbaut. In Brasilien und besonders Grenzen, begegnen, auch wenn wir Grenze überschritten. Dem folgten in São Paulo sind auch viele soziale verschiedene Aufgaben haben? Wie viele Grenz-Erlebnisse: Das erste Zele- Grenzen sichtbar. Wirtschaftliche und können wir die verschiedenen Mei- brieren der Menschenweihehandlung, soziale Unterschiede, Diskriminie- nungen, Überzeugungen und Lebens- das erste Zelebrieren in einer Gemein- rungen aufgrund von Hautfarbe und weisen in der Gemeinde integrieren de und die Entsendung in ein fernes Geschlecht. Sie alle werden durch die und fruchtbar zusammenarbeiten? Land. Aber auch Grenzerfahrungen Pandemie noch verstärkt. Wie schaffen wir es, dass Menschen äußerer Art: Aufgrund der Corona- Trotz aller neuen Grenzen hat das aus verschiedenen sozialen Schich- Pandemie stand plötzlich die Frage vergangene Jahr aber auch deutlich ten und mit unterschiedlichen kul- im Raum, ob ich überhaupt nach Bra- gezeigt: Die großen Herausforde- turellen Hintergründen in der Chri- silien würde reisen können. Noch nie rungen der Menschheit machen vor stengemeinschaft präsent sind? Mir in meinem Leben habe ich Landes- keiner Grenze halt und wir werden scheint es wichtig, die Fähigkeit zu grenzen so stark erlebt und noch nie sie nur gemeinsam lösen können. Das entwickeln und zu stärken, einander fühlte sich die Entfernung zwischen gilt für die Corona-Pandemie genau- zuzuhören, ohne übereinander zu ur- Europa und Brasilien so groß an. Die so wie für die Fragen der Umwelt, der teilen – selbst wenn man vielleicht ersten Monate ruhte das Gemeinde- Wirtschaft oder der sozialen Gerech- nicht zu einer gemeinsamen Idee, leben in São Paulo weitgehend. Was tigkeit. So stellt sich mir für dieses zu einer Meinung, kommen kann. nicht online stattfinden konnte, Jahr die Frage: Wie können wir alte Das unbefangene Zuhören kann ei- musste ausfallen, die Menschenwei- und neue Grenzen überschreiten und ne Kraft sein, um Brücken über Gren- hehandlung wurde ohne die physische abbauen? Technisch haben wir hier- zen zu bauen. Brücken über Gren- Anwesenheit der Gemeinde gefeiert. zu Möglichkeiten, die vor zwei Jahr- zen zwischen verschiedenen Meinun- Die Pandemie schuf bisher unbe- zehnten noch undenkbar waren. Wie gen, Aufgaben, Kulturen und sozialen kannte physische Grenzen zwischen können wir diese auch seelisch und Gruppen. Hoffentlich kann die Chri- den Menschen. Dies fällt besonders geistig begleiten und für unsere Ar- stengemeinschaft einen Beitrag dazu in einem Land wie Brasilien auf, wo beit nutzen? Hier in Brasilien wurde leisten, dass wir immer mehr zuhören man sich normalerweise näher kommt deutlich, das wir mit Online-Veran- und dadurch Brückenbauer werden. als in Deutschland. So fiel zum Bei- staltungen Menschen erreichen kön- spiel die sonst übliche Umarmung zur nen, die aufgrund der räumlichen Ent- Begrüßung plötzlich weg. fernung physisch nicht am Leben in Seit August vergangenen Jahres einer Gemeinde teilnehmen können. suchen wir in der Gemeinde unseren Auch gibt es erste Online-Veranstal- Weg in dieser veränderten Welt. Wel- tungen der Christengemeinschaft, an che Veranstaltungen sind möglich? denen Menschen aus verschiedenen Womit müssen wir noch warten? Wie Ländern Südamerikas teilnehmen. können wir die äußere Distanz inner- Hier wird eine Herausforderung sein, lich überwinden? Im Gemeindeleben ein gesundes Gleichgewicht zwischen werden neue Grenzen sichtbar: zwi- der Arbeit in der Gemeinde und der schen den verschiedenen Meinungen Arbeit über die Gemeinde hinaus zu über das Corona-Virus, zwischen Mas- finden. kenverweigerern und Maskenbefür- Und in der Gemeinde selbst? Für wortern, zwischen Menschen, die in ein zeitgemäßes Gemeindeleben die Gemeinde kommen und solchen, scheint es mir wichtig zu sein, die die es vorziehen, zuhause zu bleiben. Grenzen zwischen den Priestern und Die Frage des richtigen Umgangs mit den Gemeindemitgliedern so weit wie
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