Too much? Neuartige Therapien in der GKV - Gerechte Gesundheit
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 52 – September 2020 Too much? Neuartige Therapien in der GKV © billyfoto / iStockphoto Reset, bitte! Debatte um Sterbehilfe In der NUB-Lücke Frische Ideen zum Neustart des Déjà-vu: Das zähe Ringen um die Auf welche Hürden Innovationen Gesundheitswesens gesucht Suizidassistenz beginnt erneut im Krankhaus stoßen können
September 2020 Seite 3 • Überfordert? Ist die GKV ausreichend auf Arzneimittel für neuartige Therapien, sogenannte ATMPs, vorbereitet? Oder überfordern sie das System? Dieser Frage gehen wir in der aktuellen Ausgabe nach, denn die Herausforderungen, die die Thera- pieinnovationen im Gepäck haben, sind immens. Das gilt für Verfahren, ob AMNOG oder NUB, aber auch für die grundsätzliche Finanzierbarkeit. Noch werden mit ATMPs ausschließlich seltene Erkrankungen behandelt. Darauf verlassen, dass das auf absehbare Zeit so bleiben wird, kann man sich nicht. Schließlich laufen mittlerweile mehr als 1.000 klinische Studien weltweit mit ATMPs. Die Zeit läuft... Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre Antje Hoppe, Chefredakteurin Inhalt Im Fokus 4 Einmal Reset, bitte! Vorschläge für einen Neustart des Gesundheitswesens 8 Innovationen in der NUB-Lücke Das Verfahren für neue Methoden ist reformbedürftig 11 Erneutes Ringen um Sterbehilfe Wie kann eine Neuregelung der Suizidassistenz aussehen? 14 Too much? Neuartige Therapien in der Gesetzlichen Krankenversicherung Im Gespräch 18 Neustart für die Kosten-Nutzen-Bewertung Prof. Wolfgang Greiner über ATMPs, das AMNOG und die Sorge vor Rationierung In Kürze 22 Schmerzmedizinische Versorgung: „Wieder bei Null anfangen“ 23 Strategien für Demenz und Diabetes 24 Gesundheitsausgaben der Länder um fast 124 Milliarden Euro gestiegen 24 Krebs und Armut: Was zu ändern wäre 25 Regierung muss kein Triage-Gremium einrichten 26 Wo die Kassenaufsicht genauer hinschaut
• Seite 4 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT © stock.adobe / LogoStockimages Einmal Reset, bitte! Vorschläge für einen Neustart des Gesundheitswesens • Berlin (pag) – Einen Neustart will die Robert Bosch Stiftung dem deutschen Gesund- heitswesen verordnen. Dem Menschen zugewandt, patientenorientiert, multiprofessionell, qualitätsgeprägt und offen für Innovationen soll es sein. Nachdem im vergangenen Jahr Vorschläge dafür auf Bürgerdialogen gesammelt wurden, haben Botschafter dieser Treffen den Gesundheitsminister jetzt ins Verhör genommen.
September 2020 Im Fokus Seite 5 • Bevor bei der Online-Konferenz im Sommer die Bürger- Die Fragen, mit denen die Bürgerbotschafter den Minis- botschafter Jens Spahn ihre Fragen stellen, wird die ter konfrontieren, decken eine breite Themenpalette ab: Reformbedürftigkeit des Gesundheitswesens austa- Prävention und Gesundheitskompetenz gehören ebenso riert. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit dazu wie die Fallpauschalen im Krankenhaus. Es geht um bei der Stiftung, verlangt nach mutigen Ideen und die Zahl gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland so- visionären Reformvorschlägen – gerade angesichts der wie eine bessere Honorierung der sprechenden Medizin. Herausforderungen, die Globalisierung, demografischer Wandel und Digitalisierung bereithielten. Jens Spahn Worum geht es bei „Neustart“? verhehlt dagegen nicht, dass er sich mit dem Begriff Zum Hintergrund: Die Robert Bosch Stiftung hat vor Neustart schwertue. Dass man bisher so gut durch die zwei Jahren die Initiative „Neustart!“ begonnen. Coronakrise gekommen sei, habe auch damit zu tun, Bereits erschienen ist der Bürgerreport 2019. Er bündelt dass dieses System – trotz aller Probleme – eine gute die Ergebnisse von fünf Bürgerdialogen, an denen im Basis sei. Und deshalb spricht der Politiker lieber von vergangenen Mai in verschiedenen Städten rund 400 neuem Schwung, mit dem das Gesundheitswesen in zufällig ausgewählte Bürger teilnahmen. Der Report ent- den 20er-Jahren zu gestalten sei. Besonderen Hand- hält über 500 Reformideen. lungsbedarf sieht er bei den Gesundheitsämtern und Parallel dazu diskutieren Experten in verschiedenen bei der internationalen Zusammenarbeit im Gesund- Think Labs – Denk-Laboren – über ein zukünftiges heitsbereich. Er hofft außerdem, dass die neue Wert- Gesundheitssystem. Ein konkretes Thema lautet bei- schätzung für Beschäftigte des Gesundheitswesens spielsweise Ressourcenallokation. erhalten bleibt – „nicht nur in Wort, sondern auch in Lesen Sie im folgenden die Fragen der Bürgerbot- Taten, in Rahmenbedingungen“. schafter an den Minister. 500 zufällig ausgewählte Bürger, fünf Städte, ein Ziel: die Entwicklung gemeinsamer Empfehlungen für das Gesundheitswesen in Deutschland. Ende Mai 2019 trafen sich Bürger in Kiel, Rostock, Köln, Fürth und Freiburg, um Vorschläge für eine zukünftige Gesundheitsversorgung zu ent- wickeln.© Robert Bosch Stiftung, Heinrich Völkel
• Seite 6 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Gesundheitskompetenz Der Minister teilt das grundsätzliche Anliegen. In den Kassen sollen „aktive Spieler“ sein vergangenen Jahren sei die sprechende Medizin bereits Prävention und Gesundheitskompetenz sollten so früh stärker in den Fokus gelangt. Aber: „Es ist nicht so wie möglich etabliert werden – am besten schon in einfach, das in den Vergütungsstrukturen, wie wir sie Kindergärten und Schulen. Welche konkreten Konzepte kennen – und deshalb muss man sie dann auch schritt- verfolgen Sie, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung weise überarbeiten – abzubilden.“ Bei der konkreten zu etablieren und umzusetzen? Finanzierung der sprechenden Medizin sieht der Poli- Grundsätzlich unterstützt Spahn, dass sich Kinder in der tiker eine Verpflichtung zum Umschichten: von techni- Schule oder noch früher in den Kitas mit Gesundheit schen Leistungen wie Labor und Großgeräten hin zur auseinandersetzen. Aber er warnt davor, die Bildungs- Kommunikation. Das Schwierige daran sei insbesondere institutionen zu überfrachten: „Wir dürfen die Schule die Nachvollziehbarkeit, denn „20 Minuten Gespräch nicht alles lösen lassen, was gesellschaftlich nicht nachzuvollziehen, ist schwieriger als eine Ultraschallauf- mehr klappt.“ Die Krankenkassen seien zur stärkeren nahme“. Spahn erwähnt, dass aus diesem Grund bei der regionalen Zusammenarbeit verpflichtet worden. Der Vergütung der Hausärzte viel mit Pauschalen gearbeitet Minister will, dass sie zusammen mit den Kommunen werde, aber auch diese seien nicht unumstritten. und Landkreisen Konzepte für die Schulen erarbeiten. Als konkrete Themen nennt er Ernährung, aber auch Impfen und Zahnuntersuchungen. „Da möchte ich die Primärversorgungszentren Kassen als aktive Spieler sehen – auch finanziell aktiv.“ Akteure gesucht Allerdings müsse auch eine Grenze definiert werden, Die Bürgerbotschafter fordern medizinische Primär- um welche Aufgaben sich die Bildungsinstitutionen versorgungszentren in Stadtteilen und Gemeinden mit kümmern – Beispiel Sportunterricht – und was die Kran- klarer Lotsenfunktion, um eine Versorgung aus einer kenkassen mit guten Kooperationen beitragen können. Hand sicherzustellen. Sie sollen interdisziplinär arbeiten und Zugang für jeden ermöglichen. Wie kann es gelin- gen, sie auch in Deutschland zu etablieren? Die sprechende Medizin „Die rechtliche Grundlage wäre da“, antwortet Spahn. Es muss umgeschichtet werden Eine grundsätzliche Zustimmung gebe es auch. Benötigt Der wirtschaftliche Druck auf medizinische Einrich- werden vor allem diejenigen, die solche Modelle vor Ort tungen führt dazu, dass die Mitarbeiter nur wenig Zeit umsetzen. Zwar gibt es dem Politiker zufolge mehrere für die Patienten haben. Wie kann über eine erhöhte derartige Initiativen in Deutschland – beispielhaft nennt Sprechstundenzahl und eine besser vergütete spre- er den Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt –, aber chende Medizin ausreichend Zeit für Kommunikation dennoch scheint es für eine regelhafte Umsetzung in mit den Patienten gewährleistet werden? der Fläche noch an engagierten Akteuren zu fehlen. © Robert Bosch Stiftung, Heinrich Völkel
September 2020 Im Fokus Seite 7 • Medizinische Versorgung auf dem Land darüber, dass Besserverdienende und Beamte nicht Das ungelöste Problem solidarisch in die GKV einzahlen. Wie kann die Gruppe Die Qualität und Geschwindigkeit der medizinischen der privilegierten Versicherten stärker in die Pflicht für Versorgung unterscheiden sich zum Teil deutlich zwi- die Gemeinschaft genommen werden? schen ländlichen und städtischen Gebieten. Wie können Es muss nicht mehr gesetzliche Krankenkassen als Infrastruktur und Hilfsfristen im ländlichen Raum ver- nötig geben, aber genügend für einen Wettbewerb bessert, wie Gemeinden und Kommunen stärker unter- unter ihnen, meint Spahn. Für ihn ist der Wettbewerb stützt werden? zwischen den Kassen Voraussetzung für deren Service- Die Sicherstellung der Versorgung auf dem Land be- orientierung sowie Kunden- und Versichertenfreund- schäftigt Politik schon seit Längerem. Dabei habe man lichkeit. Früher habe es über 1.200 Kassen gegeben, festgestellt, so Spahn, dass es nicht allein eine Geld- mittlerweile seien es rund 100. Die kleinen seien nicht frage sei. „Sie könnten als Hausarzt in Mecklenburg- per se die teuren. Der Politiker stellt außerdem klar, Vorpommern ziemlich gut verdienen, aber trotzdem dass nicht alle Privatversicherten privilegiert seien. In lassen sich nur wenige überzeugen, dort hinzugehen.“ der PKV seien nicht nur „die Gesunden, Schönen und Es gehe eben um die Lebensbedingungen insgesamt in Reichen“, sondern beispielsweise auch kleine Selbst- strukturschwachen Regionen. Die Politik habe sich be- ständige und Solo-Selbstständige: „Kioskbesitzer und müht, die Rahmenbedingungen der Versorgung daran Taxifahrer, die sich wegen der hohen Mindestbeiträge in anzupassen; als Stichwörter nennt Spahn medizinische der Gesetzlichen Krankenversicherung privat versichert Versorgungszentren und Hausbesuche durch nicht- haben und ein Problem bekommen, wenn die Beiträge medizinisches Personal. Das Problem bleibe jedoch: im Alter steigen.“ Somit stellten sich soziale Fragen „Sie müssen Leute haben, die es auch wollen.“ Er be- nicht nur zwischen GKV und PKV, sondern auch inner- kennt, das Problem sei noch nicht abschließend gelöst. halb des privaten Versicherungssystems. Insgesamt hält Spahn die Debatte zu GKV, PKV, Bürgerversicherung und Co. für so festgefahren, dass er sich an dieser Stelle Krankenhäuser, DRGs, private Betreiber sogar ausdrücklich einen Neustart wünscht. und Überversorgung Die Bürgerbotschafter kritisieren Fehlentwicklungen in Kliniken als Folge des DRG-Systems. Können die Länder, Zweite Runde von Bürgerkonferenz die sich weitgehend aus der Investitionsfinanzierung zu- Ob es einen solchen geben wird, ist mehr als ungewiss. rückgezogen haben, den Sicherstellungauftrag erfüllen? Aber vielleicht werden auf den Bürgerkonferenzen Dürfen zweckbestimmte GKV-Beiträge als Gewinne in der Neustart-Initiative noch unkonventionelle Ideen private Taschen fließen? entwickelt. Eine zweite Runde von Dialogen wird Die Frage, ob private Krankenhausbetreiber Gewinn im Herbst stattfinden. Bis 2021 sollen dann die end- machen dürfen, beantwortet der Minister mit zwei gültigen Vorschläge für eine nachhaltige Reform des Gegenfragen: Darf der Apotheker, der niedergelassene Gesundheitswesens vorliegen. • Arzt, die Physiotherapiepraxis Gewinne mit GKV-Geldern machen? Sollen unternehmerische Risiken honoriert werden oder soll am Ende alles staatlich sein? Stichwort © Robert Bosch Stiftung, Heinrich Völkel DRGs: Spahn weist darauf hin, dass die Pflege seit die- sem Jahr aus den Fallpauschalen ausgegliedert wurde, da zu ihren Lasten gespart wurde, um Investitionen zu finanzieren. Er räumt ein, dass die DRGs nicht perfekt seien, verweist aber auf gleichzeitige Überversorgung insbesondere in den Ballungsgebieten und Unterversor- gung in anderen Regionen. „Solange es keine bedarfsge- rechte Versorgung gibt, ist die Idee, einfach Strukturen zu finanzieren, nicht richtig“, lautet seine Argumentation. Einen nicht effizienten Ressourceneinsatz will Spahn verhindern, deshalb verlangt er vor der Diskussion über ein neues Vergütungssystem Strukturveränderungen im stationären Bereich. Diese seien in den ostdeutschen Bundesländern zum Teil schon wesentlich weiter fortge- schritten als im Westen, merkt er an. Private Krankenversicherung Weiterführender Link: Die „Gesunden, Schönen und Reichen“? https://www.neustart-fuer-gesundheit.de Die Bürgerbotschafter berichten von Unverständnis über die hohe Anzahl gesetzlicher Krankenkassen und
• Seite 8 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Innovationen in der NUB-Lücke Das Verfahren für neue Methoden ist reformbedürftig © zbruch / iStockphoto • Berlin (pag) – Bis Innovationen in den Fallpauschalen der Krankenhäuser, dem DRG-System, abgebildet werden, kann es bis zu drei Jahre dauern. Diese Lücke soll das NUB-Verfahren überbrücken. Einige Akteure, wie etwa Unikliniken, der vdek und die Deutsche Krebsge- sellschaft, halten dieses Prozedere mittlerweile für reformbedürftig – nicht zuletzt auf- grund neuer Behandlungsansätze wie CAR-T-Zelltherapien.
September 2020 Im Fokus Seite 9 • Herbstzeit ist NUB-Zeit in den Krankenhäusern. Dann Die Situation ist unübersichtlich müssen sie entscheiden, für welche neuen Untersu- So geht das Prozedere weiter: Nach der Bewertung des chungs- und Behandlungsmethoden, kurz NUB, sie InEK verhandeln die Kliniken mit den Krankenkassen ein beim Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus NUB-Entgelt. Allerdings gelingt es den Häusern, nur für (InEK) eine Anfrage starten. Nur so haben die Häuser knapp 60 Prozent der NUB mit einem Status eins ein eine Chance, die Innovationen sachgerecht vergütet Entgelt zu vereinbaren. Das ergab ein Gutachten des zu bekommen. Bis zum 31. Oktober ist eine Anfrage für Deutschen Krankenhausinstituts im Auftrag des BVMed. das Folgejahr an das InEK zu stellen. Die Kostenträger verweisen unter anderem auf Gut- achten des Medizinischen Dienstes der Krankenversi- cherung (MDK), denen zufolge sich keine Evidenz oder Begründungen werden vermisst kein Potenzial für die Methode ergebe. Auch zu geringe Das Klinikum München stellt beispielsweise jährlich Fallzahlen oder ein fehlender Versorgungsauftrag für die rund 180 NUB-Anträge. Neue Untersuchungs- und NUB werden von ihnen ins Feld geführt. Behandlungsmethoden sind insbesondere für Maxi- Noch unübersichtlicher wird die Situation dadurch, malversorger und Unikliniken relevant: Sie reichen dass ein erfolgreich verhandeltes NUB-Entgelt die Kas- einer Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts sen nicht automatisch dazu verpflichtet, dieses auch zufolge hauptsächlich NUB-Anträge ein. Nachdem die zu zahlen. Bei der Abrechnungsprüfung darf der MDK Kliniken die Anträge gestellt haben, ist das InEK am prüfen, ob mit dem Einsatz der NUB die gesetzlich ge- Zug. Bis zum 31. Januar veröffentlicht es seine Prüf- forderte Qualität und Wirtschaftlichkeit der Behand- ergebnisse. Das bedeutet: Jede angefragte Methode lung eingehalten wurde. Fällt das Ergebnis negativ bekommt einen Status, der darüber entscheidet, wie aus, gibt es kein Geld. es weitergeht. Bei Status zwei ist Endstation, bei Status eins hingegen kann das Krankenhaus ein Ent- gelt mit den Kassen verhandeln. NUB-Experte Prof. Finanzierungssicherheit fehlt Thomas Kersting findet es problematisch, dass es vom Mit den neuen CAR-T-Zelltherapien wird insbesondere die InEK keine Begründung dafür gibt, warum welcher Behäbigkeit des Verfahrens für die Kliniken zum Problem. Status verteilt wurde. „Die Entscheidungsgrundlagen Ein Jahr bis 18 Monate kann es dauern, bis das komplette sind nicht nachvollziehbar“, sagt der Geschäftsführer Verfahren durchlaufen ist, informiert Dr. Johannes Bruns, des ITC - Institut Takecare. Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft. So Hinzu kommt: Für manche neue Methoden scheint es lange müssen die Kliniken das Geld vorstrecken. Mit Sum- grundsätzlich schwer zu sein, überhaupt den Status men von 320.000 Euro für die CAR-T-Zellprodukte plus eins zu bekommen. Sie fallen durch das Raster. Dies Behandlungskosten in Vorleistung zu gehen, stellt auch beobachten Kliniken insbesondere bei Antibiotika und für große Häuser ein erhebliches Finanzierungsrisiko dar. molekularer Diagnostik. Bei mehreren Patienten kommen schnell Millionenbeträge „Ein Jahr lang keine Abrechnungsmöglichkeiten“, beschreibt Nur wenig Behandlungsfälle mit CAR-T-Zellen in Deutschland: „Das Prof. Helmut Ostermann die NUB-Lücke. Ostermann ist Onkologe liegt daran, weil wir hier eine Finanzierungsunsicherheit haben“, sagt und leitet das Patientenmanagement am Klinikum München. Jens Bussmann. Er ist Generalsekretär des Verbandes der Deutschen © LMU Klinikum Universitätsklinika. © pag, Fiolka
• Seite 10 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT zusammen. Die Folgen bringt Jens Bussmann, General- Viele Reformideen kursieren sekretär vom Verband der Deutschen Universitätsklinika, Mehrere Akteure haben das Problem erkannt und auf den Punkt: „Viele wundern sich, dass es in Deutsch- Reformvorschläge vorgestellt. Im Herbst 2019 fordert land im internationalen Vergleich so wenig Behandlungs- der Verband der Universitätsklinika (VUD) zusammen fälle mit CAR-T-Zellen gibt. Das liegt daran, weil wir hier mit der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und dem eine Finanzierungsunsicherheit haben.“ Verband der Ersatzkassen (vdek) speziell für die neuen Gen- und Zelltherapien ein auf Innovationszentren zuge- schnittenes NUB-Verfahren: Die sehr teuren und teils mit Wie lässt sich die NUB-Lücke überbrücken? hohen Risiken verbundenen Therapien sollen nur an we- Der Weg zur kostendeckenden Erstattung eines neuen nigen, hoch qualifizierten Innovationszentren vorgenom- Arzneimittels ist im Krankenhaus also mitunter ziemlich men werden. Die neuen Behandlungsmethoden können lang. Dabei spielt auch der Zeitpunkt der Zulassung so evaluiert werden, die Innovationen gelangen „nicht eine nicht unerhebliche Rolle: Wird das Medikament ungesteuert in die Patientenversorgung“ und die Kassen nach dem 31. Januar zugelassen, kann es bei der aktu- hätten keinen Grund, bei der Erstattung „auf die Bremse ellen NUB-Prüfung nicht mehr berücksichtigt werden. zu treten“. Das Neue an diesem Spezial-NUB-Verfahren: Ein Vorab-Antrag, bevor die Zulassung erfolgt ist, ist Die Innovationszentren – Universitätsklinika und Maximal- ebenfalls schwierig. Somit müssen die Klinken bis zur versorger – bekommen vom Tag der Zulassung an sofort nächsten NUB-Runde im Herbst warten, bis sie für das die Kosten für die Therapien erstattet. – inzwischen zugelassene – Medikament eine Anfrage Einen etwas umfassenderen Katalog an Vorschlägen beim InEK starten können. „Wollen wir ein solches Mittel hat der VUD zuletzt in einer Stellungnahme zum MDK- in einer wichtigen Indikation sofort und viel einsetzen, Reformgesetz vorgestellt. Danach erhalten die Kranken- haben wir trotz erfolgter Zulassung im Grunde ein häuser ein ganzjähriges NUB-Antragsrecht. Die Kassen Jahr lang keine Abrechnungsmöglichkeiten“, sagt Prof. werden verpflichtet, bei positiver Anerkennung durch Helmut Ostermann vom Klinikum München. das InEK innerhalb einer gesetzlich vorgeschriebenen Frist – zum Beispiel zwei Monate – mit den Kranken- © iStockphoto, erhui1979 häusern über die NUB-Entgelte zu verhandeln. Und: Die NUB-Entgelte werden rückwirkend zu dem Zeitpunkt gezahlt, an dem die neue Methode vom InEK den Status eins erhält. Ein „Super-NUB-Verfahren“ hat ebenfalls im vergangenen Jahr DKG-Generalsekretär Bruns ins Spiel gebracht. Der Kern seiner Idee: Bei neuartigen Gen- und Zelltherapien wird das NUB-Prozedere an das AMNOG- Verfahren gekoppelt. „Nach dem Beschluss des Gemein- samen Bundesausschusses und der im AMNOG-Ver- fahren gesetzten Frist von sechs Monaten könnten die Kosten der stationären Behandlung unmittelbar erstat- tet werden“, erläutert er. Nach den Preisverhandlungen würden die Preise entsprechend angepasst. Wie geht es weiter? Unter Experten sind noch weitere Reformvorschläge in der Diskussion – zum Beispiel, dass das InEK seine Status-Vergaben begründen sollte. Gefordert wird auch, dass für NUB, für die in den Vorjahren bereits eine An- frage positiv beschieden wurde, nicht jedes Jahr erneut ein Antrag gestellt werden muss. Und dass nicht jedes In der Zwischenzeit versuchen die Kliniken, die NUB- Krankenhaus separat eine Anfrage ans InEK starten Lücke mit Einzelkostenübernahmeanträgen bei den muss. Ferner werden stärker zentralisierte Entgeltver- Krankenkassen zu überbrücken. Eine Lösung, die handlungen vorgeschlagen. aufgrund des Aufwandes nur ein Provisorium dar- Ob und welche Ideen sich die politischen Entscheider stellen kann, denn die Klinik muss für jeden einzelnen zu eigen machen, ist derzeit noch offen. • Patienten eine solche Kostenerstattung beantragen. Unbefriedigend ist aus Krankenhaussicht auch, dass Weiterführender Link: in der Regel nur die Medikamenten-Mehrkosten, nicht Ausführlicher wird das Problem der NUB-Lücke in einer aber der zusätzliche Behandlungsaufwand übernom- opg-Spezialausgabe der Presseagentur Gesundheit dargestellt. Gerechte Gesundheit richtet außerdem men werden. Dennoch geht es manchmal nicht anders. eine Veranstaltung zu dem Thema aus. Denn die Zeit, den Ablauf des NUB-Verfahrens abzu- https://www.pa-gesundheit.de/pag/opg-spezial- warten, haben zum Beispiel Krebspatienten nicht. 2020-die-nub-luecke.html
September 2020 Im Fokus Seite 11 • © iStockphoto / A-Digit Erneutes Ringen um Sterbehilfe Wie kann eine Neuregelung der Suizidassistenz aussehen? • Berlin (pag) – Das Thema Sterbehilfe wird der Bundestag nicht los. Nachdem der erste Versuch, den assistierten Suizid in ein möglichst enges Korsett zu packen, gescheitert ist, wollen die Abgeordneten den ethisch heiklen und mit Tabus beladenen Topos noch einmal angehen. Gefunden werden soll ein Schutzkonzept, das das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht über Gebühr einschränkt. Bei Kindern und Jugendlichen könnte ein assistierter Suizid ausgeschlossen werden. Klar ist schon jetzt: Der Vorschlag von Prof. Thomas überarbeiten, sondern auf Nimmerwiedersehen in der Fischer, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof Versenkung verschwinden zu lassen. Dann, so Fischer, (BGH) und meinungsstarker, oft auch polarisierender gelte wieder die Rechtslage, die vorher schon seit 140 Kolumnist von „Spiegel Online“, wird im Bundestag Jahren Bestand hatte: Da Suizid nicht bestraft werden bestimmt keine Gefolgschaft finden. Fischer ist dafür, kann, ist auch die Beihilfe dazu straflos. „Das kann den im Februar 2020 vom Bundesverfassungsge- man so lassen“, sagt Fischer bei einem digitalen Fach- richt für nichtig erklärten Strafrechts-Paragrafen 217 gespräch der Heinrich-Böll-Stiftung. (Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe) nicht zu
• Seite 12 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Auf die Agenda des Bundestags Mitglied des Deutschen Ethikrates und Professor für Nichtstun allerdings, wie es der Richter a. D. fordert, öffentliches Recht an der Uni Gießen, plädieren da- kommt für die meisten Abgeordneten und im Übrigen für, Kriterien aufzustellen, mit denen sichergestellt auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird, dass eine (straffreie) Sterbehilfe nur bei solchen nicht in Betracht. Dieser hat bereits Mitte April 30 Menschen erfolgt, deren Entschluss auf einer freien Ärztevertreter, Verbände, Organisationen und Juristen Willensentscheidung beruht und keine Verzweiflungs- angeschrieben mit der Bitte, ihm Vorschläge für eine tat ist. „Die Kriterien dafür müssen diskutiert werden“, Neuregelung der Suizidassistenz zu unterbreiten. sagt Augsberg. In Betracht kämen zum Beispiel – wie Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) ist wild es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil entschlossen, das Thema Sterbehilfe im jetzigen Herbst angedeutet hat – Wartefristen, die Einbeziehung von auf die Agenda des Bundestages setzen. Und Kirsten Psychiatern und Beratungsgespräche. „Unbedingt Kappert-Gonther, Bundestagsabgeordnete der Grünen, festzuzurren“ ist nach Ansicht von Augsberg in einem erinnert bei der Veranstaltung der Böll-Stiftung daran, Schutzkonzept zudem, dass Suizidassistenz bei Min- dass die Mehrheit, die 2015 für den einschränkenden derjährigen verboten wird. Ein Recht auf aktive Sterbe- Paragrafen 217 StGB stimmte, immer noch vorhanden hilfe für Kinder und Jugendliche wie in Belgien oder sei. Das müsse berücksichtigt werden. in den Niederlanden soll es hierzulande nicht geben. Auch Patientenverfügungen dürfen laut Augsberg nicht ohne Weiteres akzeptiert werden. „Es darf kein Schutzpflichten für vulnerabe Gruppen Suizid bei jetzt dementen Personen erlaubt werden.“ „Wir müssen eine Regelung treffen, die den Schutz- pflichten für vulnerable Gruppen Rechnung trägt.“ Da- mit meint Kappert-Gonther vor allem alte, chronisch so- Demenz und Sterbehilfe wie psychisch kranke oder pflegebedürftige Menschen, In den Niederlanden hatte der Fall einer 74-jährigen an „die niemandem zur Last fallen wollen“. Auch müsse Demenz erkrankten Frau für Aufsehen erregt, bei der verhindert werden, dass sie zu einem Suizid – etwa von 2016 – so heißt es in dem Nachbarland – eine Euthana- Angehörigen – gedrängt werden. „Menschen in Pflege- sie durchgeführt worden war, obwohl sie sich dagegen und Notsituationen müssen Hilfe bekommen, damit sie gewehrt hatte. Das höchste Gericht sprach die Ärztin nicht aus dem Leben scheiden wollen“, so die Grünen- vor Kurzem von Mord frei, weil die Frau einige Jahre Politikerin. Suizid als Form der Lebensbeendigung dürfe zuvor in einer Verfügung bestimmt hatte, Sterbehilfe auf keinen Fall zur Normalität werden. in Anspruch nehmen zu wollen, wenn sie nicht mehr Das Bundesverfassungsgericht selbst hat es als legiti- in der Lage sei, bei ihrem Mann zu wohnen. Sollte mes Anliegen des Staates bezeichnet, zu verhindern, Augsbergs Forderung aufgegriffen werden, dürfte „dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als eine Diskussion darüber entbrennen, wie verbindlich normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“. Kirs- Patientenverfügungen dann für Angehörige und Ärzte ten Kappert-Gonther wie auch Prof. Steffen Augsberg, überhaupt noch sein werden und ob diese nachher im © iStockphoto / gremlin
September 2020 Im Fokus Seite 13 • Zustand der Einwilligungsunfähigkeit widerrufen wer- mit der Sterbehilfe weitergeht und ob noch in dieser den können. Die Ansicht darüber gehen unter Juristen Legislatur eine neue gesetzliche Regelung verabschie- weit auseinander. det wird. Experten, unter anderem aus dem Deutschen Für illusorisch hält allerdings Eugen Brysch von der Ethikrat, warnen vor Schnellschüssen: Mit einem neuen Deutschen Stiftung Patientenschutz die Vorstellung, Gesetz, das erneut von den Karlsruher Richtern kas- mit prozeduralen Vorgaben festlegen zu können, wel- siert wird, dürfte niemanden – am allerwenigsten den che Entscheidung zur Selbsttötung autonom ist und Betroffenen – geholfen sein. • welche nicht und in welchem Falle demnach Suizid- assistenz erlaubt ist. Um wenigstens zu verhindern, © helovi / iStockphoto dass vonseiten professioneller Suizidhelfer, also Sterbe- hilfeorganisationen, Druck auf vulnerable Gruppen ausgeübt wird, schlägt die Stiftung als schnell umsetz- bare Lösung vor, im neuen Paragraf 217 Strafgesetz- buch die mit Gewinnabsicht durchgeführte Förderung der Selbsttötung unter Strafe zu stellen. Wie ernsthaft ist der Suizidwunsch? Eine tragende Rolle für Ärzte sieht ein weiterer Vor- schlag vor, den ein Quartett aus Palliativmedizinern, Medizinrechtlern und Ethikern um Prof. Jochen Taupitz vorgelegt hat. Danach sollen allein Mediziner die Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches prüfen. Und nur sie sowie Angehörige und nahestehende Personen bleiben straffrei, wenn sie Hilfe zur Selbsttötung leisten.Werbung für Hilfe zur Selbsttötung soll verbo- ten werden. Es bleibt anzuwarten, wie es im Herbst Zum Hintergrund: eine Gemengelage von Urteilen • Mit dem Ziel, Sterbehilfeorgani- ein Schutzkonzept, etwa gesetz- mehr beschieden. Begründet hat sationen Einhalt zu gebieten, hat lich festgeschriebene Aufklä- das Ministerium seine Anordnung der Gesetzgeber 2015 im Para- rungs- und Wartepflichten oder unter anderem damit, dass das graf 217 Strafgesetzbuch (StGB) auch Verbote „besonders gefahr- Urteil des BVerfG zu 217 StGB ab- die geschäftsmäßige Sterbe- trächtiger Erscheinungsformen gewartet werden soll. Auch nach hilfe unter Strafe gestellt. Dieses der Suizidhilfe“. der inzwischen ergangenen Ent- Verbot wurde jedoch im Februar scheidung bleibt das Ministerium 2020 vom Bundesverfassungs- • Nach wie vor ist unklar, wie das aber dabei, der Behörde positive gericht für grundgesetzwidrig Bundesamt für Arzneimittel und Bescheide zu verbieten. erklärt. Der Grund: Paragraf 217 Medizinprodukte (BfArM) auf das StGB entleere faktisch die Mög- Urteil reagieren wird. Ihm liegen • Keine Klarheit hat auch die Vor- lichkeit einer assistierten Selbst- über 100 Anträge von Suizidwil- lage des Verwaltungsgerichts tötung und greife dadurch in das ligen vor, die eine Erlaubnis zum (VG) Köln beim Bundesverfas- Recht ein, sich das Leben zu neh- Erwerb tödlicher Betäubungs- sungsgericht gebracht, mit der men und dabei auf die Hilfe Drit- mittel haben wollen. Grund dafür faktisch das BfArM zur Beschei- ter zurückzugreifen. Ausdrücklich ist ein Urteil des Bundesver- dung der Anträge verpflichtet betonen die Richter aber, dass es waltungsgerichts aus dem Jahr werden sollte. Die Vorlage wurde dem Gesetzgeber nicht untersagt 2017, das im extremen Einzelfall Ende Juni zurückgewiesen – ist, die Suizidhilfe zu regulieren. einen Anspruch auf Genehmi- allerdings nur, weil die Begrün- Er müsse dabei aber sicherstel- gung postuliert hat. Das Bun- dung des VG nach dem Sterbe- len, dass dem Recht des Einzel- desgesundheitsministerium hat hilfe-Urteil in den Augen der nen, sein Leben selbstbestimmt dem BfArM allerdings untersagt, Verfassungsrichter nicht mehr zu beenden, Rechnung getragen das Urteil umzusetzen. Seitdem stichhaltig war. Zur Sache selbst wird. Das Gericht sieht ein breites werden Anträge (seit 2017 sind hat sich das Bundesverfassungs- Spektrum an Möglichkeiten für fast 200 eingegangen) nicht gericht nicht geäußert.
• Seite 14 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Too Much? Neuartige Therapien in der Gesetzlichen Krankenversicherung • Berlin (pag) – Ist das GKV-System ausreichend auf Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP) vorbereitet? Brauchen Verfahren und Instrumente ein Update? Nicht zuletzt zeigen insbesondere die Gen- und CAR-T-Zelltherapien, dass sich die Grundsatzfrage nach der Zahlungsbereitschaft mit neuer Dringlichkeit stellt. © iStockphoto / billyfoto
September 2020 Im Fokus Seite 15 • Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMPs) sind Arzneimittel für die Anwendung beim Menschen, die auf Genen, Geweben oder Zellen basieren. Sie bieten innovative Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. © iStockphoto, gremlin Eine Revolution in der Behandlung prophezeit die Preis von 1,9 Millionen Euro aufsehenerregend. We- Techniker Krankenkasse (TK), als sie im vergangenen nig überraschend ist daher, dass der Gemeinsame Jahr den Drug-Future-Report präsentiert. Die neuen Bundesausschuss (G-BA) dieses Arzneimittel für die Gentherapien für die Bluterkrankheit markierten den Premiere der Anwendungsbegleitenden Datenerhe- Beginn einer neuen Ära, heißt es auf der Pressekon- bung (AbD) auswählt. „Zolgensma hat uns schon in ferenz. Angesichts des zu erwartenden Innovations- der Vergangenheit vor der Zulassung sehr intensiv schubes und des damit verbundenen finanziellen beschäftigt und wird uns auch weiterhin beschäftigen“, Sprengstoffes verlangt der TK-Vorstandsvorsitzende kommentiert der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Dr. Jens Baas, das System an zukünftige Gegebenhei- Josef Hecken, als das Plenum am 16. Juli für die in ten anzupassen. Ein konkreter Vorschlag seitens der Europa frisch zugelassene Gentherapie die Erforder- Kasse ist etwa der dynamische Evidenzpreis. „Sonst lichkeit einer AbD feststellt. stehen wir in ein paar Jahren vor dem Problem, dass Diese Datenerhebung im realen Versorgungsalltag wir reihenweise neue Therapien haben, die durch das wurde mit dem „Gesetz für mehr Sicherheit in der System von Zulassung und Erstattung fallen und da- Arzneimittelversorgung“ eingeführt. Damit soll die her in Deutschland den Patienten nicht zur Verfügung Datenbasis für die Zusatznutzen-Bewertung von Arz- stehen“, warnt der TK-Chef. Den Handlungsdruck se- neimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen und hen auch andere Akteure – zumal wenn künftig nicht von Arzneimitteln mit bedingter Zulassung verbessert mehr wie bisher nur seltene Leiden, sondern auch werden. Volkskrankheiten mit den neuartigen Therapien be- handelt werden sollten. Beispiel Blutertherapie: Laut TK wendet die GKV für die aktuelle Standardtherapie AMNOG-Verfahren: Up to date? derzeit insgesamt etwa 480 Millionen Euro auf. Bei Darüber hinaus hat der Gesetzgeber Anfang des der Einführung der für 2023 erwarteten Gentherapie Jahres mit dem „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ für diese Krankheit könnten die GKV-Ausgaben auf festgelegt, dass für alle ATMPs eine Nutzenbewertung vier Milliarden Euro steigen. Das wären rund zehn Pro- nach Paragraf 35a SGB V durchgeführt und nachfol- zent der gesamten Arzneimittelausgaben. gend ein Erstattungsbetrag verhandelt wird. Ein- zige Ausnahme: Knorpelprodukte. Damit ist Schluss mit der Unsicherheit, ob das jeweilige Produkt eine Die Zolgensma-Prämiere Methodenbewertung oder das AMNOG-Verfahren zu In den folgenden Monaten ist es dann insbesondere durchlaufen hat. Bleibt allerdings die Frage, ob das eine Gentherapie zur Behandlung der spinalen Muskel- AMNOG-Verfahren selbst, das immer wieder als ler- atrophie, Zolgensma, die für viel Wirbel sorgt. Neben nendes System gelobt wird, für Gentherapien und Co. der Vergabe per Lotterieverfahren ist vor allem der noch up to date ist.
• Seite 16 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Was die Zusatznutzen-Bewertung von ATMPs so ver- entwicklung und ist auf eine Beauftragung vorberei- zwickt macht, sind die relativ kleinen Studiengrößen, tet. Auch auf Kassenseite ist man nicht abgeneigt. häufig ohne Vergleichsarm. Hinzu kommen Schwie- „ATMPs laden zur Kosten-Nutzen-Bewertung ein“, rigkeiten, eine zweckmäßige Vergleichstherapie zu meint etwa Haas. definieren, und nicht zuletzt eine lange Wirkdauer, die Um Kosten-Nutzen-Bewertungen von ATMPs ins Ver- sich aber erst im Verlauf beweisen muss. Nicht von fahren einzubringen, sei allerdings eine offene Dis- ungefähr konsta- kussion zwischen tiert der von der G-BA, pharma- DAK herausgege- zeutischen Unter- bene AMNOG-Re- nehmern und dem port 2019, dass die GKV-Spitzenver- Umsetzung einer band notwendig, nutzenbasierten mahnt der Gesund- Preisfindung bei heitsökonom Prof. sogenannten one- Wolfgang Greiner shot-Therapien mit von der Universität „hoher Unsicher- Bielefeld (Lesen heit“ verbunden sei. Sie dazu das Inter- view auf Seite 18). Es gehe darum, Das Versprechen in welcher Form Noch deutlicher und vor allem auf wird Dr. Antje Haas, welcher Datenbasis Abteilungsleiterin Kosten-Nutzen-Be- Arzneimittel beim wertungen sinnvoll GKV-Spitzenver- in die bisherige band, in ihrem Bei- AMNOG-Systematik trag zum AMNOG- als zusätzliche Ent- Report. Für das scheidungsgrund- Versprechen des lage eingebunden Herstellers, dass werden können. eine einmalige An- Außerdem fordert © iStockphoto, akinbostanci wendung der ATMP er einen erneuerten zur Heilung führe, Austausch zwi- fehle der Nachweis, schen den Verfah- kritisiert sie. Sicher seien nur die enormen Ausgaben rensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fach- für die GKV. öffentlichkeit – Medizinern, Ökonomen und Ethikern Haas sieht bei den neuartigen Therapien die gängi- – über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung. gen Verfahren zur Bewertung des Nutzens und zur Feststellung eines angemessenen Erstattungsbetra- ges vor neuen Herausforderungen. Reichen ergän- Was ist Heilung wert? zende Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Jenseits von den methodischen Feinheiten einer mög- Datenerhebung, die sich noch bewähren muss, und lichen Kosten-Nutzen-Bewertung bleibt festzuhalten, erfolgsorientierte Vergütungsmodelle aus, um diese dass mit ATMPs die noch immer ungeklärte Grund- zu bewältigen? Sind sie als Reaktion auf eine Revo- satzfrage nach dem gerechten Preis für Therapien lutionierung der Behandlung ausreichend, oder ist neue Brisanz gewinnt. Doch obwohl bereits anlässlich es in dieser Umbruchphase an der Zeit, die Kosten in der Zulassung von Sovaldi vor einigen Jahren aus- die Bewertung mit einzubeziehen, sprich die Kosten- giebig darüber diskutiert wurde, was Heilung einer Nutzen-Bewertung aus dem Dornröschen-Schlaf zu Gesellschaft wert sein sollte, sind wir in dieser Frage erwecken, wie es Gesundheitsökonomen bereits seit nicht wesentlich weitergekommen. Allerdings hat sich Längerem fordern? inzwischen der Fokus der Debatte verschoben, meint Greiner: von der Angemessenheit der Preise hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit. Kosten und Nutzen bewerten Solche Themen sind für die Politik unbequem, Ratio- Möglich wäre es. Schließlich arbeitet das Institut für nierung lautet der Tabubegriff. Auf einer Veranstaltung Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, der Verbandes Managed Care hat Dr. Thomas Müller, das vor elf Jahren eine reichlich kontroverse Methode Abteilungsleiter Arzneimittel im Bundesgesundheits- für die Kosten-Nutzen-Bewertung veröffentlicht hat, ministerium (BMG), vor einiger Zeit deutlich gemacht, nach eigenen Angaben kontinuierlich an einer Weiter- dass er nicht daran glaubt, dass eine Kosten-Nutzen-
September 2020 Im Fokus Seite 17 • Bewertung dabei hilft, einen richtigen und gerechten Report 2020 des vfa bio nennt folgende Studienzahlen: Preis für Arzneimitteln zu finden. Es gehe vielmehr da- Zwar belegt Deutschland 2018 bei der Zahl der Genthe- rum, einen Ausgleich zu finden, erläutert er – und zwar rapien den dritten Platz, liegt aber mit 4,4 Prozent der zwischen einem solidarischen Gesundheitssystem mit Studien weit hinter den USA (47,5 Prozent) und China Zwangsbeiträgen einerseits und der Aufrechterhaltung (39,2 Prozent). Selbst auf ganz Europa entfallen zusam- von Chancen für einen kontinuierlichen Nachschub an mengenommen nur 10,4 Prozent der Studien. Ähnlich neuen Arzneimitteln andererseits. das Bild bei der CAR-T-Zelltherapie. Hier führt China (231 Studien) vor den USA (163 Studien). Erst dann folgen auf Platz 3 Deutschland, Frankreich und Großbri- Die Preisfrage tannien (mit jeweils nur 21 Studien), heißt es im Report. Müller will die Diskussion zu hochpreisigen Arzneimit- Als Ursache für das schlechte Abschneiden wird neben teln nicht auf die reine Höhe des Preises reduzieren, fehlenden ATMP-Clustern auch eine begrenzte Inno- denn: „Der Preis spielt eine ganz wichtige Rolle, damit vationskultur hierzulande genannt: „Insgesamt besteht zukünftige Generationen von Patienten auch neue Me- so die Gefahr, dass Deutschland zum Importeur medi- dikamente bekommen“, sagt der BMG-Vertreter und zinischer Innovationen auf dem Gebiet der ATMP wird, verweist auf notwendige Anreize für Finanzinvestoren. ohne eigene wirtschaftliche Vorteile aus deren medi- „Arzneimittel hängen nicht am Baum und müssen zinischem Potenzial zu generieren.“ Um eine „ATMP einfach nur geernet werden.“ Dafür werde viel Kapital welcome“-Kultur hierzulande zu etablieren, sollten eine benötigt, das Problem sei jedoch, dass die Kapitallage entsprechende Taskforce und ein Deutsches Zentrum für Biotech in Europa deutlich schlechter sei als in an- der Gesundheitsforschung für ATMP gegründet werden, deren Ländern. Das wiederum verhindere Innovation in schlagen die Reportautoren vor. Europa. Die Gefahr: Innovationen werden nur noch aus Keine Taskforce, aber immerhin eine ATMP-Arbeits- Drittstaaten eingekauft. gruppe ist im BMG geplant. Ein Anfang immerhin, Dieses Szenario lässt sich bei den ATMPs nicht von der denn die Herausforderungen, mit denen die neu- Hand weisen. Deutschland gehörte in den Anfängen der artigen Therapien das System konfrontieren, sind viel- Entwicklung zu den Pionierländern. Mittlerweile sieht fältig und komplex. • das ganz anders aus. Der jüngst erschienene Biotech- ATMPs in der Zulassung © stock.adobe.com, Scanrail ATMPs sind Arzneimittel für neuartige Therapien und umfassen Gentherapeutika, somatische Zell- therapeutika sowie biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ist in Deutschland für diese Arzneimittelgruppe zuständig. Seit August besteht eine Meldepflicht beim PEI für jede ATMP-Anwendung. Insbesondere für Patienten mit schweren Krankheiten wurden in letzter Zeit einige Gentherapeutika zugelassen. Im Mai 2020 hatten in der EU zehn ATMP eine zentra- le Zulassung, davon sieben Gentherapeutika. Laut Biotech-Report 2020 wurden fünf weitere ATMPs nach der Zulassung vom Markt genommen. Fünf Gnetherapeutika befinden sich derzeit im EU-Zu- lassungsverfahren (Stand Mai 2020). Für dieses Jahr wird mit insgesamt zehn Zulassungsanträgen gerechnet, für 2021 sogar mit 25.
• Seite 18 Im Gespräch GERECHTE GESUNDHEIT Neustart für die Kosten- Nutzen-Bewertung Prof. Wolfgang Greiner über ATMPs, AMNOG und die Sorge vor Rationierung • Berlin (pag) – Vor einigen Jahren erregte Sovaldi die Gemüter, jetzt ist es die Gentherapie Zolgensma, die prominent vor Augen führt, vor welche Herausforderungen hochpreisige Arzneimitteltherapien das GKV-System stellen. Dabei hat sich der Fokus der Debatte in- zwischen verschoben, meint der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner: von der Angemessenheit der Preise bzw. der Funktionalität des Preisbildungsverfahrens hin zur grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit. Ist das AMNOG-Verfahren ange- Änderungsgesetze seit Einfüh- derem mit dem zuletzt eingeführ- messen auf ATMPs wie Genthe- rung des AMNOG bestätigen das ten Forschungsdatenpool neu auf. rapien und CAR-T-Zelltherapien vielfach beschriebene „lernende Wünschenswert wäre, dass diese vorbereitet? Oder reichen neue System“. Insofern denke ich, dass Datensätze zukünftig auch für die Instrumente wie die Anwendungs- das AMNOG an sich weiterhin das Preisbildung und Umsetzung alter- begleitende Datenerhebung, der „richtige“ System ist. nativer Erstattungsmodelle nutzbar Risikopool der Kasse und besonde- sein werden. Die Anwendungsbe- re Erstattungsmodelle als Ergän- Aber? gleitende Datenerhebung soll wie- zungen aus? derum die Unsicherheit über den Greiner: Der Risikopool war ein Nutzen bestimmter Arzneimittel Greiner: Grundsätzlich hat sich das wichtiges erstes Signal an die reduzieren. Wie gut dies funktio- AMNOG in den vergangenen zehn Krankenkassen, jedoch keine nieren und welche Akzeptanz die Jahren als sehr belastbares, funktio- Lösung für faire Preise neuartiger generierte Evidenz haben wird, die nales und – von wenigen Ausnah- Therapieoptionen. Für die Preis- auch nicht frei von Mängeln und men abgesehen – faires Verfahren bildung, die längst nicht mehr nur Unsicherheit sein wird, werden wir etabliert. Der Gesetzgeber und die eine „frühe“ und einmalige Erstat- erst in einigen Jahren beantworten beteiligten Parteien haben gezeigt, tungsbetragsverhandlung ist, be- können. dass sie in der Lage sind, sich an nötigt es zukünftig aussagekräftige verändernde Rahmenbedingungen Versorgungsdaten. In der Frage der Welche Herausforderungen sehen anzupassen. 22 kleine Anfragen Datenverfügbarkeit stellt der Ge- Sie speziell für erfolgsorientierte an die Bundesregierung und elf setzgeber die Strukturen unter an- Vergütungsmodelle? Ein möglicher
September 2020 Im Gespräch Seite 19 • © pag, Fiolka Kassenwechsel des Versicherten punkten nachvollziehbares Verhal- rin werden eindeutige Kriterien für und ein hoher Aufwand für jedes ten. Wir beobachten zudem, dass den Erfolg einer Therapie definiert, Präparat machen das Modell nicht sich bereits heute die Preisbildung die so auch im Versorgungsalltag gerade attraktiv, oder? verstärkt in nachgelagerte Prozesse und auf Basis von Versorgungs- verschiebt. daten abbildbar sind. Greiner: Der § 130b-Erstattungs- betrag selbst ist, wenn man so Inwiefern? Welche Daten werden für die Ver- will, bereits ein zentraler erfolgs- träge benötigt? orientierter Vergütungsvertrag. Greiner: Bis April 2020 konnten Nur definiert sich der „Erfolg“ hier wir für insgesamt 79 nutzenbewer- Greiner: Als Datengrundlage dürften über den auf Basis früher klini- tete Arzneimittel weitere Preis- dafür derzeit GKV-Abrechnungs- scher Daten antizipierten Nutzen. nachlässe beobachten, die nicht daten am besten geeignet sein. Dieser ist mit großer Unsicher- in unmittelbarem Zusammenhang Apothekenabrechnungsdaten fehlt heit verbunden. Neben positiven mit einem Bewertungsverfahren es an den in der Regel erforderli- Wettbewerbssignalen haben standen. Hier ist es wahrscheinlich, chen Diagnoseinformationen, in den anschließende dezentrale Pay-for- dass vertragliche Vereinbarungen Morbi-RSA-Daten sind angewendete Performance-Verträge den Vorteil, oder Staffelungen bzw. Neuver- Prozeduren nicht abgebildet. Ein diese Unsicherheit durch Monito- handlungen gegriffen haben. Zur Fehler wäre es jedoch, diese Ver- ring zu reduzieren. Dies ist bis- praktischen Umsetzung benötigen tragsmodelle nun überzustrapazie- lang auf Gesamt-GKV-Ebene nicht Selektivverträge den Willen der ren. Nicht jede kleine Teilpopulation möglich. Zudem lassen sich durch Beteiligten, entsprechende Model- aus den G-BA-Beschlüssen lässt sich Selektivverträge weitere Einspa- le auch tatsächlich zu realisieren. in Versorgungsdaten abbilden. rungen erzielen. Dies hängt eng an Therapieerfolgsdefinitionen, die in der Bereitschaft pharmazeutischer erwartbaren juristischen Ausein- Derzeit befinden wir uns in einer Unternehmen, weitere Preisnach- andersetzungen enden, sind nicht Umbruchphase, verschiedene lässe einzuräumen, wenn entspre- sinnvoll. Wir beobachten erste Instrumente werden ausprobiert. chende Rabatte nicht bekannt Erstattungsverträge, für die der Wenn Gentherapien nicht nur für werden. Vor dem Hintergrund der GKV-Spitzenverband transparent Orphans, sondern auch für Volks- internationalen Preisreferenzierung auf solche erfolgsabhängigen Ver- krankheiten zugelassen werden, ein unter ökonomischen Gesichts- gütungsbestandteile hinweist. Da- muss diese Testphase vorbei sein.
• Seite 20 Im Gespräch GERECHTE GESUNDHEIT Wie viel Zeit haben Politik und Jahren wieder vor der Situation, Mit den neuartigen Therapien GKV noch, um das System vorzu- dass neben Mengen- und Preis- stellt sich die grundsätzliche bereiten? effekten auch negative Einnahme- Frage, was ein angemessener effekte die Finanzsituation der Preis ist, mit neuer Brisanz. Ist die Greiner: Streng genommen be- GKV belasten werden. Die konjunk- Kosten-Nutzen-Bewertung für die finden wir uns seit sechs Jahren turellen Folgen der Covid-19-Pan- Ermittlung eines richtigen und ge- in der von Ihnen beschriebenen demie werden höchstwahrschein- rechten Preises generell geeignet? Umbruchsphase. Die Diskussion um lich nach der kommenden Wahl Und wenn, auch mit der Effizienz- die Finanzierbarkeit neuer Arznei- Diskussionen über Einspargesetze grenzenanalyse des IQWiG? mittel wird post AMNOG spätes- erforderlich machen. tens seit der Markteinführung von Greiner: Wir schlagen bereits seit Sovaldi im Jahr 2014 kontinuierlich Halten Sie die Einführung einer 2015 im AMNOG-Report vor, Infor- geführt. Nach Hepatitis C waren es vierten Hürde für sinnvoll? mationen aus Kosten-Nutzen-Be- neue hochpreisige Onkologika bzw. wertungen optional ins Verfahren deren Kombinationstherapien und Greiner: Die Erwartungshaltung einzubringen. Politisch erscheint inzwischen die ATMPs, welche zu eines unmittelbaren und unein- eine verpflichtende Kosten-Nut- einem kontinuierlichen Anstieg der geschränkten Zugangs zu neuen zen-Bewertung als Entscheidungs- Markteintrittspreise neuer Arznei- innovativen Arzneimitteln ist bei kriterium für die Preisfindung mittel und auch zu einem Gesamt- Patienten, Leistungserbringern und derzeit nicht durchsetzbar. Viel- anstieg der jährlichen Arzneimit- Kostenträgern gleichermaßen vor- leicht liegt das auch an dem weit telausgaben geführt haben. Dabei handen und ethisch sinnvoll. Der verbreiteten Mythos, dass mit einer hat sich der Fokus der Debatte von Gesetzgeber hat diesen Anspruch Kosten-Nutzen-Analyse zwangs- der Angemessenheit der Preise in der jüngeren Arzneimittelgesetz- läufig die Entscheidung über den bzw. der Funktionalität des Preis- gebung wiederholt untermauert. Markteintritt verbunden ist, also bildungsverfahrens „frühe Nutzen- Das AMNOG bewegt sich damit Rationierung betrieben wird. Die- bewertung“ inzwischen hin zu der zwangsläufig im Spannungsfeld sen Automatismus gibt es aber in grundsätzlichen Frage der Finan- dieser Erwartungshaltung einer- keinem Land. zierbarkeit verschoben. seits und der Sicherstellung einer ausreichenden, zweckmäßigen und Und wie ist das Stimmungsbild bei Was bedeutet das angesichts der wirtschaftlichen Versorgung ande- den Kostenträgern? zu erwartenden Entwicklung der rerseits. Das AMNOG hat sich in den GKV-Finanzen? letzten Jahren allerdings auch des- Greiner: Insbesondere vonseiten ei- halb als tragfähiges Konstrukt er- niger Kostenträger mehren sich die Greiner: In den kommenden Jahren wiesen, weil es sich vonseiten aller Stimmen, Daten aus entsprechen- stehen wir nun erstmals seit vielen am Verfahren beteiligten Parteien den Analysen zumindest fakultativ als lernfähig und oder in bestimmten Verfahrens- anpassbar dar- konstellationen, z. B. ATMPs, in gestellt hat. Es die Verfahren einzubringen. Dazu ist aus meiner bedarf es jedoch zweier wichtiger Sicht deshalb Voraussetzungen: Eine offene Dis- erwartbar, dass kussion zwischen G-BA, pharma- die Politik mög- zeutischen Unternehmern und dem lichst lange an GKV-Spitzenverband, in welcher dem Modell des Form und vor allem auf welcher „freien Markt- Datenbasis Kosten-Nutzen-Be- eintritts“ fest- wertungen sinnvoll in die bisherige halten wird. Eine AMNOG-Systematik als zusätzliche formale vierte Entscheidungsgrundlage einge- Hürde halte ich bunden werden können. Und natür- deshalb eben- lich einen erneuerten Austausch so wenig für zwischen den Verfahrensbeteilig- sinnvoll, wie die ten und der maßgeblich tangierten kürzlich vor- Fachöffentlichkeit, Medizinern, geschlagenen Ökonomen und Ethikern, über die Obergrenzen Methoden der Kosten-Nutzen-Be- für die Jahres- wertung. Wie mehrfach dargelegt, therapiekosten ist aus methodischen Gründen die neuer Arznei- Effizienzgrenze für den Markt neu- © iStockphoto / master1305 mittel. er Arzneimittel zur Ermittlung von
September 2020 Im Gespräch Seite 21 • Preisobergrenzen nicht geeignet. Allerdings sind mit der Ermittlung Die Politik hat in Deutschland kei- Da bräuchte es einen Neustart, der individueller Zahlungsbereitschaft nen direkten Einfluss auf Arznei- sich diesmal an den internationalen auch verschiedene Probleme ver- mittelpreise, haben wir deshalb Standards für gesundheitsökonomi- bunden. hierzulande unpolitische Arznei- sche Analysen orientieren sollte. mittelpreise, im Vergleich zu ande- Zum Beispiel? ren Ländern? Die Politik scheint eher der Ansicht zu sein, dass die Gesellschaft die Greiner: Da individuelle Zahlungs- Greiner: Gesundheitspolitik baut Frage nach einem gerechten Preis bereitschaften aufgrund persön- in Deutschland grundlegend auf diskutieren muss. Wie lässt sich licher Charakteristika stark vari- dem Subsidiaritätsprinzip auf. Der die gesellschaftliche Zahlungsbe- ieren können, gilt es, einen Selek- Gesetzgeber hat viele Regulie- reitschaft für neue Therapien, für tionsbias möglichst zu vermeiden. rungskompetenzen – auch in der Heilung ermitteln? Zudem könnten Probanden inva- Preisgestaltung neuer Arzneimit- lide Angaben machen, da sie mit tel – aus gutem Grund, nämlich Greiner: Um dies zu beantworten der Entscheidungssituation über- der maßgeblich dort vorhandenen ist zunächst zu klären, wodurch sich fordert sind oder die Ergebnisse Kompetenz, an die Selbstverwal- die „gesellschaftliche“ Zahlungs- bewusst manipulieren wollen. Auch tung delegiert. Politik setzt dabei bereitschaft definiert. Etabliert ist beziehen Probanden häufig keine die Leitplanken wie zum Beispiel, die Bestimmung der gesellschaft- Opportunitätskosten in ihre Ent- dass sich Erstattungsbeträge neuer lichen Zahlungsbereitschaft aus scheidungen ein. Anders als zum Arzneimittel am tatsächlichen eine Aggregation der individuellen Beispiel in Großbritannien gibt es Mehrwert für die Patientinnen und Zahlungsbereitschaften, was eigene in Deutschland aber weder eine Patienten orientieren sollen. Die theoretische Probleme aufwirft. Tradition in der gesellschaftlichen damit verbundenen methodischen, Zur Ermittlung der individuellen Diskussion dieser Fragen noch den ethischen oder ökonomischen Fra- Zahlungsbereitschaft stehen unter- politischen Willen dazu. gestellungen fallen wiederum auf schiedliche Ansätze zur Verfügung. der Ebene der Selbstverwaltung Die Zahlungsbereitschaft kann z.B. Weil... an und sind dort zu diskutieren. indirekt aus dem tatsächlichen Die Idee, Erstattungsbeträge neuer Verhalten der Individuen abgeleitet Greiner: ... die Sorge vor impliziter Arzneimittel zwischen den an der werden, indem beispielsweise aus Rationierung zu groß ist. Im Grun- Versorgung beteiligten Parteien der Gegenüberstellung von Lohn- de ist es auch nicht notwendig, hier verhandeln zu lassen, ist auch als differenz und Erhöhung des Sterbe- einen festen Wert für eine Ober- Ergebnis politischen Scheiterns, risikos eines gefährlicheren Berufes grenze der Zahlungsbereitschaft zum Beispiel bei der Einführung auf die individuelle Bewertung von zu finden. Es zeigt sich in anderen einer Positivliste, zu sehen. Heute Leben geschlossen wird. Gebräuch- Ländern, dass allein das Bestehen ist dieses Verfahren ein Erfolgs- licher ist die Ermittlung der Zah- von Kosten-Nutzen-Überlegungen modell und Blaupause für Modelle lungsbereitschaft aus einer direkten schon dazu führt, dass sich die Be- in anderen Ländern. • Befragung der Individuen, bei der teiligten der höheren Transparenz die Befragten hypothetische Sach- bewusst werden und entsprechend verhalte monetär bewerten sollen. rationaler handeln. © pag, Fiolka Zur Person Prof. Dr. Wolfgang Greiner sowie des Instituts für Quali- ist Inhaber des Lehrstuhls für tät und Wirtschaftlichkeit im „Gesundheitsökonomie und Gesundheitswesen an. Greiner Gesundheitsmanagement“ an ist außerdem Vorsitzender des der Universität Bielefeld. Er ist Landesschiedsamtes Nieder- Mitglied im Sachverständigenrat sachsen für die vertragszahn- zur Begutachtung der Entwick- ärztliche Versorgung. Seine wis- lung im Gesundheitswesen beim senschaftlichen Schwerpunkte Bundesgesundheitsministerium. sind unter anderem: Evaluation Er gehört zudem den wissen- von Gesundheitsleistungen, schaftlichen Beiräten der Tech- Lebensqualitätsforschung sowie niker Krankenkasse, der DAK Health Technology Assessment.
Sie können auch lesen