WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen

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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
W ER N ER CA S T Y

D ER F EL S
I N D ER B R A N D U N G
Z eic h n u n ge n
WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
W ER N ER CA S T Y

        D ER F EL S
        I N D ER B R A N D U N G

        WERKBUCH
        Zeichnungen 2008–2019

        TEXTE
        Valérie Arato Salzer
        Lucia A. Cavegn
        Helga Peskoller
        Tim Krohn

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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
Seite

           5    Lago di Froda
           9    Lai da Tuma

         12     UNTERWEGS
        		      Valérie Arato Salzer

         19     Engadiner Passagen
         27     Grosses Geröll
         31     Flecken
         39     Julier
         43     Restipass

         47     NACHBILDER EINER NATUR,
        		      DIE VOR UNS LIEGT
        		      Helga Peskoller

         63     Horizonte
         67     Schnee von gestern
         75     Ela

         82     WELLEN
        		      Tim Krohn

         91     Brandung
        105     Salzwasser
        109     Unterwasser
        117     Horizonte

        122     AUFZEICHNUNGEN
        		      Lucia A. Cavegn

        129     Capo
        135     Valle Bollero
        138     Werkliste
        142     Die Autorinnen, der Autor
        144		   Ausstellungsverzeichnis
        146     Dank
        147     Impressum

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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
L AG O D I F RO DA

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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
L A I DA T U M A

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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
U N T ERW E G S                                                                                               Wasser festhält. Fast wissenschaftlich mutet
                                                                                                              die Auseinandersetzung an. Mitunter sind wir
                                                                                                              so nah dran, dass wir glauben, es mit abstrakten
                                                                                                              Bildkompositionen zu tun zu haben.

                                                                                                              Stationen einer Reise
                                                                                                              Seine Reise begann vor vielen Jahren und
                                                                                                              führte Werner Casty, im Bündnerland geboren
Valérie Arato Salzer                                                                                          und aufgewachsen, zuerst hoch hinauf in die
                                                                                                              Berge. In den kargen und menschenleeren
                                                                                                              Landschaften aus Stein fand Casty die Motive,
Das künstlerische Werk von Werner Casty ist      ist man sich sicher, dass es sich um Fotografien             für die man ihn bis heute kennt. Hatte er sich
eine Reise zu abgelegenen Felslandschaften,      in Schwarz-Weiss handelt. Aber wie bei den                   zu Beginn noch mehr oder weniger an die
Gletschern, Bergseen, ewigem Schnee, in          meisten seiner Werke zeichnet er mit Grafit,                 fotografische Vorlage und die real existierende
einheimische Wälder, zuletzt ans Meer und        setzt akribisch einen Strich neben den anderen.              Landschaft gehalten, wurde er zunehmend
wieder zurück. Die stetige Auseinandersetzung    Dennoch ist die Fotografie, die Werner Casty                 freier, mutiger. Anfangs waren es kleine Korrek-
mit der Natur und die Frage, wo der Mensch       Inspiration und Vorlage zugleich ist, Teil des               turen, die er vornahm. Hat er hier einen Hori-
in Bezug auf diese so unterschiedlichen          künstlerischen Prozesses und steht am Anfang                 zont verändert, da eine Leerstelle eingefügt.
und in ihrem Detailreichtum beeindrucken-        jeder Zeichnung. Dabei interpretiert er die                  Mit der Zeit wurden die Eingriffe kühner.
den Ansichten steht, verbindet jede einzelne     fotografische Vorlage sehr frei und sucht nie-               Wie beispielsweise in Engadiner Passagen 2011
Zeichnung mit der anderen.                       mals nach der Kopie der Natur, sondern nach                  setzte er auch mal verschiedene Bergabschnitte
                                                 einer stimmigen Übersetzung des vor Ort                      und Panoramen aus einer Schweizer Alpen-
Am Anfang von Werner Castys künstleri-           Gesehenen und Erfahrenen.                                    region zu einer neuen Landschaft zusammen,
schem Schaffen stand die Bildhauerei. Das                                                                     indem er sie wiederholte und spiegelte. Damit
überrascht nicht angesichts seiner Zeichnun-     Doch es ist gerade das fotorealistische Moment,              erschuf er eine veränderte Realität. Dies ist uns
gen, aus denen er jeden einzelnen Stein, jeden   das uns so fasziniert und das verdeutlicht,                  beim Betrachten zumeist gar nicht bewusst,
Baum, jeden Grashalm herauszumeisseln            mit welcher Präzision und Detailversessenheit                denn es sind keine fantastischen oder gar
scheint. Betrachtet man sie aus der Ferne,       Casty Felsen, Gräser, Bäume, Schnee oder                     utopischen Welten. Ganz im Gegenteil wirken

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WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
diese imaginären Landschaften für uns so echt       fragen uns: Hält das oder kann die kleinste                 weiter weg. Ans italienische Mittelmeer. Seit
und natürlich, dass wir ihre Existenz nicht in      Erschütterung die Steine, und somit auch uns,               über zwanzig Jahren kehrt er immer wieder
Frage stellen.                                      ins Wanken oder gar zu Fall bringen? Gleich-                nach Elba zurück, besucht seine Freunde in
                                                    zeitig finden wir Halt im verlässlichen, stati-             Chiessi, einem Fischerdorf an der Westküste
Wie ein roter Faden ziehen sich Auslassungen        schen, ewigen Material des Steins. Auch hier                der Insel. Hier ist die Bildserie Brandung
und Leerstellen auf dem Zeichnungsgrund             ist das, was die Felsbrocken umgibt – also der              2016-2018 entstanden. Die Zeichnungen
durch Castys gesamtes Werk. Zum Beispiel in         eigentliche Horizont –, weiss belassen worden.              sind so naturgetreu, dass man geneigt ist, sie
                                                                                                                                                                    Julier
der mehrteiligen Serie Julier 2013: Fünfzehn                                                                    «Aufnahmen» zu nennen.
Zeichnungen sind zu einem Block zusammen-           Die Unvergänglichkeit findet in einer nächsten
gefügt. Der Betrachter blickt aus der Ferne auf     Etappe von Werner Castys künstlerischer                     Wir glauben, das Tosen und Brausen des Meeres,
das verschneite Gebirge und nimmt sogleich          Reise ein vorläufiges Ende. Er hat den Berg                 die Gewalt und Wucht zu hören, mit der die
die verschiedenen Ansichten des Passes wahr.        verlassen und erkundet nun die Wälder des                   Brandung auf die Felsen prallt und dort bricht.
Casty hat mit dem Grafit unterschiedlich inten-     Engadins. Bei Schnee von gestern 2015/16 ist                Überall Wasser. Die Gischt spritzt und wir
sive Spuren hinterlassen. Wie er es so häufig       alles in Veränderung begriffen. Ist es noch                 riechen das Salz in der Luft. Konnten wir noch
macht, belässt er den Grund weiss, beispiels-       Winter oder kündet sich bereits der Frühling                kurze Zeit zuvor in kontemplativer Ruhe dem
                                                                                                                                                                    Schnee von gestern
weise dort, wo Schnee oder Himmel sind.             an? Der Schnee ist nicht mehr weiss, changiert              Schnee beim Schmelzen zuschauen und standen
Was bleibt, sind auch hier schon fast abstrakt      zwischen Grau, Hellbraun und Gelb. Unter-                   beobachtend abseits, befinden wir uns nun mitten-
anmutende Kompositionen und ein Destillat           stützt wird dieser Effekt durch das beige                   drin, müssen achtsam sein, von den gewaltigen
dessen, was auf der der Zeichnung zugrunde          Kupferdruckpapier. Da und dort drückt Dreck                 Wellen nicht mitgerissen zu werden. Nicht nur
liegenden Fotografie des Berges zu sehen war.       durch den Schnee, bahnen sich Gräser, Äste                  der Aggregatszustand des Wassers hat sich verän-
                                                    und Sträucher ihren Weg und versperren uns                  dert, sondern auch das Tempo und die Geräusch-
Bei den Zeichnungen Horizont 2015 stehen            den Blick. Das Blatt ist fast ganz ausgefüllt,              kulisse, die wir beim Betrachten unweigerlich
wir oben auf dem Grat des Berges. Akkurat           die weiss belassenen Stellen werden weniger                 mitdenken. Hier ist alles in Auflösung begriffen,
                                                                                                                                                                    Brandung
hat Casty auf dem alten Druckpapier – das           und kein Horizont ist mehr da, bei dem wir                  der Bruchteil eines Augenblicks festgehalten, der
Papier ist leicht gelblich, der Rand bereits aus-   uns fragen, was wohl dahinter sein mag.                     im nächsten Moment schon eine neue Ansicht
gefranst – einen Rahmen gezogen. Darin sind                                                                     hervorbringen wird. Wir sind nun so nah dran,
zahlreiche Felsbrocken aufeinandergestapelt.        War es gerade noch die Beschäftigung mit                    dass sich uns ein Bild von nie da gewesener
Es ist ein labiles Gleichgewicht und wir            dem Schnee, zieht es Werner Casty nun                       Abstraktion präsentiert.

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Die Serie von kleinen Bildern mit dem Titel       jetzt die Auflösung des Motivs im Licht.
Unterwasser 2017/18 kommt ruhiger und             Die Zeichnungen kommen heller, fast schon
sanfter daher. Sie transportiert eine andere      überbelichtet daher. Die Motive werden
Stimmung, zu der auch die grünliche Farbe         zusehends durchlässiger, als ob mit dem
des Untergrunds beiträgt. Die der Zeichnung       Weichzeichner der Kontrast verringert worden                Engadiner Passagen
zugrunde liegende Fotografie wurde in rund        wäre. Die in allen Zeichnungen präsenten
4 bis 5 Metern Tiefe aufgenommen. Oben            Auslassungen und Leerstellen werden neu
scheint die Sonne, das Wasser ist klar und        durch Licht geformt. Wusste Casty zuvor um
gibt den Blick auf den Meeresgrund frei. Wir      die Beschaffenheit des Materials, ist es jetzt
können uns nun viel Zeit lassen, diesen ein-      eine Ahnung. Licht kann man schliesslich
gehend zu studieren, und vertiefen uns in die     nicht berühren und nicht in Händen halten.
natürliche Symbiose aus Wasser, Pflanzen und
Stein. Dem Wasser kann man keine Grenzen          Unser Auge erkennt, was das Bild darstellt –
setzen, seine Kraft nicht zügeln. Wie viele       Äste, Zweige, Blätter, Gräser, Felsen –, aber
der Bilder bleiben auch diese ungerahmt, die      die Qualität ist eine andere. Durch die Auf-
Zeichnung ufert aus.                              lösung, die Überbelichtung des Motivs wird
                                                  die abstrakte Wirkung verstärkt. Diese starke               Oder ist es womöglich so, dass der Ort zuneh-
Auflösung im Licht                                Hinwendung zum Licht und zur Abstraktion                    mend an Bedeutung verliert, je mehr er an
In seinen neuesten Arbeiten Capo 2018/19          schlägt sich in einer Unschärfe nieder, die                 Greifbarkeit einbüsst?
und Waldboden 2018/19 wendet sich Werner          die neuesten Werke von Casty auszeichnet.
Casty von der Auseinandersetzung mit Wasser       Von ihnen geht eine flüchtige, fast schon                   Auch wenn Casty in Wetzikon im Zürcher
ab. Es ziehe ihn wieder hinauf in die Vertraut-   transzendentale Wirkung aus, die nichts mehr                Oberland sein Zuhause hat, ist er ein Reisender,
heit der Berge, sagt er. Aber immer, wenn man     gemein hat mit der Wucht der vorangegange-                  der, wenn er nicht physisch auf der Reise ist,
von einer langen und weiten Reise zurück-         nen Wasserbilder. Sie sind leise, voller Poesie             im Kopf weiterreist und nie stehen bleibt.
kehrt, ist man verändert und der Blick ein        und Melancholie.                                            Immer unterwegs zu sein, mit Neugierde und
anderer. Die intensive Beschäftigung mit dem                                                                  Offenheit zu schauen, was da ist, und es fest-
Wasser zeigt ihre Spuren. War es dort noch        Was bedeutet dies für Werner Castys Reise?                  zuhalten, macht Werner Casty als Künstler,
die Auflösung im Gegenstand, erkennen wir         An welche Orte wird sie ihn weiter führen?                  aber auch als Menschen aus.

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EN G A D I N ER PA S S AG EN

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20   21
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G RO S S ES G ERÖ LL

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F LE C K EN 1 – 7

30   31
32   33
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J U LI ER

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R ES T I PA S S

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44   45
N AC H B I LD ER EI N ER N AT U R ,
          D I E VO R U N S LI E GT

          Helga Peskoller

          Man könnte einen Beitrag für Werner Casty       In diese prähistorische Zeit fällt der Wandel
          in der Mittelsteinzeit anheben lassen.          vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit mit
          Zwischen der letzten Eiszeit und dem Beginn     Ackerbau und Viehhaltung; zudem tauchen
          des Holozäns als jüngsten Abschnitts der Erd-   erste Hinweise auf, dass in Norditalien in
          geschichte haben sich die Lebensbedingungen     Gebrauch gewesen sein musste, was in Asien
          gravierend geändert. Im 10. Jahrtausend vor     – trotz seiner der Schrift sehr früh kundigen
          unserer Zeitrechnung begann sich die mäch-      Kulturen wie China – offenbar keine Rolle
          tige Eisdecke zurückzuziehen, Mitteleuropa      gespielt hatte.
          wurde wieder bewaldet, die Jagd auf das
          Grosswild der Kältesteppen verlagerte sich      Das gibt Rätsel auf, handelt es sich dabei doch
          auf das Standwild in den Wäldern, der Fisch-    um ein häufig vorkommendes Material aus der
          fang nahm zu und das Sammeln von Pflanzen,      Mineralklasse der «Elemente» mit der Raum-
          Beeren oder Pilzen übernahmen – wie das         gruppen-Nr. 194, das sich durch eine hexa-
          immer schon der Fall gewesen war – Frauen,      gonale Gitterstruktur auszeichnet, die aus zwei
          Kinder und alte Stammesmitglieder, um           polytypen Schichten besteht, was leichte Spalt-
          beständig zum Lebensunterhalt beizutragen       barkeit, gute Schmiermitteleigenschaften und
          und Sozialität, Gemeinschaft zu bilden.         eine fast metallische Leitfähigkeit bedeutet.

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So fanden diese undurchsichtigen Kristalle in                Ursprünglich, von seiner Wortgeschichte her,       Oder anders gesagt: Werner Castys Zeichnun-
der Jungsteinzeit als Färbemittel Verwendung,                stossen wir im Altgriechischen auf «graphein»,     gen sind dem federleichten reinen Kohlestaub
man gab sie auch den Toten in die Gräber mit.                was so viel wie «schreiben» heisst und darauf      zu verdanken, aber was sie primär zum Gegen-
Später, in der Eisenzeit – mit dem Schweizer                 verweist, dass Grafit auf Papier oder anderen      stand haben, wiegt schwer, so schwer, dass es
Fundort La Tène am Neuenburgersee –, finden                  rauen Oberflächen durch die Abreibung              wegen der Materialität nicht zu überbieten ist.
sie sich dann an Gefässen, vor allem Koch-                   der einzelnen Blättchen eine graue Ablagerung      Mit einer einfachen Methode versetzt uns die
töpfen wieder, um diese feuerfest zu machen.                 hinterlässt. Diesen Abrieb kennt man vom           Natur in Erstaunen. Sie arbeitet im Grossfor-
                                                             Schreiben und Zeichnen aus der Schulzeit.          mat und Grossformen der festen Oberfläche
Heute ist Kohlenstoff in Reinform in jedem                   Der Bleistift, veraltet Reiss- oder Wasserblei,    sind Gebirge. Aber der Berg entkommt, ohne
Schreibwarengeschäft zu haben. In der Regel                  stieg zum Schutzpatron des blutigen Anfän-         dass er sich rührt, was ein Problem des Den-
nimmt er die Form eines Stiftes an, «Bleistift»              gers auf, weil er im Team mit dem Radier-          kens weniger für das Malen, Zeichnen oder
genannt. Was jedoch in die Irre führt, denn                  gummi Fehler rasch verzieh und fallweise           Fotografieren ist. (Aber sicher bin ich mir da
weder ist er aus Blei noch schwer wie dieses                 sogar einen spielerischen, experimentellen         nicht.)
und auch sonst nicht trostlos oder bedrückend,               Umgang mit diesen Kulturtechniken erlaubte.
sondern er verdankt seine Bezeichnung einer                                                                     Berge, Felsen, Steine, Schotter ...
Überlebenskunst. Im 16. Jahrhundert entdeckte                Grafit, so könnte man resümieren, ist ein          Nun sind wir angekommen, angekommen in
man nämlich in England grosse Vorkommen                      gutes Schreib- und Zeichenmaterial, aber           einer Welt, die sonderbarer nicht sein könnte,
von Grafit, hielt sie aber fälschlicherweise für             auch – erinnert sei an das Ausfuhrverbot nach      weil augenscheinlich real, zugleich aber der-
eine Form des Bleiglanzes (Plumbago).                        Frankreich und England während der Napo-           massen irreal, dass man sich nimmer auskennt:
                                                             leonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhun-       Wo befinde ich mich? Was steht mir gegen-
Selbst als vor exakt 241 Jahren, 1779, der rüh-              derts – ein perfektes Material für Gussformen      über? Worauf ist Verlass? Was geschieht mit
rige Apotheker und Chemiker Carl Wilhelm                     und Kanonenkugeln.                                 dem Blick? Ist das Fotografie? Eine Zeichnung?
Scheele den Nachweis erbrachte, dass dort                                                                       Ein Bild?
reiner Kohlenstoff vorkommt, und wenig später                Das heisst, mit Grafit ist nicht zu spassen, und
der streitbare Mineraloge Abraham Gottlob                    es heisst, dass Bleistifte Überlebenskünstler,     Zweifellos grundlegende Fragen, in die man
Werner diesen «Graphit» taufte, änderte sich                 weil Nutzniesser einer historischen Fehlein-       da schlagartig verwickelt wird. Fangen wir
bis zum heutigen Tag nichts mehr am Sieges-                  schätzung sind. So gesehen ist das Leichte ohne    hinten an: Was ist ein Bild? Darauf gab Hans
zug des Bleistifts.                                          das Schwere nicht zu haben und umgekehrt.          Blumenberg in seinem Buch «Schiffbruch

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mit Zuschauer» Antwort, wenn er schreibt,                     was sich der Sehgewohnheit widersetzt und        fungiert sie als Paradigma, weil man in der
dass in den Bildern überliefert ist, was sich der             sprachlos macht.                                 Metapher eine Struktur erkennt, die Kunst-
Anstrengung des Begriffs entzieht: der Blick                                                                   werken innewohnt; und in 4) archäologischer
aufs Ganze von Wirklichkeit, Welt, Leben                      Man muss es mit den Sinnen und der Spra-         Perspektive lässt sich die Geschichte des
und Geschichte. Auch wenn auf Gleichnisse                     che nicht so weit treiben, bis nichts mehr       Denkens als Prozess einer «verblichenen
und Metaphern Bezug genommen wird,                            übrigbleibt, was auch Folgen für die Bilder,     Mythologie» des Vergessens jener Bilder
müsste eine Übertragung auf «echte» Bilder                    das Bildermachen hätte, daher empfiehlt sich     lesen, die im Laufe der Zeit zu Kategorien
möglich sein. Zumal die Metapher, so der                      ausnahmsweise Mässigung, um weiterhin der        und Begriffen konventionalisiert wurden.
Autor weiter, sowohl den Umriss eines Ganzen                  Frage folgen zu können, die sich insgeheim
von vielen Bedingungen und Möglichkeiten                      durch diesen Beitrag zieht und der Kunst-        Worin, um knapp zu bleiben, besteht nun die
als auch die Grenzwerte des nahezu Unmög-                     historiker und Philosoph Gottfried Boehm         Quintessenz? Im Kontrast. Er charakterisiert
lichen gibt.                                                  auf den Punkt brachte: «Lässt sich die Frage     die Metapher und das lässt sich gewiss auch
                                                              nach dem Bild auf dem Umweg der Sprache          auf das Bild übertragen. Mit Kontrast ist
Inkurs: Wenn Geben ein reziproker Vorgang                     klären?»                                         hier die Unterbrechung einer gleichmässigen
ist und die Gabe im Sinne der klassischen                                                                      Anordnung gemeint, und mag sie – wie bei
Gabentheorie als Geschenk aufgefasst wird, das                Die Spur, die nun aufzunehmen wäre, könnte       Casty – auch noch so diskret sein. Umso mehr
zur Annahme verpflichtet, wie verhält es sich                 komplizierter kaum sein, wie sie nach einer      tritt die Unterbrechung in Form allerfeinster
dann aber mit dem Geben, Annehmen und                         gemeinsamen semiotischen Basis der verschie-     Unterschiede zum Beispiel in der Farbe Grau,
Weitergeben von Geschenken, die wir durch die                 densten kulturellen Ausdrucksformen sucht,       in der Helligkeit, im Verhältnis von Tiefe und
Natur erhalten? Einfach so, weil sie da ist, mit              eine Debatte, die seit längerem schon wieder-    Fläche hervor. Das gilt für die Einzelphäno-
Farben und in Ausprägungen, die das menschliche               kehrt und Boehm in vier Punkten wiedergibt:      mene genauso wie für die Bedingungen des
Fassungsvermögen übersteigen oder unterschreiten.             1) Die Metapher wird wegen ihrer Vieldeutig-     Mediums selbst.
Man denke an die Grösse und Mächtigkeit der                   keit zum Beispiel in der analytischen Sprach-
Berge, die Weite und Bewegtheit von Meeren,                   theorie als Anomalie begriffen, der nicht Herr   Wie war das nochmals mit der Metapher? Sie
das Kleine und die Winzigkeit eines Insekts,                  zu werden ist; 2) die Rhetorik nützt sie, um     weist Kontraste, Brüche und unüberbrückbare
Wassertröpfleins oder Grafitstaubs. All das rührt             über die affektive Wirkung einer Rede heraus-    geistige Sprünge als Resultat einer inneren
an Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung                     zufinden, wie Teilhabe der Hörer*innen her-      Differenz auf und wird dennoch als eine ein-
und der Fähigkeit, vernünftig einzuordnen,                    beizuführen ist; 3) in der Ästhetik und Poetik   zige Sinngrösse erfahrbar. Warum ist dem so?

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Was uns als Metapher und als Bild begegnet,                  Die Geschichte beginnt zu ebener Erde, mit      schien er zu schweben, so zart und hauchdünn
beruht auf einem einzigen Grundkontrast                      den Schritten, genauer mit Gehen, nicht nur     wie Seidenpapier, ohne jede Schwere, glühte
und dieser besteht zwischen einer überschau-                 geradeaus. Das war Ende der 1990er Jahre.       er von innen wie entrückt. Dann holten uns
baren Gesamtfläche und Binnenereignissen.                    Am Berg kreuzte sich der erste Weg. Es war      die Esel ab. Das Schiff war vor Anker gegan-
Mit diesem Verhältnis, anschauliches Ganzes                  der «Hohe Kasten», im lokalen Dialekt           gen, wir hatten viel Gepäck. Es musste ver-
vs. Einzelbestimmungen wie Farbe, Form,                      «de Chaschte» und 1793 Meter über Meer          sorgt werden. Das Häuschen stand zuoberst,
Figur usw., wird gearbeitet. Egal, ob mittels                im Alpstein, der zu den Appenzeller Alpen       der Pfad war eng und steil. Die Tiere hatten
Sprache oder Bild, die Regeln sind veränder-                 gehört. Kein grosser Berg also, mitnichten      Mühe. Wir waren neun, acht Künstler*innen,
lich, geprägt von Stilen, Gattungsordnungen,                 gefährlich, nicht einmal anstrengend, dennoch   eine Wissenschaftler*in für die Struktur.
Auftraggebern usw., und die Bilder, wie immer                blieb er in meinem Gedächtnis. Nicht der        Am Ende sollte etwas herauskommen, besten-
sie aussehen mögen, keine Sammelplätze für                   Aussicht wegen, denn das Wetter war schlecht,   falls ein Kochbuch. Die Sonne stand im Zenit
beliebige Details, sondern auch Sinneinheiten.               es gab Regen und viel Nebel ringsum. Abends     im Hochsommer und bei ausgebrochenem
                                                             im Gasthaus unten im Tal kam Roman Signer       Vulkan. Kein Ort, der Schutz bot vor dieser
Nun scheint die Basis für beide, den Zeichner                und zeigte einen Film, in dem sein «Berg-       brütenden Hitze, selbst Eier brieten auf
und die Schreiberin, geschaffen zu sein, um                  sturz» (1987) vorkam, und der Geruch dieser     blossem Stein, trotzdem wurde gekocht, sogar
sich ans Eingemachte zu wagen: Bezugnahmen                   schwarzen Kohlen, die mittels Schnurzug und     über offenem Feuer und mehrmals am Tag
auf konkrete Bilder. Ohne ihnen Gewalt                       Verschlussmechanismus die Holzkonstruktion      gemäss Programm.
anzutun. Das muss hinzugefügt werden und                     herunterdonnerten, hing mit einem Schlag
bedeutet Interpretationsabstinenz. Abstrakt ist              im ganzen Raum. Ich weiss nicht mehr, ob es     Zehn Jahre danach: St. Antönien im Prättigau.
das Ganze auch nicht angelegt, es wird einer                 vor- oder nachher war, aber gleich ums Eck      Es war die ganze Woche empfindlich kalt.
Logik des Herzens – ordre du cœur – folgen,                  stand eine Kirche und dort traten die «Stimm-   Vierzehn Studierende aus Innsbruck, Du und
die an den Dingen Anteil nimmt und nicht                     hörner» auf mit einer Minieisenbahn, die ihre   ich in diesem merkwürdigen Haus mit lauter
aus einer inneren Distanz betrachtet.                        Kreise unter der Kuppel zog.                    Verbotsschildern an den Türen und Wänden,
                                                                                                             ausserhalb des Dorfes auf einer Wiese gelegen,
Wegen der Freundschaft, die uns seit zwei Jahr-              Einige Jahre später ging’s in den Süden, das    abgeschieden und mutterseelenallein. Kaum
zehnten verbindet und nicht verpflichtet, son-               Ziel hiess Ginostra, aufgebrochen wurde mit     trat jemand ins Freie, um Material zu sammeln,
dern aus freien Stücken gibt, was unterschied-               der Fähre nachts von Neapel aus, und als wir    wurde er unverzüglich verschluckt von einem
licher nicht sein könnte. (So erscheint es mir.)             frühmorgens auf den Stromboli zufuhren,         Nebel, den man fast schneiden konnte.

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Milchig-weiss und körperlich wie zu lange                    Exkurs: In seinem Buch «Walking Artists» zeigt        Wandmalereien zum Beispiel in der British School
geschlagene Maibutter. Den Studierenden hat                  der Theaterwissenschaftler Ralph Fischer, wie         in Rom:
es gefallen, sie haben alles Mögliche zusammen-              in den 1960er Jahren die performativen Künste
getragen draussen im Wald, auf dem Feld und                  diesen Prototyp menschlicher Fortbewegung –           PROFILO DELLE MONTAGNE DIECI
drunten im Friedhof. Namen, Daten, Kräuter,                  Gehen – für sich entdeckten. Er zeichnet bis hinein   GIORNI DI CAMMINO DIECI NOTTI IN
Blätter, Steine, Käse und Eier von der Bäuerin               in die Gegenwart nach, wie die Auseinanderset-        TENDA DOLOMITI ITALIA MARZO 1993.
drüben am Schattenhang, der man ein Jahr                     zung mit dieser universellen Bewegungstechnik
später beim Heuen noch helfen sollte. Die                    das künstlerische Formenvokabular einer radi-         Jetzt könnte man noch viele andere nennen
aufgelesene Ware wurde verarbeitet, sorgfältig               kalen Revision unterzogen hat. Damit ist auch         wie zum Beispiel Richard Long und Andy
ausgelegt, mehrfach sortiert, getrocknet,                    die Hoffnung einer Neuverortung des Subjekts in       Goldsworthy, die Performance Art von Bruce
verkocht, gestapelt, aufgestellt, aufgehängt und             einer veränderten soziokulturellen Wirklichkeit       Nauman und von Marina Abramovic, im
dokumentiert, einigermassen nach Plan.                       verbunden. Ein Beispiel: Der britische Konzept-       Kontext der Situationistischen Internationale
                                                             künstler Hamish Fulton (* 1946) ist ein Wanderer,     und des Postmodern Dance Yvonne Rainer
Ursprünglich wollten wir gehen, viel und weit;               kein Bergsteiger, das zu sagen, darauf legt er aus    und Trisha Brown sowie die Audio Walks der
das Wetter, die Arbeit hielten uns zurück. Und               Respekt viel wert. Aber inspirieren habe er sich      kanadischen Medienkünstlerin Janet Cardiff.
so weiss ich bis heute nicht, was ein Zeichner               im Laufe der Jahre vom Bergsteigen lassen.
sieht, wenn er geht und wandert. Wie blickt er                                                                     Würde allgemein nach dem Gemeinsamen
in die Landschaft und wie schaut sie auf ihn                 Denn Alpinisten waren draussen im Wetter, auf         gefragt, müsste wohl die genuin menschliche
zurück? Was erkennt er im Tier und das Tier                  den Felsen und im Eis, nicht drinnen in einem         Fähigkeit zum «aufrechten Gang» genannt
in ihm? Wo bleibt er stehen, was zieht ihn an?               Atelier. Und so verlegt er sein «Atelier» ins Freie   werden, die bereits der Philosophie des antiken
Wofür holt er sein Werkzeug (Notizblock,                     und trägt es fortan mit sich herum, was nicht         Griechenlands zum Leitbild der Bestimmung
Bleistift, Fotoapparat) hervor und wofür nicht?              kompliziert ist, weil auf den Körper und Ruck-        des Menschen diente: Anthropos der Zwei-
Welche Skizze fertigt sich beim Gehen in                     sack beschränkt, der alles enthält, was zum Leben     beiner.
seinem Gedächtnis an? Warum weiss er, dass                   minimal nötig ist. Dabei will er eines: nicht zu
dies nun der richtige Zeitpunkt ist, um abzu-                viele Fussspuren hinterlassen. Die kommen später,     Welche Rolle spielt das Gehen auf zwei Beinen
drücken? Mit welchen Augen wird gesehen,                     nach Rückkehr von seinen zum Teil monatelangen        für den Künstler Casty? Gibt es Berührungs-
was das Foto schliesslich zeigt? Fragen über                 Wanderungen (in den Alpen, in Japan, den USA,         punkte zu den im Exkurs Genannten? Ja und
Fragen, sie bleiben.                                         Chile usw.) und in völlig anderer Form:               nein. Er macht keine Performance, ist auch

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kein Audio-, Video- oder Konzeptkünstler.                  Als wer man nach langen Wanderungen her-         So oder so ähnlich stelle ich mir die Arbeit
Aber er geht vermutlich, wie er zeichnet:                  vorgeht, ist nicht hinlänglich bekannt, anzu-    im Atelier des Künstlers vor, der sich geduldig
genau, gekonnt, ausdauernd. Er übt wie die                 nehmen, dass die Füsse mehr wissen als der       von der Schwere und Kraft der Materialität
anderen auch im Urakt des Gehens immer                     Kopf. Nach Wochen über Berg und Tal in           leiten lässt und weiss, dass Hand und Auge
wieder aufs Neue dieses In-Beziehung-Treten                Nepal die Notiz: «Wenn man dann endlich          eins sind – Frucht jahrzehntelanger Übung.
zur Welt, zu sich und den anderen – am                     einmal mit dem Körper denkt, das Denken
Modell der Natur (aber das kann nur wissen,                stiller und der Behälter leer geworden ist,      Und er ist süchtig, süchtig nach Grafit. Sein
wer ihn in- und auswendig kennt).                          kommt mit der Absenz der Gedanken die            Geruch, der Abrieb, die Modulationen, der
                                                           Angst, dass nach der Rückkehr die Gedanken       Staub und die Unschärfen, all das ist ihm in
Jedenfalls spielt die Natur für ihn eine wich-             ausbleiben, keiner davon mehr zu gebrauchen      vielen Nuancen bekannt. Es erinnert ihn an
tige Rolle von Kindesbeinen an, und das                    oder zu erinnern ist. Diese Angst ist weder      den Glanz, den Schiefer, die starke physische
geht so leicht auch nicht verloren. Gehen ist              unbegründet noch bodenlos, aber sie gestaltet    Präsenz von Steinen, und er weiss, wie sich
eine Kunstform, ein Entwurf für eine ästhe-                sich schwieriger als Gehen, jetzt noch.»         das anfühlt.
tische Gegenkultur und eine Methode zur
Erforschung performativer, medialer Räume                  Keiner hat meinen Gang.                          Dunkle Bilder, hellere Bilder, überbelichtete
– zur De- und zur Stabilisierung der in die                                                                 Bilder, Bilder mit viel, mässigem und wenig
Körper, Bewegungen und Räume einge-                        Raumwechsel: Ein eher kleiner dunkler            Druck gearbeitet – nie aus einer Linie, immer
lassenen Machtstrukturen und Weisen der                    Raum, den ein Lichtstrahl in Richtung einer      aus der Fläche heraus, wegen der Plastizität.
Subjektivierung.                                           mit Papier bespannten Wand durchschneidet,
                                                           vor die ein Mann tritt und, etwas seitlich       Zeichnend malen, so könnte man sein Vorgehen
Gehen ist auch für Werner Casty Grundlage                  geneigt, um sein Gesicht vor dem grellen Licht   zusammenfassen. Intime Berührungen, Hand
seiner künstlerischen Praktik und steht in                 zu schützen, mit einem Stift in der Hand         und Grafit. Ein Liebesverhältnis.
Relation zum Wandel des Raumbegriffs                       diese nach vorne schiebt und mit leichten
innerhalb einer technisierten und mediati-                 Druckbewegungen dem in Farbe projizierten        Möglicherweise hat der Tastsinn die ästheti-
sierten soziokulturellen Lebenswirklichkeit                Dia in Schwarz-Weiss antwortet in Form           sche Erfahrung erfunden. Jedenfalls spricht
mit der Beschleunigung der Fortbewegung                    eines stummen Dialogs, der eine ungekannte       vieles dafür. Geht es nach dem vergleichenden
und Expansion der Wahrnehmungs- und                        Ruhe ausstrahlt, als wäre die Arbeit bereits     Literaturwissenschaftler Nikolaus Langier,
Kommunikationsmöglichkeiten.                               getan.                                           führt das Tasten in eine dichte Sphäre der

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Bilder schaffen Stimmungen, Stimmungen Bilder.             Modalität und Relation, die sich hierarchischen      und trägt. Bis die alten Fragen erneut auftau-
Zwei Beispiele:
                                                           Ordnungen entzieht und Wahrnehmung                   chen: Warum kommt der Mensch nicht vor?
                                                           betrifft, weil der Tastsinn nichts Bestimmtes        Ist berechtigt, was ich zeichne? Ist das viele
                                                           ist, daher die Möglichkeit hat, alles zu sein, das   Archivieren legitim? Soll ich mich anderen
                                                           heisst alle Empfindung und Wahrnehmung               Themen zuwenden?
                                                           zu begleiten.
                                                                                                                Aber dann steht er wieder in seiner dunklen
                                                           Als Hand und Haut, haptischem Zugriff und            Kammer, lässt seine Hand wie von selbst über
                                                           taktilem Erspüren kommt dem Tastsinn ein             das angestrahlte Papier gleiten, dessen Format
Flecken 6
                                                           doppelter Modus zu, aktiv und passiv in einem,       nicht festgelegt ist, und währenddessen legt
                                                           was ihn mit der Musse und der Liebe verbin-          sich nach und nach eine Schneefläche in die
                                                           det, die sich auch nicht erklären, lediglich ver-    weite Mulde zwischen zwei beinahe schwarzen
                                                           gegenwärtigen lassen. Darin wird sichtbar, was       Felsen.
                                                           entsteht, wenn man nichts begehrt und nichts
                                                           zurückweist. Eine Ästhetik, der es weder um          Möglichst nah am Wirklichen bleiben. Das
                                                           Wahrheit noch um Nutzen, auch nicht um               ist, was er will. Radieren? Nein, das geht nicht,
                                                           das Gute, sondern um eine Art von spieleri-          alles entsteht aus einem Guss.
                                                           scher Gelassenheit geht, aus der heraus etwas
                                                           Gestalt gewinnt, annimmt und wieder verliert,        Wenn es richtig ist, dass die Stimmung den
                                                           mitunter alles zur gleichen Zeit.                    Zufall anlockt, und zudem stimmt, dass sie
Brandung 8                                                                                                      innen mit aussen, Subjekt und Objekt in
                                                           Werner Casty ist ein Sammler. Sein Material-         einem unsichtbaren Dazwischen miteinander
                                                           fundus ist gross und derart mächtig angewach-        verschränkt, dann ist man in Stimmungen –
                                                           sen, dass er bisweilen zweifelt und sich fragt,      wegen der Fähigkeit wahrzunehmen und zu
                                                           ob es nicht Wichtigeres zu tun gäbe. Aber            empfinden – immer schon eingetaucht, weil
                                                           dann, ohne besonderen Grund, legt sich der           es sich um eine transindividuelle Erfahrung
                                                           Zweifel und stellt sich Gewissheit durch das         handelt, bei der man sich bereits von Beginn
                                                           Material ein, das ihn inspiriert, aufstört, hält     überschritten hat. Überschreiten ist hier in

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dem Sinne gemeint, dass die harte Trennung                 was im Übrigen an den Ursprung früher             In Gemischen drückt sich Nähe aus, eine
einem porösen Übergang weicht, wodurch sich                Rechenverfahren erinnert.                         Freundschaft, die Sprache und Bild, Schreiben
die verschiedenen Sphären berühren, vermi-                                                                   und Zeichnen verbindet, ohne den Kontrast zu
schen, vermählen, zugunsten einer Sättigung                Natur- als Kulturgeschichte. Darüber berichten    tilgen, der sie einander so ähnlich wie verschie-
der Seele.                                                 die Bilder auch, denn die Elemente – Feuer,       den macht.
                                                           Wasser, Erde, Luft – sind beides: gegeben und
Schotter hier, Mensch dort – Gischt dort,                  hervorgebracht. Sie sind das von Natur her        Ein Abdruck mit offenem Ausgang.
Mensch hier, das gilt also nicht mehr. Die                 Zusammenhaltende und das an Natur vom
Sache ist in Bewegung gekommen, der Blick                  Menschen Zusammengehaltene, sprich das
kann sich nirgendwo festkrallen, auch wenn                 Gemässe, Gemessene, die umfassende Grenze
er’s versucht. Weicht das Gestein zurück?                  und das (von uns) Begrenzte. Gleichzeitig
Bricht die Gischt hervor? Ist es umgekehrt,                ist die unvordenkliche, umgreifende Natur
beides richtig oder eines falsch? Warum sollte             aber auch das schlechthin Unbestimmte, das
man Steinen näher als dem Wasser kommen?                   heisst weder Bild noch Symbol, und musste als
                                                           solches überhaupt erst hervorgebracht werden.
Schwierige Fragen, dank der Erscheinungs-
vielfalt von Wasser und Gestein, aber auch                 Die allerletzte Rückkehr zu den beiden
der leiblichen Vollzüge und Erfahrungen,                   Bildern, die nach der Natur, die vor uns liegt,
die Menschen mit beidem verbinden: Wasser                  entstanden sind. Nachbilder. Sie schenken sich
trinken, Wäsche waschen, duschen, durch den                Menschen nur durch Erfahrung und werden
Regen laufen, im See baden und im Meer                     im Lichte derjenigen Bilder erinnert, die in
schwimmen. Ähnliches beim Steinernen:                      ihnen zu arbeiten begonnen haben. Manche
Froh, nach einem langen Segeltörn festen                   präzise, andere unscharf. Erzählen hilft!
Boden unter den Füssen zu haben, gut, sich                 Es ruft – wie Zeichnen, Malen, Fotografieren
beim Klettern im brüchigen Gelände nicht zu                – die Erinnerungen auf, gestaltet sie um und
versteigen, beruhigend, Häuser auf stabilem                erzeugt ein Gemisch von Realität, Fiktion und
Grund zu bewohnen oder Kindern beim                        Täuschung. Sie braucht es auch, das irritiert
Spielen mit Steinchen zusehen zu dürfen,                   den Geist und befördert das Denken.

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HORIZONTE 1–3

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S C H N EE VO N G ES T ER N 1 – 12

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EL A 1 – 7

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W ELLEN                                                Nachdem er allerdings einen Nachmittag           Schock gewesen, der ihn einige Wochen
                                                       lang bei seinen Kaninchen darüber nach-          lang um den Schlaf gebracht hatte, doch
                                                       gedacht hatte, entschied er, still abzuwarten,   er war noch jung gewesen und hatte
                                                       ob sich jemand meldete. Stattdessen fand         sich wieder aufgerafft. Auch der Tod der
                                                       er auf seinem nächsten Dienstplan die            Mutter, mit der er bis zu seinem dreiund-
                                                       betreffende Woche rot markiert und mit           vierzigsten Lebensjahr zusammengelebt
                                                       der Aufschrift «Jubiläumsreise» versehen.        hatte, hinterliess einen tiefen Einschnitt.
Tim Krohn                                              Das beseitigte seine Zweifel, und an einem
                                                       diesig bewölkten Samstagmorgen im Juli,          Die Erfahrung dieser Stadt war weder
                                                       nachdem er die Kaninchen in die Obhut            Schock noch Einschnitt, sie war viel
Zu seinem vierzigjährigen Jubiläum bei der             seiner Nachbarin gegeben hatte (die sie          grundlegender, ein Beben, das alles bis
Rhätischen Bahn erhielt Streckenwärter                 despektierlich «Eisenbahnerkühe» nannte),        anhin Feste in Frage stellte, ein Felsrutsch.
Bartholomäus Klaus eine einwöchige Reise               bestieg er den R1909 nach St. Moritz.            Bartholomäus’ Welt geriet ins Wanken.
nach Venedig geschenkt. Das geschah sehr
unkompliziert, der Umschlag mit den                    Die Reise klappte problemlos, obschon die        Fast die ganzen vierzig Jahre bei der
Fahrkarten und dem Hotelvoucher lag eines              Kollegen ihm eine ungewöhnliche Strecke          RhB nämlich war er auf Gleisen unter-
Tages einfach in seinem Dienstfach. Im                 gebucht hatten, via Chiavenna und Colico.        wegs gewesen, die letzten achtundzwanzig
Umschlag steckte zudem eine vorgedruckte               Im Bus auf dem Malojapass und durchs             immer auf der Albulastrecke. Jeden Tag
Glückwunschkarte: «Mit Dank zum Vier-                  Bergell hinab wurde ihm übel, aber sobald        hatte er 5 Kilometer abgeschritten, im
zigjährigen. Direktion RhB.»                           er wieder Schienen unter sich hatte, erholte     exakt bemessenen 60-Zentimeter-Gang
                                                       er sich.                                         von Schwelle zu Schwelle, um Schrauben-
Da Bartholomäus in seiner gesamte Dienst-                                                               muttern, Gleisweichen, Tunnelwände zu
zeit von niemandem gehört hatte, der zu                Mit bemerkenswert wenig Verspätung               kontrollieren.
seinem Vierzigjährigen ein so grosszügiges             erreichte er Venedig. Und wurde unverhofft
Geschenk erhalten hätte, war er versucht,              von einer heftigen Krise gepackt. Die            Selbst in seinen Träumen ging er jene
den Umschlag am Schalter abzugeben                     Farbumstellung der RhB anlässlich ihres          Strecke ab (manchmal hielt er auch Zwie-
und darauf hinzuweisen, dass ein Versehen              hundertsten Geburtstags von dezentem             sprache mit seinen Kaninchen oder stritt
passiert sein mochte.                                  Feldgrün auf Signalrot 1989 war ein              mit seiner toten Mutter).

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Und ob er nun schlief oder wachte: Jede                  führten, die eine Weiche blockierten.           Am kommenden Tag traute er sich gar
dieser Streckenwanderungen war für                       Selbst oberhalb der Böschung die Stein-         nicht erst aus dem Zimmer, so erschlagend
Bartholomäus ein Abenteuer. Weil alles                   strukturen, die Schichtungen, Verwerfun-        fand er die Stadt. Erst gegen Abend zwang
sich permanent verschob, veränderte, weil                gen, Risse und Auswaschungen im Fels            ihn der Hunger hinaus (seit dem Frühstück
alles lebte. Die Gleistrasse, die Böschungen             sah er nicht als starre Gebilde, sondern als    hatte er nichts gegessen, und das hatte aus
und Felswände links und rechts, die in den               hochsensible Systeme, die in der Weise, wie     einer abgepackten Brioche und einer Tasse
Berg geschlagenen Tunnelwölbungen und                    sich darin die Luft verfing, das Licht, der     Anrührkaffee bestanden).
Spritzbetonbefestigungen, Leitungsrohre,                 Nebel, ihm Auskunft über Dinge gaben,
Notportale, der Himmel, die Wolken,                      die so feinstofflich waren, dass er dafür       Wieder irrte er lange umher, bis er einen
Schnee und Wind waren für ihn so beredt,                 keine Worte kannte.                             winzigen Supermarkt entdeckte, der sieben
dass ihm selbst in der Einsamkeit des                                                                    Tage die Woche und bis in die Nacht
Val Bever oft die Ohren dröhnten.                        Venedig war demgegenüber brachial. Die          geöffnet hatte. Dort kaufte er ein, was er
                                                         Fülle, der Lärm, die Hitze und das Stickige.    kannte: Zwieback, Dosengemüse und
Aus jeder Kleinigkeit las er ganz wesent-                Dazu kam, dass die Wege und Brücken             Thunfisch in Öl.
liche, ja existenzielle Botschaften, aus dem             sich Bartholomäus’ 60-Zentimeter-Gang
Kondenswasser entlang der Leitungen,                     völlig widersetzten und er sich die Zehen       Es war Nacht, als er aus dem Laden auf
der Farbe der Rinnsale im Tunnel und                     wund schlug. Er wagte sich nicht aufs           den Platz trat. Die Gassen, Pfade und Brü-
draussen der Elastizität von Gräsern und                 Schiff, zu Fuss verlief er sich andauernd und   cken waren kaum noch bevölkert. Endlich
Ästen, aus Hirsch- und Fledermauslosung,                 fand erst in der Abenddämmerung sein            herrschte genügend Leere, dass Bartho-
Flugrostbildungen oder der Mürbheit des                  Hotel – von dröhnenden Kopfschmerzen            lomäus sich nicht mehr nur retten wollte,
Gesteins. Er wusste, bei welchem Mond-                   geplagt, da er aus Sparsamkeit unterwegs        sondern auch wieder schauen konnte und
stand das Eis an der Tunneldecke wuchs                   nichts zu essen und zu trinken gekauft und      kleine Dinge sah, die ihn erfreuten: zwei
und drohte, das Zugdach zu verletzen                     nur aus seinem Proviantrucksack gelebt          Fische im Kanal, weisse Blumen auf einem
(dann schlug er es ab), er wusste, wann                  hatte, wie er es auch auf den Kontroll-         Fenstersims, die der Sommerhitze trotzten,
es schrumpfte. Bei Regenfällen wusste er                 märschen tat, aus einer verbeulten blecher-     Dellen in den ausgetretenen Marmor-
den Tag voraus, an welchem die eichenen                  nen Lunchbox und einem seit Jahr und            platten, die so weich und so geschmeidig
Bahnschwellen sich dehnten, verwarfen                    Tag neu mit Leitungswasser aufgefüllten         schienen, dass er nicht anders konnte, als
und zu Spannungen im Gleisbereich                        Rhäzünser-Fläschlein.                           niederzuknien und sie zu berühren.

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Anderntags wagte Bartholomäus sich in                   Leichtsinn kaufte er nicht mehr nur, was       ihr höflich zu. Zu gern hätte er gewusst,
aller Frühe auf einen Spaziergang und                   er sonst ass, nämlich Bohnen, Mais und         was sie sah, worauf ihr einheimischer
gelangte dabei an den grosszügigen Canale               Karotten, sondern Artischockenböden im         Vogelblick gerichtet war, und er versuchte,
della Giudecca, der Quai war breit und leer             Glas, dazu Südtiroler Joghurt.                 mit ihren Augen zu schauen. Zuerst sah er
und bot gut Platz für 60-Zentimeter-                                                                   empor in den blassblauen Himmel, dann
Schritte. Er spazierte etwas auf und ab,                Als er den klimatisierten Laden verliess,      zu Boden, auf einen Einschnitt in der
dann setzte er sich auf einen der salzzer-              war es drei Minuten vor zehn. Das Licht        Quaikante, in dem eine Steintreppe über
fressenen Polder an der Quaikante und                   war noch morgendlich blass und wollte          vielleicht vier, fünf Stufen direkt ins Wasser
beobachtete so lange die Nachen, Bötchen,               nicht zur schwülen Hitze passen, die sich      führte. Gerade musste Ebbe herrschen,
Vaporetti und Lastschiffe, bis er glaubte,              nie verlor. Auf der anderen Seite des Kanals   denn die unteren Stufen waren dicht mit
das unsichtbare Netz von Fahrrinnen und                 erhob sich ein massiges Backsteingebäude       Algen oder Schlamm überwachsen und
Kurslinien durchschaut zu haben. Dann                   mit der Aufschrift «Stucky», vermutlich        ragten dennoch über den Wasserspiegel, die
kehrte er zurück in sein Zimmer, ass auf                eine stillgelegte Fabrik. Einen Stucky hatte   eine deutlich, die andere knapp.
der Bettkante sitzend zu Abend und                      Bartholomäus in seiner Dienstzeit im
träumte, nachdem er zu Bett gegangen war,               Verkehrs- und Transportbataillon 1 der         Die untere wurde alle paar Sekunden von
seine Kaninchen hätten Möwenköpfe. Sie                  Schweizer Armee kennengelernt, einen gar       einer Welle überspült, dazu brauchte nicht
waren ihnen nicht am Hals festgewachsen,                nicht üblen Berner Kommandanten. Die           einmal ein Boot vorbeizufahren, die obere
sondern steckten an Stäbchen, wie er                    Erinnerung färbte ab, plötzlich schien ihm     nur alle naslang, wenn sich auf den nächst-
Touristen sie für ihre Handykameras hatte               dieses Venedig gar nicht mehr so übel.         gelegenen Fahrrinnen der Verkehr ballte.
benützen sehen.                                         Er setzte sich abermals auf einen Polder       Dann wogten die Algen, doch nur halb-
                                                        und wärmte sich eine Weile am freund-          herzig, denn gleichzeitig bremste sie das
Am Dienstag kehrte er an den Canale della               lichen Anblick der alten Fassade.              eigene Gewicht, da sie noch immer zur
Giudecca zurück und wagte sich bis an sein                                                             Hälfte aus dem Wasser ragten oder allen-
westliches Ende: Dort lag, streng abgerie-              Dann bemerkte er eine Möwe, die auf            falls mit dem ersten Wellenkamm zur
gelt, eine Zoll- oder Quarantänestation.                einem von zwei eng nebeneinander aus           Gänze überflutet wurden, danach sackte
Das zwang ihn zur Umkehr, gleich darauf                 dem Kanal aufragenden Holzpfählen sass,        der Wasserstand schon wieder ab und riss
entdeckte er einen zweiten, sehr viel hüb-              an denen wohl Schiffe vertäut wurden, und      nur an den Pflanzenfüssen. Daraus
scheren Supermarkt. In einem Anflug von                 die wie er die Gegend musterte. Er nickte      entstand eine schleppende, fast wollüstige

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Bewegung, die Bartholomäus so gut gefiel,              Dort träumte er in der letzten Nacht, wie
dass er sich nicht überwinden konnte, auf-             die Brandung des offenen Meers sich an
zustehen und weiterzugehen.                            rohen, wilden Steinen brach. Am anderen
                                                       Morgen, als er den Zug nach Mailand
Mit den Stunden stieg der Wasserspiegel,               bestieg, freute er sich zwar unbändig wie
die Pflanzen der unteren Stufe wehten                  ein Hündchen darauf, bald die altgeliebten
aus der Tiefe empor wie die Locken                     Felsverwerfungen und Klüfte des Albula-
einer Meerjungfrau, darüber kräuselte sich             massivs wiederzusehen. Doch der Traum
die Gischt. Bis zum Abend erkannte                     hatte Spuren hinterlassen, und so fühlte er
Bartholomäus zahlreiche Wellenarten, in                zugleich – auch diese zwei Gefühle rollten
enger Folge und in weiter, ungeordnet als              quasi durcheinander hindurch, ohne sich
Kabbelwasser und rollende, von denen oft               zu beeinträchtigen – eine regelrechte Not,
mehrere aus verschiedenen Himmelsrich-                 dachte er daran, wie jene Felsverwerfungen
tungen kamen und scheinbar widerstands-                und diese Meeresflut in ihrem Ursprung
los durcheinander hindurchzogen – etwa                 ein und dieselbe Welt geteilt hatten, und
so, wie man zwei Fotonegative aufeinan-                nun waren sie so unüberbrückbar vonein-
derlegen und gegeneinander verschieben                 ander getrennt.
kann, ohne dass sich die einzelnen Bilder
verändern. Andere lappten, schaukelten
sich gegenseitig auf, oder eine brach sich
an der anderen.

An dieser Stelle am Canale della Giudecca,
vor dem Haus, in dem ein gewisser Luigi
Nono einige Jahre verbracht hatte, liess
Bartholomäus die ganzen übrigen Ferien
verstreichen. Nur zum Schlafen kehrte er
in sein Hotel zurück.

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B R A N D U N G 1 – 10

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S A L Z WA S S ER

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U N T ERWA S S ER 1 – 10

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HORIZONTE 4–8

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AUFZEICH NUNGEN                                                                                                Auf seinen meist mehrtägigen Touren im
                                                                                                               Bündnerland – seiner Heimat – und entlang
                                                                                                               der Westküste der Insel Elba – seit zwei Jahr-
                                                                                                               zehnten seine zweite Heimat – gehören Foto-
                                                                                                               kamera und Skizzenbuch fix zur Ausrüstung.
                                                                                                               Sie dienen ihm dazu, Auffälligkeiten – oder
                                                                                                               wie er selbst sagt, «das, was ihn anspringt» –
                                                                                                               einzufangen, visuell aufzunehmen. Die Kamera
Lucia A. Cavegn                                                                                                dient ihm zur schnellen, flüchtigen Moment-
                                                                                                               aufnahme, das Skizzenbuch zum genauen
                                                                                                               Naturstudium. Die eigenhändige Aufnahme
Landschaft ist ein wiederkehrendes Thema im       Unmittelbares Naturerlebnis                                  des «Motivs» mit Bleistift und mitunter auch
zeichnerischen Schaffen von Werner Casty –        Seine präzisen Zeichnungen führen uns in                     mit Farbstiften erlaubt ihm, das Gesehene zu
nicht etwa als pittoresker Anblick, sondern als   die Natur beziehungsweise sehr nah an die                    gewichten und zu verdichten.
sinnlich erfasste Materie. Seine Grafitzeich-     Natur heran. Sie lassen uns die Substanz von
nungen bedienen keine Sehnsucht, sie geben        Landschaft erfahren. Sie erwecken in uns das                 Künstlerische «Buch-Führung»
keine Postkartenansichten von Naturschön-         Gefühl, selbst vor Ort zu sein. Seinen Zeich-                Im Verlauf der Jahre hat Casty unzählige
heiten wieder, sondern stellen Landschaftsele-    nungen wohnt eine eigentümliche Energie                      Skizzenbücher gefüllt und im Computer eine
mente im Detail dar, legen die Beschaffenheit     inne, die uns die Härte des Felsens, die Kälte               nach Sparten geordnete Fotosammlung
der Landschaft in Nahsicht offen. Anstelle von    der Schneefelder und das Geräusch der                        angelegt. Die Kombination von digitalem und
majestätischen Berggipfeln zeigt der Künstler     Brandung mitfühlen und mitdenken lässt.                      analogem Bildgedächtnis bildet den Fundus
schroffe Felswände, öde Geröllhalden und          Wie kommt es dazu?                                           für seine grossformatigen Grafitzeichnungen.
rutschige Schneefelder, anstelle von Wäldern                                                                   Die Skizzenbücher – teils im Leporelloformat
dichtes Unterholz, steile Wegborde und            Casty bezieht sich nicht auf fremde Vorlagen                 – nur als vorbereitende Studien einzustufen,
unwegsames Gestrüpp und anstelle des weiten       oder Fantasievorstellungen. Im Gegenteil,                    würde bedeuten, deren ästhetische Qualität zu
Meeres die tosende Brandung an der Küste,         seine Landschaftsdarstellungen fussen auf                    unterschätzen. Jedes dieser meist schwarzen
die aufschäumende Gischt und wogendes             seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen;                  Moleskin-Skizzenbücher stellt für sich ein
Unterwassergras.                                  es sind die eines passionierten Wanderers.                   kleines Kunstwerk dar. Die Dicke und Grösse

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der Skizzenbücher hängen in der Regel von          geben die Optik des Wanderers wieder, der                   bezeichnet irreversible Zerfalls- beziehungs-
der Dauer der Tour ab. Vergleichbar mit            über Stock und Stein geht und seine Augen                   weise Auflösungsprozesse, deren Resultat
einem Tagebuch enthalten die Büchlein Auf-         auf den Weg richtet. In einer Gruppe geht er                man gemeinhin als chaotisch umschreibt. So
zeichnungen: allerdings nicht schriftliche,        stets zuhinterst, um spontan auf die Umgebung               gesehen halten die Skizzen und insbesondere
sondern bildliche. Darüber hinaus nutzt er         reagieren zu können. Seine Utensilien trägt                 die grossen Zeichnungen, in denen sich
sie, um zeichnerische Möglichkeiten auszu-         er in der Hosentasche mit, um sie mit einem                 die Grafitstriche zu Flächen, Volumen und
loten und zu selektionieren. Die linear, entlang   Handgriff hervorholen zu können. Fotogra-                   Massen verdichten, die Veränderung der
einer Wanderstrecke gesammelten Eindrücke          fieren und Skizzieren bedingen einen kürze-                 Landschaft fest und ebenso an, während sie
werden in den Skizzenbüchern zeichnerisch          ren oder längeren Marschhalt. Vor allem das                 in der Natur unaufhaltsam voranschreitet.
umgesetzt und zum Ausdruck gebracht. Man           Zeichnen setzt Weile voraus, basiert es doch
ist geneigt, von einer künstlerischen «Buch-       auf akribischem Betrachten und Beobachten.                  Die kargen Berg- und Küstengebiete sind für
Führung» zu sprechen. Diese hilft ihm, dran-       Bei jeder Rast entstehen ein bis zwei Skizzen               Casty einerseits ein selbstgewählter, subjektiver
zubleiben, das Auge wach zu halten oder mit        von topografischen Einzelheiten oder ganzen                 Erfahrungsraum, andererseits eine Metapher
den eigenen Worten formuliert, «im Strom zu        Bergpanoramen. In den Skizzenbüchern                        für Wandel und Vergehen. Darin sind seine
bleiben». Die Notate in den Skizzenbüchern         dominieren die Konturlinie und die Horizont-                Werke mit jenen von Caspar David Friedrich
erfüllen einen weiteren Zweck: jenen der           linien. Flächen werden selten ausgearbeitet                 verwandt. Dieser schuf vor rund 200 Jahren
Verinnerlichung. Gleichzeitig mit der manuel-      und wenn, dann nur angedeutet.                              weiträumige Landschaftsbilder, um in roman-
len Führung des Stiftes schreibt sich der Ein-                                                                 tischer Manier die Sehnsucht nach Erhaben-
druck ins Gedächtnis ein.                          Entropie in der Natur                                       heit und Freiheit zum Ausdruck zu bringen
                                                   Fauna und Flora liegen nicht im künstleri-                  und zugleich auf die Endlichkeit des irdischen
Innehalten                                         schen Blickfeld von Casty. Es sind vielmehr                 Daseins zu verweisen. Castys Betrachtungs-
Das Wandern ist für Casty mehr als nur eine        Formen von «Unordnung», die ihn interes-                    weise ist nüchterner, schon fast wissenschaftlich.
sportliche Freizeitaktivität: Indem er eine        sieren, «zufällig» entstanden, physikalischen               Er dokumentiert nicht, sondern nimmt sich
Gegend erwandert, erlebt er sie, erfährt sie       Gesetzen folgend. Diese Phänomene werden                    bei der Ausführung der grossformatigen
und erspürt sie am eigenen Leib. Das Resultat      der Entropie zugeschrieben. Der Begriff                     Grafitzeichnungen gestalterische Freiheiten
ist eine Form der Erkenntnis, die auf eigener      Entropie (Verwandlungswert) wurde 1865                      heraus. Ausgehend von den Skizzen und Foto-
Anschauung und ganzheitlichem, synästheti-         durch den deutschen Physiker Rudolf Clausius                grafien, die während seiner langen Wande-
schem Erfassen basiert. Seine Skizzenbücher        (1822–1888) in die Physik eingeführt und                    rungen entstanden sind, zeichnet er in seinem

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Wetziker Atelier auf handgeschöpfte Bütten-         arbeitet er tage-, mitunter wochenlang, um
papiere und neuerdings auch auf feingeschlif-       Flächen zu schwärzen, bis sich Materialität
fene, grundierte MDF-Platten.                       und Schwerkraft der einzelnen Bildgegen-
                                                    stände abzeichnen. Helle Partien eines Motivs
Weite Zeit-Räume                                    werden durch leerbelassene Stellen wieder-
Seit vielen Jahren arbeitet Werner Casty vor-       gegeben. Die Interaktion von Negativ- und
zugsweise mit Grafit, um unbunte Naturbilder        Positivformen verleiht den Zeichnungen einen
zu schaffen. Bilder, die an Schwarz-Weiss-          sonderbaren, intermediären Zustand zwischen
Fotografien unterschiedlicher Gradationsstufen      Vorhanden- und Abhanden-Sein.
und Körnungen erinnern. So wirken die
Zeichnungen auf Büttenpapier (hauptsächlich
alpine Motive) beinahe fotorealistisch, woge-
gen die Zeichnungen auf MDF (hauptsäch-
lich maritime Motive) aufgrund der raueren
Oberfläche weicher erscheinen, somit weniger
Schärfe, dafür einen höheren Abstraktionsgrad
aufweisen. Die jüngsten Blätter kündigen eine
neue Motivgruppe an. Sie umfasst Ansichten
von teils verwachsenen Trockenmauerwerken,
wie man sie auf Weiden oder in Rebhängen
vorfindet. Als Bildträger dient leicht vergilbtes
Kupferstichpapier, das aus dem Nachlass eines
verstorbenen Künstlers stammt.

Werner Casty arbeitet an einem epischen
Œuvre. Die Zeithorizonte seiner Werkgrup-
pen sind ausgedehnt; vielfach dauern sie ein
oder mehrere Jahre. An einem einzelnen Blatt

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                                                                                         45 		   Restipass, 2015, Grafit auf Papier, 98 × 69,5 cm

                                                                                         64 		   Horizonte 1, 2015, Grafit auf Aquarellpapier, 50 × 64 cm
                                                                                         65		    Horizonte 2, 2015, Grafit auf Aquarellpapier, 50 × 64 cm
                                                                                         			     Horizonte 3, 2015, Grafit auf Aquarellpapier, 50 × 64 cm

                                                                                         68		    Schnee von gestern 1, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
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                                                                                         			     Schnee von gestern 3, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
                                                                                         69		    Schnee von gestern 4, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
   6		            Lago di Froda, 2008, Grafit auf Papier, 95 × 145 cm                    			     Schnee von gestern 5, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
                                                                                         			     Schnee von gestern 6, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
 11		             Lai da Tuma, 2009, Grafit auf Papier, 113 × 150 cm                     70		    Schnee von gestern 7, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
                                                                                         			     Schnee von gestern 8, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
 20		             Engadiner Passagen, 2011, Grafit auf Papier, 121 × 65 cm               71		    Schnee von gestern 9, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
 22		             Engadiner Passagen, 2011, Grafit auf Papier, 109 × 65 cm               			     Schnee von gestern 10, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm
 24		             Engadiner Passagen, 2011, Grafit auf Papier, 116 × 65 cm               72		    Schnee von gestern 11, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 111 × 73 cm
                                                                                         73		    Schnee von gestern 12, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 111 × 73 cm
 28		             Grosses Geröll, 2012, Grafit auf Papier, 117 × 172 cm
                                                                                         76		    Ela 1, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm
 32		             Flecken 1, 2009, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm                 			     Ela 2, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm
 33		             Flecken 2, 2010, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm                 77		    Ela 3, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm
 34		             Flecken 3, 2010, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm                 78		    Ela 4, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 33 × 33,5 cm
 35		             Flecken 4, 2010, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm                 79		    Ela 5, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 29 × 35 cm
 36		             Flecken 6, 2011, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm                 			     Ela 6, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 33 × 33,5 cm
 37		             Flecken 7, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm                 81		    Ela 7, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm

                                                                             138   139
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