WERNER CASTY DER FELS IN DER BRANDUNG - Zeichnungen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
W ER N ER CA S T Y D ER F EL S I N D ER B R A N D U N G WERKBUCH Zeichnungen 2008–2019 TEXTE Valérie Arato Salzer Lucia A. Cavegn Helga Peskoller Tim Krohn 4 1
Seite 5 Lago di Froda 9 Lai da Tuma 12 UNTERWEGS Valérie Arato Salzer 19 Engadiner Passagen 27 Grosses Geröll 31 Flecken 39 Julier 43 Restipass 47 NACHBILDER EINER NATUR, DIE VOR UNS LIEGT Helga Peskoller 63 Horizonte 67 Schnee von gestern 75 Ela 82 WELLEN Tim Krohn 91 Brandung 105 Salzwasser 109 Unterwasser 117 Horizonte 122 AUFZEICHNUNGEN Lucia A. Cavegn 129 Capo 135 Valle Bollero 138 Werkliste 142 Die Autorinnen, der Autor 144 Ausstellungsverzeichnis 146 Dank 147 Impressum 2 3
U N T ERW E G S Wasser festhält. Fast wissenschaftlich mutet die Auseinandersetzung an. Mitunter sind wir so nah dran, dass wir glauben, es mit abstrakten Bildkompositionen zu tun zu haben. Stationen einer Reise Seine Reise begann vor vielen Jahren und führte Werner Casty, im Bündnerland geboren Valérie Arato Salzer und aufgewachsen, zuerst hoch hinauf in die Berge. In den kargen und menschenleeren Landschaften aus Stein fand Casty die Motive, Das künstlerische Werk von Werner Casty ist ist man sich sicher, dass es sich um Fotografien für die man ihn bis heute kennt. Hatte er sich eine Reise zu abgelegenen Felslandschaften, in Schwarz-Weiss handelt. Aber wie bei den zu Beginn noch mehr oder weniger an die Gletschern, Bergseen, ewigem Schnee, in meisten seiner Werke zeichnet er mit Grafit, fotografische Vorlage und die real existierende einheimische Wälder, zuletzt ans Meer und setzt akribisch einen Strich neben den anderen. Landschaft gehalten, wurde er zunehmend wieder zurück. Die stetige Auseinandersetzung Dennoch ist die Fotografie, die Werner Casty freier, mutiger. Anfangs waren es kleine Korrek- mit der Natur und die Frage, wo der Mensch Inspiration und Vorlage zugleich ist, Teil des turen, die er vornahm. Hat er hier einen Hori- in Bezug auf diese so unterschiedlichen künstlerischen Prozesses und steht am Anfang zont verändert, da eine Leerstelle eingefügt. und in ihrem Detailreichtum beeindrucken- jeder Zeichnung. Dabei interpretiert er die Mit der Zeit wurden die Eingriffe kühner. den Ansichten steht, verbindet jede einzelne fotografische Vorlage sehr frei und sucht nie- Wie beispielsweise in Engadiner Passagen 2011 Zeichnung mit der anderen. mals nach der Kopie der Natur, sondern nach setzte er auch mal verschiedene Bergabschnitte einer stimmigen Übersetzung des vor Ort und Panoramen aus einer Schweizer Alpen- Am Anfang von Werner Castys künstleri- Gesehenen und Erfahrenen. region zu einer neuen Landschaft zusammen, schem Schaffen stand die Bildhauerei. Das indem er sie wiederholte und spiegelte. Damit überrascht nicht angesichts seiner Zeichnun- Doch es ist gerade das fotorealistische Moment, erschuf er eine veränderte Realität. Dies ist uns gen, aus denen er jeden einzelnen Stein, jeden das uns so fasziniert und das verdeutlicht, beim Betrachten zumeist gar nicht bewusst, Baum, jeden Grashalm herauszumeisseln mit welcher Präzision und Detailversessenheit denn es sind keine fantastischen oder gar scheint. Betrachtet man sie aus der Ferne, Casty Felsen, Gräser, Bäume, Schnee oder utopischen Welten. Ganz im Gegenteil wirken 12 13
diese imaginären Landschaften für uns so echt fragen uns: Hält das oder kann die kleinste weiter weg. Ans italienische Mittelmeer. Seit und natürlich, dass wir ihre Existenz nicht in Erschütterung die Steine, und somit auch uns, über zwanzig Jahren kehrt er immer wieder Frage stellen. ins Wanken oder gar zu Fall bringen? Gleich- nach Elba zurück, besucht seine Freunde in zeitig finden wir Halt im verlässlichen, stati- Chiessi, einem Fischerdorf an der Westküste Wie ein roter Faden ziehen sich Auslassungen schen, ewigen Material des Steins. Auch hier der Insel. Hier ist die Bildserie Brandung und Leerstellen auf dem Zeichnungsgrund ist das, was die Felsbrocken umgibt – also der 2016-2018 entstanden. Die Zeichnungen durch Castys gesamtes Werk. Zum Beispiel in eigentliche Horizont –, weiss belassen worden. sind so naturgetreu, dass man geneigt ist, sie Julier der mehrteiligen Serie Julier 2013: Fünfzehn «Aufnahmen» zu nennen. Zeichnungen sind zu einem Block zusammen- Die Unvergänglichkeit findet in einer nächsten gefügt. Der Betrachter blickt aus der Ferne auf Etappe von Werner Castys künstlerischer Wir glauben, das Tosen und Brausen des Meeres, das verschneite Gebirge und nimmt sogleich Reise ein vorläufiges Ende. Er hat den Berg die Gewalt und Wucht zu hören, mit der die die verschiedenen Ansichten des Passes wahr. verlassen und erkundet nun die Wälder des Brandung auf die Felsen prallt und dort bricht. Casty hat mit dem Grafit unterschiedlich inten- Engadins. Bei Schnee von gestern 2015/16 ist Überall Wasser. Die Gischt spritzt und wir sive Spuren hinterlassen. Wie er es so häufig alles in Veränderung begriffen. Ist es noch riechen das Salz in der Luft. Konnten wir noch macht, belässt er den Grund weiss, beispiels- Winter oder kündet sich bereits der Frühling kurze Zeit zuvor in kontemplativer Ruhe dem Schnee von gestern weise dort, wo Schnee oder Himmel sind. an? Der Schnee ist nicht mehr weiss, changiert Schnee beim Schmelzen zuschauen und standen Was bleibt, sind auch hier schon fast abstrakt zwischen Grau, Hellbraun und Gelb. Unter- beobachtend abseits, befinden wir uns nun mitten- anmutende Kompositionen und ein Destillat stützt wird dieser Effekt durch das beige drin, müssen achtsam sein, von den gewaltigen dessen, was auf der der Zeichnung zugrunde Kupferdruckpapier. Da und dort drückt Dreck Wellen nicht mitgerissen zu werden. Nicht nur liegenden Fotografie des Berges zu sehen war. durch den Schnee, bahnen sich Gräser, Äste der Aggregatszustand des Wassers hat sich verän- und Sträucher ihren Weg und versperren uns dert, sondern auch das Tempo und die Geräusch- Bei den Zeichnungen Horizont 2015 stehen den Blick. Das Blatt ist fast ganz ausgefüllt, kulisse, die wir beim Betrachten unweigerlich wir oben auf dem Grat des Berges. Akkurat die weiss belassenen Stellen werden weniger mitdenken. Hier ist alles in Auflösung begriffen, Brandung hat Casty auf dem alten Druckpapier – das und kein Horizont ist mehr da, bei dem wir der Bruchteil eines Augenblicks festgehalten, der Papier ist leicht gelblich, der Rand bereits aus- uns fragen, was wohl dahinter sein mag. im nächsten Moment schon eine neue Ansicht gefranst – einen Rahmen gezogen. Darin sind hervorbringen wird. Wir sind nun so nah dran, zahlreiche Felsbrocken aufeinandergestapelt. War es gerade noch die Beschäftigung mit dass sich uns ein Bild von nie da gewesener Es ist ein labiles Gleichgewicht und wir dem Schnee, zieht es Werner Casty nun Abstraktion präsentiert. 14 15
Die Serie von kleinen Bildern mit dem Titel jetzt die Auflösung des Motivs im Licht. Unterwasser 2017/18 kommt ruhiger und Die Zeichnungen kommen heller, fast schon sanfter daher. Sie transportiert eine andere überbelichtet daher. Die Motive werden Stimmung, zu der auch die grünliche Farbe zusehends durchlässiger, als ob mit dem des Untergrunds beiträgt. Die der Zeichnung Weichzeichner der Kontrast verringert worden Engadiner Passagen zugrunde liegende Fotografie wurde in rund wäre. Die in allen Zeichnungen präsenten 4 bis 5 Metern Tiefe aufgenommen. Oben Auslassungen und Leerstellen werden neu scheint die Sonne, das Wasser ist klar und durch Licht geformt. Wusste Casty zuvor um gibt den Blick auf den Meeresgrund frei. Wir die Beschaffenheit des Materials, ist es jetzt können uns nun viel Zeit lassen, diesen ein- eine Ahnung. Licht kann man schliesslich gehend zu studieren, und vertiefen uns in die nicht berühren und nicht in Händen halten. natürliche Symbiose aus Wasser, Pflanzen und Stein. Dem Wasser kann man keine Grenzen Unser Auge erkennt, was das Bild darstellt – setzen, seine Kraft nicht zügeln. Wie viele Äste, Zweige, Blätter, Gräser, Felsen –, aber der Bilder bleiben auch diese ungerahmt, die die Qualität ist eine andere. Durch die Auf- Zeichnung ufert aus. lösung, die Überbelichtung des Motivs wird die abstrakte Wirkung verstärkt. Diese starke Oder ist es womöglich so, dass der Ort zuneh- Auflösung im Licht Hinwendung zum Licht und zur Abstraktion mend an Bedeutung verliert, je mehr er an In seinen neuesten Arbeiten Capo 2018/19 schlägt sich in einer Unschärfe nieder, die Greifbarkeit einbüsst? und Waldboden 2018/19 wendet sich Werner die neuesten Werke von Casty auszeichnet. Casty von der Auseinandersetzung mit Wasser Von ihnen geht eine flüchtige, fast schon Auch wenn Casty in Wetzikon im Zürcher ab. Es ziehe ihn wieder hinauf in die Vertraut- transzendentale Wirkung aus, die nichts mehr Oberland sein Zuhause hat, ist er ein Reisender, heit der Berge, sagt er. Aber immer, wenn man gemein hat mit der Wucht der vorangegange- der, wenn er nicht physisch auf der Reise ist, von einer langen und weiten Reise zurück- nen Wasserbilder. Sie sind leise, voller Poesie im Kopf weiterreist und nie stehen bleibt. kehrt, ist man verändert und der Blick ein und Melancholie. Immer unterwegs zu sein, mit Neugierde und anderer. Die intensive Beschäftigung mit dem Offenheit zu schauen, was da ist, und es fest- Wasser zeigt ihre Spuren. War es dort noch Was bedeutet dies für Werner Castys Reise? zuhalten, macht Werner Casty als Künstler, die Auflösung im Gegenstand, erkennen wir An welche Orte wird sie ihn weiter führen? aber auch als Menschen aus. 16 17
EN G A D I N ER PA S S AG EN 18 19
20 21
22 23
24 25
G RO S S ES G ERÖ LL 26 27
28 29
F LE C K EN 1 – 7 30 31
32 33
34 35
36 37
J U LI ER 38 39
40 41
R ES T I PA S S 42 43
44 45
N AC H B I LD ER EI N ER N AT U R , D I E VO R U N S LI E GT Helga Peskoller Man könnte einen Beitrag für Werner Casty In diese prähistorische Zeit fällt der Wandel in der Mittelsteinzeit anheben lassen. vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit mit Zwischen der letzten Eiszeit und dem Beginn Ackerbau und Viehhaltung; zudem tauchen des Holozäns als jüngsten Abschnitts der Erd- erste Hinweise auf, dass in Norditalien in geschichte haben sich die Lebensbedingungen Gebrauch gewesen sein musste, was in Asien gravierend geändert. Im 10. Jahrtausend vor – trotz seiner der Schrift sehr früh kundigen unserer Zeitrechnung begann sich die mäch- Kulturen wie China – offenbar keine Rolle tige Eisdecke zurückzuziehen, Mitteleuropa gespielt hatte. wurde wieder bewaldet, die Jagd auf das Grosswild der Kältesteppen verlagerte sich Das gibt Rätsel auf, handelt es sich dabei doch auf das Standwild in den Wäldern, der Fisch- um ein häufig vorkommendes Material aus der fang nahm zu und das Sammeln von Pflanzen, Mineralklasse der «Elemente» mit der Raum- Beeren oder Pilzen übernahmen – wie das gruppen-Nr. 194, das sich durch eine hexa- immer schon der Fall gewesen war – Frauen, gonale Gitterstruktur auszeichnet, die aus zwei Kinder und alte Stammesmitglieder, um polytypen Schichten besteht, was leichte Spalt- beständig zum Lebensunterhalt beizutragen barkeit, gute Schmiermitteleigenschaften und und Sozialität, Gemeinschaft zu bilden. eine fast metallische Leitfähigkeit bedeutet. 46 47
So fanden diese undurchsichtigen Kristalle in Ursprünglich, von seiner Wortgeschichte her, Oder anders gesagt: Werner Castys Zeichnun- der Jungsteinzeit als Färbemittel Verwendung, stossen wir im Altgriechischen auf «graphein», gen sind dem federleichten reinen Kohlestaub man gab sie auch den Toten in die Gräber mit. was so viel wie «schreiben» heisst und darauf zu verdanken, aber was sie primär zum Gegen- Später, in der Eisenzeit – mit dem Schweizer verweist, dass Grafit auf Papier oder anderen stand haben, wiegt schwer, so schwer, dass es Fundort La Tène am Neuenburgersee –, finden rauen Oberflächen durch die Abreibung wegen der Materialität nicht zu überbieten ist. sie sich dann an Gefässen, vor allem Koch- der einzelnen Blättchen eine graue Ablagerung Mit einer einfachen Methode versetzt uns die töpfen wieder, um diese feuerfest zu machen. hinterlässt. Diesen Abrieb kennt man vom Natur in Erstaunen. Sie arbeitet im Grossfor- Schreiben und Zeichnen aus der Schulzeit. mat und Grossformen der festen Oberfläche Heute ist Kohlenstoff in Reinform in jedem Der Bleistift, veraltet Reiss- oder Wasserblei, sind Gebirge. Aber der Berg entkommt, ohne Schreibwarengeschäft zu haben. In der Regel stieg zum Schutzpatron des blutigen Anfän- dass er sich rührt, was ein Problem des Den- nimmt er die Form eines Stiftes an, «Bleistift» gers auf, weil er im Team mit dem Radier- kens weniger für das Malen, Zeichnen oder genannt. Was jedoch in die Irre führt, denn gummi Fehler rasch verzieh und fallweise Fotografieren ist. (Aber sicher bin ich mir da weder ist er aus Blei noch schwer wie dieses sogar einen spielerischen, experimentellen nicht.) und auch sonst nicht trostlos oder bedrückend, Umgang mit diesen Kulturtechniken erlaubte. sondern er verdankt seine Bezeichnung einer Berge, Felsen, Steine, Schotter ... Überlebenskunst. Im 16. Jahrhundert entdeckte Grafit, so könnte man resümieren, ist ein Nun sind wir angekommen, angekommen in man nämlich in England grosse Vorkommen gutes Schreib- und Zeichenmaterial, aber einer Welt, die sonderbarer nicht sein könnte, von Grafit, hielt sie aber fälschlicherweise für auch – erinnert sei an das Ausfuhrverbot nach weil augenscheinlich real, zugleich aber der- eine Form des Bleiglanzes (Plumbago). Frankreich und England während der Napo- massen irreal, dass man sich nimmer auskennt: leonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhun- Wo befinde ich mich? Was steht mir gegen- Selbst als vor exakt 241 Jahren, 1779, der rüh- derts – ein perfektes Material für Gussformen über? Worauf ist Verlass? Was geschieht mit rige Apotheker und Chemiker Carl Wilhelm und Kanonenkugeln. dem Blick? Ist das Fotografie? Eine Zeichnung? Scheele den Nachweis erbrachte, dass dort Ein Bild? reiner Kohlenstoff vorkommt, und wenig später Das heisst, mit Grafit ist nicht zu spassen, und der streitbare Mineraloge Abraham Gottlob es heisst, dass Bleistifte Überlebenskünstler, Zweifellos grundlegende Fragen, in die man Werner diesen «Graphit» taufte, änderte sich weil Nutzniesser einer historischen Fehlein- da schlagartig verwickelt wird. Fangen wir bis zum heutigen Tag nichts mehr am Sieges- schätzung sind. So gesehen ist das Leichte ohne hinten an: Was ist ein Bild? Darauf gab Hans zug des Bleistifts. das Schwere nicht zu haben und umgekehrt. Blumenberg in seinem Buch «Schiffbruch 48 49
mit Zuschauer» Antwort, wenn er schreibt, was sich der Sehgewohnheit widersetzt und fungiert sie als Paradigma, weil man in der dass in den Bildern überliefert ist, was sich der sprachlos macht. Metapher eine Struktur erkennt, die Kunst- Anstrengung des Begriffs entzieht: der Blick werken innewohnt; und in 4) archäologischer aufs Ganze von Wirklichkeit, Welt, Leben Man muss es mit den Sinnen und der Spra- Perspektive lässt sich die Geschichte des und Geschichte. Auch wenn auf Gleichnisse che nicht so weit treiben, bis nichts mehr Denkens als Prozess einer «verblichenen und Metaphern Bezug genommen wird, übrigbleibt, was auch Folgen für die Bilder, Mythologie» des Vergessens jener Bilder müsste eine Übertragung auf «echte» Bilder das Bildermachen hätte, daher empfiehlt sich lesen, die im Laufe der Zeit zu Kategorien möglich sein. Zumal die Metapher, so der ausnahmsweise Mässigung, um weiterhin der und Begriffen konventionalisiert wurden. Autor weiter, sowohl den Umriss eines Ganzen Frage folgen zu können, die sich insgeheim von vielen Bedingungen und Möglichkeiten durch diesen Beitrag zieht und der Kunst- Worin, um knapp zu bleiben, besteht nun die als auch die Grenzwerte des nahezu Unmög- historiker und Philosoph Gottfried Boehm Quintessenz? Im Kontrast. Er charakterisiert lichen gibt. auf den Punkt brachte: «Lässt sich die Frage die Metapher und das lässt sich gewiss auch nach dem Bild auf dem Umweg der Sprache auf das Bild übertragen. Mit Kontrast ist Inkurs: Wenn Geben ein reziproker Vorgang klären?» hier die Unterbrechung einer gleichmässigen ist und die Gabe im Sinne der klassischen Anordnung gemeint, und mag sie – wie bei Gabentheorie als Geschenk aufgefasst wird, das Die Spur, die nun aufzunehmen wäre, könnte Casty – auch noch so diskret sein. Umso mehr zur Annahme verpflichtet, wie verhält es sich komplizierter kaum sein, wie sie nach einer tritt die Unterbrechung in Form allerfeinster dann aber mit dem Geben, Annehmen und gemeinsamen semiotischen Basis der verschie- Unterschiede zum Beispiel in der Farbe Grau, Weitergeben von Geschenken, die wir durch die densten kulturellen Ausdrucksformen sucht, in der Helligkeit, im Verhältnis von Tiefe und Natur erhalten? Einfach so, weil sie da ist, mit eine Debatte, die seit längerem schon wieder- Fläche hervor. Das gilt für die Einzelphäno- Farben und in Ausprägungen, die das menschliche kehrt und Boehm in vier Punkten wiedergibt: mene genauso wie für die Bedingungen des Fassungsvermögen übersteigen oder unterschreiten. 1) Die Metapher wird wegen ihrer Vieldeutig- Mediums selbst. Man denke an die Grösse und Mächtigkeit der keit zum Beispiel in der analytischen Sprach- Berge, die Weite und Bewegtheit von Meeren, theorie als Anomalie begriffen, der nicht Herr Wie war das nochmals mit der Metapher? Sie das Kleine und die Winzigkeit eines Insekts, zu werden ist; 2) die Rhetorik nützt sie, um weist Kontraste, Brüche und unüberbrückbare Wassertröpfleins oder Grafitstaubs. All das rührt über die affektive Wirkung einer Rede heraus- geistige Sprünge als Resultat einer inneren an Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung zufinden, wie Teilhabe der Hörer*innen her- Differenz auf und wird dennoch als eine ein- und der Fähigkeit, vernünftig einzuordnen, beizuführen ist; 3) in der Ästhetik und Poetik zige Sinngrösse erfahrbar. Warum ist dem so? 50 51
Was uns als Metapher und als Bild begegnet, Die Geschichte beginnt zu ebener Erde, mit schien er zu schweben, so zart und hauchdünn beruht auf einem einzigen Grundkontrast den Schritten, genauer mit Gehen, nicht nur wie Seidenpapier, ohne jede Schwere, glühte und dieser besteht zwischen einer überschau- geradeaus. Das war Ende der 1990er Jahre. er von innen wie entrückt. Dann holten uns baren Gesamtfläche und Binnenereignissen. Am Berg kreuzte sich der erste Weg. Es war die Esel ab. Das Schiff war vor Anker gegan- Mit diesem Verhältnis, anschauliches Ganzes der «Hohe Kasten», im lokalen Dialekt gen, wir hatten viel Gepäck. Es musste ver- vs. Einzelbestimmungen wie Farbe, Form, «de Chaschte» und 1793 Meter über Meer sorgt werden. Das Häuschen stand zuoberst, Figur usw., wird gearbeitet. Egal, ob mittels im Alpstein, der zu den Appenzeller Alpen der Pfad war eng und steil. Die Tiere hatten Sprache oder Bild, die Regeln sind veränder- gehört. Kein grosser Berg also, mitnichten Mühe. Wir waren neun, acht Künstler*innen, lich, geprägt von Stilen, Gattungsordnungen, gefährlich, nicht einmal anstrengend, dennoch eine Wissenschaftler*in für die Struktur. Auftraggebern usw., und die Bilder, wie immer blieb er in meinem Gedächtnis. Nicht der Am Ende sollte etwas herauskommen, besten- sie aussehen mögen, keine Sammelplätze für Aussicht wegen, denn das Wetter war schlecht, falls ein Kochbuch. Die Sonne stand im Zenit beliebige Details, sondern auch Sinneinheiten. es gab Regen und viel Nebel ringsum. Abends im Hochsommer und bei ausgebrochenem im Gasthaus unten im Tal kam Roman Signer Vulkan. Kein Ort, der Schutz bot vor dieser Nun scheint die Basis für beide, den Zeichner und zeigte einen Film, in dem sein «Berg- brütenden Hitze, selbst Eier brieten auf und die Schreiberin, geschaffen zu sein, um sturz» (1987) vorkam, und der Geruch dieser blossem Stein, trotzdem wurde gekocht, sogar sich ans Eingemachte zu wagen: Bezugnahmen schwarzen Kohlen, die mittels Schnurzug und über offenem Feuer und mehrmals am Tag auf konkrete Bilder. Ohne ihnen Gewalt Verschlussmechanismus die Holzkonstruktion gemäss Programm. anzutun. Das muss hinzugefügt werden und herunterdonnerten, hing mit einem Schlag bedeutet Interpretationsabstinenz. Abstrakt ist im ganzen Raum. Ich weiss nicht mehr, ob es Zehn Jahre danach: St. Antönien im Prättigau. das Ganze auch nicht angelegt, es wird einer vor- oder nachher war, aber gleich ums Eck Es war die ganze Woche empfindlich kalt. Logik des Herzens – ordre du cœur – folgen, stand eine Kirche und dort traten die «Stimm- Vierzehn Studierende aus Innsbruck, Du und die an den Dingen Anteil nimmt und nicht hörner» auf mit einer Minieisenbahn, die ihre ich in diesem merkwürdigen Haus mit lauter aus einer inneren Distanz betrachtet. Kreise unter der Kuppel zog. Verbotsschildern an den Türen und Wänden, ausserhalb des Dorfes auf einer Wiese gelegen, Wegen der Freundschaft, die uns seit zwei Jahr- Einige Jahre später ging’s in den Süden, das abgeschieden und mutterseelenallein. Kaum zehnten verbindet und nicht verpflichtet, son- Ziel hiess Ginostra, aufgebrochen wurde mit trat jemand ins Freie, um Material zu sammeln, dern aus freien Stücken gibt, was unterschied- der Fähre nachts von Neapel aus, und als wir wurde er unverzüglich verschluckt von einem licher nicht sein könnte. (So erscheint es mir.) frühmorgens auf den Stromboli zufuhren, Nebel, den man fast schneiden konnte. 52 53
Milchig-weiss und körperlich wie zu lange Exkurs: In seinem Buch «Walking Artists» zeigt Wandmalereien zum Beispiel in der British School geschlagene Maibutter. Den Studierenden hat der Theaterwissenschaftler Ralph Fischer, wie in Rom: es gefallen, sie haben alles Mögliche zusammen- in den 1960er Jahren die performativen Künste getragen draussen im Wald, auf dem Feld und diesen Prototyp menschlicher Fortbewegung – PROFILO DELLE MONTAGNE DIECI drunten im Friedhof. Namen, Daten, Kräuter, Gehen – für sich entdeckten. Er zeichnet bis hinein GIORNI DI CAMMINO DIECI NOTTI IN Blätter, Steine, Käse und Eier von der Bäuerin in die Gegenwart nach, wie die Auseinanderset- TENDA DOLOMITI ITALIA MARZO 1993. drüben am Schattenhang, der man ein Jahr zung mit dieser universellen Bewegungstechnik später beim Heuen noch helfen sollte. Die das künstlerische Formenvokabular einer radi- Jetzt könnte man noch viele andere nennen aufgelesene Ware wurde verarbeitet, sorgfältig kalen Revision unterzogen hat. Damit ist auch wie zum Beispiel Richard Long und Andy ausgelegt, mehrfach sortiert, getrocknet, die Hoffnung einer Neuverortung des Subjekts in Goldsworthy, die Performance Art von Bruce verkocht, gestapelt, aufgestellt, aufgehängt und einer veränderten soziokulturellen Wirklichkeit Nauman und von Marina Abramovic, im dokumentiert, einigermassen nach Plan. verbunden. Ein Beispiel: Der britische Konzept- Kontext der Situationistischen Internationale künstler Hamish Fulton (* 1946) ist ein Wanderer, und des Postmodern Dance Yvonne Rainer Ursprünglich wollten wir gehen, viel und weit; kein Bergsteiger, das zu sagen, darauf legt er aus und Trisha Brown sowie die Audio Walks der das Wetter, die Arbeit hielten uns zurück. Und Respekt viel wert. Aber inspirieren habe er sich kanadischen Medienkünstlerin Janet Cardiff. so weiss ich bis heute nicht, was ein Zeichner im Laufe der Jahre vom Bergsteigen lassen. sieht, wenn er geht und wandert. Wie blickt er Würde allgemein nach dem Gemeinsamen in die Landschaft und wie schaut sie auf ihn Denn Alpinisten waren draussen im Wetter, auf gefragt, müsste wohl die genuin menschliche zurück? Was erkennt er im Tier und das Tier den Felsen und im Eis, nicht drinnen in einem Fähigkeit zum «aufrechten Gang» genannt in ihm? Wo bleibt er stehen, was zieht ihn an? Atelier. Und so verlegt er sein «Atelier» ins Freie werden, die bereits der Philosophie des antiken Wofür holt er sein Werkzeug (Notizblock, und trägt es fortan mit sich herum, was nicht Griechenlands zum Leitbild der Bestimmung Bleistift, Fotoapparat) hervor und wofür nicht? kompliziert ist, weil auf den Körper und Ruck- des Menschen diente: Anthropos der Zwei- Welche Skizze fertigt sich beim Gehen in sack beschränkt, der alles enthält, was zum Leben beiner. seinem Gedächtnis an? Warum weiss er, dass minimal nötig ist. Dabei will er eines: nicht zu dies nun der richtige Zeitpunkt ist, um abzu- viele Fussspuren hinterlassen. Die kommen später, Welche Rolle spielt das Gehen auf zwei Beinen drücken? Mit welchen Augen wird gesehen, nach Rückkehr von seinen zum Teil monatelangen für den Künstler Casty? Gibt es Berührungs- was das Foto schliesslich zeigt? Fragen über Wanderungen (in den Alpen, in Japan, den USA, punkte zu den im Exkurs Genannten? Ja und Fragen, sie bleiben. Chile usw.) und in völlig anderer Form: nein. Er macht keine Performance, ist auch 54 55
kein Audio-, Video- oder Konzeptkünstler. Als wer man nach langen Wanderungen her- So oder so ähnlich stelle ich mir die Arbeit Aber er geht vermutlich, wie er zeichnet: vorgeht, ist nicht hinlänglich bekannt, anzu- im Atelier des Künstlers vor, der sich geduldig genau, gekonnt, ausdauernd. Er übt wie die nehmen, dass die Füsse mehr wissen als der von der Schwere und Kraft der Materialität anderen auch im Urakt des Gehens immer Kopf. Nach Wochen über Berg und Tal in leiten lässt und weiss, dass Hand und Auge wieder aufs Neue dieses In-Beziehung-Treten Nepal die Notiz: «Wenn man dann endlich eins sind – Frucht jahrzehntelanger Übung. zur Welt, zu sich und den anderen – am einmal mit dem Körper denkt, das Denken Modell der Natur (aber das kann nur wissen, stiller und der Behälter leer geworden ist, Und er ist süchtig, süchtig nach Grafit. Sein wer ihn in- und auswendig kennt). kommt mit der Absenz der Gedanken die Geruch, der Abrieb, die Modulationen, der Angst, dass nach der Rückkehr die Gedanken Staub und die Unschärfen, all das ist ihm in Jedenfalls spielt die Natur für ihn eine wich- ausbleiben, keiner davon mehr zu gebrauchen vielen Nuancen bekannt. Es erinnert ihn an tige Rolle von Kindesbeinen an, und das oder zu erinnern ist. Diese Angst ist weder den Glanz, den Schiefer, die starke physische geht so leicht auch nicht verloren. Gehen ist unbegründet noch bodenlos, aber sie gestaltet Präsenz von Steinen, und er weiss, wie sich eine Kunstform, ein Entwurf für eine ästhe- sich schwieriger als Gehen, jetzt noch.» das anfühlt. tische Gegenkultur und eine Methode zur Erforschung performativer, medialer Räume Keiner hat meinen Gang. Dunkle Bilder, hellere Bilder, überbelichtete – zur De- und zur Stabilisierung der in die Bilder, Bilder mit viel, mässigem und wenig Körper, Bewegungen und Räume einge- Raumwechsel: Ein eher kleiner dunkler Druck gearbeitet – nie aus einer Linie, immer lassenen Machtstrukturen und Weisen der Raum, den ein Lichtstrahl in Richtung einer aus der Fläche heraus, wegen der Plastizität. Subjektivierung. mit Papier bespannten Wand durchschneidet, vor die ein Mann tritt und, etwas seitlich Zeichnend malen, so könnte man sein Vorgehen Gehen ist auch für Werner Casty Grundlage geneigt, um sein Gesicht vor dem grellen Licht zusammenfassen. Intime Berührungen, Hand seiner künstlerischen Praktik und steht in zu schützen, mit einem Stift in der Hand und Grafit. Ein Liebesverhältnis. Relation zum Wandel des Raumbegriffs diese nach vorne schiebt und mit leichten innerhalb einer technisierten und mediati- Druckbewegungen dem in Farbe projizierten Möglicherweise hat der Tastsinn die ästheti- sierten soziokulturellen Lebenswirklichkeit Dia in Schwarz-Weiss antwortet in Form sche Erfahrung erfunden. Jedenfalls spricht mit der Beschleunigung der Fortbewegung eines stummen Dialogs, der eine ungekannte vieles dafür. Geht es nach dem vergleichenden und Expansion der Wahrnehmungs- und Ruhe ausstrahlt, als wäre die Arbeit bereits Literaturwissenschaftler Nikolaus Langier, Kommunikationsmöglichkeiten. getan. führt das Tasten in eine dichte Sphäre der 56 57
Bilder schaffen Stimmungen, Stimmungen Bilder. Modalität und Relation, die sich hierarchischen und trägt. Bis die alten Fragen erneut auftau- Zwei Beispiele: Ordnungen entzieht und Wahrnehmung chen: Warum kommt der Mensch nicht vor? betrifft, weil der Tastsinn nichts Bestimmtes Ist berechtigt, was ich zeichne? Ist das viele ist, daher die Möglichkeit hat, alles zu sein, das Archivieren legitim? Soll ich mich anderen heisst alle Empfindung und Wahrnehmung Themen zuwenden? zu begleiten. Aber dann steht er wieder in seiner dunklen Als Hand und Haut, haptischem Zugriff und Kammer, lässt seine Hand wie von selbst über taktilem Erspüren kommt dem Tastsinn ein das angestrahlte Papier gleiten, dessen Format Flecken 6 doppelter Modus zu, aktiv und passiv in einem, nicht festgelegt ist, und währenddessen legt was ihn mit der Musse und der Liebe verbin- sich nach und nach eine Schneefläche in die det, die sich auch nicht erklären, lediglich ver- weite Mulde zwischen zwei beinahe schwarzen gegenwärtigen lassen. Darin wird sichtbar, was Felsen. entsteht, wenn man nichts begehrt und nichts zurückweist. Eine Ästhetik, der es weder um Möglichst nah am Wirklichen bleiben. Das Wahrheit noch um Nutzen, auch nicht um ist, was er will. Radieren? Nein, das geht nicht, das Gute, sondern um eine Art von spieleri- alles entsteht aus einem Guss. scher Gelassenheit geht, aus der heraus etwas Gestalt gewinnt, annimmt und wieder verliert, Wenn es richtig ist, dass die Stimmung den mitunter alles zur gleichen Zeit. Zufall anlockt, und zudem stimmt, dass sie Brandung 8 innen mit aussen, Subjekt und Objekt in Werner Casty ist ein Sammler. Sein Material- einem unsichtbaren Dazwischen miteinander fundus ist gross und derart mächtig angewach- verschränkt, dann ist man in Stimmungen – sen, dass er bisweilen zweifelt und sich fragt, wegen der Fähigkeit wahrzunehmen und zu ob es nicht Wichtigeres zu tun gäbe. Aber empfinden – immer schon eingetaucht, weil dann, ohne besonderen Grund, legt sich der es sich um eine transindividuelle Erfahrung Zweifel und stellt sich Gewissheit durch das handelt, bei der man sich bereits von Beginn Material ein, das ihn inspiriert, aufstört, hält überschritten hat. Überschreiten ist hier in 58 59
dem Sinne gemeint, dass die harte Trennung was im Übrigen an den Ursprung früher In Gemischen drückt sich Nähe aus, eine einem porösen Übergang weicht, wodurch sich Rechenverfahren erinnert. Freundschaft, die Sprache und Bild, Schreiben die verschiedenen Sphären berühren, vermi- und Zeichnen verbindet, ohne den Kontrast zu schen, vermählen, zugunsten einer Sättigung Natur- als Kulturgeschichte. Darüber berichten tilgen, der sie einander so ähnlich wie verschie- der Seele. die Bilder auch, denn die Elemente – Feuer, den macht. Wasser, Erde, Luft – sind beides: gegeben und Schotter hier, Mensch dort – Gischt dort, hervorgebracht. Sie sind das von Natur her Ein Abdruck mit offenem Ausgang. Mensch hier, das gilt also nicht mehr. Die Zusammenhaltende und das an Natur vom Sache ist in Bewegung gekommen, der Blick Menschen Zusammengehaltene, sprich das kann sich nirgendwo festkrallen, auch wenn Gemässe, Gemessene, die umfassende Grenze er’s versucht. Weicht das Gestein zurück? und das (von uns) Begrenzte. Gleichzeitig Bricht die Gischt hervor? Ist es umgekehrt, ist die unvordenkliche, umgreifende Natur beides richtig oder eines falsch? Warum sollte aber auch das schlechthin Unbestimmte, das man Steinen näher als dem Wasser kommen? heisst weder Bild noch Symbol, und musste als solches überhaupt erst hervorgebracht werden. Schwierige Fragen, dank der Erscheinungs- vielfalt von Wasser und Gestein, aber auch Die allerletzte Rückkehr zu den beiden der leiblichen Vollzüge und Erfahrungen, Bildern, die nach der Natur, die vor uns liegt, die Menschen mit beidem verbinden: Wasser entstanden sind. Nachbilder. Sie schenken sich trinken, Wäsche waschen, duschen, durch den Menschen nur durch Erfahrung und werden Regen laufen, im See baden und im Meer im Lichte derjenigen Bilder erinnert, die in schwimmen. Ähnliches beim Steinernen: ihnen zu arbeiten begonnen haben. Manche Froh, nach einem langen Segeltörn festen präzise, andere unscharf. Erzählen hilft! Boden unter den Füssen zu haben, gut, sich Es ruft – wie Zeichnen, Malen, Fotografieren beim Klettern im brüchigen Gelände nicht zu – die Erinnerungen auf, gestaltet sie um und versteigen, beruhigend, Häuser auf stabilem erzeugt ein Gemisch von Realität, Fiktion und Grund zu bewohnen oder Kindern beim Täuschung. Sie braucht es auch, das irritiert Spielen mit Steinchen zusehen zu dürfen, den Geist und befördert das Denken. 60 61
HORIZONTE 1–3 62 63
64 65
S C H N EE VO N G ES T ER N 1 – 12 66 67
68 69
70 71
72 73
EL A 1 – 7 74 75
76 77
78 79
80 81
W ELLEN Nachdem er allerdings einen Nachmittag Schock gewesen, der ihn einige Wochen lang bei seinen Kaninchen darüber nach- lang um den Schlaf gebracht hatte, doch gedacht hatte, entschied er, still abzuwarten, er war noch jung gewesen und hatte ob sich jemand meldete. Stattdessen fand sich wieder aufgerafft. Auch der Tod der er auf seinem nächsten Dienstplan die Mutter, mit der er bis zu seinem dreiund- betreffende Woche rot markiert und mit vierzigsten Lebensjahr zusammengelebt der Aufschrift «Jubiläumsreise» versehen. hatte, hinterliess einen tiefen Einschnitt. Tim Krohn Das beseitigte seine Zweifel, und an einem diesig bewölkten Samstagmorgen im Juli, Die Erfahrung dieser Stadt war weder nachdem er die Kaninchen in die Obhut Schock noch Einschnitt, sie war viel Zu seinem vierzigjährigen Jubiläum bei der seiner Nachbarin gegeben hatte (die sie grundlegender, ein Beben, das alles bis Rhätischen Bahn erhielt Streckenwärter despektierlich «Eisenbahnerkühe» nannte), anhin Feste in Frage stellte, ein Felsrutsch. Bartholomäus Klaus eine einwöchige Reise bestieg er den R1909 nach St. Moritz. Bartholomäus’ Welt geriet ins Wanken. nach Venedig geschenkt. Das geschah sehr unkompliziert, der Umschlag mit den Die Reise klappte problemlos, obschon die Fast die ganzen vierzig Jahre bei der Fahrkarten und dem Hotelvoucher lag eines Kollegen ihm eine ungewöhnliche Strecke RhB nämlich war er auf Gleisen unter- Tages einfach in seinem Dienstfach. Im gebucht hatten, via Chiavenna und Colico. wegs gewesen, die letzten achtundzwanzig Umschlag steckte zudem eine vorgedruckte Im Bus auf dem Malojapass und durchs immer auf der Albulastrecke. Jeden Tag Glückwunschkarte: «Mit Dank zum Vier- Bergell hinab wurde ihm übel, aber sobald hatte er 5 Kilometer abgeschritten, im zigjährigen. Direktion RhB.» er wieder Schienen unter sich hatte, erholte exakt bemessenen 60-Zentimeter-Gang er sich. von Schwelle zu Schwelle, um Schrauben- Da Bartholomäus in seiner gesamte Dienst- muttern, Gleisweichen, Tunnelwände zu zeit von niemandem gehört hatte, der zu Mit bemerkenswert wenig Verspätung kontrollieren. seinem Vierzigjährigen ein so grosszügiges erreichte er Venedig. Und wurde unverhofft Geschenk erhalten hätte, war er versucht, von einer heftigen Krise gepackt. Die Selbst in seinen Träumen ging er jene den Umschlag am Schalter abzugeben Farbumstellung der RhB anlässlich ihres Strecke ab (manchmal hielt er auch Zwie- und darauf hinzuweisen, dass ein Versehen hundertsten Geburtstags von dezentem sprache mit seinen Kaninchen oder stritt passiert sein mochte. Feldgrün auf Signalrot 1989 war ein mit seiner toten Mutter). 82 83
Und ob er nun schlief oder wachte: Jede führten, die eine Weiche blockierten. Am kommenden Tag traute er sich gar dieser Streckenwanderungen war für Selbst oberhalb der Böschung die Stein- nicht erst aus dem Zimmer, so erschlagend Bartholomäus ein Abenteuer. Weil alles strukturen, die Schichtungen, Verwerfun- fand er die Stadt. Erst gegen Abend zwang sich permanent verschob, veränderte, weil gen, Risse und Auswaschungen im Fels ihn der Hunger hinaus (seit dem Frühstück alles lebte. Die Gleistrasse, die Böschungen sah er nicht als starre Gebilde, sondern als hatte er nichts gegessen, und das hatte aus und Felswände links und rechts, die in den hochsensible Systeme, die in der Weise, wie einer abgepackten Brioche und einer Tasse Berg geschlagenen Tunnelwölbungen und sich darin die Luft verfing, das Licht, der Anrührkaffee bestanden). Spritzbetonbefestigungen, Leitungsrohre, Nebel, ihm Auskunft über Dinge gaben, Notportale, der Himmel, die Wolken, die so feinstofflich waren, dass er dafür Wieder irrte er lange umher, bis er einen Schnee und Wind waren für ihn so beredt, keine Worte kannte. winzigen Supermarkt entdeckte, der sieben dass ihm selbst in der Einsamkeit des Tage die Woche und bis in die Nacht Val Bever oft die Ohren dröhnten. Venedig war demgegenüber brachial. Die geöffnet hatte. Dort kaufte er ein, was er Fülle, der Lärm, die Hitze und das Stickige. kannte: Zwieback, Dosengemüse und Aus jeder Kleinigkeit las er ganz wesent- Dazu kam, dass die Wege und Brücken Thunfisch in Öl. liche, ja existenzielle Botschaften, aus dem sich Bartholomäus’ 60-Zentimeter-Gang Kondenswasser entlang der Leitungen, völlig widersetzten und er sich die Zehen Es war Nacht, als er aus dem Laden auf der Farbe der Rinnsale im Tunnel und wund schlug. Er wagte sich nicht aufs den Platz trat. Die Gassen, Pfade und Brü- draussen der Elastizität von Gräsern und Schiff, zu Fuss verlief er sich andauernd und cken waren kaum noch bevölkert. Endlich Ästen, aus Hirsch- und Fledermauslosung, fand erst in der Abenddämmerung sein herrschte genügend Leere, dass Bartho- Flugrostbildungen oder der Mürbheit des Hotel – von dröhnenden Kopfschmerzen lomäus sich nicht mehr nur retten wollte, Gesteins. Er wusste, bei welchem Mond- geplagt, da er aus Sparsamkeit unterwegs sondern auch wieder schauen konnte und stand das Eis an der Tunneldecke wuchs nichts zu essen und zu trinken gekauft und kleine Dinge sah, die ihn erfreuten: zwei und drohte, das Zugdach zu verletzen nur aus seinem Proviantrucksack gelebt Fische im Kanal, weisse Blumen auf einem (dann schlug er es ab), er wusste, wann hatte, wie er es auch auf den Kontroll- Fenstersims, die der Sommerhitze trotzten, es schrumpfte. Bei Regenfällen wusste er märschen tat, aus einer verbeulten blecher- Dellen in den ausgetretenen Marmor- den Tag voraus, an welchem die eichenen nen Lunchbox und einem seit Jahr und platten, die so weich und so geschmeidig Bahnschwellen sich dehnten, verwarfen Tag neu mit Leitungswasser aufgefüllten schienen, dass er nicht anders konnte, als und zu Spannungen im Gleisbereich Rhäzünser-Fläschlein. niederzuknien und sie zu berühren. 84 85
Anderntags wagte Bartholomäus sich in Leichtsinn kaufte er nicht mehr nur, was ihr höflich zu. Zu gern hätte er gewusst, aller Frühe auf einen Spaziergang und er sonst ass, nämlich Bohnen, Mais und was sie sah, worauf ihr einheimischer gelangte dabei an den grosszügigen Canale Karotten, sondern Artischockenböden im Vogelblick gerichtet war, und er versuchte, della Giudecca, der Quai war breit und leer Glas, dazu Südtiroler Joghurt. mit ihren Augen zu schauen. Zuerst sah er und bot gut Platz für 60-Zentimeter- empor in den blassblauen Himmel, dann Schritte. Er spazierte etwas auf und ab, Als er den klimatisierten Laden verliess, zu Boden, auf einen Einschnitt in der dann setzte er sich auf einen der salzzer- war es drei Minuten vor zehn. Das Licht Quaikante, in dem eine Steintreppe über fressenen Polder an der Quaikante und war noch morgendlich blass und wollte vielleicht vier, fünf Stufen direkt ins Wasser beobachtete so lange die Nachen, Bötchen, nicht zur schwülen Hitze passen, die sich führte. Gerade musste Ebbe herrschen, Vaporetti und Lastschiffe, bis er glaubte, nie verlor. Auf der anderen Seite des Kanals denn die unteren Stufen waren dicht mit das unsichtbare Netz von Fahrrinnen und erhob sich ein massiges Backsteingebäude Algen oder Schlamm überwachsen und Kurslinien durchschaut zu haben. Dann mit der Aufschrift «Stucky», vermutlich ragten dennoch über den Wasserspiegel, die kehrte er zurück in sein Zimmer, ass auf eine stillgelegte Fabrik. Einen Stucky hatte eine deutlich, die andere knapp. der Bettkante sitzend zu Abend und Bartholomäus in seiner Dienstzeit im träumte, nachdem er zu Bett gegangen war, Verkehrs- und Transportbataillon 1 der Die untere wurde alle paar Sekunden von seine Kaninchen hätten Möwenköpfe. Sie Schweizer Armee kennengelernt, einen gar einer Welle überspült, dazu brauchte nicht waren ihnen nicht am Hals festgewachsen, nicht üblen Berner Kommandanten. Die einmal ein Boot vorbeizufahren, die obere sondern steckten an Stäbchen, wie er Erinnerung färbte ab, plötzlich schien ihm nur alle naslang, wenn sich auf den nächst- Touristen sie für ihre Handykameras hatte dieses Venedig gar nicht mehr so übel. gelegenen Fahrrinnen der Verkehr ballte. benützen sehen. Er setzte sich abermals auf einen Polder Dann wogten die Algen, doch nur halb- und wärmte sich eine Weile am freund- herzig, denn gleichzeitig bremste sie das Am Dienstag kehrte er an den Canale della lichen Anblick der alten Fassade. eigene Gewicht, da sie noch immer zur Giudecca zurück und wagte sich bis an sein Hälfte aus dem Wasser ragten oder allen- westliches Ende: Dort lag, streng abgerie- Dann bemerkte er eine Möwe, die auf falls mit dem ersten Wellenkamm zur gelt, eine Zoll- oder Quarantänestation. einem von zwei eng nebeneinander aus Gänze überflutet wurden, danach sackte Das zwang ihn zur Umkehr, gleich darauf dem Kanal aufragenden Holzpfählen sass, der Wasserstand schon wieder ab und riss entdeckte er einen zweiten, sehr viel hüb- an denen wohl Schiffe vertäut wurden, und nur an den Pflanzenfüssen. Daraus scheren Supermarkt. In einem Anflug von die wie er die Gegend musterte. Er nickte entstand eine schleppende, fast wollüstige 86 87
Bewegung, die Bartholomäus so gut gefiel, Dort träumte er in der letzten Nacht, wie dass er sich nicht überwinden konnte, auf- die Brandung des offenen Meers sich an zustehen und weiterzugehen. rohen, wilden Steinen brach. Am anderen Morgen, als er den Zug nach Mailand Mit den Stunden stieg der Wasserspiegel, bestieg, freute er sich zwar unbändig wie die Pflanzen der unteren Stufe wehten ein Hündchen darauf, bald die altgeliebten aus der Tiefe empor wie die Locken Felsverwerfungen und Klüfte des Albula- einer Meerjungfrau, darüber kräuselte sich massivs wiederzusehen. Doch der Traum die Gischt. Bis zum Abend erkannte hatte Spuren hinterlassen, und so fühlte er Bartholomäus zahlreiche Wellenarten, in zugleich – auch diese zwei Gefühle rollten enger Folge und in weiter, ungeordnet als quasi durcheinander hindurch, ohne sich Kabbelwasser und rollende, von denen oft zu beeinträchtigen – eine regelrechte Not, mehrere aus verschiedenen Himmelsrich- dachte er daran, wie jene Felsverwerfungen tungen kamen und scheinbar widerstands- und diese Meeresflut in ihrem Ursprung los durcheinander hindurchzogen – etwa ein und dieselbe Welt geteilt hatten, und so, wie man zwei Fotonegative aufeinan- nun waren sie so unüberbrückbar vonein- derlegen und gegeneinander verschieben ander getrennt. kann, ohne dass sich die einzelnen Bilder verändern. Andere lappten, schaukelten sich gegenseitig auf, oder eine brach sich an der anderen. An dieser Stelle am Canale della Giudecca, vor dem Haus, in dem ein gewisser Luigi Nono einige Jahre verbracht hatte, liess Bartholomäus die ganzen übrigen Ferien verstreichen. Nur zum Schlafen kehrte er in sein Hotel zurück. 88 89
B R A N D U N G 1 – 10 90 91
92 93
94 95
96 97
98 99
100 101
102 103
S A L Z WA S S ER 104 105
106 107
U N T ERWA S S ER 1 – 10 108 109
110 111
112 113
114 115
HORIZONTE 4–8 116 117
118 119
120 121
AUFZEICH NUNGEN Auf seinen meist mehrtägigen Touren im Bündnerland – seiner Heimat – und entlang der Westküste der Insel Elba – seit zwei Jahr- zehnten seine zweite Heimat – gehören Foto- kamera und Skizzenbuch fix zur Ausrüstung. Sie dienen ihm dazu, Auffälligkeiten – oder wie er selbst sagt, «das, was ihn anspringt» – einzufangen, visuell aufzunehmen. Die Kamera Lucia A. Cavegn dient ihm zur schnellen, flüchtigen Moment- aufnahme, das Skizzenbuch zum genauen Naturstudium. Die eigenhändige Aufnahme Landschaft ist ein wiederkehrendes Thema im Unmittelbares Naturerlebnis des «Motivs» mit Bleistift und mitunter auch zeichnerischen Schaffen von Werner Casty – Seine präzisen Zeichnungen führen uns in mit Farbstiften erlaubt ihm, das Gesehene zu nicht etwa als pittoresker Anblick, sondern als die Natur beziehungsweise sehr nah an die gewichten und zu verdichten. sinnlich erfasste Materie. Seine Grafitzeich- Natur heran. Sie lassen uns die Substanz von nungen bedienen keine Sehnsucht, sie geben Landschaft erfahren. Sie erwecken in uns das Künstlerische «Buch-Führung» keine Postkartenansichten von Naturschön- Gefühl, selbst vor Ort zu sein. Seinen Zeich- Im Verlauf der Jahre hat Casty unzählige heiten wieder, sondern stellen Landschaftsele- nungen wohnt eine eigentümliche Energie Skizzenbücher gefüllt und im Computer eine mente im Detail dar, legen die Beschaffenheit inne, die uns die Härte des Felsens, die Kälte nach Sparten geordnete Fotosammlung der Landschaft in Nahsicht offen. Anstelle von der Schneefelder und das Geräusch der angelegt. Die Kombination von digitalem und majestätischen Berggipfeln zeigt der Künstler Brandung mitfühlen und mitdenken lässt. analogem Bildgedächtnis bildet den Fundus schroffe Felswände, öde Geröllhalden und Wie kommt es dazu? für seine grossformatigen Grafitzeichnungen. rutschige Schneefelder, anstelle von Wäldern Die Skizzenbücher – teils im Leporelloformat dichtes Unterholz, steile Wegborde und Casty bezieht sich nicht auf fremde Vorlagen – nur als vorbereitende Studien einzustufen, unwegsames Gestrüpp und anstelle des weiten oder Fantasievorstellungen. Im Gegenteil, würde bedeuten, deren ästhetische Qualität zu Meeres die tosende Brandung an der Küste, seine Landschaftsdarstellungen fussen auf unterschätzen. Jedes dieser meist schwarzen die aufschäumende Gischt und wogendes seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen; Moleskin-Skizzenbücher stellt für sich ein Unterwassergras. es sind die eines passionierten Wanderers. kleines Kunstwerk dar. Die Dicke und Grösse 122 123
der Skizzenbücher hängen in der Regel von geben die Optik des Wanderers wieder, der bezeichnet irreversible Zerfalls- beziehungs- der Dauer der Tour ab. Vergleichbar mit über Stock und Stein geht und seine Augen weise Auflösungsprozesse, deren Resultat einem Tagebuch enthalten die Büchlein Auf- auf den Weg richtet. In einer Gruppe geht er man gemeinhin als chaotisch umschreibt. So zeichnungen: allerdings nicht schriftliche, stets zuhinterst, um spontan auf die Umgebung gesehen halten die Skizzen und insbesondere sondern bildliche. Darüber hinaus nutzt er reagieren zu können. Seine Utensilien trägt die grossen Zeichnungen, in denen sich sie, um zeichnerische Möglichkeiten auszu- er in der Hosentasche mit, um sie mit einem die Grafitstriche zu Flächen, Volumen und loten und zu selektionieren. Die linear, entlang Handgriff hervorholen zu können. Fotogra- Massen verdichten, die Veränderung der einer Wanderstrecke gesammelten Eindrücke fieren und Skizzieren bedingen einen kürze- Landschaft fest und ebenso an, während sie werden in den Skizzenbüchern zeichnerisch ren oder längeren Marschhalt. Vor allem das in der Natur unaufhaltsam voranschreitet. umgesetzt und zum Ausdruck gebracht. Man Zeichnen setzt Weile voraus, basiert es doch ist geneigt, von einer künstlerischen «Buch- auf akribischem Betrachten und Beobachten. Die kargen Berg- und Küstengebiete sind für Führung» zu sprechen. Diese hilft ihm, dran- Bei jeder Rast entstehen ein bis zwei Skizzen Casty einerseits ein selbstgewählter, subjektiver zubleiben, das Auge wach zu halten oder mit von topografischen Einzelheiten oder ganzen Erfahrungsraum, andererseits eine Metapher den eigenen Worten formuliert, «im Strom zu Bergpanoramen. In den Skizzenbüchern für Wandel und Vergehen. Darin sind seine bleiben». Die Notate in den Skizzenbüchern dominieren die Konturlinie und die Horizont- Werke mit jenen von Caspar David Friedrich erfüllen einen weiteren Zweck: jenen der linien. Flächen werden selten ausgearbeitet verwandt. Dieser schuf vor rund 200 Jahren Verinnerlichung. Gleichzeitig mit der manuel- und wenn, dann nur angedeutet. weiträumige Landschaftsbilder, um in roman- len Führung des Stiftes schreibt sich der Ein- tischer Manier die Sehnsucht nach Erhaben- druck ins Gedächtnis ein. Entropie in der Natur heit und Freiheit zum Ausdruck zu bringen Fauna und Flora liegen nicht im künstleri- und zugleich auf die Endlichkeit des irdischen Innehalten schen Blickfeld von Casty. Es sind vielmehr Daseins zu verweisen. Castys Betrachtungs- Das Wandern ist für Casty mehr als nur eine Formen von «Unordnung», die ihn interes- weise ist nüchterner, schon fast wissenschaftlich. sportliche Freizeitaktivität: Indem er eine sieren, «zufällig» entstanden, physikalischen Er dokumentiert nicht, sondern nimmt sich Gegend erwandert, erlebt er sie, erfährt sie Gesetzen folgend. Diese Phänomene werden bei der Ausführung der grossformatigen und erspürt sie am eigenen Leib. Das Resultat der Entropie zugeschrieben. Der Begriff Grafitzeichnungen gestalterische Freiheiten ist eine Form der Erkenntnis, die auf eigener Entropie (Verwandlungswert) wurde 1865 heraus. Ausgehend von den Skizzen und Foto- Anschauung und ganzheitlichem, synästheti- durch den deutschen Physiker Rudolf Clausius grafien, die während seiner langen Wande- schem Erfassen basiert. Seine Skizzenbücher (1822–1888) in die Physik eingeführt und rungen entstanden sind, zeichnet er in seinem 124 125
Wetziker Atelier auf handgeschöpfte Bütten- arbeitet er tage-, mitunter wochenlang, um papiere und neuerdings auch auf feingeschlif- Flächen zu schwärzen, bis sich Materialität fene, grundierte MDF-Platten. und Schwerkraft der einzelnen Bildgegen- stände abzeichnen. Helle Partien eines Motivs Weite Zeit-Räume werden durch leerbelassene Stellen wieder- Seit vielen Jahren arbeitet Werner Casty vor- gegeben. Die Interaktion von Negativ- und zugsweise mit Grafit, um unbunte Naturbilder Positivformen verleiht den Zeichnungen einen zu schaffen. Bilder, die an Schwarz-Weiss- sonderbaren, intermediären Zustand zwischen Fotografien unterschiedlicher Gradationsstufen Vorhanden- und Abhanden-Sein. und Körnungen erinnern. So wirken die Zeichnungen auf Büttenpapier (hauptsächlich alpine Motive) beinahe fotorealistisch, woge- gen die Zeichnungen auf MDF (hauptsäch- lich maritime Motive) aufgrund der raueren Oberfläche weicher erscheinen, somit weniger Schärfe, dafür einen höheren Abstraktionsgrad aufweisen. Die jüngsten Blätter kündigen eine neue Motivgruppe an. Sie umfasst Ansichten von teils verwachsenen Trockenmauerwerken, wie man sie auf Weiden oder in Rebhängen vorfindet. Als Bildträger dient leicht vergilbtes Kupferstichpapier, das aus dem Nachlass eines verstorbenen Künstlers stammt. Werner Casty arbeitet an einem epischen Œuvre. Die Zeithorizonte seiner Werkgrup- pen sind ausgedehnt; vielfach dauern sie ein oder mehrere Jahre. An einem einzelnen Blatt 126 127
CA P O 1 – 5 128 129
130 131
132 133
VA LLE B O LLERO 134 135
136 137
W ER K LI S T E 40 Julier, 2013, 15-teilige Serie, Grafit auf grundiertem MDF, je 35 × 56,5 cm 45 Restipass, 2015, Grafit auf Papier, 98 × 69,5 cm 64 Horizonte 1, 2015, Grafit auf Aquarellpapier, 50 × 64 cm 65 Horizonte 2, 2015, Grafit auf Aquarellpapier, 50 × 64 cm Horizonte 3, 2015, Grafit auf Aquarellpapier, 50 × 64 cm 68 Schnee von gestern 1, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm Seite Schnee von gestern 2, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm Schnee von gestern 3, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm 69 Schnee von gestern 4, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm 6 Lago di Froda, 2008, Grafit auf Papier, 95 × 145 cm Schnee von gestern 5, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm Schnee von gestern 6, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm 11 Lai da Tuma, 2009, Grafit auf Papier, 113 × 150 cm 70 Schnee von gestern 7, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm Schnee von gestern 8, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm 20 Engadiner Passagen, 2011, Grafit auf Papier, 121 × 65 cm 71 Schnee von gestern 9, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm 22 Engadiner Passagen, 2011, Grafit auf Papier, 109 × 65 cm Schnee von gestern 10, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 50 × 64 cm 24 Engadiner Passagen, 2011, Grafit auf Papier, 116 × 65 cm 72 Schnee von gestern 11, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 111 × 73 cm 73 Schnee von gestern 12, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 111 × 73 cm 28 Grosses Geröll, 2012, Grafit auf Papier, 117 × 172 cm 76 Ela 1, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm 32 Flecken 1, 2009, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm Ela 2, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm 33 Flecken 2, 2010, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm 77 Ela 3, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm 34 Flecken 3, 2010, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm 78 Ela 4, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 33 × 33,5 cm 35 Flecken 4, 2010, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm 79 Ela 5, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 29 × 35 cm 36 Flecken 6, 2011, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm Ela 6, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 33 × 33,5 cm 37 Flecken 7, 2015, Grafit auf Büttenpapier, 69,5 × 98 cm 81 Ela 7, 2016, Grafit auf Büttenpapier, 54,5 × 75,5 cm 138 139
Sie können auch lesen