Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen

Die Seite wird erstellt Florian Herbst
 
WEITER LESEN
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
1/2020

                              Philologentag 2020:

                              Wir gestalten Zukunft!
                                    Arbeit und Lernen 4.0
© dotshock - shutterstock

                            Die Zeitschrift des Philologenverbandes
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Inhalt
Editorial......................................................................................................................................................................... 3

Schwerpunktthema: Philologentag 2019
Philologentag 2019: Verbesserungen bei Lern- und Arbeitsbedingungen dringend erforderlich
Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität ­bestimmen die Wirksamkeit von Lernen.....................4
Wir gestalten Zukunft! Arbeit und Lernen 4.0.................................................................................................. 6
Grußwort des Niedersächsischen Kultusministers Grant Hendrik Tonne..................................................13
Digitalisierung zwischen Dichtung und Wahrheit.......................................................................................... 16
Über Chancen und Risiken der Digitalisierung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht

Attraktivität des Arbeitsplatzes Gymnasium v­ ­erbessern..............................................................................22
Echte Entlastung statt Mehrbelastung..............................................................................................................23
Inklusion in Niedersachsen: Verbesserungen dringend erforderlich..........................................................24
Abitur 2021 – G9 richtig machen..........................................................................................................................25
„Wir sind der Verband der kritischen Vernunft“.............................................................................................. 26

Schul- und Bildungspolitik
Imagekampagne des Landes zur Nachwuchsgewinnung verpufft
Wirklich ein ,,Job mit Klasse”?...............................................................................................................................28
Was ist ein guter Lehrer?....................................................................................................................................... 30
Der Lehrer als Wissensvermittler – und Magier

Sprintstudium Informatik: Weiterbildung ohne Entlastung......................................................................... 33
Digitalisierung – Anspruch und Wirklichkeit....................................................................................................34

Das aktuelle Interview
Vom Fachleiter zum Krimiautor: Reinhard Sturm
„Ich bin kein routinierter Vielschreiber“.............................................................................................................35

Aus der Arbeit der Stufenpersonalräte
Altersermäßigung – immer noch kein positives Ende in Sicht..................................................................... 37

Veranstaltungen
Kontakte zur Politik ­gepflegt.................................................................................................................................38

Personen
Ehemaliger Kultusminister Wolfgang Knies gestorben.................................................................................38

Literatur
Spannend von der ersten bis zur letzten Seite................................................................................................ 39

Wir trauern um........................................................................................................................................................ 39

2                                                                                                                                            Gymnasium in Niedersachsen 1/2020
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

mit dem Jahr 2020 beginnen nun die „Zwanziger Jahre“ des      Kultusministers, nun tatsächlich Entlastungen zu schaffen.
noch jungen Jahrtausends. Leider beschäftigen uns in der      An einem „Runden Tisch“ wurden Pläne präsentiert. Da wir
Bildungspolitik des Landes Niedersachsen aber noch immer      diese Ankündigungen aber schon lange hören, bleiben wir
Probleme, die wir bereits im „alten“ Jahrtausend als Ver-     erst einmal skeptisch und warten (hoffen!) auf eine zügige
band angesprochen und mitunter deutlich kritisiert haben.     Umsetzung. Die Digitalisierung wird hoffentlich schneller
                                                              umgesetzt werden. Was dabei Sinn ergibt und was nicht,
Zum Teil liegen die Ursachen einer verfehlten Planung und
                                                              wird uns vor dem Hintergrund des Vortrags unseres Referen-
fragwürdiger ideologischer Entscheidungen eben so weit
                                                              ten auf dem Vertretertag in Goslar Prof. Klaus Zierer eben-
zurück. Dennoch wurde auf dem jüngsten, ereignisreichen
                                                              falls in dieser Ausgabe erläutert.
Philologentag erneut deutlich, wie wichtig es ist, Mängel
und Verfehlungen klar zu artikulieren und konstruktive Ver-   Bildungspolitisch beschäftigt sich der Philologenverband
besserungen zu erarbeiten. Hier bewegt sich bis jetzt auf     selbstverständlich weiterhin mit der Umsetzung der Be-
Seiten der Verantwortlichen des Landes deutlich zu wenig.     schlusslage, die Jahr für Jahr in Goslar immer wieder neu
                                                              definiert wird. Seit vielen Jahren ein „Dauerbrenner“ ist dabei
Ob das nun im „neuen Jahrzehnt“ sich bessern wird? Ge-
                                                              die Forderung nach umfassenden und vor allem wirksamen
lingt endlich sowohl der Schritt hin zu einer modernen
                                                              Arbeitsentlastungen. Das Kultusministerium hat inzwischen
Schule, die unter dem Banner der „Digitalisierung“ unsere
                                                              verschiedene „Pläne“ verlauten lassen, zudem wirbt das Land
Schülerinnen und Schüler gleichermaßen fördern wie
                                                              mit einer Imagekampagne um junge Lehrkräfte. Ob diese
fordern kann, als auch zu einer nachhaltigen Arbeits- und
                                                              Erfolg haben wird, bleibt indes fraglich, denn außer Ankündi-
Lernkultur? Begreifen die politisch Verantwortlichen end-
                                                              gungen von „Plänen“ ist weiterhin keine spürbare Entlastung
lich, dass es mit der Politik eines „immer mehr, immer
                                                              für Lehrkräfte in Sicht. Darauf gehen wir in dieser Ausgabe
schneller und immer anders“, mit der unsere Schulen und
                                                              mit einem Artikel ebenso ein wie auf die erneute Forderung
Kollegien in den letzten zwei Jahrzehnten überzogen wor-
                                                              der VV, nun endlich Entlastungen umzusetzen und damit
den sind (eine Reform jagte die andere, fast jedes Jahr kam
                                                              die Attraktivität des Arbeitsplatzes eines Lehrers oder einer
etwas Neues auf die Schulen zu) nicht mehr weitergehen
                                                              Lehrerin zu erhöhen.
kann, nicht mehr weitergehen darf? Kommen nun irgend-
wann endlich die zwingend notwenigen und vielfach ange-       Damit nicht nur der Philologentag sowie die aktuelle politi-
kündigten Entlastungen für Lehrkräfte – von denen dann ja     sche Situation den Inhalt dieser Zeitschrift bilden, ergänzen
auch die Schülerinnen und Schüler profitieren würden?         unter anderem ein Interview mit Autor Reinhard Sturm,
                                                              Mitteilungen aus der Arbeit der Stufenpersonalräte sowie
Der Philologentag 2019 hat unter dem Titel „Wir gestalten
                                                              aktuelle Meldungen und ein Buchtipp diese Ausgabe.
Zukunft! Arbeit und Lernen 4.0“ genau diese Fragen aufge-
worfen, die in dieser Ausgabe sowohl in der Berichterstat-    Ich wünsche Ihnen an dieser Stelle noch nachträglich ein
tung als auch in der bildungspolitischen Vertiefung weiter    „gutes neues Jahr“ sowie sinnbildlich alles Gute in den
thematisiert werden. In Goslar gab es Ankündigungen des       „Zwanziger Jahren“.
                                                                                                           Cord Wilhelm Kiel

Gymnasium in Niedersachsen 1/2020                                                                                            3
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Schwerpunktthema: Philologentag 2019

Philologentag 2019: Verbesserungen bei Lern­ und Arbeitsbedingungen
dringend erforderlich

Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität
bestimmen die Wirksamkeit von Lernen
Von Cord Wilhelm Kiel

W
            ir gestalten Zukunft! Arbeit und Lernen 4.0 – der   im Raum. Zum Missverhältnis zwischen der vom Kultusminis-
            Titel der Vertreterversammlung 2019 war etwas       terium mit wohlmeinenden Worten propagierten Image-
            „ganz Neues“, zumindest ungewöhnlich und viel-      kampagne und den realen Verhältnissen in den Schulen
leicht auch ungewohnt, wenn man die Mottos der vergan-          fand unter anderem der Verbandsvorsitzende Horst Audritz
genen Jahre zum Vergleich hinzuzieht. In diesen waren fast      in seiner Eröffnungsansprache der VV deutliche Worte. Eine
immer Begriffe wie „Gymnasium“ oder „Bildung“ zu finden.        gewaltige Zahl an Anträgen aus den Schulen diente dabei zur
                                                                Untermauerung dieser Ausführungen – Fakten, die der Politik
Schule und Lernen 4.0 deutet auf die Herausforderungen          deutlich machen müssten, wie schlecht die Stimmung „an der
unseres Schul- und Bildungswesens in den kommenden              Basis“ inzwischen ist. Und sie wird mit jedem Jahr schlechter,
Jahren, womöglich sogar Jahrzehnten, hin. Die Digitalisie-      in dem sich nichts verändert und verbessert – aller gebets-
rung als Kernthema der aktuellen Bildungsdebatte gilt es        mühlenartig vorgetragenen Sonntagsreden der Politik, wie
anzunehmen, allerdings nicht – wie in der Vergangenheit bei     wichtig doch die Bildung unserer Kinder sei, zum Trotz.
so vielen „Modeerscheinungen“, die mit Schule zu tun hatten
– aus blinder Veränderungswut überstürzt und überall um-        Arbeitszeitentlastungen längst überfällig
zusetzen, sondern sinn- und maßvoll in den Schulalltag zu       Die Vertreterversammlung forderte die Landesregierung
integrieren. Zu diesem Thema konnte als Festredner der          erneut auf, endlich die längst überfälligen Arbeitszeitent-
bundesweit anerkannte Bildungswissenschaftler Prof. Klaus       lastungen umzusetzen. Die Attraktivität des Arbeitsplatzes
Zierer gewonnen werden. Mehr dazu später.                       muss für alle Lehrkräfte, auch mit Blick auf die Nachwuchs-
                                                                gewinnung, deutlich gesteigert werden. Denn es fehlt immer
Als zweite Herausforderung stehen nach wie vor die für alle     noch eine langfristige, schulformspezifische Bedarfs- und
Beteiligten nicht zufriedenstellenden Arbeitsbedingungen        Ausbildungsplanung. Die Folge sind dann die weiterhin

4                                                                                              Gymnasium in Niedersachsen 1/2020
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
­ ängigen Massenabordnungen, mit den hinlänglich be-
g                                                                Audritz: Schulpflicht Errungenschaft eines
kannten Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler der            ­demokratischen Gemeinwesens
abgebenden, aber auch aufnehmenden Schulen. Besonders            Der Verbandsvorsitzende Horst Audritz fasste gleich zu
mit Blick auf das Abitur 2021 und der Rückkehr zu G9 muss        Beginn seiner Rede zusammen: „Was wir brauchen, sind
nun endgültig sichergestellt sein, dass alle Lehrkräfte wieder   zupackende Richtungsentscheidungen, der optimale Weg ist
an ihren Stammschulen eingesetzt werden. „Abordnung“             die bestmögliche Förderung von SuS durch gut ausgebildete
ist daher nach 2018 im Bildungsbereich zum zweiten Mal in        Lehrkräfte in einer guten Unterrichtsversorgung.“ Mit Un-
Folge das „Unwort des Jahres“ geworden.                          terrichtsausfall dürfe nicht fahrlässig umgegangen werden,
                                                                 denn die Schulpflicht zähle zu den bedeutsamsten Errun-
Neben Digitalisierung und Arbeitsbedingungen standen da-         genschaften eines demokratischen Gemeinwesens. Dies
bei für die über 300 Delegierten aus den niedersächsischen       dürfe nicht dazu führen, dass „man sich Sonderrechte her-
Gymnasien, Gesamtschulen und Studienseminaren unter              ausnimmt und ein Schultag zu einem schulfreien Tag wird“
anderem die Themen Inklusion, Abitur und Abordnungen             kommentierte Audritz das allgegenwärtige Schulschwänzen
im Mittelpunkt der Beratungen. Dringende Verbesserungen          unter dem Vorwand „Fridays for Future“.
forderte der Verband einmal mehr bei der Umsetzung der
Inklusion. Die vielen Hilferufe darf die Politik nicht länger    An den Minister gewandt, bekräftigte Audritz: „Wir begrüßen,
­ignorieren, stattdessen muss endlich im Sinne des Kindes-       dass Sie Grenzen der inklusiven Schule anerkennen. Gym­
 wohls gegengesteuert werden – sonst scheitert die Inklu­sion    nasien nehmen gern Schülerinnen und Schüler auf, die an
 an unseren Schulen vollends.                                    dieser Schulform optimal gefördert werden können. Fest­
                                                                 gelegte Aufnahmequoten für Gymnasien, wie es Gesamt-
Die Lehrerinnen und Lehrer werden nach wie vor mit den           schulen fordern, sind hingegen unprofessionell, unlogisch
vielfältigen Problemen allein gelassen, da die die Bedingun-     und sachfremd ideologisch.“ Die zentrale Aufgabe des
gen an allgemein bildenden Schulen weder sachlich noch           ­Gymnasiums sei „viel wissen, viel können, viel verstehen.
personell den besonderen Bedürfnissen einer umfassenden           Die einzige Priori­tät, die wir akzeptieren, ist, dass Bildung
Inklusionsschule Rechnung tragen. Dabei ist es keineswegs         Priorität haben muss!“
so, dass sich die Gymnasien – wie oft behauptet – der Inklusi-
on entziehen würden. Die geringeren Anmeldezahlen durch          Die „Work-life-Balance“ sei bei Lehrkräften im wesentlichen
die Eltern zeigen vielmehr, dass diese gut einzuschätzen         Maß nicht mehr gegeben, denn ein Ende „der Konzeptionitis,
vermögen, ob ihre Kinder mit Aussicht auf Erfolg gymnasial       des Absitzens der Zeit in Konferenzen, Planungsgruppen und
beschult werden können. Festgelegte Anmeldequoten für die        mit der Zeitverschwendung durch unterrichtsfremde Aufga-
Gymnasien sind daher blanker Unsinn.                             ben“ sei nicht abzusehen. Es sollte die Politik beunruhigen,
                                                                 wenn das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Lösungskompe-
Auch das Thema „Teilzeit“ stand erneut auf der Tagesord-         tenz sinke.
nung. Ein neuer, sinnvoller und an die Realitäten des Schul­
alltags angepasster Teilzeiterlass ist dringend erforderlich.    Minister Tonne: Anhebung der Anrechtsstunden für
                                                                 Koordinatoren
Dr. Junk: Jedes Jahr eine neue Bildungsidee                      Die viele Aspekte der Bildungspolitik benennende Rede des
Besonderes Augenmerk lag erneut auf den Reden der öffent­        Verbandschefs ist im vollen Wortlaut in dieser Ausgabe ab-
lichen Eröffnungsveranstaltung des Vertretertags 2019. Seit      gedruckt. Gleiches gilt für das Grußwort des Kultusministers
Jahren erfreuen sich die Grußworte des Goslarer Oberbürger­      Grant Hendrik Tonne, das daher an dieser Stelle nur kurz zu-
meisters Dr. Oliver Junk großer Beliebtheit bei dieser Ver-      sammengefasst wird. Tonnes Bezugnahme auf den „11-Punk-
anstaltung, vermag er es doch stets, in „launigen Worten“        te-Plan“ wurde aufmerksam zur Kenntnis genommen („wir
inhaltlich messerscharf der jeweiligen Bildungspolitik den       werden unter anderem Archivierungspflichten verringern
Spiegel vorzuhalten.                                             und andere Vorgänge prüfen“), aber Vielen fehlt der Glaube,
                                                                 dass nach etlichen Ankündigungen, die keine Konsequenzen
Der „Rundblick“ hatte 2018 das „wunderbare Grußwort“ zum         hatten, nun endlich etwas passiert. Minister Tonne möchte
damaligen Vertretertag gelobt. „Irgendwann kommt man da          die „Arbeit der Lehrkräfte nicht nur wertschätzen, sondern
nicht mehr drüber, daher habe ich über eine klassische Gruß-     auch unterstützen.“ Dabei soll die Anhebung der Anrech-
wortrede nachgedacht – Weihnachtsmarkt, Welterbe, Kaiser-        nungsstunden für schulfachliche Koordinatoren als erste
pfalz“, schmunzelte Junk. Denn: „Eine launige Rede ist schwer    Maßnahme der Entlastung im kommenden Schuljahr erfol-
angesichts der niedersächsischen Bildungspolitik!“ Junk          gen. Der Minister versprach außerdem die Anhebung der
erinnere sich angesichts dieser an die „Höhle der Löwen – da     Altersermäßigung bzw. diese Frage im Zuge einer Entlastung
kommt man jedes Jahr mit einer neuen Produktidee, und so         anzugehen. Wann, blieb allerdings unklar.
kommt der Minister jedes Jahr mit einer neuen Bildungs-
idee“, äußerte der OB zu donnerndem Applaus. Und dann, an        Die „Abordnungswelle gefällt keinem“, urteilte der Minister,
eben jenen Minister gewandt: „Bei allen Produktideen, die        Lehrkräftemangel sei aber kein rein niedersächsisches Pro-
Sie entwickeln, nehme ich Ihnen ab, dass Sie auch mal gute       blem. Konkreter wurde es, als er über die Nutzung digitaler
Ideen entwickeln wollen“, denn es sei wichtiger als je zuvor,    Medien sprach: „Kritisches Denken ist in Zeiten von Fake
dafür zu arbeiten, dass Kinder gut ausgebildet würden. Dies      News erforderlich! Schülerinnen und Schüler müssen ein
sei eine Gemeinschaftsaufgabe.                                   Gefühl dafür bekommen, was richtig ist und was Schrott“.

Gymnasium in Niedersachsen 1/2020                                                                                                  5
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Schwerpunktthema: Philologentag 2019

Es gehe ihm nicht um Digitalisierung von Schule, sondern          zugehen. Es hänge aber „von uns ab, was wir aus der Technik
um Lernen im digitalen Wandel. Er habe einen Anspruch,            machen“.
dass alle Beteiligten von Schule angstfrei zur Schule gehen
könnten. Zum Schluss sagte der Kultusminister, direkt den         Somit hänge die Wirksamkeit von digitalem Lernen nicht vom
Verbandsvorsitzenden adressierend: „Ich freue mich auf wei-       Alter der Lernenden ab, auch nicht vom Fach, und nicht von der
tere Zusammenarbeit mit dem PhVN. Behalten Sie sich eine          Technik – sondern von der Unterrichtsqualität und der Leh-
gewisse Portion Störrigkeit!“                                     rerprofessionalität. Auf diese komme es an. „Nicht Edutain-
                                                                  ment führt zum Lernerfolg“, unterstrich Zierer, „es kommt
Prof. Klaus Zierer: Digitalisierung zwischen Euphorie             auf Verbindlichkeit, Regeln, Werte und Normen an. Das un-
und Apokalypse                                                    terscheidet Unterhaltung von der Erziehung!“ Schlechter Un-
„Wenn es um Digitalisierung geht, ist die Stimmung immer          terricht werde durch digitale Medien nicht besser, nur guter
zwischen Apokalypse und Euphorie“, sagte der Festredner           Unterricht könne davon profitieren. Zierer wiederholte daher
des Philologentags, Prof. Klaus Zierer, gleich zum Beginn         in Goslar seine bekannte Aussage: Pädagogik vor Technik.
seines fast einstündigen, in jedem Moment hochspannen-
den Vortrags. Damit gab er das vor, was wir tatsächlich in der    Der – anspruchsvolle und mit einer Vielzahl von Folien unter-
aktuellen Digitalisierungsdebatte erleben.                        mauerte – Vortrag von Prof. Zierer ist in Form eines Aufsatzes,
                                                                  den der Wissenschaftler eigens für diese Zeitschrift erstellt
Grundlage für das, was in Schule gilt, sei Bildung, keine         hat, wiedergegeben. Für den Philologenverband bleibt als
­Fächer würden unterrichtet, sondern Menschen. Die Sinn-          Folge sowohl des Festvortrags als auch der Beratungen und
 frage des Lernens, die ethische Frage, sei letztlich die Frage   Beschlussfassung der Vertreterversammlung die Konse-
 von Bildung: „Bildung ist nicht gleich Lernen, sondern mehr!“    quenz, die Forderung nach einem einen Digitalpakt 2.0 zu
 Schüler vierließen in der Regel die Schule schlauer, als sie     stellen, der eine Anschlussfinanzierung von Bund und Län-
 hergekommen sind, so Zierer. „Lernen lässt sich nicht verhin-    dern und somit eine nachhaltige Entwicklung bei der Um­
 dern! Es lohnt nicht, danach zu fragen, ob eine Maßnahme         setzung der Digitalisierung gewährleistet. Denn der bisher
 wirkt – wir müssen fragen, was am besten wirkt!“ Unsere          geplante Digitalpakt kann nur als erster Schritt in die Rich-
 Bildungsgesellschaft müsse lernen, mit der Technik um­           tung von Schule, Arbeit und Lernen 4.0 gesehen werden.

Wir gestalten Zukunft! Arbeit und Lernen 4.0
Rede des Vorsitzenden des Philologenverbands Niedersachsen, Horst Audritz, anlässlich des Philologentags 2019

S
      ehr geehrter Herr Minister Tonne, meine Damen und           Zeitgeist geopfert werden dürfen. Ich denke hier u.a. an den
      Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, jedes Jahr ist      Gleichheitsgrundsatz (Art. 3), an die Freiheit der Lehre (Art.
      ein Jubiläumsjahr. Doch im Jahr 2019 kommen zwei            5), an das Recht und die Pflicht der Eltern zur Pflege und
besonders bedeutsame Jubiläen zusammen: Vor 70 Jahren             Erziehung ihrer Kinder (Art. 6), an die staatliche Aufsicht
trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland           über das gesamte Schulwesen (Art. 7) und an die Garantie
in Kraft, und vor 30 Jahren ist die Mauer gefallen, was die       der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“,
Wiedervereinigung unserer Nation in Frieden und ­Freiheit         also insbesondere die Verbeamtung auf Lebenszeit, das
ermöglicht hat. Die Volkskammer erklärte nur kurze Zeit           Laufbahnprinzip und die Fürsorgepflicht des Dienstherrn.
später den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit der              Wir tun gut daran, uns immer wieder dieser Normierungen
Wirkung vom 3. Oktober 1990.                                      zu vergewissern und sie auch einzuklagen, wenn dagegen
                                                                  verstoßen wird. Bedenklich wird es, wenn Verfassungsnorm
Seit der Wiedervereinigung gilt nun das Grundgesetz für           und Verfassungswirklichkeit zu weit auseinanderklaffen.
ganz Deutschland, ein Glücksfall, für den wir dankbar sein        Die Normen gibt das Grundgesetz vor, die Verantwortung
müssen. Der Beitritt war ein klares Bekenntnis zum Wer-           für die Umsetzung liegt im Falle der Bildungspolitik bei den
tesystem des Grundgesetzes. Das Grundgesetz ist unbe-             Ländern. Ich will deshalb konkreter fragen:
stritten die Grundlage für die Sicherung einer freiheitlichen     • Tut unser Land genug, um das Schulwesen zu auszu-
und stabilen Demokratie, in der die Grund- und Menschen-              statten, dass das Recht auf Bildung und der Anspruch
rechte einen herausragenden Platz einnehmen. Es ist nun-              auf Förderung des Einzelnen auf der Grundlage der
mehr als unsere gemeinsame Verfassung weiterhin Maß-                  Gleichheit gewährleistet werden?
stab und Kompass für politisches Handeln. Die Grundrechte         • Tut es genug, um die Qualität der schulischen Abschlüsse
geben dafür entscheidende Normen vor.                                 zu sichern?
                                                                  • Tut es genug, um auch dem Leistungsgedanken Rech-
Ich meine das nicht nur allgemeinpolitisch, sondern                   nung zu tragen und Spitzenleistungen zu fördern?
durchaus auch bildungspolitisch. Das Grundgesetz setzt            • Tut es genug, um den Lehrerberuf attraktiv zu gestalten?
Maßstäbe, die beachtet werden müssen und die nicht dem

6                                                                                                Gymnasium in Niedersachsen 1/2020
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Redner und Ehrengäste bei
  der Auftaktveranstaltung des
  Vertreterteags 2019

Das sind die zentralen Fragen, mit denen wir uns beschäfti-    Was heißt das konkret? Niedersachsen als viertgrößtes
gen müssen. Schließlich gehört das Recht auf Bildung, das      Bundesland in Deutschland (bezogen auf die Einwohner-
aus unserer Verfassung abzuleiten ist, zu den fundamenta-      zahl) muss den Anspruch haben, in der Bildungspolitik zu
len kulturellen Menschenrechten. Die volle Wahrnehmung         den führenden Bundesländern zu gehören,
von Grundrechten wie Meinungs-, Informations- und Be-
rufsfreiheit ist ohne bestimmte Bildungsvoraussetzungen        •   führend bei der Unterrichtsversorgung,
nicht denkbar. Bildung sichert ökonomischen Wohlstand,         •   führend bei der Qualität der Abschlüsse
die Freiheit des Einzelnen und die Teilhabe am gesellschaft-   •   und führend bei der pädagogisch angemessenen
lichen und politischen Leben. Demokratie ist ohne eine              ­Fortentwicklung des Schulwesens.
breite Bildungsbeteiligung und Bildungsförderung nicht
denkbar.                                                       Nach dem aktuellen INSM-Bildungsmonitor (Initiative
                                                               Neue Soziale Marktwirtschaft) liegt Niedersachsen nur auf
Bildung ist unsere wichtigste Ressource – individuell,         Rang 9. Sachsen, Bayern und Thüringen bilden nach wie vor
wirtschaftlich und sozial.                                     die Spitzengruppe, Bremen, Brandenburg und Berlin sind
Aber Lernen, Bildung und Arbeit stehen heute vor radikalen     die Schlusslichter. Bestätigt wird das durch den aktuellen
Veränderungen, denen wir uns stellen müssen. Das Motto         IQB-Bildungstrend. Bei den Viertklässlern gehören im Lesen
des Philologentages problematisiert diesen Wandel und          und in Mathematik überdurchschnittlich viele Schüler in
legt den Fokus auf die rasant zunehmende Digitalisierung       Niedersachsen zur Risikogruppe. Handlungsbedarf besteht
von Wirtschaft und Gesellschaft, die unter dem Schlag-         bei der Ausbildung in den MINT-Fächern und im Fremd­
wort 4.0 auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet    sprachenbereich. Das sind die wahren Baustellen.
wird. Digitalenthusiasten entwickeln fantastische Pläne:
die Abschaffung von Klassenzimmern, Schulfächern und           Das heißt für uns: Wir gestalten Zukunft.
Schul­büchern, Arbeit in Teams an Projekten mittels WLAN,      Wir verkennen nicht, dass die Gestaltung des Schulwesens
Videochat und Hologrammen. Datenbrillen für Virtual            eine immerwährende Herkulesaufgabe ist, eine Dauerbaustelle,
­Reality sollen Exkursionen in ferne Welten erlauben. Jeder    und die Probleme bewusst sind. Was wir sehen, Herr Minister,
 lernt selbstbestimmt nach eigenen Bedürfnissen, der ­Lehrer   ist aber ein Vorangehen im Schneckentempo, ein Abwarten
 ist nur noch Trainer. Müssen wir also Schule radikal neu      und Hoffen auf Beruhigung an der Bildungsfront. Was wir
 denken?                                                       aber brauchen, sind zupackende Richtungsentscheidungen.

Aber das hieße, großartige Zukunftspläne in Form von Luft-     Sie müssen entschlossen handeln, Herr Minister, um
schlössern zu propagieren, die gravierenden gegenwärtigen      die Qualität der schulischen Abschlüsse zu sichern. Die
Probleme aber einfach beiseite zu schieben. Kein solider       Senkung von Leistungsanforderungen, um die Zahl der
Planer wird ein Haus auf Sand zu bauen. Zuerst müssen die      Abschlüsse zu erhöhen – eine Politik, die Ihre Vorgängerin
Fundamente gelegt werden.                                      recht intensiv betrieben hat und die bis heute nicht korri-

Gymnasium in Niedersachsen 1/2020                                                                                            7
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Schwerpunktthema: Philologentag 2019

giert wurde – das ist der falsche Weg. Der einzig richtige     zu vertreten. Das sollen sie tun, das müssen sie sogar tun,
Weg ist die optimale Förderung aller Schülerinnen und          so bilden wir sie bewusst aus. Darum geht es aber nicht. Es
Schüler durch gut ausgebildete Lehrkräfte und eine gute        geht darum, dass dieses Recht nicht dazu führen darf, dass
Unterrichtsversorgung. Wenn Unterricht nicht stattfindet,      man sich Sonderrechte herausnimmt und einen Schultag
dann fehlt die notwendige Förderung, dann entzieht sich        auf Dauer zum schulfreien Tag erklärt. Die Regeln unserer
das Land seiner Verantwortung und überlässt Bildung und        parlamentarischen repräsentativen Demokratie gelten für
Erziehung immer mehr den Elternhäusern und außerschu-          alle. Deshalb müssen Pflichtverletzungen – hier der Verstoß
lischen Einflüssen. Von Chancengerechtigkeit kann dann         gegen die Schulpflicht – auch selbst verantwortet werden.
keine Rede mehr sein.
                                                               Der Rechtsstaat ist unteilbar, auch gute Ziele
Wir betonen: Unterricht muss stattfinden, wenn keine so-       ­rechtfertigen keine Rechtsbrüche!
zialen Schieflagen entstehen sollen. Mit Unterrichtsausfall    Das Recht auf Unterricht, das aus der Schulpflicht abzulei-
darf deshalb nicht fahrlässig umgegangen werden, nicht         ten ist, ist ein historisch lange erkämpftes demokratisches
seitens der Kultusbürokratie, aber auch nicht seitens der      Recht. Schulen dürfen Unterricht nicht ausfallen lassen und
betroffenen Schülerinnen und Schüler.                          ihre Arbeitspläne nicht einfach angekündigten Demons-
                                                               trationen anpassen. Bei allem Verständnis für politisches
Deshalb an dieser Stelle ein klares Bekenntnis zur Schul-      Engagement – ich habe als Schüler selbst gegen die Not-
pflicht, die nicht aufgeweicht werden darf. Die Schulpflicht   standsgesetzgebung demonstriert – gilt, dass die Schule
zählt zu den bedeutsamsten Errungenschaften eines demo-        nicht lahmgelegt werden darf. Schule ist ein zu wichtiger
kratischen Gemeinwesens. Schulpflicht ist keine willkürliche   Ort der Bildung bzw. Meinungsbildung, der sachlichen
Bevormundung von Eltern und Kindern, sie ist Ausdruck          Information, des Pro und Contra, nicht ein Ort der Politisie-
einer notwendigen Fürsorge des Staates für den Einzelnen       rung und des Konfliktaustrages.
und für ein funktionierendes Gemeinwesen. Der Staat muss
ein Schulsystem gewährleisten, „das allen jungen Bürgern       Sachliche Information und Meinungsbildung, das heißt für
gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaft­         mich, dass der Klimaschutz wie andere wichtige Themen
lichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröff-       auch Einzug in die Lehrpläne der verschiedenen Fächer
net“ – so das Bundesverfassungsgericht. Es geht also dar-      hält. Ich wünsche mir darüber hinaus, dass die engagierten
um, jungen Menschen im Bildungssystem unabhängig vom           Schülerinnen und Schüler nicht nur zum Handeln auffor-
Elternhaus Wissen, Fertigkeiten und Werte zu vermitteln,       dern, sondern auch in die Parteien, Jugendorganisationen
damit sie im wirtschaftlichen, technischen, ökologischen       und gesellschaftlichen Initiativen eintreten und dort dauer-
und sozialen Wettbewerb bestehen können.                       haft Mitverantwortung übernehmen.

In diesem Zusammenhang auch ein Wort zu den „Fridays           Die wichtigste Aufgabe der Schule ist es, die Qualität der
for future“-Aktionen: Als Politiklehrer freut es mich, wenn    schulischen Bildung und die Qualität der Abschlüsse zu
Schülerinnen und Schüler sich engagieren und damit Mitver-     erhalten. Im Gymnasium wird die Qualität des Abschlusses
antwortung für ein demokratisches Gemeinwesen und den          an der Qualität des Abiturs gemessen. Und da beklagt der
Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen übernehmen.        Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt,
Schülerinnen und Schüler haben das Recht, ihre Interessen      massive Wissenslücken bei Abiturienten und fügt hinzu:

                                                                           Die musikalische Begleitung des Philologentags über-
                                                                         nahmen der Luther-Chor und die Band „Bloom“ des Wer-
                                                                                  ner-von-Siemens-Gymnasiums, Bad Harzburg

8                                                                                               Gymnasium in Niedersachsen 1/2020
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
„Wir leben in der Fiktion, dass mit dem Abitur die Voraus-       Ob allerdings ein Bundeszentralabitur die Lösung ist, muss
setzungen für das Studium erfüllt sind.“ Häufig stimme           bezweifelt werden. Ein Bundeszentralabitur ist weder inhalt­
das aber nicht, und das gelte besonders für die Fächer mit       lich noch organisatorisch auch nur ansatzweise in naher
Mathematik als Grundlage.                                        Zukunft realisierbar. Nur der ständige Austausch unterein-
                                                                 ander, der fremde Blick auf die eigenen Anforderungen und
Wir haben in diesem Jahr wieder erlebt, wie mit Leistungs­       mehr Mut zu allgemein verpflichtenden fachlichen Inhal-
anforderungen im Abitur umgegangen wird. Bundesweit              ten – statt einer vagen Kompetenzorientierung – können
hatten zehntausende Abiturienten gegen die Anforderun-           zu mehr Verständigung über das Abiturniveau führen. Wir
gen im Mathematik-Abitur protestiert und eine Überprü-           bleiben dabei, dass Niedersachsen seinen Abiturientinnen
fung des Bewertungsschlüssels zu ihren Gunsten gefordert.        und Abiturienten keinen Gefallen tut, wenn Leistungsan-
Hamburg, Bremen und das Saarland haben die Noten wegen           forderungen reduziert und das Niveau des Abiturs herab­
des zu hohen Schwierigkeitsgrades der Aufgaben nachträg-         gesetzt wird.
lich nach oben gesetzt, Niedersachsen hat das nicht getan.
Niedersachsen belegt zudem mit einem Abiturnotendurch-           Die Studierfähigkeit muss das Niveau bestimmen,
schnitt von 2,55 im Ländervergleich allerdings auch den          nicht die Zahl der Absolventen oder der Durchschnitt.
letzten Platz.                                                   Zu den bemerkenswerten Jahrestagen dieses Jahres gehört
                                                                 der zehnte Jahrestag der UN-Behindertenrechtskonvention.
So kann das nicht weitergehen! Niedersächsische Abituri-         Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert eine umfas-
entinnen und Abiturienten sind im Vergleich unterbewertet        sende Inklusion, also für alle Menschen eine uneingeschränk-
und im Wettbewerb um Ausbildungs- und Studienplätze              te und gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen
benachteiligt. Wir wollen, dass sie bessere Chancen haben.       Leben. Zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-Behinderten-
Die Niedersachsen sind nicht dümmer!                             rechtskonvention hat nun der niedersächsische Landtag
                                                                 darüber diskutiert, ob die Inklusion in der Schule scheitert.
Wenn etwa Berlin einen besseren Abiturdurchschnitt erzielt       Es mehrten sich die Stimmen, die Alarm schlagen: Hannover-
als Niedersachsen, wobei dort auch noch wesentlich mehr          aner Gesamtschulen sehen sich durch die Inklusion überfor-
Schüler eines Jahrganges das Abitur bekommen, dieses             dert, sie wollen nur noch die Hälfte der Kinder mit sonderpä-
Land aber beim aktuellen Ländervergleich zur Bildungs-           dagogischem Förderbedarf aufnehmen.
qualität Träger der roten Laterne ist, dann ist da etwas
faul! Für solche Ungerechtigkeiten müssen unsere Schüler         Der Landkreistag erklärt lapidar: „Die inklusive Schule ge-
mit schlechteren Chancen auf Studienplätze und damit             lingt nicht.“ Die Landkreise fordern ein neues Konzept und
schlechteren Lebenschancen bezahlen.                             eine bessere Finanzierung. Seit 2013 sei z.B. die Zahl der
                                                                 Schulbegleiter um 130 Prozent gestiegen. Das allein belege,
Ich frage hier und heute: Wann kümmern sich die für Schul-       dass die Voraussetzungen für ein Gelingen der Inklusion in
politik Verantwortlichen endlich um diese unhaltbaren            der Schule derzeit nicht gegeben seien. Elternräte sehen die
Zustände? Wann sorgen Sie für Abhilfe? Der Philologenver-        Lehrer am Limit, seit Jahren bleiben sie zusehends mit der
band erwartet Antworten auf diese Fragen.                        Inklusion alleingelassen. Und eine betroffene Schulleiterin
                                                                 und Lehrerin an einer Bremer Grundschule drückt es noch
Die Konsequenz darf allerdings nicht sein, das Abitur leichter   drastischer aus: „Inklusion ist ein typisches Beispiel dafür,
zu machen, die Konsequenz kann nur sein, dass das Abitur         wie Bildungspolitik auf dem Rücken der Lehrer und zulas-
in allen Bundesländern vergleichbarer wird und damit ein         ten des Bildungsniveaus der Schüler ausgetragen wird.“
verbindliches Niveau und verbindliche Korrekturmaßstäbe          (Ute Schimmler, seit Jahrzehnten Lehrerin an einer Bremer
definiert werden, nicht am Durchschnitt der schwächsten          Grundschule, in Ihrem Buch „Inklusion – So nicht!“)
Länder orientiert, sondern an den stärksten.
                                                                 Sie illustriert sehr anschaulich, dass normaler Unterricht
Wer mehr Vergleichbarkeit will, muss auch eine Harmoni-          nicht mehr möglich ist, wenn ein Kind auf andere Kinder
sierung des Wegs zum Abitur anstreben. Denn wir haben            mit der Schere losgeht, wenn ein autistischer Junge den
in den Ländern eben keine einheitlichen Lehrpläne, keine         Unterricht durch ständiges lautes Singen behindert, wenn
einheitlichen Stundenpläne, keine einheitlichen Ferien-          Flüchtlingskinder den ganzen Tag stumm unter dem Tisch
zeiten und ganz unterschiedliche Schulsysteme. 4 oder 5          sitzen. Diese unangepassten Kinder seien eine ständige
Prüfungsfächer, 4- oder 5-stündige Leistungskurse, 32 oder       Herausforderung und auch eine Belastung für Lehrer und
40 einzubringende Kurse, eine unterschiedliche Zahl von          Schüler. Denn auch die normalen Schüler benötigten immer
Unterkursen, eine unterschiedliche Anzahl von Aufgaben,          Aufmerksamkeit. Und vor lauter sozialer Fürsorge fehle
eine unterschiedliche Behandlung von Hilfsmitteln, das           zunehmend die Zeit, den Unterrichtsstoff zu vermitteln.
alles ist Realität. Mindestens 265 Jahreswochenstunden
ab der Jahrgangsstufe 5 bis zum Erwerb der Allgemeinen           Wir müssen bei aller Rückendeckung für die Inklusion endlich
Hochschulreife einzufordern, auf die bis zu fünf Stunden         auch offen die Grenzen der Belastung und die Mängel bei
Wahlunterricht angerechnet werden können, das reicht bei         der Umsetzung ansprechen. Ein Leser der Braunschweiger
weitem nicht aus und verleitet zudem zu Tricksereien. Wir        Zeitung hat das getan: „Die Unterstützung, die durch Förder-
kennen das aus dem G8.                                           schullehrkräfte an den unterschiedlichen Schulen gegeben
                                                                 wird, ist vollkommen unzureichend. Das liegt nicht an den

Gymnasium in Niedersachsen 1/2020                                                                                            9
Wir gestalten Zukunft! - Philologentag 2020: Arbeit und Lernen 4.0 - Philologenverband Niedersachsen
Schwerpunktthema: Philologentag 2019

Förderschullehrkräften, aber was nutzen 5 Stunden Unter-           Die Umsetzung der Inklusion ist durch fehlende finanzielle,
stützung bei 25 Stunden Unterricht in der Woche? Und ist es        personelle, sächliche und räumliche Ressourcen gefährdet,
nicht sinnvoller, für eine bestimmte Lernbehinderung jeweils       sie ist durch sachfremde ideologische Zielsetzungen ge-
eine Schule zu bestimmen, damit nur dort und damit öko-            fährdet, nicht durch den freien Elternwillen.
nomisch vertretbar alle Voraussetzungen für eine optimale
Förderung geschaffen werden?“ (W. Buchwald, Gifhorn)               Jahr 1 des Digitalpakts
                                                                   Wir befinden uns im Jahr 1 des Digitalpaktes. Die Digitalisie­
Sehr geehrter Herr Minister, die Antwort darf nicht einfach        rung ist eine der größten Herausforderungen, denen sich
heißen: Die Schulen bekommen das schon hin, differenzier-          die Schule stellen muss. Wirtschaft und Gesellschaft verän-
te Beschulung sei der Zauberweg.                                   dern sich durch die digitale Revolution grundlegend. Neben
                                                                   neuen technischen Möglichkeiten kommt eine regelrechte
Inklusion – So nicht!                                              Datenflut auf uns zu, die den Einzelnen zu überrollen droht
Jeder Praktiker weiß, dass das eine Lehrkraft allein unter         und ihn zum Gefangenen undurchschaubarer Algorithmen
den gegebenen Voraussetzungen nicht hinbekommt.                    macht. Jeden Tag werden die Grenzen des Machbaren wei-
Wir begrüßen es, dass Sie selbst Grenzen der inklusiven            ter in Richtung künstliche Intelligenz verschoben. Die Tech-
Beschulung beim Förderbedarf „Emotionale und soziale               nologie dringt, ohne dass wir es groß bemerken, in immer
Entwicklung“ ausdrücklich anerkennen und dafür ein-                mehr Lebensbereiche vor. Roboter übernehmen menschliche
treten, dass bei Verstößen gegen schulische Regeln oder            Aufgaben, sind lernfähig, rund um die Uhr einsatzbereit
Grenzüberschreitungen im Umgang mit Lehrkräften oder               und billiger als der Mensch. Maschinen fällen sogar selbst-
Mitschülerinnen und Mitschüler Kinder zeitweise aus dem            ständig Entscheidungen, denken wir z.B. an autonome Waf-
„normalen“ Unterricht herausgenommen werden.                       fensysteme oder die Kontrolle von Flugbewegungen. Schon
                                                                   ist es möglich, dass Fahrzeuge sich autonom ohne Fahrer
In Niedersachsen sind inzwischen alle Schulen inklusive            durch das Verkehrsnetz bewegen, heute schon können
Schulen. Eltern können ihre Kinder mit sonderpädagogi-             „schlaue“ Algorithmen in Diensten einer Versicherung die
schem Unterstützungsbedarf nun an einer allgemeinen                Schadensabwicklung übernehmen, und es ist auch möglich,
Regelschule anmelden, sie müssen nicht zwangsläufig eine           dass uns neuronale Netze bei der Erforschung von Medika-
Förderschule wählen. Entscheidend ist für uns aber, dass sie       menten und der Behandlung von Krankheiten helfen und
wählen können, um den besten Weg für die Förderung ihrer           sogar die Behandlungskosten angesichts der errechneten
Kinder zu finden. Das kann auch eine Förderschule sein. Be-        Lebenserwartung prognostizieren. Was an Überwachung
sondere Maßnahmen, die die Gleichberechtigung von Men-             des Menschen möglich wird, ist in Ansätzen schon in der
schen mit Behinderungen ermöglichen oder beschleunigen,            Volksrepublik China erkennbar. George Orwells Fiktion vom
gelten nach Behindertenrechtskonvention – übrigens auch            „Big Brother“, der uns ständig begleitet und beobachtet,
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts –            ist längst in Form von Google, Apple und Co, von Facebook,
eben nicht als Diskriminierung, so wie es die Einheitsschul­       Alexa und Whatsapp zur Realität geworden.
ideologen unterstellen. Im Mittelpunkt muss das Kindes-
wohl stehen, verbunden mit dem Anspruch, bestmöglich               Wie wird nun die Digitalisierung der Schulen den Unterricht
auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Freiheit, mit          und das Lernen verändern? Brauchen wir im Zeitalter von
Wertschätzung und Teilhabe am gesellschaftlichen Mitein-           Skype und Google noch Klassenzimmer? Brauchen wir noch
ander vorzubereiten.                                               Schulbücher? Braucht es den Lehrer überhaupt noch? L­ assen
                                                                   Sie mich kurz unsere Position umreißen: Wir sind keine
Wir stehen zu diesen Zielsetzungen der Inklusion. Schule           ­Maschinenstürmer, ganz im Gegenteil. Schule darf und will
und Gesellschaft dürfen Menschen mit Behinderungen                  sich der Herausforderung der Digitalisierung nicht entziehen.
nicht ausgrenzen. Inklusion ja – Bevormundung nein! So              Schule muss „auf der Höhe der Zeit“ sein, gerade auch was
will es die auch Mehrheit der Bevölkerung laut Umfragen.            die technischen Möglichkeiten betrifft. Die Nutzung neuer
                                                                    Kommunikationsmittel gehört dazu, insbesondere eine
Die Gymnasien stellen sich der Verantwortung für die Inklu-         flächen­deckende und leistungsstarke Breitbandanbindung
sion und nehmen gern alle Schülerinnen und Schüler auf,             ans Internet und Präsentationsmedien wie Smartboards.
die schulformspezifisch mit Aussicht auf Erfolg gefördert           Selbstverständlich müssen wir unsere Schülerinnen und
werden können. Wenn die Anmeldezahlen von Kindern                   Schüler auf den Umgang mit den neuen technischen Mög-
mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an den                 lichkeiten vorbereiten und sie zu mündigen Nutzern moder-
Gymnasien geringer sind als an anderen Schulformen, dann            ner Technologien bilden. Das bedeutet aber auch, Entwick-
spricht das nur für die Weitsicht der Eltern. Das Beste für Ihre    lungen nicht unkritisch hinzunehmen, sondern Chancen
Kinder, von denen sie wissen, dass sie die Ziele des Gymnasi­       und Gefahren zu erkennen. Sowohl übertriebene Euphorie
ums nicht schaffen können, dass sie täglich im Unterricht           als auch Verweigerung sind abzulehnen. Wir dürfen die Ent-
überfordert sind, ist eben nicht unbedingt das Gymnasium.           wicklung in den Schulen nicht einfach sich selbst überlassen.
                                                                    Regeln gehören dazu und Absprachen, wann, wo und wie der
Eine festgelegte Aufnahmequote für Gymnasien unge-                  Einsatz technischer Hilfsmittel sinnvoll ist.
achtet der individuellen Voraussetzungen, wie es Gesamt-
schulen fordern, ist unpädagogisch, unprofessionell und            Wir begrüßen es ausdrücklich, dass alle Schulen so ausge-
unverantwortlich.                                                  stattet werden sollen, dass sie die neuen technischen Mög-

10                                                                                                Gymnasium in Niedersachsen 1/2020
lichkeiten überhaupt nutzen können. Die Ausstattung muss         Für mich ist gerade das die zentrale Aufgabe des Gymnasi­
besser werden. Dabei geht es aber nicht nur um Technik, es       ums: viel wissen, viel können, viel verstehen. Ich habe die
geht vor allem um Inhalte, es geht um die Aus- und Weiter­       vielfältigen Normierungen des Bildungswesens durch das
bildung von Lehrkräften, es geht um die Überarbeitung            Grundgesetz angesprochen. Dazu gehört auch und nicht
von Lehrplänen, es geht um den Datenschutz, es geht um           zuletzt das Beamtenverhältnis für Lehrkräfte und damit ein-
Fragen der sozialen Spaltung, es geht um die Mitbestim-          hergehend die staatliche Fürsorge für die Beamtinnen und
mung am Arbeitsplatz Schule, es geht um ethische Fragen          Beamten. Wir Lehrer tragen eine große Verantwortung dafür,
bzw., anders gesagt, um „rote Linien“ beim Einsatz der           dass jeder Schüler sein Recht auf gleiche Bildungschancen
künstlichen Intelligenz. All das sind Fragen, die man nicht      und beste Förderung wahrnehmen kann. Unser Arbeitsein-
allein einem Pflichtfach Informatik überlassen darf, das sind    satz liegt mit 45 bis 55 Stunden und mehr pro Woche weit
Fragen, die in allen Fächern thematisiert werden müssen,         über dem Durchschnitt und überschreitet damit – ohne ins
wenn auch die Entwicklung eindeutig in Richtung mehr             Jammern zu verfallen – oft die gesundheitlich bedenkliche
Informatik geht. Sicherlich ist Informatik dafür ein wichtiges   Höchstbelastungsgrenze. Wir sorgen dafür, dass das Schul-
Ankerfach.                                                       angebot immer aufrecht erhalten bleibt und bekennen uns
                                                                 ausdrücklich zum Streikverbot. Und wir akzeptieren als Be-
Nachgewiesenermaßen werden die Leistungen der Schüler­           amte auch personalwirtschaftliche Spielräume, wenn es zur
innen und Schüler durch den Einsatz digitaler Medien nicht       Sicherung der Unterrichtsversorgung notwendig ist.
zwangsläufig besser. Im Mittelpunkt von Schule müssen
der fachlich hoch qualifizierte Lehrer und das klärende          Aber nicht um jeden Preis! Was wir z.B. als Abordnungs-
­Unterrichtgespräch bleiben, die soziale Interaktion, der        praxis erleben, geht entschieden zu weit. Im Gegenzug zu
 pädagogische Zuspruch. Das ist die beste Förderung!             unserer vollen Hingabe zum Beruf erwarten wir die strikte
                                                                 Einhaltung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, wie sie das
Der Lehrer ist nicht durch Video-Konferenzen ersetzbar!          Grundgesetz (Art. 33) festschreibt, insbesondere was die
Lehrer sind mehr als Lerncoaches und Lernbegleiter!              Ausgestaltung der Arbeitszeit und die Besoldung betrifft.
                                                                 Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen einem un-
Wir müssen uns der Komplexität der neuen Herausforde-            beschränkten Gestaltungsspielraum des Dienstherrn, der
rungen stellen, ohne den Anspruch zu erheben, absolute           willkürlich und unbegründet ausgenutzt wurde, deutliche
Wahrheiten zu kennen. Neugier, Offenheit und Lernbereit-         Grenzen gesetzt. Deshalb wurde die willkürliche und einsei-
schaft werden deshalb Tugenden sein, die wir am Gymnasi­         tige Erhöhung der Pflichtstundenzahl für Gymnasiallehrer
um weiterhin pflegen wollen. Wir müssen die mentale              vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg für rechtwidrig
Hoheit über die digitale Entwicklung behalten, was nichts        erklärt, deshalb klagen wir für die Gewährung von Anrech-
anderes heißt, als Verstehen zu fördern, Chancen und Risiken     nungsstunden für die Zuweisung von Funktionsaufgaben
digitaler Technologien zu erkennen und Mensch und Natur          und deshalb bestehen wir auf einer amtsangemessenen
zu schützen.                                                     Alimentation, also einer gerechten Besoldung.

Gymnasium in Niedersachsen 1/2020                                                                                          11
Schwerpunktthema: Philologentag 2019

Im Bundesvergleich muss Niedersachsen aufholen, sonst            F­ rage der Prioritäten. Das darf man nicht endlosen Debatten
verliert es den Kampf um die besten Köpfe im Bildungs­            an runden Tischen überlassen, hier ist das Kultusministerium
bereich. Die zunehmende Kluft zwischen den Arbeitsbedin-          in der Pflicht.
gungen in den Bundesländern ist fatal.
                                                                 Ein Hoffnungsschimmer, mehr aber nicht, ist das im Januar
Wir fordern:                                                     vorgestellte Maßnahmenpaket zur Entlastung der Lehrkräf-
•     eine Senkung der Unterrichtsverpflichtung,                 te, das aber noch viel zügiger und konsequenter umgesetzt
•     eine zeit- und inhaltsgleiche Übertragung der Tarifer-    werden muss. Manche der Entlastungsmaßnahmen sind
       gebnisse auf die Beamten,                                 marginal, wie die erleichterte Archivierung von Klassen­
•      die Ausweitung der Beförderungsmöglichkeiten,             arbeiten, manche entsprechen durchaus unseren langjähri-
•      eine amtsangemessene Besoldung,                           gen Forderungen:
•      eine deutliche Erhöhung des sog. Weihnachtsgeldes,
•      eine Entlastung von unterrichtsfernen Aufgaben und        •    ergleichsarbeiten werden in die Entscheidungsbefug-
                                                                     V
•      die strikte Einhaltung des Arbeits- und Gesundheits-         nis der einzelnen Lehrkraft gestellt,
        schutzes.                                                •   es besteht nunmehr ein Anspruch auf Korrekturtage im
                                                                      schriftlichen Abitur,
Nicht nur der Unterricht ist Arbeitszeit. Der Europäische        •    die bisher jährlich verpflichtende Evaluation der schu-
­Gerichtshof hat in diesem Jahr ausdrücklich festgestellt,             lischen Arbeit soll ab 2020 in einen Zweijahresturnus
 dass eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und ausrei-                geändert werden,
 chende tägliche und wöchentliche Ruhezeiten ein Grund-          •     und die Fokusevaluation, also die Schulinspektion, soll
 recht jedes Arbeitnehmers ist. Das muss auch für Lehrkräfte            nur noch freiwillig oder anlassbezogen stattfinden.
 gelten.
                                                                 Wir sind aber noch lange nicht am Ziel, alle Aufgaben zu
Bisherige Arbeitszeituntersuchungen bestätigen, dass die         streichen, die nicht der Verbesserung der Unterrichtsquali-
gesundheitlichen Belastungen der Lehrkräfte besorgniser-         tät dienen oder deren Aufwand in keinem Verhältnis zum
regend zunehmen. Lehrer sind aus Zeit- und Termindruck zu        Nutzen steht. Überbordende bürokratische Aufgaben ma-
Spät- und Wochenendarbeit gezwungen. Es fehlt die Rege-          chen es dem einzelnen Lehrer immer schwerer, genügend
neration in den Abendstunden und an den Wochenenden,             Zeit für die Vorbereitung guten Unterrichts und für die
ganz zu schweigen davon, dass die Vereinbarkeit von Familie      Betreuung und Förderung seiner Schüler zu erübrigen. Ein
und Beruf bzw. die work-life-balance nicht mehr in dem           Ende der ausufernden Konzeptionitis und der permanenten
notwendigen Maß gegeben ist.                                     Sitzungen in Konferenzen und in Planungs- und Steuerungs­
                                                                 gruppen – seit Einführung der Eigenverantwortlichen Schule
Die Wirtschaft hat längst erkannt, wie wichtig gute Arbeits-     – ist nicht absehbar.
bedingungen für das Arbeitsklima und die Leistung sind.
Ruhezonen, Verpflegungsstationen und gesundheitliche Be-         Gerechte Arbeitszeitregelungen – Fehlanzeige!
treuung einschließlich sportlicher Angebote gehören längst       Im nächsten Jahr finden wieder Personalratswahlen statt.
zum Alltag. Und in unseren Schulen? Eigene Schreibtische,        Über 70 Prozent der abgegebenen Stimmen hat der Philo-
Aufbewahrungsmöglichkeiten für das eigene Unterrichts-           logenverband Niedersachsen bei den letzten Personalrats-
material, Gruppenräume für das Lehrpersonal und Pausen-          wahlen 2016 an den Gymnasien des Landes erzielt. Hinter
räume, die den Namen verdienen, sucht man vergebens. Ein         unseren bildungs- und berufspolitischen Vorstellungen und
großes Lehrerzimmer für alle, oft mehr als 100 Lehrkräfte,       Forderungen steht die überwältigende Mehrheit der Gym-
ist immer noch Realität. Fehlen Räume, werden Container          nasiallehrer, hinter ihnen stehen aber auch weitgehend
angemietet, ein Provisorium, das schnell zur Dauereinrich-       die Eltern unserer 220.000 Schüler, die ihre Kinder ganz
tung werden kann.                                                bewusst auf ein Gymnasium geschickt haben und auch
                                                                 weiterhin auf ein Gymnasium schicken wollen, das sie zu
Liebe Schulträger, wir appellieren an Sie, lassen Sie Ihre       einem Abschluss bringt, der sie studierfähig macht.
Schulen nicht verkommen, beseitigen Sie den Investitions-
stau und statten Sie alle Schulen gleichermaßen gut aus.         Als Interessenvertretung der Lehrkräfte an den Gymnasien
Das darf keine Frage von bildungspolitischen Bevorzugun-         werden wir auch weiterhin unser Hauptaugenmerk auf die
gen sein. Die einzige Priorität, die wir akzeptieren ist, dass   Verbesserung der Arbeitsbedingungen richten und uns mit
Bildung Priorität haben muss.                                    Nachdruck dafür einsetzen, dass im Mittelpunkt von Schule
                                                                 wieder Unterricht durch gut ausgebildete und motivierte
Die niedersächsische Arbeitszeitkommission hat unmiss-           Lehrkräfte steht. Mit gleicher Entschiedenheit werden wir
verständlich eine Überlastung der Lehrkräfte und die Verlet-     dafür eintreten, dass Bildungsausgaben Priorität haben und
zung der rechtlichen Arbeitszeitvorgaben festgestellt und        dass nicht auf Kosten der Schülerinnen und Schüler und der
dringlichen Handlungsbedarf in Bezug auf die Reduzierung         Lehrkräfte gespart wird.
der Arbeitszeit bei Gymnasien und Grundschulen allgemein
und bei einzelnen Beschäftigtengruppen im Besonderen             Getreu unseres Mottos für die Personalratsarbeit können
angemahnt. Strittig sind nicht diese Ergebnisse, strittig        alle niedersächsischen Lehrkräfte weiterhin darauf bauen:
sind allein Umfang und Zeitpunkt der Entlastungen und die        Wir sichern Ihre Rechte.

12                                                                                              Gymnasium in Niedersachsen 1/2020
Wir senden ein deutliches Signal an die politisch Verant-        Wochenzeitung „DIE ZEIT“ in bemerkenswerter Weise das
wortlichen, die hier aufgezeigten Mängel in der Schul- und       Erfolgsgeheimnis des Gymnasiums begründet:
Bildungspolitik zu beheben. Es sollte die Politik beunruhigen,
wenn das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Problemlösung         „Gymnasien haben einen eigenen pädagogischen Stil
sinkt. Das spiegelt jedenfalls eine repräsentative ­Umfrage      gefunden. (…) Das Gymnasium ist … gerade deshalb so
des Deutschen Beamtenbundes wider, die im August                 erfolgreich, weil es seine eigenen Standards nicht auf-
veröffentlicht wurde. Danach halten über 60 Prozent der          gegeben hat. Für die [pädagogischen] Prinzipien gibt es
Befragten den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben für        keinen ­Änderungsbedarf: Der fachliche Zugang zur Welt,
überfordert. An vorderster Stelle wird hierbei die Schul- und    die reflexive Distanz, Herausforderung als Prinzip und eben
Bildungspolitik genannt.                                         nicht primär das liebevolle Verweilen in den ­schülereigenen
                                                                 Erfahrungen. Dazu gehören Lehrkräfte, die ihr Fach be-
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben in Ihrer Rede beim        herrschen und deshalb besser vermitteln können – damit
Verband der Elternräte 2018 gesagt, dass Sie weiterhin da-       schaffen die Gymnasien ein geistig anregendes Milieu.
für sorgen werden, dass das niedersächsische Gymnasium           Ein konservativer Grundzug und eine gewisse Störrigkeit
im Interesse der Schülerinnen und Schüler anspruchsvoll          gegenüber Veränderungen haben sicher zum Erfolg dieser
und erfolgreich bleibt, und Sie haben sich dabei der Ein-        Schulform beigetragen.“
schätzung des Gymnasiums durch den Bildungshistoriker
Heinz-Elmar Tenorth angeschlossen. Tenorth hatte in der          So soll es bleiben, Herr Minister, packen Sie es an!

Grußwort des Niedersächsischen Kultusministers
Grant Hendrik Tonne

S
      ehr geehrte Damen und Herren, für Ihre Einladung            Gleichwohl gilt entschlossen, dass wir die Maßnahmen
      zum Vertretertag 2019 bedanke ich mich herzlich und         identifizieren, die keinen tatsächlichen inhaltlichen Mehr-
      freue mich über die Möglichkeit, mit Ihnen in den          wert bieten. Vor dem Hintergrund der vorgeschobenen
Austausch zu kommen. Abseits aller kontroversen Themen           Vergleichbarkeit war die niedersächsische Entscheidung
möchte ich mich aber zunächst herzlich bei Ihnen allen für       zum Aussetzen von VERA richtig und das gilt auch für
Ihre Arbeit und Ihr Engagement in Ihren Schulen und auch         die Veränderungen im Rahmen der Fokusevalution. Auch
in Ihrem Verband bedanken. Beides ist unerlässlich wichtig       das Potential von Vernetzung der Schulen untereinan-
und ohne Ihren Einsatz und Ihre Kompetenz könnte Schule          der und das Bereitstellen von Musterkonzepten sowie
nicht gelingen. Mein Dank gilt auch Ihrer Beteiligung an         Good-Practice-Beispielen müssen wir in Zukunft viel stärker
der bildungspolitischen Debatte. Lieber Herr Audritz, Sie        nutzen. Diese Maßnahmen sind jeweils keine alleinigen
wissen, dass unser regelmäßiger Dialog, den ich als offen        Lösungen, aber sie entlasten an verschiedenen Stellen.
und kritisch, aber immer als konstruktiv wahrnehme, mir          ­Gleiches gilt für den 11-Punkte-Plan, der nichts Statisches
wichtig ist. Das ist nicht selbstverständlich und zeigt, dass
im Dialog eine gemeinsame Suche nach Verbesserungen
möglich ist.                                                       Der Kultusminister auf
                                                                   dem Philologentag

Ich möchte gern zunächst auf die von Ihnen bereits selbst
skizzierten Punkte im Rahmen der Fürsorgepflicht einge-
hen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Herausforde-
rung, den schwierigen Spagat zwischen Unterrichtsversor-
gung auf der einen und Entlastung auf der anderen Seite.

Wie Sie wissen, habe ich Anfang des Jahres in einem
11-Punkte-Plan ein Paket von Maßnahmen vorgeschlagen,
um Sie als Lehrkräfte zu entlasten. Dieser Plan ist ein erster
Schritt. Er ist aber auch als Schritt gedacht, um zu zeigen,
dass das, was als Entlastung identifiziert werden kann, auch
umgesetzt wird. Ich möchte die einzelnen Maßnahmen
nicht noch einmal aufzählen, aber Sie können sich be-
stimmt vorstellen, dass das Aussetzen von VERA 3 und VERA
8 kaum auf Zustimmung im Rahmen der Kultusminister-
konferenz gestoßen ist.

Gymnasium in Niedersachsen 1/2020                                                                                          13
Sie können auch lesen