75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND

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75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
Entrechtet -
 Gedenkschrift
 					Entwürdigt -
 					Entwurzelt

                                    75 Jahre
                                    Deportation
                                    der Deutschen
                                    in der Sowjetunion

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            Lm D         .•
                   R e. V

Herausgegeben von der
Landsmannschaft
der Deutschen
aus Russland e. V.
75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation
Nora Pfeffer
Die Ballade vom Besen

D
        ie Dichterin, Publizistin und Übersetzerin Nora Pfeffer wurde 1919 in    Und du ahntest,
        Tbilissi, Georgien, geboren, war ab 1992 in Deutschland und starb 2012   dass der schleichende Wahnsinn
        in Köln. Ihr autobiografisches Gedicht „Die Ballade vom Besen“ schrieb   schon wieder mal
sie im Untersuchungsgefängnis von Tbilissi, in dem sie 1943-44 war, nachdem      Einlass begehrte
sie denunziert und vom NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenhei-          in die düstere Zelle.
ten) verhaftet worden war.
   Ohne näher auf die konkreten Ursachen der Inhaftierung einzugehen, bringt     Und plötzlich wusstest du,
das Gedicht in eindrucksvoller und berührender Weise die Trauer über das zum     was deine Bestimmung war:
Ausdruck, was den Deutschen – und nicht nur ihnen! – in der Sowjetunion Sta-     Die Ahnungslose zu retten
lins angetan wurde.                                                              aus ihrer höchsten Not.
                                                                                 Und du wusstest auch – wie!
Woher konntet ihr wissen,
Hirsehalme,                                                                      „Brich ein Stäbchen von mir ab“,
was eure Bestimmung war,                                                         rauntest du ihr zu,
als am silbernen Bach                                                            „tröpfle Wasser
der grüne Wind                                                                            aus dem irdenen Krug
          euch umschmeichelte?                                                   auf den Tisch
                                                                                 und kratze den Dreck von ihm ab!“
Woher konntet ihr wissen,
Hirsehalme,                                                                      Und sie brach ein Stäbchen ab
was eure Bestimmung war,                                                         und tröpfelte Wasser auf den Dreck
als man euch                                                                     und kratzte
zum goldgelben Besen                                                             und schabte stundenlang...
         zusammenband?                                                           Und sie hatte eine Beschäftigung.

Und woher konntest du wissen,                                                    Und auf einmal war da
          Besen,                                                                 ein grellgelber Fleck.
was deine Bestimmung war                                                         Und sie brach
in der grauen Trostlosigkeit                                                               weitere Stäbchen ab
der finsteren Zelle?...                                                          und kratzte und schabte
                                                                                 den Dreck vom Tisch...
Da wurde sie hereingestoßen –
nach Mitternacht –                                                               Und es vergingen Tage,
die sonnenblonde Frau,                                                           bis sich der gelbe Fleck
schreiende Verzweiflung                                                          über die ganze Tischplatte ergoss.
in den Augenhöhlen...                                                            Und du sahst, wie ihre Augen
                                                                                 für Augenblicke
Nachts                                                                                     meeresblau schimmerten.
lauschte sie in die Dunkelheit,         Nora Pfeffer
und ihr Herz begann zu flattern                                                  Und sie begann
in namenloser Angst                                                              den lehmigen Boden zu schaben.
bei den sich nahenden Stiefeln.                                                  Und darob vergingen Monate,
                                        da sie nicht schlafen durfte             und dann war es ein kirschrot
Und vor der Tür                         nach der nächtlichen                     lackierter Zementboden.
         verhielten die Schritte.       Grausamkeit...
Ein Augenblick – Stille:                                                         Und da verspürte sie
Zum Sprung holte aus                    Und du sahest, Besen,                    den Geschmack von Kirschen
         das reißende Tier:             wie das Sonnengold ihres Haares          auf den Lippen.
Kurz – das Rasseln                      seinen Glanz verlor                      Kaum wahrnehmbar –
des Schlüssels im Schloss!...           und das Meeresblau                       das Lächeln um ihren Mund...
                                                 ihrer Augen
Und nach Stunden                        vergraute...                             Sie freute sich
wurde sie hereingeschleift...                                                    am Rot und am Gelb...
Und nur der vergitterte Mond            Und einmal hörtest du
strich für Augenblicke                  ihre zerrissenen Lippen flüstern:        Du, guter Besen,
mitleidig über die Erschöpfte...        „Ich bring dir das Tannenbäumchen,       hattest jedoch
                                        mein Kind,                               keine Stäbchen mehr.
Und schneckenhaft                       ich hab‘s dir versprochen,               Aber –
krochen die Tage dahin,                           mein Kind!“                    du freutest dich sehr...

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75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation
             Gedenkschrift:                                   Inhalt
                Entrechtet -                             2 Nora Pfeffer: Die Ballade vom Besen
                                                         4    Waldemar Eisenbraun: Vorwort des Bundesvorsitzenden der
               Entwürdigt -                                   Landsmannschaft der Deutschen aus Russland
                                                              Geschichte
                Entwurzelt                               5    Viktor Krieger: Vorgeschichte und Umstände der Deportation im Jahre
                                                              1941
                                                         10   Chronik: Deportation der Deutschen in der Sowjetunion
                                                              Requiem
75 Jahre Deportation                                     12   Michael Disterheft: „In jenen Jahren“ – Requiem für alle Deportierten,
                                                              Verbannten und Ermordeten
der Deutschen in der                                     20   Gottlieb Eirich: Mit Blut getränktes Brot
                                                              Zeitzeugen
        Sowjetunion                                      21
                                                         24
                                                              Ilona Walger: Die Verbannung
                                                              Johannes Weiz: „In sechs Brigaden war nach einigen Monaten die Hälfte
                                                              der Männer tot.“
                                                         25   Emma Kromm: „Das zu überleben ist arg…“ – vergessene Tragödien
                                                              russlanddeutscher Familien
                                                         27   Edmund Goldade: Erinnerungen an die schwersten Tage meines Lebens
                                                         30   Willi Faber: Zwischen Hungertod und Erfrieren
                          Impressum                      31   Willi Faber: So nah und weit
                                                         31   Robert Leinonen: Der Rucksack
                                              © 2016     32   Woldemar Berger: Von der Wolga in die Verbannung
                                                         35   Maria Schefner: Gesprengte Kindheit
                                  Herausgeber:           36   Nina Paulsen: Der Glaube half beim Überleben –
      Landsmannschaft der Deutschen aus Russland              die „Psalmen-Schatulle“ der Anna Kasdorf
                                                         37   Reinhold Schulz: 342 Flicken zählte Alexander Boos
                                                              auf seiner „Fufaika“
                                             Kontakt:
                                                         38   Elvira Schick: Aus der Hölle zum Leben
                    Landsmannschaft der Deutschen
                                                         39   Artur Schneider: Drei Schwestern – Schicksalsschläge mit
                                    aus Russland e. V.
                                                              Geduld und Demut meistern
                               Raitelsbergstraße 49      40   Valentina Spieß (aufgezeichnet von Sophie Wagner): Unter Bomben in die
                                     70188 Stuttgart          Verbannung
                                   Tel.: 0711-16650-0    43   David Geibel: Die Reise in die Ungewissheit
                                  Fax: 0711-2864413      43   Reinhold Frank: Unsere Opfer
                          E-Mail: Kontakt@LmDR.de        44   Rosalina Müller: Erinnerungen an meine Kindheit
                       www.deutscheausrussland.de             Kunst und Literatur
                       www.facebook.com/LmDR.ev          46   Oskar Aul: „Russlanddeutsche Frauen in der Trudarmee“
                                                         46   Karl Betz: „Die Wolgadeutschen – ein Schicksalsweg“
                                       Redaktion:        47   Helmut Frelke: Mit der Kunst den Betrachter wachrütteln
                         Hans Kampen, Nina Paulsen       47   Rosa Pflug: Schwarz waren die Zeiten
                                                         48   Johannes Gräfenstein: Kein Grab, kein Kreuz erinnert an die elendig
                                          Gestaltung:         Verstorbenen
                                        Ilja Fedoseew    48   Isolde Hartwahn: Hoffnung, neben Leid, Schmerz,
                                                              Sehnsucht, Hunger und Hass
                                             Fotos:      49   Kurt Hein: Bilder, die Geschichten aus der Kommandanturzeit erzählen
   Archiv der Landsmannschaft („Volk auf dem Weg“)
                                                         50   Günther Hummel: „Das Schicksal meiner Landsleute liegt mir in den
                                                              Knochen...“
     Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte
                                                         50   Viktor Schnittke, Robert Weber: Gedichte
                                           Detmold
                                                         51   Viktor Hurr: Heimatverlust, Deportation und Zwangsarbeit im Mittelpunkt
                                                         51   Waldemar Weber: Gräber der Väter
                                      Druckerei:         52   Andreas Prediger: Mit der Kunst „auf die Pauke hauen“
           W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG         52   Alexander Wormsbecher: Das Unrecht der Deportation beschäftigte ihn
                                                              bis zuletzt
                     Herzlichen Dank an alle, die zur    53   Nikolaus Rode: Kunst zwischen Heimatfindung und Menschenwürde
Fertigstellung der Gedenkschrift beigetragen haben.      53   Waldemar Weber: Hoffnung
                                                         54   Jakob Wedel: „Um dem Tod zu entrinnen, haben wir Kräuterwurzeln aus
Gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für          dem Schnee gegraben.“
Arbeit und Soziales, Familie und Integration über das    54   Viktor Schnittke: November 1942
             Haus des Deutschen Ostens (München)         55   Viktor Krieger: Eine Bilanz des Schreckens

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75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation

 Vorwort des Bundesvorsitzenden der
 Landsmannschaft der Deutschen aus Russland,
 Waldemar Eisenbraun

N
        icht zufällig hatte die Lands-      die Gesamtheit der Deutschen aus Russ-
        mannschaft der Deutschen aus        land konstruiert.
        Russland ihr 32. Bundestreffen         Mit den ihr zur Verfügung stehen-
am 4. Juli 2015 in Stuttgart unter das      den Mitteln ist die Landsmannschaft
Motto „Von Hilfesuchenden zu Leis-          seit Jahrzehnten bemüht, gegen Miss-
tungsträgern“ gestellt. Wir brachten        stände dieser Art vorzugehen - in ihren
damit zum Ausdruck, dass sich die           Publikationen, durch Stellungnahmen
Deutschen aus Russland nach einem           und bei Gesprächen mit Entscheidungs-
langen Leidensweg in der ehemaligen         trägern.
Sowjetunion und Schwierigkeiten der            Ebenso ist zu bedauern, dass die Ge-
ersten Jahre nach der Wiederansied-         schichte und Kultur der Deutschen aus
lung in Deutschland zu einem Gewinn         Russland nach wie vor nicht Bestandteil
für unser Land entwickelt haben, wie        des kollektiven Gedächtnisses der Bun-
durch sämtliche Untersuchungen be-          desrepublik Deutschland sind. Ihre Ge-
stätigt wird.                               schichte und Kultur „finden nicht statt“
                                           - weder im Schulunterricht, noch in den
   Dennoch verhindern nach wie vor          Medien, noch in der großen Politik.         Waldemar Eisenbraun
bestehende Benachteiligungen seitens           Publikationen wie die vorliegende
der Gesellschaft, dass meine Landsleute     sollen daher dazu beitragen, diese Wis-     Gedenkveranstaltungen aus Anlass des
sich als wirklich gleichberechtigte Bun-    sens- und Aufmerksamkeitslücken zu          75. Jahrestages der Deportation der
desbürger fühlen können. Erhebliche         beseitigen. Unter Verzicht auf allzu tro-   Deutschen in der Sowjetunion auf die
Rentenkürzungen aufgrund der Fremd­         ckene Analysen schildert sie die tragi-     Notwendigkeit einer Rehabilitierung der
rentengesetzgebung gehören ebenso           sche Geschichte der Volksgruppe in den      russlanddeutschen Volksgruppe durch
dazu wie die mangelhafte bzw. völlig        30er, 40er und 50er Jahren des vergan­      die Russische Föderation als Nachfol-
fehlende Anerkennung von in der ehe-        genen Jahrhunderts vor allem anhand         gerin der ehemaligen Sowjetunion hin.
maligen Sowjetunion zurückgelegten          von Zeitzeugenberichten sowie von           Eine Rehabilitierung, die längst überfäl-
Ausbildungsgängen bzw. mitgebrach-          künstlerischen und literarischen Dar-       lig ist! Eine Rehabilitierung von Men-
ten beruflichen Qualifikationen. Dage-      stellungen.                                 schen, die ohne jede Schuld zu Opfern
gen werden allzu leicht aus Verfehlun-         Mit dieser Publikation weisen wir        zweier Unrechtsregime wurden!
gen Einzelner haltlose Vorwürfe gegen       aber ebenso wie im Rahmen unserer                            Waldemar Eisenbraun

           Profil der Landsmannschaft                                                    mannschaft durch die in Stuttgart ansäs-
                                                                                         sige Bundesgeschäftsstelle.
           der Deutschen aus Russland e. V.                                                 Traditionell am stärksten vertreten
                                                                                         ist die Landsmannschaft in ihrem Pa-

D
                                                                                         tenland Baden-Württemberg. Starke
         ie Landsmannschaft der Deut-      überparteilich und überkonfessionell          Landes- und Ortsverbände existieren
         schen aus Russland ist die äl-    und sucht stets den Dialog mit allen de-      aber auch in den Bundesländern Bay-
         teste und größte Organisation     mokratischen Parteien.                        ern, Nordrhein-Westfalen, Niedersach-
 der Volksgruppe in Deutschland und           Familienzusammenführung sowie              sen und Hessen.
 offen für alle Deutschen aus der ehe-     die soziale, gesellschaftliche, berufliche       Die Verbandszeitung „Volk auf dem
 maligen Sowjet­union.                     und religiöse Eingliederung in die deut-      Weg“ ist die Stimme der Landsmann-
 Der Verband wurde vor 65 Jahren als       sche Gesellschaft, Geschichts-, Kultur-,      schaft und ihrer Mitglieder. Die „Hei-
„Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler“     Öffentlichkeits- und Jugendarbeit gehö-       matbücher“ und andere Publikationen
 gegründet und 1955 in „Landsmann-         ren von jeher zu den wichtigsten Auf-         behandeln die Geschichte und Kultur
 schaft der Deutschen aus Russland“ um-    gaben der Landsmannschaft in der Ge-          der Deutschen aus Russland in verschie-
 benannt. Er bekennt sich zur „Charta      genwart.                                      denen Zeitabschnitten.
 der deutschen Heimatvertriebenen“ und        Die Landsmannschaft der Deutschen             Um die Aufklärungsarbeit über die
 versteht sich als Inte­
                       ressenvertretung,   aus Russland ist organisatorisch unter-       Volksgruppe zu fördern, ist die lands-
 Hilfsorganisation und Kulturverein        teilt in Landes- sowie rund 140 Orts-         mannschaftliche     Wanderausstellung
 der Deutschen aus Russland nicht nur      und Kreisgruppen, deren Vertreter bei        „Deutsche aus Russland. Geschichte
 in Deutschland, sondern auch in den       der alle drei Jahre stattfindenden Bun-       und Gegenwart“ als ältestes und größ-
 Nachfolgestaaten der Sowjetunion.         desdelegiertenversammlung den ehren-          tes Integ­
                                                                                                  rationsprojekt des Verbandes
    Die Landsmannschaft verfolgt aus-      amtlich tätigen Bundesvorstand wählen.        in mehreren identischen Fassungen seit
 schließlich gemeinnützige Zwecke, ist     Koordiniert wird die Arbeit der Lands-        rund 20 Jahren bundesweit unterwegs.

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75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation – Geschichte
 Dr. Viktor Krieger

Vorgeschichte und Umstände
der Deportation im Jahre 1941
Vorboten der Katastrophe
                                              Erlass
     Den unmittelbaren Anlass zur Auf-        des Präsidiums des Obersten Sowjets der
 lösung der autonomen Republik und
 zur Einleitung der totalen Deportation       Sowjetunion vom 28. August 1941„Über die
 der deutschen Minderheit konnte ein          Übersiedlung der Deutschen, die in den
 Brief der Politbüromitglieder Andrei         Wolgarayons wohnen“
 Schdanow, Wjatscheslaw Molotow und
 Georgi Malenkow an Stalin vom 24. Au-            Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich
 gust 1941 geben, in dem sie ihn über         unter der in den Wolgarayons wohnenden deutschen Bevölkerung Tausende und
 den vereinbarten Beschluss informier-        Abertausende Diversanten und Spione, die nach dem aus Deutschland gegebenen
 ten, die Aussiedlung von 88.700 Fin-         Signal Explosionen in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons hervor-
 nen und 6.700 Deutschen aus dem Ge-          rufen sollen. Über das Vorhandensein einer solch großen Anzahl von Diversanten
 biet Leningrad unverzüglich einzuleiten.     und Spionen unter den Wolgadeutschen hat keiner der Deutschen, die in den Wol-
     Schon Wochen zuvor drängte die mi-                                                garayons wohnen, die Sowjetbehörden in
 litärische Führung, ähnlich wie im Ers-                                               Kenntnis gesetzt, folglich verheimlicht die
 ten Weltkrieg, mit Hinweisen auf die                                                  deutsche Bevölkerung der Wolgarayons die
„verräterischen“ Aktivitäten der deut-                                                 Anwesenheit in ihrer Mitte der Feinde des
 schen Bevölkerung auf ihre Ausweisung                                                 Sowjetvolkes und der Sow­jet­macht.
 aus den frontnahen Gebieten. So traf                                                     Falls aber auf Anweisung aus Deutsch-
 am 3. August 1941 im Hauptquartier                                                    land die deutschen Diversanten und Spi-
 des Oberkommandos der sowjetischen                                                    one in der Republik der Wolgadeutschen
 Streitkräfte folgende Gefechtsmeldung                                                 oder in den angrenzenden Ra­yons Diver-
 des Kriegsrats der Südfront ein:                                                      sionsakte ausführen werden und Blut ver-
                                                                                       gossen wird, wird die Sowjetregierung laut
   „1. Die Kriegshandlungen am Dnje-          den Gesetzen der Kriegszeit vor die Notwendigkeit gestellt, Strafmaßnahmen ge-
    str haben gezeigt, dass die deutsche      genüber der gesamten Wolgabevölkerung zu ergreifen.
    Bevölkerung auf unsere zurückwei-            Zwecks Vorbeugung dieser unerwünschten Erscheinungen und um kein erns-
    chenden Truppen aus Fenstern und          tes Blutvergießen zuzulassen, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR
    Gärten schoss. Es wurde ferner fest-      es für notwendig gefunden, die gesamte deutsche in den Wolgarayons wohnende
    gestellt, dass die einmarschierenden      Bevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln, wobei den Überzusiedelnden Land
    deutschen Truppen am 1. August in         zuzuteilen und eine staatliche Hilfe für die Einrichtung in den neuen Rayons zu er-
    einem deutschen Dorf mit Brot und         weisen ist. Zwecks Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons des Nowosi-
    Salz begrüßt wurden. Auf dem Ter-         birsker und Omsker Gebiets, des Altaigaus, Kasachstans und andere Nachbarort-
    ritorium der Front gibt es eine Viel-     schaften bestimmt.
    zahl von Siedlungen mit deutscher             In Übereinstimmung mit diesem wurde dem Staatlichen Komitee für Landes-
    Bevölkerung.                              verteidigung vorgeschlagen, die Übersiedlung der gesamten Wolgadeutschen
   2. Wir bitten, den örtlichen Macht-        unverzüglich auszuführen und die Versorgung der überzusiedelnden Wolgadeut-
    organen Anweisungen über die un-          schen mit Land und Nutzländereien in den neuen Rayons sicherzustellen.
    verzügliche Aussiedlung der unzu-                            Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR,
    verlässigen Elemente zu geben.“                                                                               M. Kalinin
                                                                    Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR,
    Bis heute gibt es keine Belege dafür,                                                                          A. Gorkin
 dass derartige Aktionen irgendwo tat-                                                       Moskau, Kreml, 28. August 1941
 sächlich stattfanden. Immerhin trug
 dieses Telegramm Stalins Vermerk „To-
 warischtschu Berija. Nado wyselit s tres-   der als illo­yal empfundenen „heimi-        Der Entschluss zur Deportation
 kom! – Dem Genossen Berija. Raus mit        schen“ Deutschen einleitete. Bezeich-
 ihnen, so dass die Türen knallen!“ und      nenderweise betraf diese Anweisung             Noch am selben Tag bereitete der
 wies noch einen weiteren Eintrag auf:       vorerst nicht die beschuldigten Schwarz-    NKWD-Chef eine Vorlage über die Aus-
„Dem Volkskommissar (Berija – V.K.)          meer-, sondern die weit von der Frontli-    siedlung der Deutschen aus dem Wol-
 wurde dies mitgeteilt. 25.08.41.“ Drei      nie entfernt gelegenen und noch „unver-     gagebiet vor und reichte sie ins Polit-
 Wochen lang lag diese Gefechtsmeldung       dächtigen“ Wolgadeutschen. Das kann         büro ein. Am 26. August 1941 ordnete
 auf Stalins Tisch, bevor er den passen-     nur mit der Absicht erklärt werden, die     Stalin, unterstützt von seinen engsten
 den Zeitpunkt gekommen sah und mit          angebliche Illoyalität der Deutschen für    Mitarbeitern und Anhängern, die Aus-
 einem wohl kalkulierten Wutausbruch         die Liquidation der autonomen Repub­        siedlung der Wolgadeutschen an. Dies
 („Raus mit ihnen...“) die Verbannung        lik zu nutzen.                              wurde als Entscheidung des Zentralko-

                                                                                                                                 5
75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation – Geschichte
mitees der bolschewistischen Partei und
der Regierung getarnt. In diesem streng    1937/38 – Jahre des „Großen Terrors“

                                           O
geheimen Beschluss, der sich nur an
einen engeren Kreis der Partei- und               ft wird der Eindruck erweckt, die Verfolgung der Deutschen in Russ-
Staatsführer richtete, fehlten jegliche           land bzw. der Sowjetunion habe erst mit dem Erlass des Präsidiums
Schuldzuweisungen. Die aus insgesamt              des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über
19 Artikeln bestehende Direktive – in      die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ begonnen.
betont sachlicher Lesart verfasst – ver-   Davon kann jedoch keine Rede sein.
mittelt den Eindruck einer Anweisung
zur planmäßigen Übersiedlung.                 2012 etwa gedachte die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland neben
    Einen Tag später erließ das Kom-       der Verbringung deutscher Frauen und Männer in die sowjetischen Zwangsar-
missariat (Ministerium) des Inneren,       beitslager auch des „Großen Terrors“ in der Sowjetunion, der so genannten sta-
zuständig für solche „Menschentrans-       linistischen Säuberungen, die in den Jahren 1937 und 1938 ihren Höhepunkt
fers“, zwei wichtige Anordnungen. Es       hatten.
handelte sich zum einen um den Be-            Unter dem Terror dieser Jahre hatten alle Völker der Sowjetunion zu leiden,
fehl Nr. 001158, unterschrieben von Be-    in besonderem Maße aber Minderheiten wie Polen, Deutsche, Letten, Esten, Ira-
rija, „Über Maßnahmen zur Durchfüh-        ner oder Finnen. So stand dem Bevölkerungsanteil der Deutschen in der Sow-
rung der Operation zur Umsiedlung der      jetunion von 0,8 Prozent ein Anteil an der Gesamtzahl der Verhafteten von 5,3
Deutschen aus der Wolgadeutschen Re-       Prozent gegenüber.
publik, aus den Gebieten Saratow und
Stalingrad“. Die Deportation sollte am
2. September beginnen und bis zum 20.
September abgeschlossen sein.              Großer Terror: Vom 1. Januar 1936 bis zum
    Das zweite Dokument hieß „Inst-
ruktion zur Durchführung der Umsied-       1. Juli 1938 in der UdSSR verhaftete Personen
lung der Deutschen, die in der ASSR
der Wolgadeutschen, in den Gebieten                                             C: Anteil      D: Anteil der
Saratow und Stalingrad ansässig sind“.                          B: Zahl          an der        Nationalität     Ungefähres
Die ersten Zeilen dieser Handlungsan-      A: Nationalität
                                                             der Verhafte-     Gesamtzahl         an der        Verhältnis
weisung ließen an dem totalen Cha-            (Auswahl)
                                                                  ten         der Verhafte-    Bevölkerung         C/D
rakter dieser Maßnahme keinen Zwei-                                                ten          der UdSSR
fel: „Überzusiedeln sind alle Einwohner
                                           Russen              657.799           43,6 %           58,4 %           0,75:1
deutscher Nationalität, die in den Städ-
ten und ländlichen Siedlungen der ASSR     Ukrainer            189.410           13,3 %           16,5 %           0,81:1
der Wolgadeutschen, der Gebiete Sa-        Polen               105.485            7,4 %            0,4 %          18,50:1
ratow und Stalingrad leben. Mitglie-
der der Partei und des kommunisti-         Deutsche             75.331            5,3 %            0,8 %           6,63:1
schen Jugendverbands Komsomol sind         Weißrussen           58.702            4,1 %            3,1 %           1,32:1
gleichzeitig mit den anderen umzusie-
deln.“.Einzig Frauen, deren Ehemänner      Juden                30.542            2,1 %            1,8 %           1,17:1
nicht Deutsche waren, blieben von der      Letten               21.392            1,5 %            0,1 %            15:1
Verbannung verschont.
                                           Iraner               14.994            1,1 %           0,02 %            55:1
    Da es sich um die Auflösung einer in
der Unionsverfassung erwähnten auto-       Esten                11.002            0,8 %            0,1 %            8:1
nomen Republik handelte, ließ das Po-      Finnen               10.678            0,7 %            0,1 %            7:1
litbüro am 28. August 1941 einen mit
fadenscheinigen Kollaborationsvorwür-      Insgesamt          1.420.711          100 %            100 %             1:1
fen bestückten Erlass des Präsidiums
des Obersten Sowjets der UdSSR verab-
schieden, der von dem willenlosen no-
minellen Staatsoberhaupt Michail Kali-     „Die Verhafteten wurden grausam geschlagen, gequält und mussten längere Zeit
nin unterschrieben wurde.                  ‚still stehen’ usw. Ähnliche Methoden wurden häufig gegen die deutschen Kolo-
    Im Gegensatz zu dem „intern“ ver-       nisten angewendet. Die meisten von ihnen hielten diese Folterungen nicht aus
fassten Regierungs- und Parteibeschluss     und machten Aussagen über die Verbindung zum Deutschen Konsulat, dem sie
wurde im Erlass vom 28. August gegen        angeblich Spionagenachrichten hatten zukommen lassen. … ‚Still stehen’ be-
die Deutschen die schwerwiegende An-        deutete, dass die Verhafteten ununterbrochen im Raum stehen mussten und sich
klage von „Tausenden und Abertausen-        nicht setzen durften.
den Diversanten und Spionen“ unter          So standen sie bis zu zwei oder drei Tage und Nächte lang. Wenn dann einer aus-
ihnen erhoben und sie somit zu Fein-        sagte, so notierte es sofort der Mitarbeiter. Außer dem ‚Stillstehen’ wurden auch
den des Sowjetstaates erklärt.              Prügel angewendet.“
    Die Verbannung der deutschen Dias-                                                                       Mammad Jafarli:
poragruppen aus dem übrigen europä-                                                   „Politischer Terror und das Schicksal
ischen Teil der Sowjetunion erfolgte in                                               der aserbaidschanischen Deutschen“
den darauf folgenden Wochen und Mo-

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75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation – Geschichte
naten auf geheime Beschlüsse des Staat-
lichen Verteidigungskomitees (GKO)
sowie auf Befehle des NKWD und der
Kriegsräte einzelner Fronten hin. In
einigen Fällen wurde die Anordnung
über die Ausweisung durch den Rat der
Volkskommissare der Sowjetunion oder
die jeweilige Unionsrepub­lik verfasst.
   In der darauf folgenden Zeit zettelte
das Kommissariat des Inneren eine re-
gelrechte Jagd auf Sowjetbürger deut-
scher Herkunft an, um die noch nicht
registrierten Personen zu erfassen und
abzuschieben:

   “ Weil eine Registrierung der Deut-
    schen in der Stadt Tula fehlte, wird
    zur Zeit seitens der Milizverwal-        Viktor Hurr: Deportierte Frauen mit Kindern.
    tung eine verdeckte Arbeit zum
   Aufspüren aller auf dem Territo-
    rium der Stadt wohnhaften Deut-           hängigkeit unseres Vaterlandes in einer    geträumt hat – die Deutschen nach Si-
    schen durch die Wohnungsämter             Reihe mit dem großen russischen Bru-       birien zu verbannen – wird jetzt ver-
    abgewickelt. Außerdem wird die-           dervolke, mit allen Völkern der Sowjet­    wirklicht.“ „Das war zu erwarten ge-
    selbe Arbeit von Sonderabteilun-          union kämpft.“                             wesen. Hitler beginnt Russland immer
    gen der Betriebe und Behörden...             Diese Nummer enthielt zudem aus-        mehr in die Enge zu treiben, bald wer-
    und der verdeckten Informanten            führliche Schilderungen des Heldento-      den die deutschen Truppen bis nach Sta-
    der operativen Abteilungen des            des des wolgadeutschen Komsomolzen         lingrad und Engels vorstoßen, deshalb
   NKWD ausgeführt. Diese Arbeit              Heinrich Hoffmann aus dem Kanton           fährt man uns raus.“
    muss am 27. September dieses Jah-         Krasny Kut, worüber einige Tage zuvor         In der Stadt und im Gebiet Mos-
    res [1941] vollendet sein.“               die zentrale sowjetische Jugendzeitung     kau versuchten vier Personen nach der
                                             „Komsomolskaja Prawda“ berichtet hatte,     Bekanntgabe des Aussiedlungsbefehls
Das Verhalten der Betroffenen                 und druckte den Schwur seiner Krasny       Selbstmord zu begehen. Ein Ehepaar
und der Mehrheitsbevölkerung                  Kuter Verbandsgenossen ab.                 nahm sich das Leben, weil die Frau aus
                                                 Der am nächsten Tag veröffentlichte     gesundheitlichen Gründen nicht weg-
   Noch am 29. August – drei Tage nach        Erlass „Über die Übersiedlung der Deut-    ziehen konnte.
dem geheimen Deportationsbeschluss –          schen, die in den Wolgarayons woh-            Eine derartige Verleumdung und
erschien in der Republikzeitung „Nach-        nen“ erschütterte daher die Betroffenen    Erniedrigung ungeachtet individueller
richten“ ein Leitartikel, in dem unter an-    zutiefst und rief Fassungslosigkeit und   „Verdienste“ nach 1917 wirkte beson-
derem zu lesen war: „Unser Volk, das          Empörung hervor; es kam jedoch zu          ders enttäuschend auf die Partei- und
Sowjetvolk der freien und glücklichen         keinen offenen Protestaktionen.            Komsomolmitglieder, auf die deut-
ASSR der Wolgadeutschen, ist stolz, dass         Der Geheimdienst verzeichnete fol-      schen Funktionäre und den Großteil
es in diesem großen Krieg um die Unab-        gende Aussagen: „Wovon der Zarismus        der „neuen“ Intelligenz.
                                                                                            Schmerzliche Desillusion trieb einige
                                                                                         Führungskräfte trotz Parteidisziplin zu
                                                                                         originellen Protestaktionen: Der Vorsit-
                                                                                         zende des Rates der Volkskommissare
                                                                                         der ASSR der Wolgadeutschen, Alexan-
                                                                                         der Heckmann, der noch einige Wochen
                                                                                         zuvor das „glückliche und wohlhabende“
                                                                                         Leben der Wolgadeutschen als gleich-
                                                                                         berechtigte Nation im „Bruderbunde
                                                                                         der Sowjetvölker“ gepriesen hatte, fuhr
                                                                                         vor der Abreise nach Sibirien mit sei-
                                                                                         nem Dienstwagen auf den Stadtmarkt in
                                                                                         Engels. Dort begann er, „demonstrativ“
                                                                                         Hausratgegenstände und Kleidungsstü-
                                                                                         cke anzubieten. „Sogar den Ministerprä-
                                                                                         sidenten haben sie gezwungen, private
                                                                                         Sachen auf dem Basar zu verkaufen“, soll
                                                                                         Heckmann in diesem Zusammenhang
                                                                                         gesagt haben.
                                                                                            Für diese „antisowjetische“ Hand-
Heinrich Brogsitter: „Erlass vom 28. August 1941. Die letzten Äpfel aus dem              lung schloss man ihn umgehend aus der
eigenen Garten“.                                                                         Partei aus.

                                                                                                                              7
75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation – Geschichte
   In der Stadt Naltschik, der Metropole
der nordkaukasischen Republik Kabar-        Territoriale Verschiebungen nach 1941
dino-Balkarien, wandte sich der Deut-
sche Heller, ein Parteianwärter, bei der    Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten nur etwa 20 Prozent der Russlanddeut-
Bekanntmachung der Aussiedlung zum          schen im asiatischen Teil der Sowjetunion. Die meisten von ihnen lebten in
Sekretär der Stadtparteikomitees und        kompakten Siedlungsgebieten auf dem Land. 50 Jahre später sind sie ver-
schleuderte ihm sein Mitgliedsbuch ent-     streut vor allem in Kasachstan und Kirgisien, in Sibirien und dem Ural anzu-
gegen mit den Worten: „Wieso demü-          treffen. Dort lebten die meisten Deutschen nun in Städten (52,8 Prozent) und
tigen sie uns und vernichten ehrliche       auf dem Land (47,2 Prozent) zusammen mit Angehörigen anderer Völker und
Leute, ich fahre nicht, soll man mich       unterschiedlicher Konfessionen.
doch erschießen.“
   Aber selbst verbaler Ungehorsam war
eine Ausnahme; die überwältigende
Mehrheit der Deutschen fügte sich wi-       Republiken                             Volkszählung              Volkszählung
derstandslos ihrem Schicksal.               und Regionen                           17. Jan. 1939             12. Jan. 1989
   Die Reaktionen der andersethni-
schen Bevölkerung auf die Verbannung        UdSSR insgesamt                             1.427.232                  2.038.341
der Russlanddeutschen waren unter-          davon RSFSR                                  862.504                     842.033
schiedlich. In engeren Freundes- und
Verwandtschaftskreisen sowie unter          unter anderem in:
                                                                                         366.685                           —
Kollegen am Arbeitsplatz gab es Bei-        ASSR der Wolgadeutschen*
spiele von Solidarität, Menschlichkeit      Gebiete Saratow und
                                                                                           66.721                     45.076
und Unterstützung, die von den Behör-       Stalingrad (Wolgograd)
den angeprangert wurden.                    Nordkaukasus (ohne
   Einige prominente Persönlichkeiten                                                    109.994                      52.453
                                            autonome Republiken)
deutscher Herkunft konnten dank Bitt-
gesuchen einflussreicher Freunde von        Sibirien                                     105.391                     470.763
Ausweisung, beruflicher Degradierung        ASSR Krim**                                    51.299                          —
und Einweisung ins Arbeitslager ver-
schont werden.                              Ural                                           38.441                    157.447
   Das Schicksal des bedeutenden Pi-        andere Regionen der RSFSR                    123.673                     116.294
anisten und Pädagogen Heinrich Neu-
haus ist ein Beispiel dafür. Er wurde am    Ukrainische SSR                              392.458                      37.849
4. November 1941 als Deutscher in Mos-      Kasachische SSR                                92.571                    957.518
kau verhaftet und danach in die Verban-
nung geschickt. Dank der Bemühungen         Aserbaidschanische SSR                         23.133                         748
seiner Schüler und Kollegen, unter an-      Georgische SSR                                 20.257                       1.546
derem des Komponisten Dmitri Schos­
takowitsch, bekam er die Erlaubnis, in      Kirgisische SSR                                11.741                    101.309
Swerdlowsk zu wohnen und am Kon-
                                            Usbekische SSR                                 10.049                     39.809
servatorium zu unterrichten, bevor er
1944 wieder nach Moskau zurückkeh-          Weißrussische SSR                               8.448                       3.517
ren durfte.
   Nur ganz wenige Zeitgenossen hat-        Turkmenische SSR                                3.346                       4.434
ten den Mut, wenn auch nur in priva-        Tadschikische SSR                               2.022                     32.671
ter Umgebung, die Deportationen als
Verbrechen zu bezeichnen. Zu diesen         Arminische SSR                                    433                         265
Aufrichtigen gehörte der weltberühmte       Moldausche SSR                                     —                        7.335
Schriftsteller Boris Pasternak, der in
einem Brief an seine Frau Sinaida Niko-     Estnische SSR                                      —                        3.466
laewna am 12. September 1941 schrieb:       Lettische SSR                                      —                        3.783
    „Schon vor einigen Tagen wurde          Litauische SSR                                     —                        2.058
     über die totale Aussiedlung der
                                            * Nach 1941 wurde das Territorium der ASSR der Wolgadeutschen zwischen den Gebie-
     ganzen Republik der Wolgadeut-         ten Saratow und Stalingrad (seit 1961 Wolgograd) aufgeteilt.
     schen (bis zu einer Mio. Menschen)
                                            ** Nach 1954 gehörte das Gebiet Krim (seit 1990 wieder eine Autonome Republik) zur
     nach Zentral­asien oder hinter das     Ukraine.
    Altai-Gebirge gesprochen. Und
     plötzlich erreicht es die Moskauer
    Deutschen, beispielsweise Rita
    William. Ausgerechnet in dieser
     schrecklichen regnerischen Nacht         Kaisers und Elsners davon erfah-           wohnen. Sie müssen morgen nach
     [in der dieser Brief niedergeschrie-     ren, ehrliche, unschuldige und ar-         Kasachstan, hinter Taschkent, aus-
     ben wurde] haben in Peredelkino          beitsame Leute, die bei Pawlenkos          ziehen. Die ganze Nacht hat mich

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75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation – Geschichte
  das bedrückt. Wie viel Leid und
  Übel gibt es doch überall, zu wel-        Zur Rehabilitation
  chen Höhen ballt sich die mensch-
  liche Verwüstung, wie viele Auf-          der Volksgruppe
  rechnungen, die sich oft überdecken,
  bewahrt die menschliche Rachsucht,        2016 jährt sich der Erlass des Präsidiums des Obersten
  wie viele Jahrzehnte sollen bis zur       Sowjets der Sow­jetunion vom 28. August 1941 „Über die
  beiderseitigen Versöhnung in der          Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons leben“ zum 75. Mal.
  Zukunft vergehen?“
                                               Gemeinsam sollten wir uns aus diesem Anlass daran erinnern, dass das
   Solche Ansichten gehörten jedoch zu      Jahr 1941 zum tragischen Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen in
den Ausnahmen. Wie es in Diktatu-           der Sowjetunion wurde. Sie wurden aus dem europäischen Teil des Landes
ren üblich ist, schwiegen die meisten       nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert und fast 15 Jahre lang
oder schauten weg. Durch die seit Mitte     in Sondersiedlungen, in der „Trudarmee“, in Straflagern und in Gefängnissen
der 1930er Jahre in Gang gesetzte groß-     festgehalten.
russische Interpretation der Geschichte        Hunderttausende von ihnen starben den Hungertod, erlagen ihren Verlet-
war die sowjetische Bevölkerung für die     zungen oder trugen bleibende gesundheitliche Schäden davon.
Aufnahme von antideutschen Ressenti-           Unsere Volksgruppe hat ihre historisch gewachsenen Siedlungen, das per-
ments empfänglich geworden.                 sönliche und kollektive Eigentum, alle Kultur- und Bildungseinrichtungen für
   Weder in den Städten Moskau, Engels      immer verloren.
oder Saratow, wo vor den Augen ihrer           Wir verkennen nicht den Auslöser dieser Katastrophe - den von Deutsch-
Nachbarn und Arbeitskollegen Deut-          land verursachten Krieg. Wissenschaftlich belegt ist aber auch, dass unsere
sche in Sammelstellen der Miliz getrie-     Landsleute keine Gefahr für die Sowjetunion und die Rote Armee darstellten.
ben und in Güterzüge verfrachtet wur-       Sie waren keine „fünfte Kolonne“.
den, noch auf dem Lande kam es zu              Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zur historischen Verantwor-
einem offenen Protest gegen diese Ak-       tung für die Kriegsfolgen, von denen sich unsere Volksgruppe bis heute nicht
tionen.                                     erholt hat.
   Nicht wenige billigten dieses Vorge-        Die Aufnahme von über 2,5 Millionen Aussiedlern und Spätaussiedlern und
hen. Von der massiven Hasspropaganda        ihren Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion und die Hilfen
verblendet, konnten oder wollten die        für die Deutschen, die in Russland und anderen GUS-Republiken bleiben wer-
Einwohner des Landes zwischen ihren         den, sind ein sichtbares Zeichen dafür.
deutschen Landsleuten und dem Ag-              Die Russische Föderation hat in ihrem Zuständigkeitsbereich ebenfalls eine
gressor keinen Unterschied machen: „Es      Reihe von Maßnahmen ergriffen, um das Schicksal der politisch Repressierten
ist gut, dass die Deutschen umgesie-        zu erleichtern und ihnen eine Lebensperspektive zu geben.
delt werden, längst hätte dies geschehen       Wir vermissen aber bis heute schmerzlich eine politische Rehabilitierung
müssen, unter ihnen sind viele Spione.      unserer Volksgruppe. Mehrfach wurde bereits an den Präsidenten Russlands
Die Deutschen an der Front misshan-         und den Ministerpräsidenten die Bitte um ein klares Bekenntnis zur Vergan-
deln unsere Kämpfer und unsere fried-       genheit, um einfühlsame Worte des Bedauerns und des Mitgefühls gerichtet.
lichen Einwohner.“                             Der 75. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen wäre der geeignete
                                            Zeitpunkt, und Tscheljabinsk oder Iwdel wären dafür passende Orte.
                                               Die Verfolgung der Deutschen in der Stalin-Ära wurde nicht von der Russi-
Nach der Verbannung                         schen Föderation durchgeführt, sondern von der Sowjetunion. Sie kann aber
                                            mit der politischen Rehabilitation ein für die Zukunft wichtiges Zeichen set-
   Eine nicht unbeträchtliche Zahl der      zen.
ehemaligen Nachbarn beteiligte sich
sogar an Diebeszügen in die nun her-        Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.
renlosen Siedlungen, so dass das Sa-
ratower Gebiets­parteikomitee am 22.
September 1941, wenige Tage nach der
Verbannung, in einer Sitzung die „bei-        Um die Erinnerung an die einstigen     lungen, Marienthal, mutierte zu Sowets-
spiellosen Plünderungen“ der verlasse-     Einwohner des Wolgagebiets endgültig      koje; Jost wurde nun in Oktjabrskoje
nen und requirierten Güter geißelte.       zu eliminieren, verfügte das Präsidium    umbenannt usw.
   Ähnliche Vorkommnisse gab es in         des Obersten Sowjets der Russischen          Wo es aus verbliebenen ideologi-
anderen von den Deutschen zurück-          Föderation in einem Erlass vom 19. Mai    schen Gründen gewisse Hemmungen
gelassenen Orten. Am 24. Januar 1942       1942 die Russifizierung der deutschen     gab, handelte man zurückhaltender:
erließ beispielsweise Michail Suslow,      Ortsnamen.                                Die ehemalige Hauptstadt Engels durfte
Sekretär des Regionsparteikomitees Sta-       Einige Siedlungen hatten schon frü-    ihren erst im Oktober 1931 verliehenen
wropol im Nordkaukasus, eine beson-        her deutsch-russische Namen gehabt;       Namen behalten; von Marxstadt blieb
dere Anordnung zur erneuten Bestands-      ab sofort durften nur die letzteren be-   nur die erste Hälfte übrig; der verräte-
aufnahme und zum wirksamen Schutz          nutzt werden. Die anderen erhielten       rische Zusatz -stadt musste weg. Ent-
des von den Deutschen konfiszierten        größtenteils patriotische sowjetrussi-    sprechende Umbenennungen fanden in
privaten und kolchoseigenen Besitzes,      sche Toponyme: Die Stadt Balzer hieß      allen Republiken und Provinzen, aus
der sonst verfallen oder geraubt wor-      nun Krasnoarmejsk, d.h. Rotarmist;        denen die Deutschen zwangsausgesie-
den wäre.                                  eine der ältesten wolgadeutschen Sied-    delt wurden, statt.

                                                                                                                          9
75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
75 Jahre Deportation – Geschichte

Chronik:
Deportation der Deutschen in der Sowjetunion

D
        er nachstehende (unvollständige) Überblick zeigt, in welchem Umfang           sonen aus der ASSR der Wolgadeutschen.
        und mit welcher Genauigkeit die Deportation der Deutschen aus Russ-           Zum Wolgagebiet gehören außerdem
        land in den einzelnen Gebieten der Sowjetunion geplant und durchge-           die Gebiete Saratow (46.706 Depor-
führt wurde.                                                                          tierte), Stalingrad (26.245), Kujbyschew
Von den Maßnahmen, die in dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets              (11.101) und Astrachan (19.850). Am
der Sow­jetunion vom 28. August 1941 „Über die Übersiedlung der Deutschen,            7. September wird das Territorium der
die in den Wolgarayons wohnen“ angekündigt wurden, waren keineswegs nur               Wolgadeutschen Republik gemäß Be-
die Wolgadeutschen betroffen. Zu leiden hatten vielmehr alle Deutschen in der         schluss des Präsidiums des Obersten
Sowjetunion, ganz gleich ob sie an der Wolga, am Dnjepr oder am Don, am               Rates der UdSSR zwischen den Gebie-
Schwarzen Meer, auf der Krim oder im Kaukasus, in Wolhynien, in den Städten           ten Saratow und Stalingrad aufgeteilt.
oder in Streusiedlungen wohnten.
                                                                                      6. September 1941:
                                                                                      Beschluss des Staatlichen Verteidigungs-
Juni 1941:                                 August 1941:                               komitees über die Umsiedlung aus Mos-
UNKWD (Verwaltung des Volkskom-            Befehl des Kriegsrates der Südfront über   kau und Rostow.
missariats des Innern) der Stadt und des   die „Umsiedlung“ der Deutschen aus
Gebietes Moskau: Am 22. Juni sind alle     dem Gebiet Dnjep­ropetrowsk.               6. September 1941:
deutschen Staatsangehörigen zu inter-                                                 Befehl des Volkskommissariats des In-
nieren. Staatenlose Personen deutscher     August 1941:                               nern über die Sicherstellung der Do-
Volkszugehörigkeit sind bei Vorliegen      Befehl des Kriegsrates der Südwestfront    kumente der Wolgadeutschen Republik.
von kompromittierendem Material in         über die „Umsiedlung“ der Deutschen
Haft zu nehmen.                            aus dem Gebiet Charkow.                  7.-8. September 1941:
                                                                                    Befehl über die Entlassung aller Deut-
Juni 1941:                                 26. August 1941:                         schen aus der Roten Armee und ihre
UNKWD der Region Krasnojarsk: An-          Befehl des Kriegsrates der Leningrader Verlagerung in die Trudarmee. Bis zum
weisungen zur Internierung von Perso-      Front zur „Umsiedlung“ von Deutschen Jahresende bilden etwa 15.000 Soldaten
nen deutscher Volkszugehörigkeit und       und Finnen aus der Stadt und dem Ge- und Offiziere der Roten Armee deut-
zur Festnahme von Personen, die die        biet Leningrad.                          scher Nationalität das zweite Kontingent
deutsche Staatsangehörigkeit nicht be-                                              der Trudarmee.
sitzen, wenn dafür ausreichend Mate-       28. August 1941:
rial vorliegt.                             Erlass des Präsidiums des Obersten 21. September 1941:
                                           Sow­jets der UdSSR „Über die Übersied- Beschluss des Staatlichen Verteidigungs-
22. Juni 1941:                             lung der Deutschen, die in den Wol- komitees der UdSSR über die „Umsied-
Beginn des deutsch-sowjetischen Krie-      garayons wohnen“, der die Wolgadeut- lung“ der Deutschen aus den Regionen
ges – die Wehrmacht überfällt die Sow-     schen der Kollaboration mit dem Feind Krasnodar und Ordschonikidse, dem
jetunion. Anweisungen zur Internierung     beschuldigt.                             Gebiet Tula sowie der Kabardino-Bal-
von Personen deutscher Volkszugehö-                                                 karischen und Nord-Ossetischen ASSR.
rigkeit.                                   31. August 1941:
                                           Beschluss des Politbüros des Zentralko- 22. September 1941:
28. Juni 1941:                             mitees der KPdSU über die Ukrainedeut- Beschluss des Staatlichen Verteidi-
Direktive des NKWD und des NKGB            schen; demnach müssen alle deutschen gungskomitees über die „Umsiedlung“
(Volkskommissariat für Staatssicher-       Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren von Deutschen aus den Gebieten Sapo-
heit) der UdSSR über die „Umsiedlung       in Arbeitslager im Ural und Kasachstan roschje, Stalino und Woroschilowgrad.
sozial-gefährlicher Elemente“ aus Ge-      mobilisiert werden. Über 18.600 Per-
bieten im Kriegszustand.                   sonen werden mobilisiert. Der schnelle September 1941:
                                           Vormarsch der deutschen Truppen ver- Beschluss des Staatlichen Verteidi-
Juli 1941:                                 hindert eine weitere Mobilisierung.      gungskomitees über die „Umsiedlung“
1.200 deutsche Arbeitssiedlerfamilien      Die mobilisierten Deutschen aus der von 11.500 Deutschen aus dem Gebiet
auf dem Territorium der Karelo-Fin-        Ukraine gehören zum ersten Kontin- Kujbyschew.
nischen SSR, die in den Jahren 1932-       gent der Trudarmee.
33 aus den Grenzgebieten der Ukrai-                                                 September-Oktober 1941:
nischen SSR ausgewiesen worden sind,       August-September 1941:                   Befehl des Kriegsrates der Westfront
sollen in Anbetracht der Lage in die       96.000 Bürger finnischer und deutscher über die „Umsiedlung“ der Deutschen
Komi ASSR umgesiedelt werden.              Nationalität werden aus Leningrad und aus dem Gebiet Kalinin.
                                           Umland vertrieben.
August 1941:                                                                        8. Oktober 1941:
Deportation von 53.000 Deutschen von       3.-20. September 1941:                   Beschluss des Staatlichen Verteidigungs-
der Krim in den Nordkaukasus. Später       Deportation der deutschen Bevölkerung komitees der UdSSR über die „Umsied-
werden sie mit nordkaukasischen Deut-      aus dem Wolgagebiet nach Sibirien und lung“ der Deutschen aus dem Gebiet
schen hinter den Ural ausgesiedelt.        Kasachstan, die meisten mit 376.717 Per- Woronesch.

10
75 Jahre Deportation – Geschichte
 8. Oktober 941:                            verhafteten Volksdeutschen sind in das
 Beschluss des Staatlichen Verteidi-        Sonderlager Tschernogorsk des NKWD            Wo waren die
 gungskomitees der UdSSR über die           der UdSSR der Eisenbahnverwaltung
„Umsiedlung“ der Deutschen aus der          Krasnojarsk einzuweisen.                      deportierten Deutschen
 Georgischen, der Aserbaidschanischen                                                     am 1. Juli 1950?
 und der Armenischen ASSR.               Dezember 1948:
                                                                                          GebietAnzahl
                                         590.977 deutsche Sondersiedler sind
 15. Oktober 1941:                       im Arbeitseinsatz; etwa 272.000 in der           Altai93.468
 Befehl des NKWD der UdSSR über die Landwirtschaft, 66.450 in der Kohlen­                 Amur2.043
„Umsiedlung“ der Deutschen aus dem industrie, 44.066 in der Holz- und Pa-                 Archangelsk12.315
 Gebiet Gorkij.                          pierindustrie, 20.171 in der Eisenhüt-           Baschkirische ASSR       11.691
                                         tenindustrie, 26.095 im Ministerium für          Burjato-Mongolische ASSR 2.891
 22. Oktober 1941:                       örtlich geleitete Industrie, 25.392 im
 Beschluss des Staatlichen Verteidi- Ministerium des Innern, 14.542 in der
                                                                                          Chabarowsk2.818
 gungskomitees der UdSSR über die Erdölindust­rie, 16.789 auf Bauobjekten                 Dnjepropetrowsk478
„Umsiedlung“ der Deutschen aus der für Schwerindustrie.                                   Gorki1.385
 Dagestanischen ASSR und der ASSR der                                                     Irkutsk5.405
 Tschetschenen und Inguschen.            26. November 1948:                               Iwanowo1.809
                                         Beschluss „Über strafrechtliche Verant-          Jakutische ASSR           3.280
 25. Dezember 1941:                      wortung für die Flucht aus den Orten             Karelo-Finnische ASSR        73
 Bis zu diesem Zeitpunkt sind 894.626 der obligatorischen und ständigen An-
                                                                                          Kasachische SSR         414.265
 Deutsche in der UdSSR (nach ande- siedlung der während des Vaterlands-
 ren Angaben 949.829) deportiert und in krieges in die entfernten Gebiete der             Kemerowo58.954
 Sondersiedlungen eingewiesen worden. Sow­    jetunion ausgesiedelten Perso-              Kirgisische SSR          16.504
                                         nen“. Die Strafmaßnahme sieht 20 Jahre           Kirow6.443
 10. Januar 1942:                        Zwangsarbeit vor.                                Komi-ASSR11.357
 Beschluss über die Massenmobilisie-                                                      Kostroma6.390
 rung der Deutschen zur Trud­    armee. 13. Dezember 1955:                                Krasnojarsk58.097
 Massenhafte Mobilisierungen erfolgen Beschluss „Über die Aufhebung der Be-               Kujbyschew5.215
 außerdem nach den Beschlüssen vom schränkungen in der rechtlichen Lage
 14. Februar 1942 und vom 7. Okto- der Deutschen und deren Familien,                      Kurgan378
 ber 1942 (jetzt werden auch Frauen zur die in Sondersiedlungen untergebracht             Magadan „Daljstroj“       2.653
 Trud­armee einbezogen) sowie vom Mai sind“. In ihre früheren Orte dürfen die             Mari-ASSR2.512
 bis September 1943.                     Deportierten jedoch nicht zurück.                Molotow43.610
 Die Trudarmee existiert offiziell bis                                                    Moskau6.612
 zum März 1946, viele Deutsche müssen 29. August 1964:                                    Nowosibirsk74.535
 jedoch viel länger in ihren Mobilisie- Beschluss „Über Änderungen im Be-                 Omsk39.407
 rungsorten bleiben. Hunderttausende schluss des Präsidiums des Obersten
 deutsche Männer und Frauen werden Rates der UdSSR vom 28. August 1941
                                                                                          Rjasan1.508
 mobilisiert, etwa 70.000 von ihnen ‚Über die Übersiedlung der im Wolga-                  Sachalin691
 kommen ums Leben.                       gebiet lebenden Deutschen‘“. Die Wol-            Swerdlowsk53.182
                                         gadeutschen werden zwar von den „un-             Tadschikische SSR        20.028
 9. März 1942:                           begründeten Beschuldigungen“ der                 Tatarstanische ASSR       1.327
 Befehl des Kriegsrates der Leningrader Kollaboration mit dem Feind befreit,              Tjumen25.730
 Front über die „Umsiedlung“ der Deut- aber eine Rückkehr in ihre Vorkriegs-              Tomsk23.119
 schen aus dem Gebiet Leningrad.         wohnorte sowie die Wiederherstellung
                                                                                          Tscheljabinsk41.634
                                         ihrer Autonomie sieht der Beschluss
 Januar 1945:                            nicht vor.                                       Tschita543
 Sondersiedlungen erhalten rechtlichen                                                    Tschkalow12.813
 Status, Sonderkommandanturen wer- 3. November 1972:                                      Tschuwaschische ASSR        276
 den gegründet.                          Beschluss „Über die Aufhebung der ehe-           Tula12.337
                                         mals für bestimmte Bürgerkategorien              Turkmenische SSR          2.544
 7. Januar 1944:                         vorgesehenen Einschränkungen in der              Udmurtische ASSR          7.888
 Befehl über die Verhaftung der Volks- Wahl des Wohnortes“.                               Uljanow652
 deutschen, die sich auf dem Territo- Russlanddeutsche erhalten damit 31
 rium der UdSSR befinden, das von der Jahre nach der Deportation das Recht,               Usbekische SSR            7.788
 deutschen Besatzung befreit worden ist. an ihre Vorkriegswohnorte zurückzu-              Wladimir97
 Ihr Vermögen wird beschlagnahmt, die kehren.                                             Wologda9.322
                                                                                          Gesamt1.1062.79
                                                                               Quellen:
                                                                                                (Aus RODINA 10/2002, S. 95ff,
           – Alfred Eisfeld, Viktor Herdt: „Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee“.
  – W. A. Aumann, V.G. Tschebotarewa: „Istorija Rossijskich Nemzew w Dokumentach“.                        von Dr. V. Krieger)
                  – Forschungsergebnisse russlanddeutscher und russischer Historiker.

                                                                                                                         11
75 Jahre Deportation – Requiem
Michael Disterheft:

„In jenen Jahren“ – Requiem für alle
 Deportierten, Verbannten und Ermordeten

N
        och vor dem deutsch-­                        Auch in den harten Kriegs-    nahm Michael Disterheft das Thema
        sowjetischen Krieg                        jahren hörte er nie auf zu       der Deportation und Zwangsarbeit in
        wurde der bei Le-                         malen – schon 1945 fand in       Angriff. Skizzen aus der Kriegszeit, in
ningrad geborene Michael                          Swerdlowsk (Jekaterinburg)       denen er Erniedrigungen, Hunger, Leid
Disterheft (1921-2005) in                         die erste Ausstellung des Ma-    und Tod dokumentiert hatte, bildeten
die Rote Armee einberufen.                        lers statt. 1951 erwirkte Dis-   die Grundlage der Serie „In jenen Jah-
Mit dem Kriegsausbruch                            terheft seine Verlegung als      ren“: 37 Zeichnungen mit Silber-, Rö-
1941, der sein Kunststu-                          Sondersiedler nach Nischnij      telstift und Kohle, die ein erschütterndes
dium durchkreuzte, landete                        Tagil, wo er seine Kunstaus-     Requiem für alle Verhafteten, Depor-
er als Deutscher in der Koh- Michael Disterheft   bildung beendete.                tierten und in den stalinistischen Ge-
lengrube des berüchtigten                            In den nächsten Jahr-         fängnissen und Lagern Ermordeten dar-
Bogoslowlag bei Karpinsk, wo er jah- zehnten schuf der Künstler zahlrei-           stellen.
relang hinter Stacheldraht schuftete.   che Ölbilder, Werke in Aquarell- und          Nachstehend jene Bildern des Zyk-
   Bereits davor, 1937, war sein Vater Pastelltechnik, Bleistift- und Kohlen-      lus (mit Disterhefts Texten), die sich mit
im Zuge der stalinistischen „Säuberun- stiftzeichnungen, Linolschnitte und Ra-     dem Leid der Menschen in der so ge-
gen“ verschleppt und ermordet worden. dierungen. Erst Mitte der 1980er Jahre       nannten Trudarmee befassen.

                                                                TRUDARMEE
                                                                (Arbeitsarmee; russ. trudarmija)

                                                                 ist ein euphemistischer Terminus für ein besonderes
                                                                 System der Zwangsarbeit, das in der Sowjetunion in
                                                                 den Jahren 1941-1946 vor allem für russlanddeutsche
                                                                Jugendliche, Männer und Frauen aufgebaut wurde.
                                                                 Nach der Liquidation der ASSR der Wolgadeutschen und
                                                                 der Verbannung der deutschen Minderheit in den asiati-
                                                                 schen Teil des Landes und ihrer weitgehenden Entrech-
                                                                 tung nach dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sow­
                                                                 jets der Sowjetunion vom 28. August 1941 schuf man
                                                                 für die Deutschen des Landes eine neue Lagerkategorie
                                                                – eine Zwitterkonstruktion aus rekrutierten Bauarbeitern
Die Vertreibung                                                  und Strafgefangenen, wobei sie in der Lagerstatistik kei-
Der Zug ist angekommen. Weiter gibt es keinen Weg. Die ge-       ne Erwähnung fanden.
waltsam deportierten Menschen waren gezwungen, sich ir-
gendwie einzurichten, in aller Abgeschiedenheit, inmitten des
Schnees und der Öde zu leben. Die Ausmaße dieser Aktion         Typische Merkmale der Zwangsarbeitslager:
waren ungeheuerlich: Es wurden ganze Dörfer, Städte, Kreise
und Republiken entvölkert.                                      • Unterbringung in von Stacheldraht umgebenen
                                                                   Baracken;
                                                                • Arbeitseinsatz und Freizeit unter militärischer
                                                                   Bewachung;
 Insbesondere in den Jahren 1942 und 1943, als die Bau-         • Essens- und Verpflegungsrationen nach den Normen
 stellen auf die Aufnahme dieser großen Anzahl von über-           des GULag;
 wiegend bäuerlichen Häftlingen nicht vorbereitet waren,        • Verbot jeglicher nicht gebilligter Kontakte mit der
 war die Sterblichkeit in den Lagern der Trudarmee außer-          zivilen Bevölkerung.
 ordentlich hoch. Sie trug genozidale Züge. So kam im
 Lager Wjatlag im Winter 1942 über ein Drittel der Lager-       Die Aushebung durch örtliche Kriegskommissariate
 insassen ums Leben. Selbst nach Statistiken des NKWD           des Verteidigungsministeriums und ihre Unterstellung
 waren zum 1. Januar 1943 rund 26 Prozent der Arbeits-          unter die Kriegsgerichtsbarkeit verlieh dieser Kategorie
 armisten arbeitsunfähig. Eine verlässliche Zahl der Opfer      Züge einer militärischen Rekrutierung: Eigenmächtiges
 lässt sich bislang nicht angeben; die Sterblichkeitsrate       Verlassen des zugewiesenen Einsatzortes wurde nicht
 soll Hochrechnungen aus einzelnen Lagern zufolge nicht         als Flucht, sondern als Desertion bezeichnet und ent-
 weniger als 20 Prozent betragen haben.                         sprechend geahndet.

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75 Jahre Deportation – Requiem

                                                             In der Baracke
                                                             Dreigeschossige Pritschen für 18 Mann in einem Zimmer
 Sonderkontingent                                            von 14 Quadratmetern. Ein fast bis oben hin mit Säge-
 Ein schreckliches Bild des menschlichen Leids: „Administra- spänen zugeschüttetes Fenster, das nur einen schmalen
 tiv“, also ohne Gesetz und Untersuchung, wurden Opfer als Himmelsstreifen erkennen ließ. Der Ofen wurde mit Kohle
„sozial gefährliche Elemente“ eingestuft. Warum? Sie waren geheizt, und in die stickige Luft mischte sich ein charakte-
 billige Arbeitskräfte.                                      ristischer Geruch, der Ekel und Kopfschmerzen bewirkte.

In der Arbeitsarmee                                            Kohlenträger
Eine Brigade in der Tiefe einer Kohlengrube. In der Mitte      Zur Arbeit marschierten wir unter Bewachung. Zurück zur
ein Leutnant der Panzertruppen... Viele Frontkommandeure       Baracke ging jeder, wie er noch konnte, doch unbedingt mit
wurden in den Lagern für die verschiedensten Bereiche ein-     einem Stück Kohle auf dem Rücken (zum Heizen der Bara-
gesetzt. Rechts mein Kamerad Wladimir Leonhardt, wie er        cken). Vier Kilometer in eine Richtung. Viele sind auf diesem
sehnsuchtsvoll in die Ferne schaut. Ehemals war er literari-   langen Weg liegen geblieben...
scher Leiter des Bolschoi-Theaters der UdSSR. Seine kluge,
scharfe Zunge, die lustigen Feuerchen in den Augen… Das
brachte ihm dann sein Verderben. 1946 holte man ihn ab...
Wegen eines Wortes: Wahrheit! Er verschwand für immer.

                                                                                                                        13
75 Jahre Deportation – Requiem

                                                                Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees
                                                                der UdSSR vom 10. Januar 1942 über die Richtlinien
                                                                für den Einsatz der deutschen Umsiedler im wehr-
                                                                pflichtigen Alter von 17 bis 50 Jahren (Auszüge):

                                                                1. Alle deutschen Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren,
                                                                die für körperliche Arbeit tauglich und in die Gebiete No-
                                                                wosibirsk, Omsk, die Regionen Krasnojarsk und Altai und
                                                                in die Kasachische SSR ausgesiedelt worden sind – etwa
                                                                120.000 Personen – , werden für Arbeitskolonnen für die
                                                                gesamte Dauer des Krieges mobilisiert. Von dieser Zahl
                                                                sind zu übergeben:
                                                                 a) dem NKWD der UdSSR (Volkskommissariat für Innere
                                                                    Angelegenheiten) – zum Holzeinschlag 45.000 Per-
                                                                     sonen, – zum Bau von Betrieben in Bakal und Bogo­
                                                                     slowsk 35.000 Personen;
                                                                 a) dem NKPS der UdSSR (Volkskommissariat für Verkehrs-
                                                                     wesen, Eisenbahnverkehr) – zum Bau der Eisenbahnen
                                                                     Stalinsk-Abakan, Stalinsk-Barnaul, Akmolinsk-Kartaly,
                                                                    Akmolinsk-Pawlodar, Soswa-Alapajewsk, Orsk-Kanda­
                                                                     gatsch, Magnitogorsk-Sara 40.000 Personen.

                                                                5. Das NKWD der UdSSR wird beauftragt, die Sachen in
Auszehrung                                                      Bezug auf die in den Einberufungs- oder Sammelstellen
Die Abteilung für prophylaktische Hilfe, kurz OPP genannt,      zum Abtransport nicht erschienenen Deutschen sowie in
in jener Zeit eine allgemein bekannte Abkürzung. Die            Bezug auf die in Arbeitskolonnen Befindlichen für Diszip­
schwache Hoffnung, die Gesundheit wieder herzustellen           linverletzung und Arbeitsverweigerung, Nichterschei-
und Kräfte zu sammeln. Ich habe oft darüber nachgedacht:        nen trotz Mobilisierungsbefehl und für Desertion aus
Warum gab es in der Zone so viele Unterernährte? Während        den Arbeitskolonnen im Sonderkollegium des NKWD
der Leningrader Blockade, die meine Verwandten erleben          der UdSSR zu verhandeln und in den härtesten Fällen die
mussten, bekamen die Menschen 125 Gramm Brot pro Tag            Höchststrafe zu verhängen.
und haben dennoch überlebt. Sie besaßen einen starken
Geist, sie hatten Hoffnung auf Befreiung.

 Los, los                                                     „Kommandant“ und „Lagerschutz“
„Der Spaten ist kein Bagger...“ Diese Worte waren überall und Die Wache nahm ihre Pflichten sehr ernst. Die psychischen
 ständig zu hören.                                             Charakteristiken der Dargestellten sprechen für sich selbst.

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