75 JAHRE DEPORTATION DER DEUTSCHEN IN DER SOWJETUNION - ENTWÜRDIGT - ENTWURZELT - LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND
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Entrechtet - Gedenkschrift Entwürdigt - Entwurzelt 75 Jahre Deportation der Deutschen in der Sowjetunion •• •• •• • • • Lm D .• R e. V Herausgegeben von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.
75 Jahre Deportation Nora Pfeffer Die Ballade vom Besen D ie Dichterin, Publizistin und Übersetzerin Nora Pfeffer wurde 1919 in Und du ahntest, Tbilissi, Georgien, geboren, war ab 1992 in Deutschland und starb 2012 dass der schleichende Wahnsinn in Köln. Ihr autobiografisches Gedicht „Die Ballade vom Besen“ schrieb schon wieder mal sie im Untersuchungsgefängnis von Tbilissi, in dem sie 1943-44 war, nachdem Einlass begehrte sie denunziert und vom NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenhei- in die düstere Zelle. ten) verhaftet worden war. Ohne näher auf die konkreten Ursachen der Inhaftierung einzugehen, bringt Und plötzlich wusstest du, das Gedicht in eindrucksvoller und berührender Weise die Trauer über das zum was deine Bestimmung war: Ausdruck, was den Deutschen – und nicht nur ihnen! – in der Sowjetunion Sta- Die Ahnungslose zu retten lins angetan wurde. aus ihrer höchsten Not. Und du wusstest auch – wie! Woher konntet ihr wissen, Hirsehalme, „Brich ein Stäbchen von mir ab“, was eure Bestimmung war, rauntest du ihr zu, als am silbernen Bach „tröpfle Wasser der grüne Wind aus dem irdenen Krug euch umschmeichelte? auf den Tisch und kratze den Dreck von ihm ab!“ Woher konntet ihr wissen, Hirsehalme, Und sie brach ein Stäbchen ab was eure Bestimmung war, und tröpfelte Wasser auf den Dreck als man euch und kratzte zum goldgelben Besen und schabte stundenlang... zusammenband? Und sie hatte eine Beschäftigung. Und woher konntest du wissen, Und auf einmal war da Besen, ein grellgelber Fleck. was deine Bestimmung war Und sie brach in der grauen Trostlosigkeit weitere Stäbchen ab der finsteren Zelle?... und kratzte und schabte den Dreck vom Tisch... Da wurde sie hereingestoßen – nach Mitternacht – Und es vergingen Tage, die sonnenblonde Frau, bis sich der gelbe Fleck schreiende Verzweiflung über die ganze Tischplatte ergoss. in den Augenhöhlen... Und du sahst, wie ihre Augen für Augenblicke Nachts meeresblau schimmerten. lauschte sie in die Dunkelheit, Nora Pfeffer und ihr Herz begann zu flattern Und sie begann in namenloser Angst den lehmigen Boden zu schaben. bei den sich nahenden Stiefeln. Und darob vergingen Monate, da sie nicht schlafen durfte und dann war es ein kirschrot Und vor der Tür nach der nächtlichen lackierter Zementboden. verhielten die Schritte. Grausamkeit... Ein Augenblick – Stille: Und da verspürte sie Zum Sprung holte aus Und du sahest, Besen, den Geschmack von Kirschen das reißende Tier: wie das Sonnengold ihres Haares auf den Lippen. Kurz – das Rasseln seinen Glanz verlor Kaum wahrnehmbar – des Schlüssels im Schloss!... und das Meeresblau das Lächeln um ihren Mund... ihrer Augen Und nach Stunden vergraute... Sie freute sich wurde sie hereingeschleift... am Rot und am Gelb... Und nur der vergitterte Mond Und einmal hörtest du strich für Augenblicke ihre zerrissenen Lippen flüstern: Du, guter Besen, mitleidig über die Erschöpfte... „Ich bring dir das Tannenbäumchen, hattest jedoch mein Kind, keine Stäbchen mehr. Und schneckenhaft ich hab‘s dir versprochen, Aber – krochen die Tage dahin, mein Kind!“ du freutest dich sehr... 2
75 Jahre Deportation Gedenkschrift: Inhalt Entrechtet - 2 Nora Pfeffer: Die Ballade vom Besen 4 Waldemar Eisenbraun: Vorwort des Bundesvorsitzenden der Entwürdigt - Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Geschichte Entwurzelt 5 Viktor Krieger: Vorgeschichte und Umstände der Deportation im Jahre 1941 10 Chronik: Deportation der Deutschen in der Sowjetunion Requiem 75 Jahre Deportation 12 Michael Disterheft: „In jenen Jahren“ – Requiem für alle Deportierten, Verbannten und Ermordeten der Deutschen in der 20 Gottlieb Eirich: Mit Blut getränktes Brot Zeitzeugen Sowjetunion 21 24 Ilona Walger: Die Verbannung Johannes Weiz: „In sechs Brigaden war nach einigen Monaten die Hälfte der Männer tot.“ 25 Emma Kromm: „Das zu überleben ist arg…“ – vergessene Tragödien russlanddeutscher Familien 27 Edmund Goldade: Erinnerungen an die schwersten Tage meines Lebens 30 Willi Faber: Zwischen Hungertod und Erfrieren Impressum 31 Willi Faber: So nah und weit 31 Robert Leinonen: Der Rucksack © 2016 32 Woldemar Berger: Von der Wolga in die Verbannung 35 Maria Schefner: Gesprengte Kindheit Herausgeber: 36 Nina Paulsen: Der Glaube half beim Überleben – Landsmannschaft der Deutschen aus Russland die „Psalmen-Schatulle“ der Anna Kasdorf 37 Reinhold Schulz: 342 Flicken zählte Alexander Boos auf seiner „Fufaika“ Kontakt: 38 Elvira Schick: Aus der Hölle zum Leben Landsmannschaft der Deutschen 39 Artur Schneider: Drei Schwestern – Schicksalsschläge mit aus Russland e. V. Geduld und Demut meistern Raitelsbergstraße 49 40 Valentina Spieß (aufgezeichnet von Sophie Wagner): Unter Bomben in die 70188 Stuttgart Verbannung Tel.: 0711-16650-0 43 David Geibel: Die Reise in die Ungewissheit Fax: 0711-2864413 43 Reinhold Frank: Unsere Opfer E-Mail: Kontakt@LmDR.de 44 Rosalina Müller: Erinnerungen an meine Kindheit www.deutscheausrussland.de Kunst und Literatur www.facebook.com/LmDR.ev 46 Oskar Aul: „Russlanddeutsche Frauen in der Trudarmee“ 46 Karl Betz: „Die Wolgadeutschen – ein Schicksalsweg“ Redaktion: 47 Helmut Frelke: Mit der Kunst den Betrachter wachrütteln Hans Kampen, Nina Paulsen 47 Rosa Pflug: Schwarz waren die Zeiten 48 Johannes Gräfenstein: Kein Grab, kein Kreuz erinnert an die elendig Gestaltung: Verstorbenen Ilja Fedoseew 48 Isolde Hartwahn: Hoffnung, neben Leid, Schmerz, Sehnsucht, Hunger und Hass Fotos: 49 Kurt Hein: Bilder, die Geschichten aus der Kommandanturzeit erzählen Archiv der Landsmannschaft („Volk auf dem Weg“) 50 Günther Hummel: „Das Schicksal meiner Landsleute liegt mir in den Knochen...“ Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte 50 Viktor Schnittke, Robert Weber: Gedichte Detmold 51 Viktor Hurr: Heimatverlust, Deportation und Zwangsarbeit im Mittelpunkt 51 Waldemar Weber: Gräber der Väter Druckerei: 52 Andreas Prediger: Mit der Kunst „auf die Pauke hauen“ W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG 52 Alexander Wormsbecher: Das Unrecht der Deportation beschäftigte ihn bis zuletzt Herzlichen Dank an alle, die zur 53 Nikolaus Rode: Kunst zwischen Heimatfindung und Menschenwürde Fertigstellung der Gedenkschrift beigetragen haben. 53 Waldemar Weber: Hoffnung 54 Jakob Wedel: „Um dem Tod zu entrinnen, haben wir Kräuterwurzeln aus Gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für dem Schnee gegraben.“ Arbeit und Soziales, Familie und Integration über das 54 Viktor Schnittke: November 1942 Haus des Deutschen Ostens (München) 55 Viktor Krieger: Eine Bilanz des Schreckens 3
75 Jahre Deportation Vorwort des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Waldemar Eisenbraun N icht zufällig hatte die Lands- die Gesamtheit der Deutschen aus Russ- mannschaft der Deutschen aus land konstruiert. Russland ihr 32. Bundestreffen Mit den ihr zur Verfügung stehen- am 4. Juli 2015 in Stuttgart unter das den Mitteln ist die Landsmannschaft Motto „Von Hilfesuchenden zu Leis- seit Jahrzehnten bemüht, gegen Miss- tungsträgern“ gestellt. Wir brachten stände dieser Art vorzugehen - in ihren damit zum Ausdruck, dass sich die Publikationen, durch Stellungnahmen Deutschen aus Russland nach einem und bei Gesprächen mit Entscheidungs- langen Leidensweg in der ehemaligen trägern. Sowjetunion und Schwierigkeiten der Ebenso ist zu bedauern, dass die Ge- ersten Jahre nach der Wiederansied- schichte und Kultur der Deutschen aus lung in Deutschland zu einem Gewinn Russland nach wie vor nicht Bestandteil für unser Land entwickelt haben, wie des kollektiven Gedächtnisses der Bun- durch sämtliche Untersuchungen be- desrepublik Deutschland sind. Ihre Ge- stätigt wird. schichte und Kultur „finden nicht statt“ - weder im Schulunterricht, noch in den Dennoch verhindern nach wie vor Medien, noch in der großen Politik. Waldemar Eisenbraun bestehende Benachteiligungen seitens Publikationen wie die vorliegende der Gesellschaft, dass meine Landsleute sollen daher dazu beitragen, diese Wis- Gedenkveranstaltungen aus Anlass des sich als wirklich gleichberechtigte Bun- sens- und Aufmerksamkeitslücken zu 75. Jahrestages der Deportation der desbürger fühlen können. Erhebliche beseitigen. Unter Verzicht auf allzu tro- Deutschen in der Sowjetunion auf die Rentenkürzungen aufgrund der Fremd ckene Analysen schildert sie die tragi- Notwendigkeit einer Rehabilitierung der rentengesetzgebung gehören ebenso sche Geschichte der Volksgruppe in den russlanddeutschen Volksgruppe durch dazu wie die mangelhafte bzw. völlig 30er, 40er und 50er Jahren des vergan die Russische Föderation als Nachfol- fehlende Anerkennung von in der ehe- genen Jahrhunderts vor allem anhand gerin der ehemaligen Sowjetunion hin. maligen Sowjetunion zurückgelegten von Zeitzeugenberichten sowie von Eine Rehabilitierung, die längst überfäl- Ausbildungsgängen bzw. mitgebrach- künstlerischen und literarischen Dar- lig ist! Eine Rehabilitierung von Men- ten beruflichen Qualifikationen. Dage- stellungen. schen, die ohne jede Schuld zu Opfern gen werden allzu leicht aus Verfehlun- Mit dieser Publikation weisen wir zweier Unrechtsregime wurden! gen Einzelner haltlose Vorwürfe gegen aber ebenso wie im Rahmen unserer Waldemar Eisenbraun Profil der Landsmannschaft mannschaft durch die in Stuttgart ansäs- sige Bundesgeschäftsstelle. der Deutschen aus Russland e. V. Traditionell am stärksten vertreten ist die Landsmannschaft in ihrem Pa- D tenland Baden-Württemberg. Starke ie Landsmannschaft der Deut- überparteilich und überkonfessionell Landes- und Ortsverbände existieren schen aus Russland ist die äl- und sucht stets den Dialog mit allen de- aber auch in den Bundesländern Bay- teste und größte Organisation mokratischen Parteien. ern, Nordrhein-Westfalen, Niedersach- der Volksgruppe in Deutschland und Familienzusammenführung sowie sen und Hessen. offen für alle Deutschen aus der ehe- die soziale, gesellschaftliche, berufliche Die Verbandszeitung „Volk auf dem maligen Sowjetunion. und religiöse Eingliederung in die deut- Weg“ ist die Stimme der Landsmann- Der Verband wurde vor 65 Jahren als sche Gesellschaft, Geschichts-, Kultur-, schaft und ihrer Mitglieder. Die „Hei- „Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler“ Öffentlichkeits- und Jugendarbeit gehö- matbücher“ und andere Publikationen gegründet und 1955 in „Landsmann- ren von jeher zu den wichtigsten Auf- behandeln die Geschichte und Kultur schaft der Deutschen aus Russland“ um- gaben der Landsmannschaft in der Ge- der Deutschen aus Russland in verschie- benannt. Er bekennt sich zur „Charta genwart. denen Zeitabschnitten. der deutschen Heimatvertriebenen“ und Die Landsmannschaft der Deutschen Um die Aufklärungsarbeit über die versteht sich als Inte ressenvertretung, aus Russland ist organisatorisch unter- Volksgruppe zu fördern, ist die lands- Hilfsorganisation und Kulturverein teilt in Landes- sowie rund 140 Orts- mannschaftliche Wanderausstellung der Deutschen aus Russland nicht nur und Kreisgruppen, deren Vertreter bei „Deutsche aus Russland. Geschichte in Deutschland, sondern auch in den der alle drei Jahre stattfindenden Bun- und Gegenwart“ als ältestes und größ- Nachfolgestaaten der Sowjetunion. desdelegiertenversammlung den ehren- tes Integ rationsprojekt des Verbandes Die Landsmannschaft verfolgt aus- amtlich tätigen Bundesvorstand wählen. in mehreren identischen Fassungen seit schließlich gemeinnützige Zwecke, ist Koordiniert wird die Arbeit der Lands- rund 20 Jahren bundesweit unterwegs. 4
75 Jahre Deportation – Geschichte Dr. Viktor Krieger Vorgeschichte und Umstände der Deportation im Jahre 1941 Vorboten der Katastrophe Erlass Den unmittelbaren Anlass zur Auf- des Präsidiums des Obersten Sowjets der lösung der autonomen Republik und zur Einleitung der totalen Deportation Sowjetunion vom 28. August 1941„Über die der deutschen Minderheit konnte ein Übersiedlung der Deutschen, die in den Brief der Politbüromitglieder Andrei Wolgarayons wohnen“ Schdanow, Wjatscheslaw Molotow und Georgi Malenkow an Stalin vom 24. Au- Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich gust 1941 geben, in dem sie ihn über unter der in den Wolgarayons wohnenden deutschen Bevölkerung Tausende und den vereinbarten Beschluss informier- Abertausende Diversanten und Spione, die nach dem aus Deutschland gegebenen ten, die Aussiedlung von 88.700 Fin- Signal Explosionen in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons hervor- nen und 6.700 Deutschen aus dem Ge- rufen sollen. Über das Vorhandensein einer solch großen Anzahl von Diversanten biet Leningrad unverzüglich einzuleiten. und Spionen unter den Wolgadeutschen hat keiner der Deutschen, die in den Wol- Schon Wochen zuvor drängte die mi- garayons wohnen, die Sowjetbehörden in litärische Führung, ähnlich wie im Ers- Kenntnis gesetzt, folglich verheimlicht die ten Weltkrieg, mit Hinweisen auf die deutsche Bevölkerung der Wolgarayons die „verräterischen“ Aktivitäten der deut- Anwesenheit in ihrer Mitte der Feinde des schen Bevölkerung auf ihre Ausweisung Sowjetvolkes und der Sowjetmacht. aus den frontnahen Gebieten. So traf Falls aber auf Anweisung aus Deutsch- am 3. August 1941 im Hauptquartier land die deutschen Diversanten und Spi- des Oberkommandos der sowjetischen one in der Republik der Wolgadeutschen Streitkräfte folgende Gefechtsmeldung oder in den angrenzenden Rayons Diver- des Kriegsrats der Südfront ein: sionsakte ausführen werden und Blut ver- gossen wird, wird die Sowjetregierung laut „1. Die Kriegshandlungen am Dnje- den Gesetzen der Kriegszeit vor die Notwendigkeit gestellt, Strafmaßnahmen ge- str haben gezeigt, dass die deutsche genüber der gesamten Wolgabevölkerung zu ergreifen. Bevölkerung auf unsere zurückwei- Zwecks Vorbeugung dieser unerwünschten Erscheinungen und um kein erns- chenden Truppen aus Fenstern und tes Blutvergießen zuzulassen, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR Gärten schoss. Es wurde ferner fest- es für notwendig gefunden, die gesamte deutsche in den Wolgarayons wohnende gestellt, dass die einmarschierenden Bevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln, wobei den Überzusiedelnden Land deutschen Truppen am 1. August in zuzuteilen und eine staatliche Hilfe für die Einrichtung in den neuen Rayons zu er- einem deutschen Dorf mit Brot und weisen ist. Zwecks Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons des Nowosi- Salz begrüßt wurden. Auf dem Ter- birsker und Omsker Gebiets, des Altaigaus, Kasachstans und andere Nachbarort- ritorium der Front gibt es eine Viel- schaften bestimmt. zahl von Siedlungen mit deutscher In Übereinstimmung mit diesem wurde dem Staatlichen Komitee für Landes- Bevölkerung. verteidigung vorgeschlagen, die Übersiedlung der gesamten Wolgadeutschen 2. Wir bitten, den örtlichen Macht- unverzüglich auszuführen und die Versorgung der überzusiedelnden Wolgadeut- organen Anweisungen über die un- schen mit Land und Nutzländereien in den neuen Rayons sicherzustellen. verzügliche Aussiedlung der unzu- Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, verlässigen Elemente zu geben.“ M. Kalinin Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Bis heute gibt es keine Belege dafür, A. Gorkin dass derartige Aktionen irgendwo tat- Moskau, Kreml, 28. August 1941 sächlich stattfanden. Immerhin trug dieses Telegramm Stalins Vermerk „To- warischtschu Berija. Nado wyselit s tres- der als illoyal empfundenen „heimi- Der Entschluss zur Deportation kom! – Dem Genossen Berija. Raus mit schen“ Deutschen einleitete. Bezeich- ihnen, so dass die Türen knallen!“ und nenderweise betraf diese Anweisung Noch am selben Tag bereitete der wies noch einen weiteren Eintrag auf: vorerst nicht die beschuldigten Schwarz- NKWD-Chef eine Vorlage über die Aus- „Dem Volkskommissar (Berija – V.K.) meer-, sondern die weit von der Frontli- siedlung der Deutschen aus dem Wol- wurde dies mitgeteilt. 25.08.41.“ Drei nie entfernt gelegenen und noch „unver- gagebiet vor und reichte sie ins Polit- Wochen lang lag diese Gefechtsmeldung dächtigen“ Wolgadeutschen. Das kann büro ein. Am 26. August 1941 ordnete auf Stalins Tisch, bevor er den passen- nur mit der Absicht erklärt werden, die Stalin, unterstützt von seinen engsten den Zeitpunkt gekommen sah und mit angebliche Illoyalität der Deutschen für Mitarbeitern und Anhängern, die Aus- einem wohl kalkulierten Wutausbruch die Liquidation der autonomen Repub siedlung der Wolgadeutschen an. Dies („Raus mit ihnen...“) die Verbannung lik zu nutzen. wurde als Entscheidung des Zentralko- 5
75 Jahre Deportation – Geschichte mitees der bolschewistischen Partei und der Regierung getarnt. In diesem streng 1937/38 – Jahre des „Großen Terrors“ O geheimen Beschluss, der sich nur an einen engeren Kreis der Partei- und ft wird der Eindruck erweckt, die Verfolgung der Deutschen in Russ- Staatsführer richtete, fehlten jegliche land bzw. der Sowjetunion habe erst mit dem Erlass des Präsidiums Schuldzuweisungen. Die aus insgesamt des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über 19 Artikeln bestehende Direktive – in die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ begonnen. betont sachlicher Lesart verfasst – ver- Davon kann jedoch keine Rede sein. mittelt den Eindruck einer Anweisung zur planmäßigen Übersiedlung. 2012 etwa gedachte die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland neben Einen Tag später erließ das Kom- der Verbringung deutscher Frauen und Männer in die sowjetischen Zwangsar- missariat (Ministerium) des Inneren, beitslager auch des „Großen Terrors“ in der Sowjetunion, der so genannten sta- zuständig für solche „Menschentrans- linistischen Säuberungen, die in den Jahren 1937 und 1938 ihren Höhepunkt fers“, zwei wichtige Anordnungen. Es hatten. handelte sich zum einen um den Be- Unter dem Terror dieser Jahre hatten alle Völker der Sowjetunion zu leiden, fehl Nr. 001158, unterschrieben von Be- in besonderem Maße aber Minderheiten wie Polen, Deutsche, Letten, Esten, Ira- rija, „Über Maßnahmen zur Durchfüh- ner oder Finnen. So stand dem Bevölkerungsanteil der Deutschen in der Sow- rung der Operation zur Umsiedlung der jetunion von 0,8 Prozent ein Anteil an der Gesamtzahl der Verhafteten von 5,3 Deutschen aus der Wolgadeutschen Re- Prozent gegenüber. publik, aus den Gebieten Saratow und Stalingrad“. Die Deportation sollte am 2. September beginnen und bis zum 20. September abgeschlossen sein. Großer Terror: Vom 1. Januar 1936 bis zum Das zweite Dokument hieß „Inst- ruktion zur Durchführung der Umsied- 1. Juli 1938 in der UdSSR verhaftete Personen lung der Deutschen, die in der ASSR der Wolgadeutschen, in den Gebieten C: Anteil D: Anteil der Saratow und Stalingrad ansässig sind“. B: Zahl an der Nationalität Ungefähres Die ersten Zeilen dieser Handlungsan- A: Nationalität der Verhafte- Gesamtzahl an der Verhältnis weisung ließen an dem totalen Cha- (Auswahl) ten der Verhafte- Bevölkerung C/D rakter dieser Maßnahme keinen Zwei- ten der UdSSR fel: „Überzusiedeln sind alle Einwohner Russen 657.799 43,6 % 58,4 % 0,75:1 deutscher Nationalität, die in den Städ- ten und ländlichen Siedlungen der ASSR Ukrainer 189.410 13,3 % 16,5 % 0,81:1 der Wolgadeutschen, der Gebiete Sa- Polen 105.485 7,4 % 0,4 % 18,50:1 ratow und Stalingrad leben. Mitglie- der der Partei und des kommunisti- Deutsche 75.331 5,3 % 0,8 % 6,63:1 schen Jugendverbands Komsomol sind Weißrussen 58.702 4,1 % 3,1 % 1,32:1 gleichzeitig mit den anderen umzusie- deln.“.Einzig Frauen, deren Ehemänner Juden 30.542 2,1 % 1,8 % 1,17:1 nicht Deutsche waren, blieben von der Letten 21.392 1,5 % 0,1 % 15:1 Verbannung verschont. Iraner 14.994 1,1 % 0,02 % 55:1 Da es sich um die Auflösung einer in der Unionsverfassung erwähnten auto- Esten 11.002 0,8 % 0,1 % 8:1 nomen Republik handelte, ließ das Po- Finnen 10.678 0,7 % 0,1 % 7:1 litbüro am 28. August 1941 einen mit fadenscheinigen Kollaborationsvorwür- Insgesamt 1.420.711 100 % 100 % 1:1 fen bestückten Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR verab- schieden, der von dem willenlosen no- minellen Staatsoberhaupt Michail Kali- „Die Verhafteten wurden grausam geschlagen, gequält und mussten längere Zeit nin unterschrieben wurde. ‚still stehen’ usw. Ähnliche Methoden wurden häufig gegen die deutschen Kolo- Im Gegensatz zu dem „intern“ ver- nisten angewendet. Die meisten von ihnen hielten diese Folterungen nicht aus fassten Regierungs- und Parteibeschluss und machten Aussagen über die Verbindung zum Deutschen Konsulat, dem sie wurde im Erlass vom 28. August gegen angeblich Spionagenachrichten hatten zukommen lassen. … ‚Still stehen’ be- die Deutschen die schwerwiegende An- deutete, dass die Verhafteten ununterbrochen im Raum stehen mussten und sich klage von „Tausenden und Abertausen- nicht setzen durften. den Diversanten und Spionen“ unter So standen sie bis zu zwei oder drei Tage und Nächte lang. Wenn dann einer aus- ihnen erhoben und sie somit zu Fein- sagte, so notierte es sofort der Mitarbeiter. Außer dem ‚Stillstehen’ wurden auch den des Sowjetstaates erklärt. Prügel angewendet.“ Die Verbannung der deutschen Dias- Mammad Jafarli: poragruppen aus dem übrigen europä- „Politischer Terror und das Schicksal ischen Teil der Sowjetunion erfolgte in der aserbaidschanischen Deutschen“ den darauf folgenden Wochen und Mo- 6
75 Jahre Deportation – Geschichte naten auf geheime Beschlüsse des Staat- lichen Verteidigungskomitees (GKO) sowie auf Befehle des NKWD und der Kriegsräte einzelner Fronten hin. In einigen Fällen wurde die Anordnung über die Ausweisung durch den Rat der Volkskommissare der Sowjetunion oder die jeweilige Unionsrepublik verfasst. In der darauf folgenden Zeit zettelte das Kommissariat des Inneren eine re- gelrechte Jagd auf Sowjetbürger deut- scher Herkunft an, um die noch nicht registrierten Personen zu erfassen und abzuschieben: “ Weil eine Registrierung der Deut- schen in der Stadt Tula fehlte, wird zur Zeit seitens der Milizverwal- Viktor Hurr: Deportierte Frauen mit Kindern. tung eine verdeckte Arbeit zum Aufspüren aller auf dem Territo- rium der Stadt wohnhaften Deut- hängigkeit unseres Vaterlandes in einer geträumt hat – die Deutschen nach Si- schen durch die Wohnungsämter Reihe mit dem großen russischen Bru- birien zu verbannen – wird jetzt ver- abgewickelt. Außerdem wird die- dervolke, mit allen Völkern der Sowjet wirklicht.“ „Das war zu erwarten ge- selbe Arbeit von Sonderabteilun- union kämpft.“ wesen. Hitler beginnt Russland immer gen der Betriebe und Behörden... Diese Nummer enthielt zudem aus- mehr in die Enge zu treiben, bald wer- und der verdeckten Informanten führliche Schilderungen des Heldento- den die deutschen Truppen bis nach Sta- der operativen Abteilungen des des des wolgadeutschen Komsomolzen lingrad und Engels vorstoßen, deshalb NKWD ausgeführt. Diese Arbeit Heinrich Hoffmann aus dem Kanton fährt man uns raus.“ muss am 27. September dieses Jah- Krasny Kut, worüber einige Tage zuvor In der Stadt und im Gebiet Mos- res [1941] vollendet sein.“ die zentrale sowjetische Jugendzeitung kau versuchten vier Personen nach der „Komsomolskaja Prawda“ berichtet hatte, Bekanntgabe des Aussiedlungsbefehls Das Verhalten der Betroffenen und druckte den Schwur seiner Krasny Selbstmord zu begehen. Ein Ehepaar und der Mehrheitsbevölkerung Kuter Verbandsgenossen ab. nahm sich das Leben, weil die Frau aus Der am nächsten Tag veröffentlichte gesundheitlichen Gründen nicht weg- Noch am 29. August – drei Tage nach Erlass „Über die Übersiedlung der Deut- ziehen konnte. dem geheimen Deportationsbeschluss – schen, die in den Wolgarayons woh- Eine derartige Verleumdung und erschien in der Republikzeitung „Nach- nen“ erschütterte daher die Betroffenen Erniedrigung ungeachtet individueller richten“ ein Leitartikel, in dem unter an- zutiefst und rief Fassungslosigkeit und „Verdienste“ nach 1917 wirkte beson- derem zu lesen war: „Unser Volk, das Empörung hervor; es kam jedoch zu ders enttäuschend auf die Partei- und Sowjetvolk der freien und glücklichen keinen offenen Protestaktionen. Komsomolmitglieder, auf die deut- ASSR der Wolgadeutschen, ist stolz, dass Der Geheimdienst verzeichnete fol- schen Funktionäre und den Großteil es in diesem großen Krieg um die Unab- gende Aussagen: „Wovon der Zarismus der „neuen“ Intelligenz. Schmerzliche Desillusion trieb einige Führungskräfte trotz Parteidisziplin zu originellen Protestaktionen: Der Vorsit- zende des Rates der Volkskommissare der ASSR der Wolgadeutschen, Alexan- der Heckmann, der noch einige Wochen zuvor das „glückliche und wohlhabende“ Leben der Wolgadeutschen als gleich- berechtigte Nation im „Bruderbunde der Sowjetvölker“ gepriesen hatte, fuhr vor der Abreise nach Sibirien mit sei- nem Dienstwagen auf den Stadtmarkt in Engels. Dort begann er, „demonstrativ“ Hausratgegenstände und Kleidungsstü- cke anzubieten. „Sogar den Ministerprä- sidenten haben sie gezwungen, private Sachen auf dem Basar zu verkaufen“, soll Heckmann in diesem Zusammenhang gesagt haben. Für diese „antisowjetische“ Hand- Heinrich Brogsitter: „Erlass vom 28. August 1941. Die letzten Äpfel aus dem lung schloss man ihn umgehend aus der eigenen Garten“. Partei aus. 7
75 Jahre Deportation – Geschichte In der Stadt Naltschik, der Metropole der nordkaukasischen Republik Kabar- Territoriale Verschiebungen nach 1941 dino-Balkarien, wandte sich der Deut- sche Heller, ein Parteianwärter, bei der Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten nur etwa 20 Prozent der Russlanddeut- Bekanntmachung der Aussiedlung zum schen im asiatischen Teil der Sowjetunion. Die meisten von ihnen lebten in Sekretär der Stadtparteikomitees und kompakten Siedlungsgebieten auf dem Land. 50 Jahre später sind sie ver- schleuderte ihm sein Mitgliedsbuch ent- streut vor allem in Kasachstan und Kirgisien, in Sibirien und dem Ural anzu- gegen mit den Worten: „Wieso demü- treffen. Dort lebten die meisten Deutschen nun in Städten (52,8 Prozent) und tigen sie uns und vernichten ehrliche auf dem Land (47,2 Prozent) zusammen mit Angehörigen anderer Völker und Leute, ich fahre nicht, soll man mich unterschiedlicher Konfessionen. doch erschießen.“ Aber selbst verbaler Ungehorsam war eine Ausnahme; die überwältigende Mehrheit der Deutschen fügte sich wi- Republiken Volkszählung Volkszählung derstandslos ihrem Schicksal. und Regionen 17. Jan. 1939 12. Jan. 1989 Die Reaktionen der andersethni- schen Bevölkerung auf die Verbannung UdSSR insgesamt 1.427.232 2.038.341 der Russlanddeutschen waren unter- davon RSFSR 862.504 842.033 schiedlich. In engeren Freundes- und Verwandtschaftskreisen sowie unter unter anderem in: 366.685 — Kollegen am Arbeitsplatz gab es Bei- ASSR der Wolgadeutschen* spiele von Solidarität, Menschlichkeit Gebiete Saratow und 66.721 45.076 und Unterstützung, die von den Behör- Stalingrad (Wolgograd) den angeprangert wurden. Nordkaukasus (ohne Einige prominente Persönlichkeiten 109.994 52.453 autonome Republiken) deutscher Herkunft konnten dank Bitt- gesuchen einflussreicher Freunde von Sibirien 105.391 470.763 Ausweisung, beruflicher Degradierung ASSR Krim** 51.299 — und Einweisung ins Arbeitslager ver- schont werden. Ural 38.441 157.447 Das Schicksal des bedeutenden Pi- andere Regionen der RSFSR 123.673 116.294 anisten und Pädagogen Heinrich Neu- haus ist ein Beispiel dafür. Er wurde am Ukrainische SSR 392.458 37.849 4. November 1941 als Deutscher in Mos- Kasachische SSR 92.571 957.518 kau verhaftet und danach in die Verban- nung geschickt. Dank der Bemühungen Aserbaidschanische SSR 23.133 748 seiner Schüler und Kollegen, unter an- Georgische SSR 20.257 1.546 derem des Komponisten Dmitri Schos takowitsch, bekam er die Erlaubnis, in Kirgisische SSR 11.741 101.309 Swerdlowsk zu wohnen und am Kon- Usbekische SSR 10.049 39.809 servatorium zu unterrichten, bevor er 1944 wieder nach Moskau zurückkeh- Weißrussische SSR 8.448 3.517 ren durfte. Nur ganz wenige Zeitgenossen hat- Turkmenische SSR 3.346 4.434 ten den Mut, wenn auch nur in priva- Tadschikische SSR 2.022 32.671 ter Umgebung, die Deportationen als Verbrechen zu bezeichnen. Zu diesen Arminische SSR 433 265 Aufrichtigen gehörte der weltberühmte Moldausche SSR — 7.335 Schriftsteller Boris Pasternak, der in einem Brief an seine Frau Sinaida Niko- Estnische SSR — 3.466 laewna am 12. September 1941 schrieb: Lettische SSR — 3.783 „Schon vor einigen Tagen wurde Litauische SSR — 2.058 über die totale Aussiedlung der * Nach 1941 wurde das Territorium der ASSR der Wolgadeutschen zwischen den Gebie- ganzen Republik der Wolgadeut- ten Saratow und Stalingrad (seit 1961 Wolgograd) aufgeteilt. schen (bis zu einer Mio. Menschen) ** Nach 1954 gehörte das Gebiet Krim (seit 1990 wieder eine Autonome Republik) zur nach Zentralasien oder hinter das Ukraine. Altai-Gebirge gesprochen. Und plötzlich erreicht es die Moskauer Deutschen, beispielsweise Rita William. Ausgerechnet in dieser schrecklichen regnerischen Nacht Kaisers und Elsners davon erfah- wohnen. Sie müssen morgen nach [in der dieser Brief niedergeschrie- ren, ehrliche, unschuldige und ar- Kasachstan, hinter Taschkent, aus- ben wurde] haben in Peredelkino beitsame Leute, die bei Pawlenkos ziehen. Die ganze Nacht hat mich 8
75 Jahre Deportation – Geschichte das bedrückt. Wie viel Leid und Übel gibt es doch überall, zu wel- Zur Rehabilitation chen Höhen ballt sich die mensch- liche Verwüstung, wie viele Auf- der Volksgruppe rechnungen, die sich oft überdecken, bewahrt die menschliche Rachsucht, 2016 jährt sich der Erlass des Präsidiums des Obersten wie viele Jahrzehnte sollen bis zur Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über die beiderseitigen Versöhnung in der Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons leben“ zum 75. Mal. Zukunft vergehen?“ Gemeinsam sollten wir uns aus diesem Anlass daran erinnern, dass das Solche Ansichten gehörten jedoch zu Jahr 1941 zum tragischen Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen in den Ausnahmen. Wie es in Diktatu- der Sowjetunion wurde. Sie wurden aus dem europäischen Teil des Landes ren üblich ist, schwiegen die meisten nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert und fast 15 Jahre lang oder schauten weg. Durch die seit Mitte in Sondersiedlungen, in der „Trudarmee“, in Straflagern und in Gefängnissen der 1930er Jahre in Gang gesetzte groß- festgehalten. russische Interpretation der Geschichte Hunderttausende von ihnen starben den Hungertod, erlagen ihren Verlet- war die sowjetische Bevölkerung für die zungen oder trugen bleibende gesundheitliche Schäden davon. Aufnahme von antideutschen Ressenti- Unsere Volksgruppe hat ihre historisch gewachsenen Siedlungen, das per- ments empfänglich geworden. sönliche und kollektive Eigentum, alle Kultur- und Bildungseinrichtungen für Weder in den Städten Moskau, Engels immer verloren. oder Saratow, wo vor den Augen ihrer Wir verkennen nicht den Auslöser dieser Katastrophe - den von Deutsch- Nachbarn und Arbeitskollegen Deut- land verursachten Krieg. Wissenschaftlich belegt ist aber auch, dass unsere sche in Sammelstellen der Miliz getrie- Landsleute keine Gefahr für die Sowjetunion und die Rote Armee darstellten. ben und in Güterzüge verfrachtet wur- Sie waren keine „fünfte Kolonne“. den, noch auf dem Lande kam es zu Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zur historischen Verantwor- einem offenen Protest gegen diese Ak- tung für die Kriegsfolgen, von denen sich unsere Volksgruppe bis heute nicht tionen. erholt hat. Nicht wenige billigten dieses Vorge- Die Aufnahme von über 2,5 Millionen Aussiedlern und Spätaussiedlern und hen. Von der massiven Hasspropaganda ihren Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion und die Hilfen verblendet, konnten oder wollten die für die Deutschen, die in Russland und anderen GUS-Republiken bleiben wer- Einwohner des Landes zwischen ihren den, sind ein sichtbares Zeichen dafür. deutschen Landsleuten und dem Ag- Die Russische Föderation hat in ihrem Zuständigkeitsbereich ebenfalls eine gressor keinen Unterschied machen: „Es Reihe von Maßnahmen ergriffen, um das Schicksal der politisch Repressierten ist gut, dass die Deutschen umgesie- zu erleichtern und ihnen eine Lebensperspektive zu geben. delt werden, längst hätte dies geschehen Wir vermissen aber bis heute schmerzlich eine politische Rehabilitierung müssen, unter ihnen sind viele Spione. unserer Volksgruppe. Mehrfach wurde bereits an den Präsidenten Russlands Die Deutschen an der Front misshan- und den Ministerpräsidenten die Bitte um ein klares Bekenntnis zur Vergan- deln unsere Kämpfer und unsere fried- genheit, um einfühlsame Worte des Bedauerns und des Mitgefühls gerichtet. lichen Einwohner.“ Der 75. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen wäre der geeignete Zeitpunkt, und Tscheljabinsk oder Iwdel wären dafür passende Orte. Die Verfolgung der Deutschen in der Stalin-Ära wurde nicht von der Russi- Nach der Verbannung schen Föderation durchgeführt, sondern von der Sowjetunion. Sie kann aber mit der politischen Rehabilitation ein für die Zukunft wichtiges Zeichen set- Eine nicht unbeträchtliche Zahl der zen. ehemaligen Nachbarn beteiligte sich sogar an Diebeszügen in die nun her- Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. renlosen Siedlungen, so dass das Sa- ratower Gebietsparteikomitee am 22. September 1941, wenige Tage nach der Verbannung, in einer Sitzung die „bei- Um die Erinnerung an die einstigen lungen, Marienthal, mutierte zu Sowets- spiellosen Plünderungen“ der verlasse- Einwohner des Wolgagebiets endgültig koje; Jost wurde nun in Oktjabrskoje nen und requirierten Güter geißelte. zu eliminieren, verfügte das Präsidium umbenannt usw. Ähnliche Vorkommnisse gab es in des Obersten Sowjets der Russischen Wo es aus verbliebenen ideologi- anderen von den Deutschen zurück- Föderation in einem Erlass vom 19. Mai schen Gründen gewisse Hemmungen gelassenen Orten. Am 24. Januar 1942 1942 die Russifizierung der deutschen gab, handelte man zurückhaltender: erließ beispielsweise Michail Suslow, Ortsnamen. Die ehemalige Hauptstadt Engels durfte Sekretär des Regionsparteikomitees Sta- Einige Siedlungen hatten schon frü- ihren erst im Oktober 1931 verliehenen wropol im Nordkaukasus, eine beson- her deutsch-russische Namen gehabt; Namen behalten; von Marxstadt blieb dere Anordnung zur erneuten Bestands- ab sofort durften nur die letzteren be- nur die erste Hälfte übrig; der verräte- aufnahme und zum wirksamen Schutz nutzt werden. Die anderen erhielten rische Zusatz -stadt musste weg. Ent- des von den Deutschen konfiszierten größtenteils patriotische sowjetrussi- sprechende Umbenennungen fanden in privaten und kolchoseigenen Besitzes, sche Toponyme: Die Stadt Balzer hieß allen Republiken und Provinzen, aus der sonst verfallen oder geraubt wor- nun Krasnoarmejsk, d.h. Rotarmist; denen die Deutschen zwangsausgesie- den wäre. eine der ältesten wolgadeutschen Sied- delt wurden, statt. 9
75 Jahre Deportation – Geschichte Chronik: Deportation der Deutschen in der Sowjetunion D er nachstehende (unvollständige) Überblick zeigt, in welchem Umfang sonen aus der ASSR der Wolgadeutschen. und mit welcher Genauigkeit die Deportation der Deutschen aus Russ- Zum Wolgagebiet gehören außerdem land in den einzelnen Gebieten der Sowjetunion geplant und durchge- die Gebiete Saratow (46.706 Depor- führt wurde. tierte), Stalingrad (26.245), Kujbyschew Von den Maßnahmen, die in dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets (11.101) und Astrachan (19.850). Am der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über die Übersiedlung der Deutschen, 7. September wird das Territorium der die in den Wolgarayons wohnen“ angekündigt wurden, waren keineswegs nur Wolgadeutschen Republik gemäß Be- die Wolgadeutschen betroffen. Zu leiden hatten vielmehr alle Deutschen in der schluss des Präsidiums des Obersten Sowjetunion, ganz gleich ob sie an der Wolga, am Dnjepr oder am Don, am Rates der UdSSR zwischen den Gebie- Schwarzen Meer, auf der Krim oder im Kaukasus, in Wolhynien, in den Städten ten Saratow und Stalingrad aufgeteilt. oder in Streusiedlungen wohnten. 6. September 1941: Beschluss des Staatlichen Verteidigungs- Juni 1941: August 1941: komitees über die Umsiedlung aus Mos- UNKWD (Verwaltung des Volkskom- Befehl des Kriegsrates der Südfront über kau und Rostow. missariats des Innern) der Stadt und des die „Umsiedlung“ der Deutschen aus Gebietes Moskau: Am 22. Juni sind alle dem Gebiet Dnjepropetrowsk. 6. September 1941: deutschen Staatsangehörigen zu inter- Befehl des Volkskommissariats des In- nieren. Staatenlose Personen deutscher August 1941: nern über die Sicherstellung der Do- Volkszugehörigkeit sind bei Vorliegen Befehl des Kriegsrates der Südwestfront kumente der Wolgadeutschen Republik. von kompromittierendem Material in über die „Umsiedlung“ der Deutschen Haft zu nehmen. aus dem Gebiet Charkow. 7.-8. September 1941: Befehl über die Entlassung aller Deut- Juni 1941: 26. August 1941: schen aus der Roten Armee und ihre UNKWD der Region Krasnojarsk: An- Befehl des Kriegsrates der Leningrader Verlagerung in die Trudarmee. Bis zum weisungen zur Internierung von Perso- Front zur „Umsiedlung“ von Deutschen Jahresende bilden etwa 15.000 Soldaten nen deutscher Volkszugehörigkeit und und Finnen aus der Stadt und dem Ge- und Offiziere der Roten Armee deut- zur Festnahme von Personen, die die biet Leningrad. scher Nationalität das zweite Kontingent deutsche Staatsangehörigkeit nicht be- der Trudarmee. sitzen, wenn dafür ausreichend Mate- 28. August 1941: rial vorliegt. Erlass des Präsidiums des Obersten 21. September 1941: Sowjets der UdSSR „Über die Übersied- Beschluss des Staatlichen Verteidigungs- 22. Juni 1941: lung der Deutschen, die in den Wol- komitees der UdSSR über die „Umsied- Beginn des deutsch-sowjetischen Krie- garayons wohnen“, der die Wolgadeut- lung“ der Deutschen aus den Regionen ges – die Wehrmacht überfällt die Sow- schen der Kollaboration mit dem Feind Krasnodar und Ordschonikidse, dem jetunion. Anweisungen zur Internierung beschuldigt. Gebiet Tula sowie der Kabardino-Bal- von Personen deutscher Volkszugehö- karischen und Nord-Ossetischen ASSR. rigkeit. 31. August 1941: Beschluss des Politbüros des Zentralko- 22. September 1941: 28. Juni 1941: mitees der KPdSU über die Ukrainedeut- Beschluss des Staatlichen Verteidi- Direktive des NKWD und des NKGB schen; demnach müssen alle deutschen gungskomitees über die „Umsiedlung“ (Volkskommissariat für Staatssicher- Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren von Deutschen aus den Gebieten Sapo- heit) der UdSSR über die „Umsiedlung in Arbeitslager im Ural und Kasachstan roschje, Stalino und Woroschilowgrad. sozial-gefährlicher Elemente“ aus Ge- mobilisiert werden. Über 18.600 Per- bieten im Kriegszustand. sonen werden mobilisiert. Der schnelle September 1941: Vormarsch der deutschen Truppen ver- Beschluss des Staatlichen Verteidi- Juli 1941: hindert eine weitere Mobilisierung. gungskomitees über die „Umsiedlung“ 1.200 deutsche Arbeitssiedlerfamilien Die mobilisierten Deutschen aus der von 11.500 Deutschen aus dem Gebiet auf dem Territorium der Karelo-Fin- Ukraine gehören zum ersten Kontin- Kujbyschew. nischen SSR, die in den Jahren 1932- gent der Trudarmee. 33 aus den Grenzgebieten der Ukrai- September-Oktober 1941: nischen SSR ausgewiesen worden sind, August-September 1941: Befehl des Kriegsrates der Westfront sollen in Anbetracht der Lage in die 96.000 Bürger finnischer und deutscher über die „Umsiedlung“ der Deutschen Komi ASSR umgesiedelt werden. Nationalität werden aus Leningrad und aus dem Gebiet Kalinin. Umland vertrieben. August 1941: 8. Oktober 1941: Deportation von 53.000 Deutschen von 3.-20. September 1941: Beschluss des Staatlichen Verteidigungs- der Krim in den Nordkaukasus. Später Deportation der deutschen Bevölkerung komitees der UdSSR über die „Umsied- werden sie mit nordkaukasischen Deut- aus dem Wolgagebiet nach Sibirien und lung“ der Deutschen aus dem Gebiet schen hinter den Ural ausgesiedelt. Kasachstan, die meisten mit 376.717 Per- Woronesch. 10
75 Jahre Deportation – Geschichte 8. Oktober 941: verhafteten Volksdeutschen sind in das Beschluss des Staatlichen Verteidi- Sonderlager Tschernogorsk des NKWD Wo waren die gungskomitees der UdSSR über die der UdSSR der Eisenbahnverwaltung „Umsiedlung“ der Deutschen aus der Krasnojarsk einzuweisen. deportierten Deutschen Georgischen, der Aserbaidschanischen am 1. Juli 1950? und der Armenischen ASSR. Dezember 1948: GebietAnzahl 590.977 deutsche Sondersiedler sind 15. Oktober 1941: im Arbeitseinsatz; etwa 272.000 in der Altai93.468 Befehl des NKWD der UdSSR über die Landwirtschaft, 66.450 in der Kohlen Amur2.043 „Umsiedlung“ der Deutschen aus dem industrie, 44.066 in der Holz- und Pa- Archangelsk12.315 Gebiet Gorkij. pierindustrie, 20.171 in der Eisenhüt- Baschkirische ASSR 11.691 tenindustrie, 26.095 im Ministerium für Burjato-Mongolische ASSR 2.891 22. Oktober 1941: örtlich geleitete Industrie, 25.392 im Beschluss des Staatlichen Verteidi- Ministerium des Innern, 14.542 in der Chabarowsk2.818 gungskomitees der UdSSR über die Erdölindustrie, 16.789 auf Bauobjekten Dnjepropetrowsk478 „Umsiedlung“ der Deutschen aus der für Schwerindustrie. Gorki1.385 Dagestanischen ASSR und der ASSR der Irkutsk5.405 Tschetschenen und Inguschen. 26. November 1948: Iwanowo1.809 Beschluss „Über strafrechtliche Verant- Jakutische ASSR 3.280 25. Dezember 1941: wortung für die Flucht aus den Orten Karelo-Finnische ASSR 73 Bis zu diesem Zeitpunkt sind 894.626 der obligatorischen und ständigen An- Kasachische SSR 414.265 Deutsche in der UdSSR (nach ande- siedlung der während des Vaterlands- ren Angaben 949.829) deportiert und in krieges in die entfernten Gebiete der Kemerowo58.954 Sondersiedlungen eingewiesen worden. Sow jetunion ausgesiedelten Perso- Kirgisische SSR 16.504 nen“. Die Strafmaßnahme sieht 20 Jahre Kirow6.443 10. Januar 1942: Zwangsarbeit vor. Komi-ASSR11.357 Beschluss über die Massenmobilisie- Kostroma6.390 rung der Deutschen zur Trud armee. 13. Dezember 1955: Krasnojarsk58.097 Massenhafte Mobilisierungen erfolgen Beschluss „Über die Aufhebung der Be- Kujbyschew5.215 außerdem nach den Beschlüssen vom schränkungen in der rechtlichen Lage 14. Februar 1942 und vom 7. Okto- der Deutschen und deren Familien, Kurgan378 ber 1942 (jetzt werden auch Frauen zur die in Sondersiedlungen untergebracht Magadan „Daljstroj“ 2.653 Trudarmee einbezogen) sowie vom Mai sind“. In ihre früheren Orte dürfen die Mari-ASSR2.512 bis September 1943. Deportierten jedoch nicht zurück. Molotow43.610 Die Trudarmee existiert offiziell bis Moskau6.612 zum März 1946, viele Deutsche müssen 29. August 1964: Nowosibirsk74.535 jedoch viel länger in ihren Mobilisie- Beschluss „Über Änderungen im Be- Omsk39.407 rungsorten bleiben. Hunderttausende schluss des Präsidiums des Obersten deutsche Männer und Frauen werden Rates der UdSSR vom 28. August 1941 Rjasan1.508 mobilisiert, etwa 70.000 von ihnen ‚Über die Übersiedlung der im Wolga- Sachalin691 kommen ums Leben. gebiet lebenden Deutschen‘“. Die Wol- Swerdlowsk53.182 gadeutschen werden zwar von den „un- Tadschikische SSR 20.028 9. März 1942: begründeten Beschuldigungen“ der Tatarstanische ASSR 1.327 Befehl des Kriegsrates der Leningrader Kollaboration mit dem Feind befreit, Tjumen25.730 Front über die „Umsiedlung“ der Deut- aber eine Rückkehr in ihre Vorkriegs- Tomsk23.119 schen aus dem Gebiet Leningrad. wohnorte sowie die Wiederherstellung Tscheljabinsk41.634 ihrer Autonomie sieht der Beschluss Januar 1945: nicht vor. Tschita543 Sondersiedlungen erhalten rechtlichen Tschkalow12.813 Status, Sonderkommandanturen wer- 3. November 1972: Tschuwaschische ASSR 276 den gegründet. Beschluss „Über die Aufhebung der ehe- Tula12.337 mals für bestimmte Bürgerkategorien Turkmenische SSR 2.544 7. Januar 1944: vorgesehenen Einschränkungen in der Udmurtische ASSR 7.888 Befehl über die Verhaftung der Volks- Wahl des Wohnortes“. Uljanow652 deutschen, die sich auf dem Territo- Russlanddeutsche erhalten damit 31 rium der UdSSR befinden, das von der Jahre nach der Deportation das Recht, Usbekische SSR 7.788 deutschen Besatzung befreit worden ist. an ihre Vorkriegswohnorte zurückzu- Wladimir97 Ihr Vermögen wird beschlagnahmt, die kehren. Wologda9.322 Gesamt1.1062.79 Quellen: (Aus RODINA 10/2002, S. 95ff, – Alfred Eisfeld, Viktor Herdt: „Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee“. – W. A. Aumann, V.G. Tschebotarewa: „Istorija Rossijskich Nemzew w Dokumentach“. von Dr. V. Krieger) – Forschungsergebnisse russlanddeutscher und russischer Historiker. 11
75 Jahre Deportation – Requiem Michael Disterheft: „In jenen Jahren“ – Requiem für alle Deportierten, Verbannten und Ermordeten N och vor dem deutsch- Auch in den harten Kriegs- nahm Michael Disterheft das Thema sowjetischen Krieg jahren hörte er nie auf zu der Deportation und Zwangsarbeit in wurde der bei Le- malen – schon 1945 fand in Angriff. Skizzen aus der Kriegszeit, in ningrad geborene Michael Swerdlowsk (Jekaterinburg) denen er Erniedrigungen, Hunger, Leid Disterheft (1921-2005) in die erste Ausstellung des Ma- und Tod dokumentiert hatte, bildeten die Rote Armee einberufen. lers statt. 1951 erwirkte Dis- die Grundlage der Serie „In jenen Jah- Mit dem Kriegsausbruch terheft seine Verlegung als ren“: 37 Zeichnungen mit Silber-, Rö- 1941, der sein Kunststu- Sondersiedler nach Nischnij telstift und Kohle, die ein erschütterndes dium durchkreuzte, landete Tagil, wo er seine Kunstaus- Requiem für alle Verhafteten, Depor- er als Deutscher in der Koh- Michael Disterheft bildung beendete. tierten und in den stalinistischen Ge- lengrube des berüchtigten In den nächsten Jahr- fängnissen und Lagern Ermordeten dar- Bogoslowlag bei Karpinsk, wo er jah- zehnten schuf der Künstler zahlrei- stellen. relang hinter Stacheldraht schuftete. che Ölbilder, Werke in Aquarell- und Nachstehend jene Bildern des Zyk- Bereits davor, 1937, war sein Vater Pastelltechnik, Bleistift- und Kohlen- lus (mit Disterhefts Texten), die sich mit im Zuge der stalinistischen „Säuberun- stiftzeichnungen, Linolschnitte und Ra- dem Leid der Menschen in der so ge- gen“ verschleppt und ermordet worden. dierungen. Erst Mitte der 1980er Jahre nannten Trudarmee befassen. TRUDARMEE (Arbeitsarmee; russ. trudarmija) ist ein euphemistischer Terminus für ein besonderes System der Zwangsarbeit, das in der Sowjetunion in den Jahren 1941-1946 vor allem für russlanddeutsche Jugendliche, Männer und Frauen aufgebaut wurde. Nach der Liquidation der ASSR der Wolgadeutschen und der Verbannung der deutschen Minderheit in den asiati- schen Teil des Landes und ihrer weitgehenden Entrech- tung nach dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sow jets der Sowjetunion vom 28. August 1941 schuf man für die Deutschen des Landes eine neue Lagerkategorie – eine Zwitterkonstruktion aus rekrutierten Bauarbeitern Die Vertreibung und Strafgefangenen, wobei sie in der Lagerstatistik kei- Der Zug ist angekommen. Weiter gibt es keinen Weg. Die ge- ne Erwähnung fanden. waltsam deportierten Menschen waren gezwungen, sich ir- gendwie einzurichten, in aller Abgeschiedenheit, inmitten des Schnees und der Öde zu leben. Die Ausmaße dieser Aktion Typische Merkmale der Zwangsarbeitslager: waren ungeheuerlich: Es wurden ganze Dörfer, Städte, Kreise und Republiken entvölkert. • Unterbringung in von Stacheldraht umgebenen Baracken; • Arbeitseinsatz und Freizeit unter militärischer Bewachung; Insbesondere in den Jahren 1942 und 1943, als die Bau- • Essens- und Verpflegungsrationen nach den Normen stellen auf die Aufnahme dieser großen Anzahl von über- des GULag; wiegend bäuerlichen Häftlingen nicht vorbereitet waren, • Verbot jeglicher nicht gebilligter Kontakte mit der war die Sterblichkeit in den Lagern der Trudarmee außer- zivilen Bevölkerung. ordentlich hoch. Sie trug genozidale Züge. So kam im Lager Wjatlag im Winter 1942 über ein Drittel der Lager- Die Aushebung durch örtliche Kriegskommissariate insassen ums Leben. Selbst nach Statistiken des NKWD des Verteidigungsministeriums und ihre Unterstellung waren zum 1. Januar 1943 rund 26 Prozent der Arbeits- unter die Kriegsgerichtsbarkeit verlieh dieser Kategorie armisten arbeitsunfähig. Eine verlässliche Zahl der Opfer Züge einer militärischen Rekrutierung: Eigenmächtiges lässt sich bislang nicht angeben; die Sterblichkeitsrate Verlassen des zugewiesenen Einsatzortes wurde nicht soll Hochrechnungen aus einzelnen Lagern zufolge nicht als Flucht, sondern als Desertion bezeichnet und ent- weniger als 20 Prozent betragen haben. sprechend geahndet. 12
75 Jahre Deportation – Requiem In der Baracke Dreigeschossige Pritschen für 18 Mann in einem Zimmer Sonderkontingent von 14 Quadratmetern. Ein fast bis oben hin mit Säge- Ein schreckliches Bild des menschlichen Leids: „Administra- spänen zugeschüttetes Fenster, das nur einen schmalen tiv“, also ohne Gesetz und Untersuchung, wurden Opfer als Himmelsstreifen erkennen ließ. Der Ofen wurde mit Kohle „sozial gefährliche Elemente“ eingestuft. Warum? Sie waren geheizt, und in die stickige Luft mischte sich ein charakte- billige Arbeitskräfte. ristischer Geruch, der Ekel und Kopfschmerzen bewirkte. In der Arbeitsarmee Kohlenträger Eine Brigade in der Tiefe einer Kohlengrube. In der Mitte Zur Arbeit marschierten wir unter Bewachung. Zurück zur ein Leutnant der Panzertruppen... Viele Frontkommandeure Baracke ging jeder, wie er noch konnte, doch unbedingt mit wurden in den Lagern für die verschiedensten Bereiche ein- einem Stück Kohle auf dem Rücken (zum Heizen der Bara- gesetzt. Rechts mein Kamerad Wladimir Leonhardt, wie er cken). Vier Kilometer in eine Richtung. Viele sind auf diesem sehnsuchtsvoll in die Ferne schaut. Ehemals war er literari- langen Weg liegen geblieben... scher Leiter des Bolschoi-Theaters der UdSSR. Seine kluge, scharfe Zunge, die lustigen Feuerchen in den Augen… Das brachte ihm dann sein Verderben. 1946 holte man ihn ab... Wegen eines Wortes: Wahrheit! Er verschwand für immer. 13
75 Jahre Deportation – Requiem Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR vom 10. Januar 1942 über die Richtlinien für den Einsatz der deutschen Umsiedler im wehr- pflichtigen Alter von 17 bis 50 Jahren (Auszüge): 1. Alle deutschen Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren, die für körperliche Arbeit tauglich und in die Gebiete No- wosibirsk, Omsk, die Regionen Krasnojarsk und Altai und in die Kasachische SSR ausgesiedelt worden sind – etwa 120.000 Personen – , werden für Arbeitskolonnen für die gesamte Dauer des Krieges mobilisiert. Von dieser Zahl sind zu übergeben: a) dem NKWD der UdSSR (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) – zum Holzeinschlag 45.000 Per- sonen, – zum Bau von Betrieben in Bakal und Bogo slowsk 35.000 Personen; a) dem NKPS der UdSSR (Volkskommissariat für Verkehrs- wesen, Eisenbahnverkehr) – zum Bau der Eisenbahnen Stalinsk-Abakan, Stalinsk-Barnaul, Akmolinsk-Kartaly, Akmolinsk-Pawlodar, Soswa-Alapajewsk, Orsk-Kanda gatsch, Magnitogorsk-Sara 40.000 Personen. 5. Das NKWD der UdSSR wird beauftragt, die Sachen in Auszehrung Bezug auf die in den Einberufungs- oder Sammelstellen Die Abteilung für prophylaktische Hilfe, kurz OPP genannt, zum Abtransport nicht erschienenen Deutschen sowie in in jener Zeit eine allgemein bekannte Abkürzung. Die Bezug auf die in Arbeitskolonnen Befindlichen für Diszip schwache Hoffnung, die Gesundheit wieder herzustellen linverletzung und Arbeitsverweigerung, Nichterschei- und Kräfte zu sammeln. Ich habe oft darüber nachgedacht: nen trotz Mobilisierungsbefehl und für Desertion aus Warum gab es in der Zone so viele Unterernährte? Während den Arbeitskolonnen im Sonderkollegium des NKWD der Leningrader Blockade, die meine Verwandten erleben der UdSSR zu verhandeln und in den härtesten Fällen die mussten, bekamen die Menschen 125 Gramm Brot pro Tag Höchststrafe zu verhängen. und haben dennoch überlebt. Sie besaßen einen starken Geist, sie hatten Hoffnung auf Befreiung. Los, los „Kommandant“ und „Lagerschutz“ „Der Spaten ist kein Bagger...“ Diese Worte waren überall und Die Wache nahm ihre Pflichten sehr ernst. Die psychischen ständig zu hören. Charakteristiken der Dargestellten sprechen für sich selbst. 14
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