Erwin Steinhauer: Jüdischkeit, Widerstand, Kunst - NU

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Erwin Steinhauer: Jüdischkeit, Widerstand, Kunst - NU
Ausgabe Nr. 67 (1/2017) · Adar/Nissan 5777 · € 4,50 · www.nunu.at

Erwin Steinhauer:
Jüdischkeit, Widerstand, Kunst
Leitartikel

Kommt die Gegen-

                                                                                                                                        © MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER
Säkularisierung?
Jude, was ist das?                                                 gers und des Nationalsozialismus, die uns klargemacht haben,
   Es gibt verschiedene Antworten darauf, wer ein Jude ist.        dass wir einer Schicksalsgemeinschaft angehören, sondern
Nach den Regeln der jüdischen Religion sind es Menschen,           auch der Aufklärung (Stichwort: Moses Mendelssohn), die der
deren Mutter Jüdin ist. Die Feinde der Juden hingegen geben        europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts nicht unbedeutende
eine ganz andere Antwort. Vom früheren Bürgermeister von           „jüdische“ Züge verliehen hat. Wer die Botschaft verstanden
Wien und glühenden Antisemiten Karl Lueger ist der Satz            hat, weiß, dass er gegen Diskriminierung, Rassenhass und Xe-
überliefert: „Wer ein Jud’ ist, bestimm i’“. In dieser Tradition   nophobie eintreten muss. Wir sind Juden und lassen uns das
erfanden später die Nationalsozialisten eine eigene Skala des      von Orthodoxen auch nicht untersagen.
Jüdisch-Seins, die auf eine angebliche rassische Zugehörigkeit         Auch viele Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde ge-
abzielte. Von Religion war hier keine Rede. Eine dritte Position   hören dieser Gruppe an, die man als „politische Juden“ bezeich-
sind Menschen, die sich als Juden verstehen, egal ob sie eine      nen könnte. Bereits mit der Wahl Waldheims, insbesondere
jüdische Mutter haben oder nicht. Sie gehören einer verfolgten     aber, als die schwarz-blaue Regierung im Jahr 2000 antrat, gab
Familie an und ziehen daraus einen politischen Auftrag. Und        es viele, die sich neu in die Gemeinde einschreiben ließen, um
sie verstehen sich als Teil der jüdischen Kultur.                  ein Zeichen zu setzen. Neuerdings aber und ganz im Einklang
                                                                   mit den Entwicklungen in Israel müssen wir politische Juden
Orthodoxie im Vormarsch                                            uns die Frage stellen, ob wir tatsächlich mit der IKG die richtige
    Diese autonome Form des Jüdisch-Seins und auch der Bei-        Vertretung haben.
tritt via Religion werden in letzter Zeit immer mehr erschwert.        Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die IKG laut
Der Grund dafür sind Entwicklungen in Israel. Das Land hat         „Israelitengesetz“ nichts als eine „anerkannte Religionsgemein-
die Trennung von Staat und Religion nie wirklich geleistet.        schaft“ ist. Keine Rede von einer Vertretung der nichtreligiösen
Das hat lange Zeit keine Rolle gespielt, weil der Einfluss der     Juden. Haben wir uns also in der falschen Institution organi-
Strenggläubigen unwesentlich war. Im Vordergrund standen           siert? Sind wir mit unseren politischen Anliegen überhaupt
die Gepflogenheiten einer entwickelten Demokratie westlichen       vertreten? Bisher konnte man einigermaßen den Eindruck
Zuschnitts, die es ihren Bürgern ermöglichte, mit einigen Ein-     haben, dass die Führung der IKG auch die weltlichen Ange-
schränkungen, Stichwort Nicht-Anerkennung von Zivilehen,           legenheiten in einem Geist behandelte, der uns alle vereint:
ein Leben nach ihren Vorstellungen innerhalb des Rechtssy-         Gegen Unrecht in der Gesellschaft, für Demokratie, für einen
stems zu gestalten. Das ändert sich jedoch seit einigen Jahren.    jüdischen Beitrag, der aus den Lehren der Geschichte resultiert.
Es ist in Israel heute eine Regierungsbildung ohne die Orthodo-        Jetzt aber hat sich einiges geändert. Die Führung der IKG
xie nicht mehr möglich. Zu groß ist die Zahl der streng Religi-    scheint ganz wie die Regierung in Israel der Orthodoxie das Ge-
ösen – und sie wächst dynamisch, weil die Geburtenrate dieser      setz des Handelns zu überlassen. Wer nichtreligiöse Juden vor
Gruppe die aller anderen weit übersteigt.                          ein Rabbinatsgericht zitiert, wie es tatsächlich kürzlich in Wien
    Das neue Machtverständnis der Politiker aus dem ortho-         geschehen ist, hat sich vom Grundkonsens verabschiedet, dass
doxen Umfeld beginnt sich seit einiger Zeit auch auf Juden         die Kultusgemeinde eine Vertretung aller, auch der politischen
außerhalb Israels auszuwirken. Bisher war es mit einigen           Juden ist. Es ist anzunehmen, dass sich dieser Trend verstär-
Anstrengungen möglich, auch ohne jüdische Mutter ein von           ken und die IKG zunehmend zu einer reinen Religionsgemein-
der Gruppe der Religiösen anerkannter Jude zu werden. Dazu         schaft mutieren wird.
musste man bei einem örtlichen Rabbiner Lehrgänge besuchen             Es scheint mir für alle, die sich dann nicht mehr vertreten
und das Bekenntnis zu einer religiösen Lebensführung glaub-        fühlen können, die Zeit gekommen, nach Lösungen zu suchen.
haft machen. Seit einiger Zeit anerkennen führende israelische     Wir, die nichtreligiösen Juden, müssen uns organisieren, sei es
Rabbiner solche Konversionen nicht mehr ohne weiteres. Der         innerhalb der Gemeinde oder außerhalb, um nicht zu Handlan-
bekannteste Fall ist jener von Ivanka Trump. Ihr verweigerte       gern einer orthodoxen Splittergruppe innerhalb des Judentums
eine rabbinische Vorinstanz aus Israel trotz Übertritts in den     zu werden. In dieser Gruppe werden dann auch alle jene politi-
USA die Anerkennung als Jüdin. Diese enge Auslegung könnte         schen Juden Platz finden, die auf keine jüdische Mutter, jedoch
zu einem ernsten Konflikt mit den für Israel so wichtigen ame-     auf ein Bewusstsein im jüdischen Geist verweisen können. nu
rikanischen Juden werden.
                                                                      Allen religiösen und nichtreligiösen Juden und allen ande-
Politische Juden                                                   ren Freunden rufe ich zu:
   Was muss uns das in Österreich interessieren? Es gibt hier
viel mehr Menschen, die sich als Juden verstehen, als Mitglie-     Pessach sameach!
der der jüdischen Religion. Das ist nicht nur das Erbe der Lue-    Ihr Peter Menasse, Chefredakteur

                                                                                                              1 | 2017     3
Memos

                                                                                                                                                             © FAMILIE SUSCHITZKY
                                                            Staffel eins ist die Serie das bis heute
                                                            teuerste Projekt auf Netflix.

                                                            WIR EMPFEHLEN
                                                            das Buch Tiere für Fortgeschrittene
                                                            von Eva Menasse. Jahrelang hat die
                                                            NU-Autorin Tiermeldungen gesam-
                                                            melt, die ihr etwas über menschliche
                                                            Verhaltensweisen verraten haben.
                                     ©JMW/SONJA BACHMAYER   Raupen, die sich ihr eigenes Grab          Tudor-Hart war Peter Stephan Jungks
                                                            schaufeln, Haie, die künstlich be-         Großtante. Der Schriftsteller und Fil-
     WIR TRAUERN UM                                         atmet werden, Enten, die noch im           memacher versucht den verborgenen
     Ari Rath, der als Arnold Rath im Jahr                  Schlaf nach Fressfeinden Ausschau          Bereichen ihres Lebens, von denen
     1925 in Wien geboren wurde. In seiner                  halten, Schafe, die ihre Wolle von         selbst ihr nahestehende Menschen
     Autobiografie Ari heißt Löwe, die 2012                                         selbst abwer-      nichts wussten, auf die Spur zu kom-
     erschien, schrieb er: „Wir waren eine                                          fen. Jede von      men – in Österreich, Großbritannien
     typische moderne jüdische Familie                                              Eva Menasses       und Russland.
     der dreißiger Jahre in Mitteleuropa.                                           Erzählungen
     Mein Vater hatte sich bereits voll-                                            geht von einer     UNS GEFÄLLT
     ständig an die westeuropäischen                                                kuriosen Tier-     das Internationale Technik Summer-
     Werte und Gebräuche angepasst, ob-                                             meldung aus,       camp BIG IDEA in Israel. Hunderte von
     wohl er ursprünglich aus einer ange-                                           widmet sich        Kindern und Jugendlichen aus der
     sehenen Rabbinerfamilie stammte.“                                              jedoch der Spe-    ganzen Welt (über 40 Länder) kom-
     Nach der Machtübernahme durch                                                  zies Mensch.       men jeden Sommer nach Israel, um
     die Nationalsozialisten wurde die                                              (Verlag Kiepen-    ihr technisch-fachliches Können in
     Familie in alle Richtungen zerstreut.                                          heuer&Witsch)

                                                                                                                                                © BIG IDEA
     Ari und sein Bruder Max konnten mit
     Hilfe der Jugend-Alija nach Palästina                  WIR LESEN
     auswandern. In Israel wurde Ari Rath                   Fürchtet euch und folgt uns. Die Po-
     Journalist, Publizist und Friedensak-                  litik der Populisten von Michael La-
     tivist. Zwischen 1975 und 1989 war er                  czynski. Der EU-Korrespondent der
     Chefredakteur und Herausgeber der                      Tageszeitung Die Presse in Brüssel
     Jerusalem Post. Im Jahr 2005 nahm                      und NU-Autor zeigt darin, wie Popu-
     Rath neben der israelischen auch                       listen Ängste nutzen, um auf Stim-
     wieder die österreichische Staatsbür-                  menfang zu
     gerschaft an. Ein Interview über Ari                   gehen, wer die
     Raths Jugend in Wien, seine Flucht                     Menschen sind,                             mehr als 30 verschiedenen Workshops,
     vor den Nazis nach Palästina und die                   die ihnen ver-                             von Unternehmertum und Innovation
     politische Verantwortung Österreichs                   trauen, und was                            bis zu Computertechnik und Design,
     ist Teil der Dauerausstellung des Jü-                  gegen ihre Po-                             auszubauen. Sie erlernen neue Fähig-
     dischen Museum Wien.                                   litik unternom-                            keiten und erwerben im Camp nicht
                                                            men werden                                 nur neues, wertvolles Werkzeug für das
     WIR GRATULIEREN                                        kann. Die Reise                            Leben, sondern auch gleichgesinnte
     Peter Morgan zur Verleihung des                        führt von Lon-                             Freunde aus der ganzen Welt.
     Golden Globes 2017 für Die Krone als                   don über Paris
     die beste Serie. Sie widmet sich dem                   und das Brüs-
     Leben der jungen britischen Königin                    seler Europaviertel bis in die Ghettos     WIR STELLEN VOR
                        Elisabeth II. ab ihrer              von Kopenhagen und die Vororte von         Die Redaktionshündin
                        Hochzeit im Jahr                    Warschau. (Kremayr & Scheriau)             Nunu. Sie kann man
                        1947. Weitere Staf-                                                            auf Facebook
                        feln sollen bis in die              UNS INTERESSIERT                           bewundern:
                        Gegenwart führen,                   der Dokumentarfilm Auf Ediths Spu-         www.facebook.com/
                        wobei jede Staffel                  ren von Peter Stephan Jungk. Er er-        HundNUNU/
                        jeweils ein Jahr-                   zählt die wahre Geschichte der öster-
                        zehnt ihres Lebens                  reichischen Fotografin und KGB-Spio-
                        umfassen soll. Mit                  nin Edith Tudor-Hart, die maßgeblich
                        einem Budget von                    daran beteiligt war, dass Russland
                        bis zu 80 Millionen                 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg
                                                                                                                             © NU

                        US-Dollar für die                   in den Besitz der Atombombe kam.
    © MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER

                4         1 | 2017
Inhalt & Impressum

                                                                                                                                                                © ABIR SULTAN/EPA/PICTUREDESK.COM
                                                                                           © STARPIX/PICTUREDESK.COM
IMPRESSUM

NU – Jüdisches Magazin für
                                               Eric Pleskow                     Seite 10                               Branko Lustig                 Seite 36
Politik und Kultur
Erscheinungsweise: 4 x jährlich
Auflage: 4.500
Nächste Ausgabe: Juni 2017
                                               Leitartikel                                                             Zeitgeschichte

HERAUSGEBER UND MEDIENINHABER                  Kommt die Gegen-Säkularisierung? 3                                      Oscarpreisträger Branko Lustig –
Arbeitsgemeinschaft jüdisches Forum
                                                                                                                       von Auschwitz nach Hollywood       36
Gölsdorfgasse 3, 1010 Wien

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Fax: +43 (0)1 535 63 46                        Interview mit dem Höchstrichter aus
E-Mail: office@nunu.at
                                               Michigan, Richard H. Bernstein      6
Internet: www.nunu.at
                                                                                                                       Jüdisches Leben
BANKVERBINDUNG                                 Eric Pleskow über sein bewegtes
IBAN: AT78 1100 0085 7392 3300                 Leben und jüdische Identität          10                                Danielle Spera hat Fredi Brodmann
BIC: BKAUATWW                                                                                                          in New York getroffen             42
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Österreich: Euro 15,–                          Ausnahmekünstler
Europäische Union: Euro 20,–                   Erwin Steinhauer                      14                                Die Historikerin Fania
Außerhalb der EU: Euro 25,–                                                                                            Oz-Salzberger im Interview         48
ABO-SERVICE, VERTRIEB & ANZEIGEN
office@nunu.at                                 Nachruf                                                                 Alexander Zemlinsky –
                                                                                                                       ein Künstler mit Adelsprädikat     51
STÄNDIGES REDAKTIONSTEAM
                                               David Rubinger, der bedeutenste
Richard Kienzl (Artdirector), Peter Menasse
(Chefredakteur), Vera Ribarich (Lektorat)
                                               Fotograf Israels                      20                                Jazz-Pianist Leonid Chizhik        52
Ida Salamon (Chefin vom Dienst)
                                                                                                                       'UOC4GFʟGRQXCFKG)TCPFG
TITELBILD
© Milagros Martínez-Flener
                                               Nahost                                                                  Dame der Roma-Musik                54

SATZ & LAYOUT
                                               Bericht über den
Wiener Zeitung GmbH, Maria-Jacobi-Gasse 1,
1030 Wien, www.wienerzeitung.at
                                               „Jewish Media Summit“                 22                                Standards
DRUCK
Wallig Ennstaler Druckerei                                                                                             Rätsel                             45
und Verlag Ges.m.b.H.                          Gegendarstellung                      26
Mitterbergstrasse 36, 8962 Gröbming                                                                                    Engelberg                          56
OFFENLEGUNG GEMÄSS MEDIENGESETZ
Verein Arbeitsgemeinschaft jüdisches           Nahost                                                                  In eigener Sache                   57
Forum mit Sitz in 1010 Wien, Gölsdorfgasse 3
Obmann: Martin Engelberg                       „Der Sechstagekrieg in                                                  Autoren                            58
Obmannstellvertreterin: Danielle Spera         Wort und Bild“                        29
Kassiererin: Ida Salamon                                                                                               Dajgezzen & Chochmezzen            59
Grundsätzliche Richtung:                       Was sind Alt-Oberösterreicher?
NU ist ein Informationsmagazin für Juden in    Was ist Erinnern?                     32
Österreich und für ihnen nahestehende, an
jüdischen Fragen interessierte Menschen.       F-35 – der Kampfflieger
NU will den demokratischen Diskurs fördern.    der Zukunft                           34

                                                                                                                                          1 | 2017   5
Aktuell

      Trump musste
      nie kämpfen
      Richard H. Bernstein, seit        NU: Richter Bernstein, woher kam Ihre    Detroit hat viele Hochs und Tiefs erlebt,
                                        Familie in die USA?                      die Krise der Autoindustrie, und jetzt
      2015 Richter am Höchstge-
                                           Bernstein: Meine Vorfahren stam-      kommt wieder ein Aufschwung.
      richt des US-Bundesstaates        men, glaube ich, aus Deutschland,           Es ist eine wunderbare Stadt, mit
      Michigan, kam blind auf           aber wir sind schon lange in Detroit     Menschen, die daran gewöhnt sind,
                                        verwurzelt, meine Eltern, Großeltern,    hart zu arbeiten. Eine Industriestadt.
      die Welt. Er hat eine Mis-
                                        auch meine Urgroßeltern. Wir lieben      Die Stadt hat sich gut erholt. Es gab
      sion: Die Welt für Menschen       diese Stadt und ihre Community. Ich      Ups and Downs, wie auch im Leben,
      mit und ohne Behinderung          bin Jude, aber nicht praktizierend,      die Stadt war bankrott, derzeit erlebt
                                        doch ich habe eine leidenschaftliche     sie einen Höhenflug.
      besser zu machen. Danielle
                                        Verbindung zu Gott. Ich glaube daran,
      Spera hat Richard Bernstein       dass alle Dinge, die uns passieren,      Detroit und Trump: Wie sieht man in
      in Wien getroffen.                einen Grund haben und in Wirklich-       Ihrer Stadt den neuen Präsidenten?
                                        keit auch immer alles gut ausgeht, ob-      Ich muss hier in meiner Eigenschaft
                                        wohl man vielleicht, während etwas       als Höchstrichter antworten und nicht
      FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER   passiert, nicht daran glauben kann.      als Privatperson, daher werde ich
                                        Das ist die Natur des Lebens.            einen Vergleich mit der Lebenserfah-

            6    1 | 2017
„Ich glaube daran, dass alle Dinge, die uns passieren, einen Grund
haben und in Wirklichkeit auch immer alles gut ausgeht, obwohl
man vielleicht, während etwas passiert, nicht daran glauben kann.
Das ist die Natur des Lebens.“
rung eines Menschen anstellen: Je         fen, die das Leben einzelner oder auch   troffen. Es war enorm zeitaufwändig.
mehr Herausforderungen und schlim-        vieler Menschen betreffen – manch-       Als Kandidat kann man entscheiden,
men Erfahrungen sich ein Mensch in        mal auch Entscheidungen über Leben       welche Auswirkungen man auf das
seinem Leben stellen musste, desto        und Tod. Wir Richter haben eine dicke    Land und seine Bevölkerung haben
mehr Dankbarkeit für das selbst Er-       Haut, wir sind den Umständen ge-         möchte. Das sind übrigens sehr jüdi-
reichte und Mitgefühl für Schwie-         wachsen und werden die Kritik des        sche Fragen: Warum sind wir hier und
rigkeiten anderer Menschen wird er        Präsidenten leicht verkraften. Wenn      was können wir besser machen. Das
empfinden. Dies gilt besonders dann,      ich Urteile schreibe, dann beeinflusst   ist unsere Aufgabe, wie können wir
wenn man Entscheidungen zu treffen        dies das Leben von elf Millionen         die Welt verbessern. Wahlen sind das
hat, die Auswirkungen auf das Leben       Menschen im Bundesstaat Michigan.        perfekte Mittel dafür. Leider auch für
anderer Menschen haben. Wenn wir          Daher sind wir in der Lage, dem Prä-     das Schlechte. Der Kandidat hat es in
uns jemanden wie Trump ansehen,           sidenten Paroli zu bieten und werden     der Hand.
dann erkennen wir, dass seine Le-         seine eigenwilligen Entscheidungen
benserfahrung nicht so geprägt ist. So    ausbalancieren. Für uns ist das mehr     Was hat Sie bewogen, sich dieser Wahl
wie er aufgewachsen und sozialisiert      oder weniger „Business as usual“.        zu stellen?
ist, konnte er keine Empathie, Sensibi-                                               Ich habe mich entschlossen zu kan-
lität oder Verständnis für die Schwie-    Wohin wird das führen?                   didieren, weil ich wollte, dass die Men-
rigkeiten oder Härten entwickeln, die        Lassen Sie mich das folgenderma-      schen ihre Perspektive auf Behinderte
das Leben vieler Menschen beeinflus-      ßen beantworten: Die Amerikaner sind     ändern. Ich wollte ihre Vorstellung von
sen. Er musste nie um etwas kämpfen,      ein großes und gutes Volk, ich liebe     blinden Menschen und Behinderten
Mühsal oder Not hat er nie gekannt.       meinen Bundesstaat Michigan und die      ganz allgemein zum Positiven verän-
Vermutlich fehlt ihm deshalb das Ein-     Bevölkerung. Um das Amt, das ich in-     dern und so die Lebensqualität von
fühlungsvermögen oder die Einsicht,       nehabe, zu bekleiden, muss man vom       Menschen mit Behinderung verbes-
auf andere Menschen einzugehen.           Volk gewählt werden. Warum sage ich      sern. Durch meine Kandidatur haben
Er hatte ein leichtes Leben, das heißt    das: Ich musste das ganze Land berei-    viele Menschen erstmals mit einem
aber nicht, dass er ein glücklicher       sen, ich war in jeder Stadt, in jedem    Blinden zu tun gehabt. Ich wollte mit
Mensch ist. Der Anlass, weshalb ich       Dorf, habe alle Fabriken besucht und     ihnen eine positive Verbindung her-
hier in Wien bin, ist die Zero-Project-   die unterschiedlichsten Menschen ge-     stellen. Und die Bevölkerung von
Konferenz der UNO. Hier haben wir die
Schicksale von Menschen besprochen,
die unter enorm schwierigen Bedin-
gungen leben. Sie meistern ihr Leben
vorbildlich und sind obendrein noch
warmherzig und frohen Mutes, denn
sie wissen zu schätzen, dass ihrem
Leben Sinn gegeben wurde. Diese Le-
benserfahrung kann einen Menschen
besser machen, Trump hat das sicher
nicht.

Wir sind jeden Tag von neuem erstaunt,
mit welchen überraschenden Schritten
Trump aufhorchen lässt.
   Sie sprechen mit einem „sogenann-
ten“ Richter – so hat Trump unseren
Berufsstand bezeichnet. „Checks and
Balances“ ist das Grundprinzip der
Vereinigten Staaten. Die Judikative
wird eine enorm wichtige Rolle in der
weiteren Entwicklung einnehmen.
Richter in den USA müssen täglich
weitreichende Entscheidungen tref-        Danielle Spera im Gespräch mit Richard Bernstein

                                                                                                     1 | 2017    7
„Je mehr Herausforderungen und schlimmen Erfahrungen sich ein
Mensch in seinem Leben stellen musste, desto mehr Dankbarkeit
für das selbst Erreichte und Mitgefühl für Schwierigkeiten anderer
Menschen wird er empfinden.“
Michigan hat einem blinden Men-            wenn sie in einem Land als Minder-       Wirkt es sich irgendwie aus, dass Trump
schen ein so hohes Amt anvertraut.         heit leben, immer danach streben sol-    auch jüdische Familienmitglieder hat?
Das ist eine starke Botschaft. Das war     len, ein vorbildliches und makelloses       Sicher nicht. Man kann ungehö-
noch ein Schritt mehr in Richtung In-      Leben zu führen, speziell wenn man       riges Verhalten niemals damit ent-
klusion und Gleichheit, als es bisher      ein hohes Amt übertragen bekommt.        schuldigen, nach dem Motto: Ich darf
der Fall war.                              Im mittleren Westen, wo ich kandi-       das, ich habe eine jüdische Tochter
                                           diert habe, war es für die Menschen      und einen jüdischen Schwiegersohn.
Für Sie war es ein weiter Weg. Als Sie     auf dem Land etwas Außergewöhnli-        Das wäre, als hätte man einen behin-
Ihr Studium abschlossen, hat Ihnen nie-    ches, einem jüdischen Kandidaten zu      derten Menschen in der Familie und
mand einen Arbeitsplatz gegeben, trotz     begegnen. Mein Credo ist, mein Bestes    würde daraus das Recht ableiten, sich
hunderter Bewerbungen, heute sind sie      zu geben. Nun bin ich für acht Jahre     gegenüber Behinderten unfair zu ver-
Oberster Richter.                          gewählt und reise weiterhin durch Mi-    halten.
   Ja – und das ist etwas, das Donald      chigan, weil ich finde, ich bin es den
Trump fehlt, die bitteren Erfahrungen      Menschen, die mich gewählt haben,        Was bedeutet Trumps Präsidentschaft
im Leben, die Herausforderungen des        schuldig. Ich möchte mit ihnen in Ver-   für Israel?
Lebens. Wenn er das gehabt hätte,          bindung bleiben und als Jude einen          Ich bin sechsmal im Jahr in Israel
wäre sein Benehmen anders, er hätte        perfekten Eindruck hinterlassen. Ich     und berate dort die Armee im Umgang
sicher mehr Respekt.                       glaube fest daran, dass wir eine Ver-    mit behinderten jungen Menschen
                                           pflichtung haben, uns von unserer be-    und deren Integration in die Streit-
Hat Ihr Judentum je eine Rolle gespielt?   sten Seite zu zeigen.                    kräfte. Das ist ein großartiges Pro-
   Juden sind in den USA sehr gut                                                   gramm. Es gibt Behinderte, die in die
in die Gesellschaft integriert. Mit        Haben Sie jemals Antisemitismus er-      Armee wollen. Dadurch, dass ich so
meinem Namen stand immer außer             lebt?                                    stark in Israel involviert bin, betrachte
Zweifel, woher ich komme. Bernstein           Nein. Meine Behinderung war die       ich das Land natürlich anders. In den
klingt geradezu wie eine Werbung für       große Herausforderung. Dass ich Jude     USA leben wir ein sehr komfortables
das Judentum. Ich liebe Amerika, aber      bin, war dann vermutlich zweitrangig.    Leben, in Frieden. Daher finde ich es
Juden dürfen nie vergessen, dass sie,                                               unangebracht, wenn wir aus unse-
                                                                                    rer bequemen Position heraus einem
                                                                                    Land Ratschläge geben, das ständig
                                                                                    in einem Bedrohungszustand leben
                                                                                    muss. Jeder, der das kritisiert, soll
                                                                                    einmal in Israel leben. Ich unterstütze
                                                                                    alles, was Israel tut, um das eigene
                                                                                    Überleben zu sichern. Israel hat es
                                                                                    geschafft, eine bemerkenswerte Ge-
                                                                                    sellschaft aufzubauen, eine boomende
                                                                                    Wirtschaft und eine revolutionäre
                                                                                    Technologie zu entwickeln und trägt
                                                                                    zum Fortschritt im Leben der Men-
                                                                                    schen in aller Welt bei. Daher können
                                                                                    wir den Menschen in Israel vertrauen,
                                                                                    dass sie das Land gut verwalten.

                                                                                    In Europa wird das teilweise ganz anders
                                                                                    gesehen.
                                                                                       Auch hier geht es um das Thema
                                                                                    Erfahrungen. Die Israelis können nach
                                                                                    ihren Erfahrungen besser urteilen als
                                                                                    wir aus der Distanz. Ich treffe immer
                                                                                    wieder auch mit Opfern von Terroran-
„Mein Credo ist, mein Bestes zu geben, ich bin es den Menschen, die mich gewählt    schlägen zusammen. Das sind Men-
haben, schuldig.“                                                                   schen, die völlig fit waren – und plötz-

       8      1 | 2017
„Israel hat es geschafft, eine bemerkenswerte Gesellschaft aufzu-
bauen, eine boomende Wirtschaft und eine revolutionäre Technologie
zu entwickeln und trägt zum Fortschritt im Leben der Menschen in
aller Welt bei.“
                                                                                     Seitdem bin ich unter größten Schmer-
                                                                                     zen drei Marathons gelaufen. Das war
                                                                                     meine größte Herausforderung, doch
                                                                                     ich habe dadurch meine Verbindung
                                                                                     mit Gott gefunden.
                                                                                        Im Leben gibt es zwei Kategorien
                                                                                     von Menschen: Jene, die ihr ganzes
                                                                                     Leben lang kämpfen müssen, und an-
                                                                                     dererseits Menschen, denen immer
                                                                                     alles glückt und die alles haben. Ich
                                                                                     hatte beides: Ich musste gegen Vor-
                                                                                     urteile kämpfen, hatte aber gleichzei-
                                                                                     tig eine Einbettung in eine liebevolle
                                                                                     Familie mit einem guten finanziellen
                                                                                     Hintergrund. Das hat mir unglaublich
                                                                                     viel Kraft gegeben. In den USA sind 85
                                                                                     Prozent aller blinden Menschen ar-
                                                                                     beitslos, und zwar nicht deshalb, weil
                                                                                     sie nicht hart arbeiten können oder
                                                                                     wollen. Ich hatte das große Glück, dass
                                                                                     ich in gute Schulen gehen und eine
„Laufen ist für mich essenziell. Es verbindet mich eher mit Gott als der Besuch in   wunderbare Ausbildung genießen
einer Synagoge.“                                                                     konnte, sonst würde ich unter die 85
                                                                                     Prozent fallen. Meine Familie ist sehr
lich fehlen ihnen Gliedmaße, Arme          der UNO-Konferenz, die ich gerade in      optimistisch, voll Energie und Begei-
oder Beine, sie müssen erst lernen, mit    Wien besuchte, hat Israel seine Tech-     sterung für das Leben und hat immer
einer Behinderung zu leben. Ich habe       nologie zur Hilfe für Behinderte vor-     zu mir gehalten. Sie wussten, dass ich
so ein leichtes Leben, denn ich bin        gestellt. Es ist unglaublich, was dort    alles erreichen kann, wenn ich mich
kein Terroropfer. Ich arbeite mit ihnen,   für Menschen mit Beeinträchtigung         anstrenge. Ich arbeite ununterbro-
wie sie ihre nächsten Schritte in die-     geschieht. Eine App beispielsweise,       chen, meine Mitarbeiter lesen mir vor
sem neuen Leben als Behinderte ma-         die Blinden jeden Text vorliest, viele    und ich muss alles in meiner Erinne-
chen. Ich versuche, sie neu in die Ge-     Dinge, die Behinderten das Leben er-      rung behalten. Wenn ich reise, lesen
sellschaft zu integrieren. Sehr hart war   leichtern.                                sie mir über Skype vor, das geht nur,
die Arbeit mit Frauen, deren Kinder bei                                              weil ich meinen Glauben habe.
Terroranschlägen getötet worden sind.      Sie arbeiten sehr intensiv, 15 Stunden
Diese Frauen haben ihre Kinder vor         pro Tag, und Sie sind 18 Marathons ge-    Sie reisen viel, wie ist das möglich?
ihren Augen sterben gesehen. Viele         laufen, wie machen Sie das?                  Das ist nur möglich, weil ich all
dieser Frauen sagten zu mir: „Sie sind        Laufen ist für mich essenziell. Es     mein Geld für die Reisen ausgebe.
genau wie mein Sohn.“ Ich fragte mich,     verbindet mich eher mit Gott als der      Nach Israel oder jetzt zur Konferenz
wie können so viele Frauen das sagen?      Besuch in einer Synagoge. Ich könnte      nach Wien. Als Richter darf man sehr
Die Antwort der Sozialarbeiterin war:      das Gebetbuch in Brailleschrift lesen,    viel, allerdings darf man niemals Geld
„Diese Frauen sehen in Ihnen einen         aber das stellt keine Verbindung her.     annehmen, also zum Beispiel Hono-
jungen, glücklichen, gesunden Mann         Die sportliche Herausforderung ist für    rare für meine Reden oder für Auftritte.
voller Energie. So hätten sie ihre Kin-    mich meine persönliche Verbindung
der gesehen, wenn sie älter geworden       mit Gott. Es ist leicht, wenn es einem    Ich glaube, Sie hätten Ihre Karriere auch
wären.“ Die Kinder waren aber schon        gut geht, sich mit Gott im Einklang zu    ohne den finanziellen Background Ihrer
als kleine Kinder getötet worden.          befinden. Ich hatte einen schweren        Familie geschafft.
                                           Unfall, als ich vor fünf Jahren allein       Vielleicht, aber es wäre sicher viel
Und die palästinensischen Opfer?           im Central Park unterwegs war. Ein        schwieriger gewesen. Ich bin jetzt 43,
  Noch einmal: Israel muss selbst ent-     Fahrradfahrer hat mich mit hoher          vielleicht werde ich 100, ich hoffe, dass
scheiden, was es tut. Ich finde nicht,     Geschwindigkeit niedergefahren. Da-       meine gesammelten Flugmeilen noch
dass Israel unmoralisch handelt. Bei       nach war ich zehn Wochen im Spital.       so lange ausreichen.                   nu

                                                                                                        1 | 2017    9
Aktuell

      Wien, ich komme!
      Eric Pleskow, 92, heißt NU

                                                                                                                           © STARPIX/PICTUREDESK.COM
      in seinem Apartment will-
      kommen: Es ist Teil eines
      komfortablen Retirement
      Homes im US-amerikani-
      schen Stamford, Connecti-
      cut. Vom Bücherregal grü-
      ßen einige der Oscars, die
      Pleskow in seiner höchst
      erfolgreichen Karriere als
      Filmproduzent für Klassiker
      wie „Amadeus“ oder „Einer
      flog übers Kuckucksnest“
      gewinnen konnte. „Der
      Schiefe ist der ‚Rocky‘“,
      klärt Pleskow den Gast
      über einen verbogenen
      Academy-Award auf, „der
      is’ meiner Tochter runter-     NU: Herr Pleskow, wie geht es Ihnen?           Nein, das war Peter Marboe, der
                                        Pleskow: Naja, wie’s einem halt          damalige Kulturstadtrat. Vermittelt
      gefallen.“ Und dann spricht
                                     so geht in meinem Alter: Ich kann           wurde das durch Gaby Flossmann,
      der Viennale-Präsident in      mich nicht beklagen, auch wenn mir          die mich ja überhaupt erst nach Wien
      bestem Wienerisch eine         vor einiger Zeit ein Bein amputiert         zurückgebracht hatte. Ich wollte von
                                     wurde. Der Fuß ist weg, sonst läuft         Wien eigentlich nichts mehr wissen.
      Stunde lang aufgeräumt
                                     es nicht schlecht. Natürlich fresse         Sie sagte mir: Das ist jetzt eine an-
      über sein bewegtes Leben,      ich Pillen wie deppert, aber offenbar       dere Generation, das sind ganz andere
      jüdische Identität sowie ak-   funktioniert’s.                             Menschen – und ich muss sagen, sie
                                                                                 hatte recht. Auch wenn es jetzt gerade
      tuelle politische Fragen.
                                     Sie sind nach wie vor Präsident der Vi-     politisch wieder sehr mulmig wird,
                                     ennale, die Sie zuletzt 2015 besucht        aber nicht nur in Österreich, hier in
      VON ANATOL VITOUCH             haben. Wie sieht es für 2017 aus?           den USA ja genauso.
                                        Ja, 2015 war meine Betreuerin mit
                                     mir in Wien, alleine kann ich nicht         Haben Sie damit gerechnet, dass Trump
                                     mehr reisen. Wenn es mir so geht wie        die Präsidentschaftswahlen gewinnt?
                                     jetzt, werde ich 2017 wieder nach Wien         Ich hätte nie gedacht, dass in der
                                     kommen, weil Hans Hurch sein letz-          heutigen Zeit, wo es so viele Möglich-
                                     tes Jahr als Chef der Viennale hat. Ich     keiten zu Bildung und Information
                                     habe zur selben Zeit begonnen wie er,       gibt, so viele Menschen so vertrottelt
                                     das ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Ich   sind. Man kann ihnen alles Mögliche
                                     hab’ damals gefragt, was muss ich da        erzählen, was überhaupt nicht stimmt,
                                     machen, und man hat mir gesagt: ei-         und sie glauben es. Bitte, mir wäre es
                                     gentlich nix. Na, hab ich gesagt, dann      ja wurscht – ich bin 92 Jahre alt. Aber
                                     mach ich’s.                                 ich habe Kinder und Enkelkinder. Und
                                                                                 wenn ich mir überlege, was für eine
                                     Hat Ihnen damals Hans Hurch selbst die      Welt ich ihnen hinterlasse, dann finde
                                     Präsidentschaft angetragen?                 ich das alles nicht so lustig.

            10   1 | 2017
„Ich hätte nie gedacht, dass in der heutigen Zeit, wo es so viele
Möglichkeiten zu Bildung und Information gibt, so viele Menschen
so vertrottelt sind. Man kann ihnen alles Mögliche erzählen, was
überhaupt nicht stimmt, und sie glauben es.“
Viele Menschen ziehen angesichts des       Zu einem Zeitpunkt, als der Zweite Welt-    Trumps Schwiegersohn stammt: Der
Siegeszugs der Rechtspopulisten Paral-     krieg schon in vollem Gange war.            Vater ist wegen Steuerhinterziehung
lelen zum Aufstieg des Faschismus im          Ja, ich war ja erst drei Tage vor        im Gefängnis gesessen, hat seinem
20. Jahrhundert. Sehen Sie als Zeit-       Kriegsausbruch aus Wien herausge-           Schwager eine Prostituierte geschickt,
zeuge solche Parallelen ebenfalls?         kommen. Zum Glück hatte ich mei-            um dessen Ehe zu zerstören – aber
   Ja, absolut. Nicht im Ausmaß, aber      nen Vater überredet, nicht mit der          ganz fromme Leute sind das, sehr vor-
in der Tendenz ganz eindeutig. Schon       „Bremen“ in die USA zu fahren. Ich          nehm, richtig „liab“.
seit einem Jahr sage ich meinen Kin-       sagte zu ihm, wir gehen auf keinen
dern, dass mich vieles, was da passiert,   Fall auf ein deutsches Schiff. Tatsäch-     Wie ging man in Ihrer Familie mit jüdi-
an die 30er-Jahre erinnert. Alleine die    lich kehrte die „Bremen“ um, und alle       scher Tradition um, während Sie in Wien
hate crimes hier in den USA, deren         Emigranten unter den Passagieren            aufwuchsen?
Zahl nach der Wahl Trumps drama-           landeten im KZ.                                Als meine Großeltern noch lebten,
tisch gestiegen ist. Wissen Sie, Clinton                                               gingen meine Eltern zu den hohen Fei-
hat im Endeffekt circa zwei Millionen      Mit welchem Schiff fuhren Sie und Ihre      ertagen mit mir und meinem Bruder
Stimmen mehr bekommen als dieser           Eltern?                                     in die Synagoge. 1937 hatte ich dann
Typ. Aber dieses 300 Jahre alte Wahl-         Mit einem holländischen Schiff, das      meine Bar Mizwa, aber mein Bruder
männer-System ist leider als solches       dann am 14. September 1939 in den           war nur wenige Tage zuvor gestorben
vertrottelt.                               USA eintraf. Das Schiff war voll mit        – er war leider schon von Geburt an
                                           Deutsch-Amerikanern, die im Som-            kränklich. Mein Vater hatte versäumt,
Überraschend war auch, dass selbst An-     mer den Führer besucht hatten und           mich rechtzeitig im Tempel im 20.
gehörige von Minderheiten zu einem gar     nach Hause zurückkehrten. Schlechte         Bezirk anzumelden. Ich bekam dann
nicht so geringen Anteil Trump gewählt     Gesellschaft für jüdische Emigranten.       halt ein bissl was zum Lesen und bin
haben, oder?                                                                           natürlich steckengeblieben. Aber ich
   Ja, auch die chassidischen Juden –      Ist Religion heute für Sie persönlich von   war umringt von alten Herren, also hat
vertrottelt. Wenn der Typ nicht zufällig   Bedeutung?                                  keiner was gemerkt.
einen frommen jüdischen Schwieger-             Man sagt immer, im Alter wird
sohn hätte, dann könnte das für die        man religiöser und konservativer. Das       Stimmt es, dass Ihre Frau, die aus einer
Juden hier sehr unangenehm werden.         scheint bei mir nicht so zu klappen.        christlichen Familie stammte, zum Ju-
So sind es die amerikanischen Mus-         Wenn ich mir die Religiösen anschaue,       dentum konvertierte – aber erst Jahre
lime, die sich wirklich Sorgen machen      ganz gleich welche: Das sind alles          nach Ihrer Hochzeit und nachdem Ihre
müssen, wie es mit ihnen weitergeht.       verlogene, grauenhafte Typen. Zum           gemeinsame Tochter schon auf der Welt
                                           Beispiel die Kushner-Familie, aus der       war?
Sie emigrierten 1939 gemeinsam mit
ihren Eltern in die USA. Wie war es da-                                                                                           © DANIELLE SPERA

mals, als Jude nach Amerika zu kom-
men?
   Das US-amerikanische Außenmi-
nisterium war total antisemitisch.
Die haben alles versucht, um Juden
die Einreise zu verunmöglichen, auch
wenn alle Papiere in Ordnung waren.
Es gab einen katholischen Priester,
der im Radio gegen Juden hetzte, und
den „Amerikadeutschen Bund“, eine
Nazi-Organisation. Auch in New York
sind die Nazis mit Hakenkreuzen her-
umgelaufen und am Madison Square
Garden aufmarschiert. Noch ein Jahr
nach meiner Ankunft in den USA bin
ich hier auf der Straße in eine Rauferei
mit ein paar Nazis geraten.                Der schiefe Oscar ist der Rocky.

                                                                                                         1 | 2017    11
„Naja, seine Muttersprache verlernt man doch nicht, das ist halt wie
schwimmen. Wobei, unlängst habe ich den Henry Kissinger wieder
einmal gesehen, der ein Jahr älter als ich war, als er emigrierte.
Wenn der Deutsch redet, ziagt’s ma ois z’samm.“
   Ja, das war eine interessante Ge-        um dort für das Team der USA Fußball       beiden zu Kriegsausbruch wegen ihrer
schichte. Als mein Vater starb, war ich     zu spielen. Normalerweise wird so ein      Nationalität gemeinsam in London in-
beruflich gerade in Paris stationiert       Großvater wie ich ja am Dachboden          terniert worden waren.
und hatte dort keinerlei Verbindung         versteckt.
zur jüdischen Gemeinde. Ich wollte                                                     Und Sie wären Frau Kösten als Schwie-
das Trauerritual vollziehen, aber ich       Was ich mich schon anlässlich Ihrer        gersohn lieber gewesen?
konnte weder zehn Juden noch einen          Wien-Besuche gefragt habe: Wie haben          Sicher, Claires Bräutigam war
Rabbiner auftreiben. Schließlich fand       Sie Ihr Deutsch und insbesondere Ihre      ja etwa gleich alt wie ihr Vater. „Du
ich einen algerischen Rabbiner. Der         markante Wiener Sprachfärbung über         kommst zu spät“, sagte sie vorwurfs-
erklärte mir, dass er zu einer moder-       so viele Jahrzehnte so ungebrochen be-     voll zu mir. Ich habe dann versucht,
nen Synagoge gehörte und meine Frau         wahrt?                                     ihr zu erklären, dass ich als Soldat im
also mittrauern konnte. Nun, sagte ich         Naja, seine Muttersprache ver-          Krieg gewesen war, und nicht auf Ur-
ihm, das wird leider nicht gehen, sie ist   lernt man doch nicht, das ist halt wie     laub.
nämlich keine Jüdin.                        schwimmen. Wobei, unlängst habe ich
                                            den Henry Kissinger wieder einmal          Und Ihre andere Schulfreundin?
Und das war dann der Anlass für ihren       gesehen, der ein Jahr älter als ich war,      Das war die Lilly Schornstein. Die
Übertritt?                                  als er emigrierte. Wenn der Deutsch        flüchtete mit ihren Eltern nach Tou-
   Nein. Der Rabbiner besorgte mir          redet, ziagt’s ma ois z’samm. Sein Eng-    louse und kehrte später mit der Mut-
dann die notwendigen zehn Juden.            lisch ist aber auch sehr bescheiden.       ter nach Wien zurück. Mit ihr hab ich
Aber er ließ meiner Frau ein paar Bü-                                                  den Kontakt wieder aufgenommen, als
cher da, und sie begann, sich mit dem       Sie haben gesagt, dass Sie mit Wien        ich nach Wien kam. Wir trafen uns im
Thema auseinanderzusetzen. Später           eigentlich abgeschlossen hatten, bevor     Café Mozart, und als ich hereinkam,
ist sie dann übergetreten, ohne dass        Gaby Flossmann Sie zu einer Rückkehr       saß eine furchtbar hässliche Frau am
ich sie dazu irgendwie gedrängt hätte.      überreden konnte. Gab es Freunde aus       Nebentisch. Oh Gott, dachte ich, das
Wir mussten natürlich noch einmal           Ihrer Kindheit, die Sie damals wiederge-   kann ja nicht wahr sein. Sie war es
heiraten. Die Synagoge in Paris, in         sehen haben?                               auch nicht, sie kam ein paar Minuten
der wir heirateten, wurde später von           Ich hatte in Wien zwei gute Schul-      zu spät: Ein Wiener „Muatterl“ mit Hut
den Arabern gesprengt. So wie die           freundinnen, eine davon war die Cla-       und langem Mantel.
Synagoge in Wien, wo ich meine Bar          rissa Kösten. Clarissa, die später nach
Mizwa hatte, von den Nazis gesprengt        London emigrierte und sich Claire          Haben Sie mit den beiden noch Kontakt?
worden war. Wo ich eine Synagoge be-        nannte, hatte noch einen kleinen Bru-         Leider sind beide inzwischen schon
trete, kommt irgendwie nichts Gutes         der, Little Freddy. Im Augarten hab’       verstorben. Aber Little Freddy lebt
heraus.                                     ich den Little Freddy immer vor den        noch, in London, der ist inzwischen
                                            anderen, größeren Buben in Schutz          88 Jahre alt und ein wunderbarer Typ.
Spielt für Ihre Kinder die jüdische Her-    genommen, auch um seiner Schwe-            In Wien sind meine Bekannten mitt-
kunft heute noch eine Rolle?                ster ein bisschen näher zu kommen.         lerweile alle viel jünger als ich – und
   Meine Tochter musste dann ja erst        Mit Claire hielt ich später von den        die lassen mich nicht aus. Als ich Vi-
konvertiert werden, als sie drei, vier      USA aus per Brief Kontakt. Als ich         ennale-Präsident wurde, hieß es, das
Jahre alt war. Sie hat heute einen jü-      sie nach Kriegsende in London besu-        machst du drei Jahre lang, dann is’ es
dischen Mann und drei Kinder und hat        chen wollte, öffnete ihre Mutter, Frau     erledigt.
ihrer Familie eine jüdische Tradition       Kösten, die Tür und sagte: „Du bist an
gegeben. Mein Sohn hingegen fühlt           allem schuld!“                             Inzwischen ist zu Ihren Ehren eine Brief-
jüdisch, wenn es um die Wirklichkeit                                                   marke erschienen, ein Saal des Wiener
geht, aber er ist überhaupt nicht reli-     Woran waren Sie schuld?                    Metro-Kinos wurde nach Ihnen benannt.
giös. Und mit meinen beiden Enkel-             Frau Kösten hatte irgendwie damit          Ja, und Ehrenbürger der Stadt Wien
söhnen ist es so: Sie sind in Kalifornien   gerechnet, dass die Lilly und ich heira-   bin ich auch – dafür muss ich ja was
an eine Jesuitenschule gegangen. Ich        ten würden. Aber wir waren halt erst       tun. Ich kann den Hurch nicht im Stich
habe das bezahlt, weil es dort nicht        vierzehn, als wir durch die Flucht ge-     lassen, er hat das mit dem Programm
viele gute Mittelschulen gibt. Aber         trennt wurden. Als ich sie dann besu-      immer sehr gut gemacht, das ist nicht
dann kamen die Maccabi-Spiele. Und          chen wollte, war sie gerade mit einem      leicht bei so einer Größenordnung.
da gruben die zwei ihren jüdischen          Exil-Österreicher durchgebrannt, den       Also in diesem Sinne: Ich komm’. nu
Opa aus und fuhren nach Jerusalem,          ihr Vater kennengelernt hatte, als die

        12    1 | 2017
Unterwegs mit

          14    1 | 2017
Café in der
Josefstadt
Erwin Steinhauer ist ein                  lungen. „Leere Kaffeehäuser, leere          Vergangenheit sollten dem Kleinen
                                          Kinos, das ist so meins.“ Aber hallo. Was   nicht zum Schaden werden. Aber so
Ausnahmekünstler, der
                                          ist mit leeren Theatern? „Wenn mir die      einfach ist es ja nie. Der Sohn erzählte
sich in vielen Genres von                 Prinzipale meine Gage zahlen, können        im katholischen Internat zu viel von
Kabarett über Theater und                 die Säle gerne leer bleiben“, meint er      Besuchen am jüdischen Friedhof. Und
                                          schmunzelnd. Ja, er wisse schon, ob er      auch der Widerstandsgeist war ihm
Film bis hin zur Musik
                                          vor einem leeren oder vollen Saal spielt,   wohl eingepflanzt worden, jedenfalls
bewegt und in jedem über-                 auch wenn die Scheinwerfer blenden.         wurde er von der Schule gewiesen. Der
zeugt. Peter Menasse hat                  Das spüre man auf der Bühne. Ganz so        14-Jährige wollte es jetzt genau wissen
                                          egal dürfte es ihm also doch nicht sein.    und konfrontierte den Vater: „Ich kenne
ihn „unterwegs“ im Kaffee-
                                                                                      mich nicht aus, was ist los mit uns?“
haus getroffen.                           „Was ist los mit uns?“                         Der Vater begann zu reden, und was
                                             Erwin Steinhauer ist von seiner          er da erzählte, hat Erwin Steinhauer
                                          Großmutter, der Emmi, aufgezogen            politisch bis heute geprägt. Da waren
FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER           worden. Sie war die Mutter seines Va-       einmal die jüdischen Wurzeln von
                                          ters, des Feuerwehrmanns und Malers         Oma Emmi. Ihr Vater Eduard Just war
                                          Wolfgang Steinhauer. Die Eltern waren       ein aus Bukarest stammender Jude, der
   Eine längere Wanderung durch           voll damit ausgelastet, in der schwieri-    von den Nazis ins Konzentrationslager
Wien, oder auch nur ein kleiner Spa-      gen Zeit nach dem Krieg den Lebens-         Theresienstadt verschleppt wurde.
ziergang, ist es nicht geworden. „Un-     unterhalt zu verdienen, die Großeltern      Franz, ihr Mann, wiederum war Sozial-
terwegs mit Erwin Steinhauer“ fand        kümmerten sich um das Kind. Die Ge-         demokrat, der sich auch nach dem Ver-
im Kaffeehaus statt. Angenehm für         schichte der Familie während der Nazi-      bot der Partei 1934 politisch betätigte.
ihn, angenehm für den Begleiter. Nicht    Zeit wurde lange von Erwin ferngehal-       Er arbeitete in der Hauptfeuerwache
so wirklich unterwegs, aber guter Es-     ten. Wie so viele Eltern wollten auch       Floridsdorf unter dem Kommandan-
presso.                                   die Steinhauers ihr Kind schützen.          ten Georg Weissel. Am 13. Februar 1934
   Steinhauer wird im Gespräch dann       Jüdische Wurzeln und revolutionäre          bewaffneten sich die Feuerwehrleute,
auch einmal sagen, dass er nie so
wirklich sportlich begabt war und das
anhand seiner Bemühungen um den
Eislaufsport erläutern. „Ich habe Kind-
heitserinnerungen an das Eislaufen.
Damals hat man noch keine Kanadier
gehabt, sondern Schuhe mit Zacken
vorne zum Bremsen. Diese Zacken
waren mein Unglück, weil ich bin pau-
senlos gestürzt, immer auf den Hinter-
kopf gefallen und habe dann, wenn ich
aufgestanden bin, Sternderln gesehen.
Das wollte ich schließlich irgendwann
nicht mehr“.
   Das Café Eiles ist es geworden, weil
Erwin Steinhauer ein Stück die Straße
hinauf, im Theater in der Josefstadt,
spielt und früher auch oft im nahege-
legenen Tonstudio Holly Aufnahmen
machte. Heute taugt es ihm nicht so
sehr. Das Lokal ist bummvoll und er
mag keine großen Menschenansamm-          Erwin Steinhauer und Peter Menasse: Alle Wege führen ins Kaffeehaus

                                                                                                        1 | 2017    15
die dem Schutzbund angehörten, unter
Weissels Führung, um für eine demo-
kratische Republik zu kämpfen, wurden
aber verraten und von einem Standge-
richt des Dollfuß-Regimes zum Tode
verurteilt. Weissel wurde zwei Tage
später im Landesgericht Wien hinge-
richtet. Die anderen Feuerwehrleute,
darunter auch Steinhauers Großvater,
wurden begnadigt. „Man hat sie dann
durch die ‚Salzergasse‘ geschickt. Das
war ein Spalier von Heimwehrlern, die
mit Gewehrkolben die Durchlaufenden
auf die Schädel geschlagen und man-
chen davon zertrümmert haben.“
   Nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten versteckten sich
die jüdischen Mitglieder der Familie.
Emmi lebte im Keller einer Lebensmit-      „In der Löwengrube war mein Herzensstück.“
telhandlung in Schwechat und konnte
so überleben. Ihr Vater Eduard Just und
sein Enkelsohn Wolfgang, der Vater         Einmarsches der Hitlertruppen noch        Stadträten und ihre Gesprächspart-
von Erwin Steinhauer, kamen in einer       ‚die Politische‘ kassiert hat, das war    ner an den Tischen in den Fenster-
Kleingartensiedlung in Meidling unter.     der illegale Beitrag für die SPÖ, stand   nischen, ein paar Touristen auf den
Doch 1943 wurden sie verraten und ver-     dann am nächsten Tag, als mein Vater      unbequemen Plätzen in der Mitte des
haftet.                                    gerade von der Schule heimgekom-          Lokals und die üblichen Gruppen von
   Eduard wurde nach Theresienstadt        men ist, neben meiner Großmutter am       Jugendlichen, die auch nach vielen
verbracht, der 16-jährige Wolfgang kam     Gehsteig und hat mit der umgebunde-       Stunden gemeinsamen Schulbesuchs
ins Gestapo-Hauptquartier am Mor-          nen SA-Binde darauf geachtet, dass sie    nicht voneinander lassen wollen und
zinplatz. Dort hieß es zynisch, dass er,   den Gehsteig in der Schloßhoferstraße     das Erwachsenenleben im Kaffeehaus
der „Mischling zweiten Grades“, vom        auch ordentlich putzt. Dadurch haben      ausprobieren. Erwin Steinhauer würde
Führer noch eine Chance bekäme. Er         wir immer eine sehr kritische Distanz     in der Intimität der Plüschecke, in der
könne entweder der SS beitreten oder       zur SPÖ gehabt. Ich war dann sogar        wir sitzen, unbeachtet bleiben, wäre da
an die Front gehen. Wolfgang ließ sich     kurz Mitglied dieser Partei, weil ich     nicht das Problem unserer Fotografin
nicht vereinnahmen und wählte den          einer Kollegin bei ihrer Magisterarbeit   Mili, die mit der Spiegelung der Stein-
harten Weg, die Front. Bereits drei Wo-    geholfen habe, damit wir in die Archive   hauerschen Brillengläser kämpft. „Da
chen später kam er verwundet wieder        hineindürfen. Als sie aber dann 1983      lässt sich was machen“, meint er dazu
zurück. Auch Eduard überlebte und hat      mit den Blauen koaliert haben, bin ich    und nimmt die Brille ab. Steinhauer ist
noch bis 1954 gelebt. Erwin Steinhauer     eines Tages am Weg ins Burgtheater        freundlich und charmant, das sei zwi-
besucht bis heute das Grab seines Ur-      in der Löwelstraße in die SPÖ-Zentrale    schendurch erwähnt.
großvaters am 4. Tor.                      gegangen und habe mein Parteibuch            Wie aber steht es mit der Politik
   Auf die Frage, was aus der Famili-      zurückgegeben. Sechs Jahre später hat     heute, ist die SPÖ immer noch ein rotes
engeschichte ihn mehr geprägt habe,        mir der Poldi Gratz geschrieben und ge-   Tuch, frage ich ihn. Seine Antwort ist
der sozialistische Widerstand oder         fragt, ob ich es mir nicht noch einmal    fast so was wie ein Appell: „Jahrelang
die jüdischen Wurzeln, erzählt Stein-      überlegen will.“                          hat man immer wieder, als wir schon
hauer eine Geschichte aus dem Jahr                                                   längst die Grünen gewählt haben, über
1938, die sein Verhältnis zur Sozialde-    Ist die SPÖ immer noch ein rotes          die SPÖ als das kleinere Übel gespro-
mokratie bestimmt: „Mein Vater und         Tuch?                                     chen, das man wählen müsse. Jetzt
seine Eltern haben im Jahr 1938 in der       Das Café Eiles ist noch immer           allerdings habe ich ein bisschen das
Schloßhoferstraße in Floridsdorf ge-       bummvoll. Da gibt es die ernst bli-       Gefühl, dass es in Anbetracht der glo-
wohnt. Der Mann, der am Vorabend des       ckenden Pressesprecher von Wiener         balen und gesamteuropäischen Situa-

Eine längere Wanderung durch Wien, oder auch nur ein kleiner
Spaziergang, ist es nicht geworden. „Unterwegs mit Erwin Steinhauer“
fand im Kaffeehaus statt. Angenehm für ihn, angenehm für den
Begleiter. Nicht so wirklich unterwegs, aber guter Espresso.

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und darunter vielleicht zehn wichtige.
                                                                                       Man bekommt auch weiterhin Engage-
                                                                                       ments, wenn man konsequent absagt.
                                                                                       Es ist schwieriger, du hast viel Exi-
                                                                                       stenzangst, es ist eine Nervensache, du
                                                                                       wirst nicht reich, aber du kannst in den
                                                                                       Spiegel schauen und weißt, warum du
                                                                                       etwas machst.“

                                                                                       Eine Alzheimer-Geschichte
                                                                                           Gefragt nach Lieblingsrollen, erzählt
                                                                                       Steinhauer von zwei für ihn beson-
                                                                                       deren Stücken: „Ich habe gerne eine
                                                                                       Rolle gespielt, die der Otti Schenk nicht
                                                                                       übernehmen wollte, eine Auftragspro-
                                                                                       duktion für die Josefstadt, die dann im
                                                                                       Volkstheater gelandet ist: In der Löwen-
                                                                                       grube von Felix Mitterer. Das war auch
„Meine Vorbilder sind Künstler, die es geschafft haben, in Würde alt zu werden.“       die Zeit 1997, wo mein Vater gestorben
                                                                                       ist, der mein Lebensmensch war. Er hat
                                                                                       es noch gesehen und hat es sogar noch
tion doch auch zu einem Wiedererstar-      dass er an der Akademie scheel ange-        in einer Zeitschrift des Bunds sozialde-
ken der sozialdemokratischen Ideen         schaut wurde, nach dem Motto: ,Da ist       mokratischer Freiheitskämpfer bespro-
kommt, in Deutschland zum Beispiel         einer, der nur halbert Maler ist und ei-    chen. Das war mein Herzensstück. Ich
durch Martin Schulz; und bei uns hat       gentlich ein Feuerwehrmann.‘ Ich hatte      bin aber kein typischer Schauspieler
Christian Kern etwas vorgelegt, das die    dieses Sicherheitsdenken nicht. Mein        mit Wunschrollen. Mir war immer die
Hoffnung leben lässt, dass die Partei      Vater hat nie verstanden, warum ich         Rolle, die ich gerade gespielt habe, die
sich vielleicht wieder auf ihre Wurzeln    später ein fixes Engagement am Burg-        wichtigste. Zum Beispiel zuletzt bis
und auf ihre eigentliche Aufgabe be-       theater hergegeben habe. Er hat gesagt:     zum Juni vorigen Jahres habe ich Vater
sinnt, und nicht auf die Aufgabe, die      ,Hearst Erschel, du bist ein Beamter, des   gespielt, eine Alzheimer-Geschichte.
Rechten rechts zu überholen.“              kaunst do net mochn.‘ Ich habe ihm          Diese Rolle hat mich vollkommen aus-
   Unterwegs in der Geschichte und         gesagt, dass mir der Otti Schenk ein        gefüllt und beschäftigt. Wenn ich Thea-
in der Politik ist uns die Schauspiele-    Engagement am Theater in der Josef-         ter spiele, kann ich auch nichts Ande-
rei verloren gegangen. Das wäre bei        stadt angeboten hat. Das war ihm auch       res annehmen. Der Typ, der unter Tag
einem Spaziergang aus konditionellen       suspekt, weil das ja ein konservatives      dreht und am Abend ins Theater rast,
Gründen möglicherweise ein Problem         Haus sei.“                                  bin ich nicht.
geworden. Im Kaffeehaus beweisen wir          Als Schauspieler hat Erwin Stein-            Ich war vor vier Jahren beim Fringe-
aber Riesenkondition und schreiten in      hauer eine eindrucksvolle Liste von         Festival in Edinburgh. Da lebt ja die
unserer „Tour de Steinhauer“ elegant       vollkommen unterschiedlichen Rollen         ganze Stadt. Alles ist auf der Straße:
weiter zur Kunst.                          gespielt. „Ich lasse mich nicht gern in     Jongleure, Feuerspucker, Sänger,
   Schon Vater Wolfgang war Künstler       ein Ladl hineinstecken. Wenn du ein-        Bands, alles. Irgendwann stand ich in
gewesen. Er hatte bei Josef Dobrowsky      mal Erfolg hast, wollen sie dich gleich     einer Menschenmenge und sehe einen
an der Akademie der bildenden Künste       immer in ähnlichen Rollen sehen. Das        Mann die Straße entlangkommen, in
Malerei studiert, malte in einem Atelier   erste Mal war das bei mir mit Der Sonne     einem gestreiften Pyjama mit zwei Ta-
am Tiefen Graben und übte doch durch-      entgegen, meiner ersten großen Fern-        feln, hinten und vorne, dem aber, wie
gehend den Beruf eines Feuerwehr-          sehserie. Da hat man mir jahrelang nur      beim Näherkommen zu erkennen war,
manns aus. „Er hat eine Sicherheits-       den lustigen Dicken angeboten. Das          die rechte Hand marschiert ist und der
variante gewählt, hat aber sein ganzes     hat mich absolut nicht interessiert.        Trenzerling aus dem Mund kam. Ich
Leben lang gemalt. Meine Wohnung ist       Mein Weg ist also gekennzeichnet von        war entsetzt, dass man einen Men-
wie ein Museum, da hängen seine Bil-       meinen Absagen. Ich stehe auch dazu.        schen mit einer so offensichtlichen
der an allen Wänden. Ich stelle mir vor,   Ich habe ungefähr 150 Filme gemacht         Behinderung Werbung machen lässt.

Die Geschichte der Familie während der Nazi-Zeit wurde lange von
Erwin ferngehalten. Wie so viele Eltern wollten auch die Steinhauers ihr
Kind schützen. Jüdische Wurzeln und revolutionäre Vergangenheit sollten
dem Kleinen nicht zum Schaden werden.

       17     1 | 2017                                                                                   17     1 | 2017
Erwin Steinhauer ist heuer in die „Route 66“ des Lebensalters eingebogen.
Selbst auf dem Plüsch der Kaffeehausbank strahlt er eine große Präsenz
und eine von einem offenem Lachen geprägte Freundlichkeit aus.
Als er ganz in der Nähe war, sagte er       so schlecht und abfällig behandelten,       geistern. Später, ich war zwölf, kam
zu mir: ,Wollen Sie einen Abend mit         nur weil sie in einer anderen Welt lebt.“   mein Onkel Emil Perlmutter auf mich
Demenz verbringen?‘ Es stellte sich            Unser erster Ober hat längst abkas-      zu. Seine Familie war verwandt mit der
heraus, dass er selbst in einem nahe-       siert, der zweite bringt uns weiteren       Familie Blaha. Der Ernstl Blaha, der ein-
gelegenen Theaterraum einen Kranken         Kaffee, während wir den Weg zum             mal Mitarbeiter in der Kultusgemeinde
spielte und jetzt auf der Straße für sich   letzten Thema, der Musik, beschreiten.      war, war so etwas wie ein Nennonkel
selber Werbung machte. Ich habe es mir      Steinhauer hat eine erste unglückliche      meines Vaters und sein bester Freund.
dann angeschaut und seitdem war das         und eine zweite glückliche Begegnung        Der Perlmutter hat gesagt ,Pass auf, ich
für mich das Thema schlechthin. Der         mit Instrumenten: „Meine Eltern woll-       mache dir ein Angebot. Wenn du mit
Schauspieler hat mir erzählt, dass man      ten immer, dass ich Klavier lerne. Sie      mir zwischen Weihnachten und Neu-
bei einer dementen Frau nach ihrem          haben mir nach langem Sparen einen          jahr am Tivoli meine Glücksbringer
Tod im Nachtkastl ein Gedicht gefun-        Stutzflügel gekauft und ich habe fünf,      verkaufst, schenke ich dir ein Instru-
den hat. Zwei Seiten lang, wunderbar        sechs Stunden mit einer Lehrerin            ment.‘ Ich bin dann wirklich vom 27.
gereimt, wo sie sich darüber aufregt, wie   geübt. Dann war es aus. Man konnte          bis 31. Dezember gestanden und habe
sie dazu käme, dass die Menschen sie        mich für dieses Instrument nicht be-        verkauft. So mit Sprüchen wie ,Vier
                                                                                        mal neun ist Donnerstag, gehen Sie
                                                                                        nicht an Ihrem Glück vorbei.‘ Und dann
                                                                                        hat mir der alte Perlmutter eine Wan-
                                                                                        derklampfen gekauft, von der ich nicht
                                                                                        mehr lassen konnte. Mit diesem Instru-
                                                                                        ment habe ich begonnen, mir selbst das
                                                                                        Spielen beizubringen und so bin ich zur
                                                                                        Musik gekommen.“
                                                                                           Steinhauer spielt weiterhin Theater
                                                                                        und er hat gerade einen neuen Polt ab-
                                                                                        gedreht. „Die Serie ist interessant, weil
                                                                                        sie außerhalb des Mainstreams ist. Als
                                                                                        wir begonnen haben, war diese Art des
                                                                                        Filmens noch gänzlich neu: Der Mut
                                                                                        zu langen Einstellungen, vorsichtige
                                                                                        Schnitte, große offene Landschafts-
                                                                                        bilder, Porträts in Nahaufnahme. Die
                                                                                        Erzählweise ist so, dass manche be-
                                                                                        haupten, die DVDs mit den Polt-Filmen
                                                                                        werden bald in der Apotheke als Schlaf-
                                                                                        mittel verteilt werden.“
                                                                                           Erwin Steinhauer ist heuer in die
                                                                                        „Route 66“ des Lebensalters eingebo-
                                                                                        gen. Selbst auf dem Plüsch der Kaffee-
                                                                                        hausbank strahlt er eine große Präsenz
                                                                                        und eine von einem offenem Lachen
                                                                                        geprägte Freundlichkeit aus. Vorbilder,
                                                                                        so sagt er auf meine Nachfrage, seien
                                                                                        ihm „Künstler, die es geschafft haben,
                                                                                        in Würde alt zu werden, wie etwa Gene
                                                                                        Hackman“. So viele würden Theater
                                                                                        spielen und vollkommen vergessen,
                                                                                        wie alt sie sind, wo sie herkommen und
                                                                                        was sie sich zutrauen können.
                                                                                           Weit sind wir gekommen mit un-
                                                                                        serem Gespräch, wenn wir auch nicht
                                                                                        weit unterwegs waren. Herr Ober, zah-
                                                                                        len bitte. Herr Steinhauer muss eilig ins
„Wenn ich Theater spiele, kann ich auch nichts Anderes annehmen.“                       Theater.                               nu

        18    1 | 2017
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Verwandten und Bekannten ein                                             Bekannten und Klienten
    fröhliches Pessach-Fest                                             ein fröhliches Pessach-Fest

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   Zu den Feiertagen die                                           Ihnen allen
   besten Wünsche allen
                                    Die NU-Redaktion               ein schönes
 Verwandten und Freunden              wünscht allen                Pessach-Fest!
    im In- und Ausland
                                  Leserinnen und Lesern
                                   ein glückliches und
                                                                   USCHI LICHTENEGGER
Pierre Lopper und Familie         schönes Pessach-Fest!            Bezirksvorsteherin
 Rotenturmstraße 27, 1010 Wien                                     Leopoldstadt
                                                                   Karmelitergasse 9
       Tel. 01/ 367 93 00
                                                                   post@pv02.wien.gv.at
   E-Mail: plopper@chello.at                                       Tel: +43-1-4000-02111

   Prof. (FH) Mag.
  Julius Dem, MBA
Allg. beeideter und gerichtlich                Ein schönes Pessachfest
   zertifizierter Dolmetscher             wünscht allen Patienten und Freunden
         für Hebräisch
 wünscht allen Verwandten,        Mag. Dr. med. univ. Alexander Tuschel
    Freunden und Kunden
                                       Oberarzt am Wirbelsäulenzentrum Wien-Speising
  ein fröhliches Pessach-Fest
                                                        www.tuschel.at

                                                                                    1 | 2017    19
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