Erwin Steinhauer: Jüdischkeit, Widerstand, Kunst - NU
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Ausgabe Nr. 67 (1/2017) · Adar/Nissan 5777 · € 4,50 · www.nunu.at Erwin Steinhauer: Jüdischkeit, Widerstand, Kunst
Leitartikel Kommt die Gegen- © MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER Säkularisierung? Jude, was ist das? gers und des Nationalsozialismus, die uns klargemacht haben, Es gibt verschiedene Antworten darauf, wer ein Jude ist. dass wir einer Schicksalsgemeinschaft angehören, sondern Nach den Regeln der jüdischen Religion sind es Menschen, auch der Aufklärung (Stichwort: Moses Mendelssohn), die der deren Mutter Jüdin ist. Die Feinde der Juden hingegen geben europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts nicht unbedeutende eine ganz andere Antwort. Vom früheren Bürgermeister von „jüdische“ Züge verliehen hat. Wer die Botschaft verstanden Wien und glühenden Antisemiten Karl Lueger ist der Satz hat, weiß, dass er gegen Diskriminierung, Rassenhass und Xe- überliefert: „Wer ein Jud’ ist, bestimm i’“. In dieser Tradition nophobie eintreten muss. Wir sind Juden und lassen uns das erfanden später die Nationalsozialisten eine eigene Skala des von Orthodoxen auch nicht untersagen. Jüdisch-Seins, die auf eine angebliche rassische Zugehörigkeit Auch viele Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde ge- abzielte. Von Religion war hier keine Rede. Eine dritte Position hören dieser Gruppe an, die man als „politische Juden“ bezeich- sind Menschen, die sich als Juden verstehen, egal ob sie eine nen könnte. Bereits mit der Wahl Waldheims, insbesondere jüdische Mutter haben oder nicht. Sie gehören einer verfolgten aber, als die schwarz-blaue Regierung im Jahr 2000 antrat, gab Familie an und ziehen daraus einen politischen Auftrag. Und es viele, die sich neu in die Gemeinde einschreiben ließen, um sie verstehen sich als Teil der jüdischen Kultur. ein Zeichen zu setzen. Neuerdings aber und ganz im Einklang mit den Entwicklungen in Israel müssen wir politische Juden Orthodoxie im Vormarsch uns die Frage stellen, ob wir tatsächlich mit der IKG die richtige Diese autonome Form des Jüdisch-Seins und auch der Bei- Vertretung haben. tritt via Religion werden in letzter Zeit immer mehr erschwert. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die IKG laut Der Grund dafür sind Entwicklungen in Israel. Das Land hat „Israelitengesetz“ nichts als eine „anerkannte Religionsgemein- die Trennung von Staat und Religion nie wirklich geleistet. schaft“ ist. Keine Rede von einer Vertretung der nichtreligiösen Das hat lange Zeit keine Rolle gespielt, weil der Einfluss der Juden. Haben wir uns also in der falschen Institution organi- Strenggläubigen unwesentlich war. Im Vordergrund standen siert? Sind wir mit unseren politischen Anliegen überhaupt die Gepflogenheiten einer entwickelten Demokratie westlichen vertreten? Bisher konnte man einigermaßen den Eindruck Zuschnitts, die es ihren Bürgern ermöglichte, mit einigen Ein- haben, dass die Führung der IKG auch die weltlichen Ange- schränkungen, Stichwort Nicht-Anerkennung von Zivilehen, legenheiten in einem Geist behandelte, der uns alle vereint: ein Leben nach ihren Vorstellungen innerhalb des Rechtssy- Gegen Unrecht in der Gesellschaft, für Demokratie, für einen stems zu gestalten. Das ändert sich jedoch seit einigen Jahren. jüdischen Beitrag, der aus den Lehren der Geschichte resultiert. Es ist in Israel heute eine Regierungsbildung ohne die Orthodo- Jetzt aber hat sich einiges geändert. Die Führung der IKG xie nicht mehr möglich. Zu groß ist die Zahl der streng Religi- scheint ganz wie die Regierung in Israel der Orthodoxie das Ge- ösen – und sie wächst dynamisch, weil die Geburtenrate dieser setz des Handelns zu überlassen. Wer nichtreligiöse Juden vor Gruppe die aller anderen weit übersteigt. ein Rabbinatsgericht zitiert, wie es tatsächlich kürzlich in Wien Das neue Machtverständnis der Politiker aus dem ortho- geschehen ist, hat sich vom Grundkonsens verabschiedet, dass doxen Umfeld beginnt sich seit einiger Zeit auch auf Juden die Kultusgemeinde eine Vertretung aller, auch der politischen außerhalb Israels auszuwirken. Bisher war es mit einigen Juden ist. Es ist anzunehmen, dass sich dieser Trend verstär- Anstrengungen möglich, auch ohne jüdische Mutter ein von ken und die IKG zunehmend zu einer reinen Religionsgemein- der Gruppe der Religiösen anerkannter Jude zu werden. Dazu schaft mutieren wird. musste man bei einem örtlichen Rabbiner Lehrgänge besuchen Es scheint mir für alle, die sich dann nicht mehr vertreten und das Bekenntnis zu einer religiösen Lebensführung glaub- fühlen können, die Zeit gekommen, nach Lösungen zu suchen. haft machen. Seit einiger Zeit anerkennen führende israelische Wir, die nichtreligiösen Juden, müssen uns organisieren, sei es Rabbiner solche Konversionen nicht mehr ohne weiteres. Der innerhalb der Gemeinde oder außerhalb, um nicht zu Handlan- bekannteste Fall ist jener von Ivanka Trump. Ihr verweigerte gern einer orthodoxen Splittergruppe innerhalb des Judentums eine rabbinische Vorinstanz aus Israel trotz Übertritts in den zu werden. In dieser Gruppe werden dann auch alle jene politi- USA die Anerkennung als Jüdin. Diese enge Auslegung könnte schen Juden Platz finden, die auf keine jüdische Mutter, jedoch zu einem ernsten Konflikt mit den für Israel so wichtigen ame- auf ein Bewusstsein im jüdischen Geist verweisen können. nu rikanischen Juden werden. Allen religiösen und nichtreligiösen Juden und allen ande- Politische Juden ren Freunden rufe ich zu: Was muss uns das in Österreich interessieren? Es gibt hier viel mehr Menschen, die sich als Juden verstehen, als Mitglie- Pessach sameach! der der jüdischen Religion. Das ist nicht nur das Erbe der Lue- Ihr Peter Menasse, Chefredakteur 1 | 2017 3
Memos © FAMILIE SUSCHITZKY Staffel eins ist die Serie das bis heute teuerste Projekt auf Netflix. WIR EMPFEHLEN das Buch Tiere für Fortgeschrittene von Eva Menasse. Jahrelang hat die NU-Autorin Tiermeldungen gesam- melt, die ihr etwas über menschliche Verhaltensweisen verraten haben. ©JMW/SONJA BACHMAYER Raupen, die sich ihr eigenes Grab Tudor-Hart war Peter Stephan Jungks schaufeln, Haie, die künstlich be- Großtante. Der Schriftsteller und Fil- WIR TRAUERN UM atmet werden, Enten, die noch im memacher versucht den verborgenen Ari Rath, der als Arnold Rath im Jahr Schlaf nach Fressfeinden Ausschau Bereichen ihres Lebens, von denen 1925 in Wien geboren wurde. In seiner halten, Schafe, die ihre Wolle von selbst ihr nahestehende Menschen Autobiografie Ari heißt Löwe, die 2012 selbst abwer- nichts wussten, auf die Spur zu kom- erschien, schrieb er: „Wir waren eine fen. Jede von men – in Österreich, Großbritannien typische moderne jüdische Familie Eva Menasses und Russland. der dreißiger Jahre in Mitteleuropa. Erzählungen Mein Vater hatte sich bereits voll- geht von einer UNS GEFÄLLT ständig an die westeuropäischen kuriosen Tier- das Internationale Technik Summer- Werte und Gebräuche angepasst, ob- meldung aus, camp BIG IDEA in Israel. Hunderte von wohl er ursprünglich aus einer ange- widmet sich Kindern und Jugendlichen aus der sehenen Rabbinerfamilie stammte.“ jedoch der Spe- ganzen Welt (über 40 Länder) kom- Nach der Machtübernahme durch zies Mensch. men jeden Sommer nach Israel, um die Nationalsozialisten wurde die (Verlag Kiepen- ihr technisch-fachliches Können in Familie in alle Richtungen zerstreut. heuer&Witsch) © BIG IDEA Ari und sein Bruder Max konnten mit Hilfe der Jugend-Alija nach Palästina WIR LESEN auswandern. In Israel wurde Ari Rath Fürchtet euch und folgt uns. Die Po- Journalist, Publizist und Friedensak- litik der Populisten von Michael La- tivist. Zwischen 1975 und 1989 war er czynski. Der EU-Korrespondent der Chefredakteur und Herausgeber der Tageszeitung Die Presse in Brüssel Jerusalem Post. Im Jahr 2005 nahm und NU-Autor zeigt darin, wie Popu- Rath neben der israelischen auch listen Ängste nutzen, um auf Stim- wieder die österreichische Staatsbür- menfang zu gerschaft an. Ein Interview über Ari gehen, wer die Raths Jugend in Wien, seine Flucht Menschen sind, mehr als 30 verschiedenen Workshops, vor den Nazis nach Palästina und die die ihnen ver- von Unternehmertum und Innovation politische Verantwortung Österreichs trauen, und was bis zu Computertechnik und Design, ist Teil der Dauerausstellung des Jü- gegen ihre Po- auszubauen. Sie erlernen neue Fähig- dischen Museum Wien. litik unternom- keiten und erwerben im Camp nicht men werden nur neues, wertvolles Werkzeug für das WIR GRATULIEREN kann. Die Reise Leben, sondern auch gleichgesinnte Peter Morgan zur Verleihung des führt von Lon- Freunde aus der ganzen Welt. Golden Globes 2017 für Die Krone als don über Paris die beste Serie. Sie widmet sich dem und das Brüs- Leben der jungen britischen Königin seler Europaviertel bis in die Ghettos WIR STELLEN VOR Elisabeth II. ab ihrer von Kopenhagen und die Vororte von Die Redaktionshündin Hochzeit im Jahr Warschau. (Kremayr & Scheriau) Nunu. Sie kann man 1947. Weitere Staf- auf Facebook feln sollen bis in die UNS INTERESSIERT bewundern: Gegenwart führen, der Dokumentarfilm Auf Ediths Spu- www.facebook.com/ wobei jede Staffel ren von Peter Stephan Jungk. Er er- HundNUNU/ jeweils ein Jahr- zählt die wahre Geschichte der öster- zehnt ihres Lebens reichischen Fotografin und KGB-Spio- umfassen soll. Mit nin Edith Tudor-Hart, die maßgeblich einem Budget von daran beteiligt war, dass Russland bis zu 80 Millionen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg © NU US-Dollar für die in den Besitz der Atombombe kam. © MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER 4 1 | 2017
Inhalt & Impressum © ABIR SULTAN/EPA/PICTUREDESK.COM © STARPIX/PICTUREDESK.COM IMPRESSUM NU – Jüdisches Magazin für Eric Pleskow Seite 10 Branko Lustig Seite 36 Politik und Kultur Erscheinungsweise: 4 x jährlich Auflage: 4.500 Nächste Ausgabe: Juni 2017 Leitartikel Zeitgeschichte HERAUSGEBER UND MEDIENINHABER Kommt die Gegen-Säkularisierung? 3 Oscarpreisträger Branko Lustig – Arbeitsgemeinschaft jüdisches Forum von Auschwitz nach Hollywood 36 Gölsdorfgasse 3, 1010 Wien KONTAKT Aktuell Entwurzelt, vergessen: Tel.: +43 (0)1 535 63 44 Leo Perutz im Exil 40 Fax: +43 (0)1 535 63 46 Interview mit dem Höchstrichter aus E-Mail: office@nunu.at Michigan, Richard H. Bernstein 6 Internet: www.nunu.at Jüdisches Leben BANKVERBINDUNG Eric Pleskow über sein bewegtes IBAN: AT78 1100 0085 7392 3300 Leben und jüdische Identität 10 Danielle Spera hat Fredi Brodmann BIC: BKAUATWW in New York getroffen 42 SIE SIND AN EINEM NU-ABONNEMENT INTERESSIERT? Unterwegs mit Warum das Café Kafka Jahres-Abo (vier Hefte) inkl. Versand: so erfolgreich ist 46 Österreich: Euro 15,– Ausnahmekünstler Europäische Union: Euro 20,– Erwin Steinhauer 14 Die Historikerin Fania Außerhalb der EU: Euro 25,– Oz-Salzberger im Interview 48 ABO-SERVICE, VERTRIEB & ANZEIGEN office@nunu.at Nachruf Alexander Zemlinsky – ein Künstler mit Adelsprädikat 51 STÄNDIGES REDAKTIONSTEAM David Rubinger, der bedeutenste Richard Kienzl (Artdirector), Peter Menasse (Chefredakteur), Vera Ribarich (Lektorat) Fotograf Israels 20 Jazz-Pianist Leonid Chizhik 52 Ida Salamon (Chefin vom Dienst) 'UOC4GFʟGRQXCFKG)TCPFG TITELBILD © Milagros Martínez-Flener Nahost Dame der Roma-Musik 54 SATZ & LAYOUT Bericht über den Wiener Zeitung GmbH, Maria-Jacobi-Gasse 1, 1030 Wien, www.wienerzeitung.at „Jewish Media Summit“ 22 Standards DRUCK Wallig Ennstaler Druckerei Rätsel 45 und Verlag Ges.m.b.H. Gegendarstellung 26 Mitterbergstrasse 36, 8962 Gröbming Engelberg 56 OFFENLEGUNG GEMÄSS MEDIENGESETZ Verein Arbeitsgemeinschaft jüdisches Nahost In eigener Sache 57 Forum mit Sitz in 1010 Wien, Gölsdorfgasse 3 Obmann: Martin Engelberg „Der Sechstagekrieg in Autoren 58 Obmannstellvertreterin: Danielle Spera Wort und Bild“ 29 Kassiererin: Ida Salamon Dajgezzen & Chochmezzen 59 Grundsätzliche Richtung: Was sind Alt-Oberösterreicher? NU ist ein Informationsmagazin für Juden in Was ist Erinnern? 32 Österreich und für ihnen nahestehende, an jüdischen Fragen interessierte Menschen. F-35 – der Kampfflieger NU will den demokratischen Diskurs fördern. der Zukunft 34 1 | 2017 5
Aktuell Trump musste nie kämpfen Richard H. Bernstein, seit NU: Richter Bernstein, woher kam Ihre Detroit hat viele Hochs und Tiefs erlebt, Familie in die USA? die Krise der Autoindustrie, und jetzt 2015 Richter am Höchstge- Bernstein: Meine Vorfahren stam- kommt wieder ein Aufschwung. richt des US-Bundesstaates men, glaube ich, aus Deutschland, Es ist eine wunderbare Stadt, mit Michigan, kam blind auf aber wir sind schon lange in Detroit Menschen, die daran gewöhnt sind, verwurzelt, meine Eltern, Großeltern, hart zu arbeiten. Eine Industriestadt. die Welt. Er hat eine Mis- auch meine Urgroßeltern. Wir lieben Die Stadt hat sich gut erholt. Es gab sion: Die Welt für Menschen diese Stadt und ihre Community. Ich Ups and Downs, wie auch im Leben, mit und ohne Behinderung bin Jude, aber nicht praktizierend, die Stadt war bankrott, derzeit erlebt doch ich habe eine leidenschaftliche sie einen Höhenflug. besser zu machen. Danielle Verbindung zu Gott. Ich glaube daran, Spera hat Richard Bernstein dass alle Dinge, die uns passieren, Detroit und Trump: Wie sieht man in in Wien getroffen. einen Grund haben und in Wirklich- Ihrer Stadt den neuen Präsidenten? keit auch immer alles gut ausgeht, ob- Ich muss hier in meiner Eigenschaft wohl man vielleicht, während etwas als Höchstrichter antworten und nicht FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER passiert, nicht daran glauben kann. als Privatperson, daher werde ich Das ist die Natur des Lebens. einen Vergleich mit der Lebenserfah- 6 1 | 2017
„Ich glaube daran, dass alle Dinge, die uns passieren, einen Grund haben und in Wirklichkeit auch immer alles gut ausgeht, obwohl man vielleicht, während etwas passiert, nicht daran glauben kann. Das ist die Natur des Lebens.“ rung eines Menschen anstellen: Je fen, die das Leben einzelner oder auch troffen. Es war enorm zeitaufwändig. mehr Herausforderungen und schlim- vieler Menschen betreffen – manch- Als Kandidat kann man entscheiden, men Erfahrungen sich ein Mensch in mal auch Entscheidungen über Leben welche Auswirkungen man auf das seinem Leben stellen musste, desto und Tod. Wir Richter haben eine dicke Land und seine Bevölkerung haben mehr Dankbarkeit für das selbst Er- Haut, wir sind den Umständen ge- möchte. Das sind übrigens sehr jüdi- reichte und Mitgefühl für Schwie- wachsen und werden die Kritik des sche Fragen: Warum sind wir hier und rigkeiten anderer Menschen wird er Präsidenten leicht verkraften. Wenn was können wir besser machen. Das empfinden. Dies gilt besonders dann, ich Urteile schreibe, dann beeinflusst ist unsere Aufgabe, wie können wir wenn man Entscheidungen zu treffen dies das Leben von elf Millionen die Welt verbessern. Wahlen sind das hat, die Auswirkungen auf das Leben Menschen im Bundesstaat Michigan. perfekte Mittel dafür. Leider auch für anderer Menschen haben. Wenn wir Daher sind wir in der Lage, dem Prä- das Schlechte. Der Kandidat hat es in uns jemanden wie Trump ansehen, sidenten Paroli zu bieten und werden der Hand. dann erkennen wir, dass seine Le- seine eigenwilligen Entscheidungen benserfahrung nicht so geprägt ist. So ausbalancieren. Für uns ist das mehr Was hat Sie bewogen, sich dieser Wahl wie er aufgewachsen und sozialisiert oder weniger „Business as usual“. zu stellen? ist, konnte er keine Empathie, Sensibi- Ich habe mich entschlossen zu kan- lität oder Verständnis für die Schwie- Wohin wird das führen? didieren, weil ich wollte, dass die Men- rigkeiten oder Härten entwickeln, die Lassen Sie mich das folgenderma- schen ihre Perspektive auf Behinderte das Leben vieler Menschen beeinflus- ßen beantworten: Die Amerikaner sind ändern. Ich wollte ihre Vorstellung von sen. Er musste nie um etwas kämpfen, ein großes und gutes Volk, ich liebe blinden Menschen und Behinderten Mühsal oder Not hat er nie gekannt. meinen Bundesstaat Michigan und die ganz allgemein zum Positiven verän- Vermutlich fehlt ihm deshalb das Ein- Bevölkerung. Um das Amt, das ich in- dern und so die Lebensqualität von fühlungsvermögen oder die Einsicht, nehabe, zu bekleiden, muss man vom Menschen mit Behinderung verbes- auf andere Menschen einzugehen. Volk gewählt werden. Warum sage ich sern. Durch meine Kandidatur haben Er hatte ein leichtes Leben, das heißt das: Ich musste das ganze Land berei- viele Menschen erstmals mit einem aber nicht, dass er ein glücklicher sen, ich war in jeder Stadt, in jedem Blinden zu tun gehabt. Ich wollte mit Mensch ist. Der Anlass, weshalb ich Dorf, habe alle Fabriken besucht und ihnen eine positive Verbindung her- hier in Wien bin, ist die Zero-Project- die unterschiedlichsten Menschen ge- stellen. Und die Bevölkerung von Konferenz der UNO. Hier haben wir die Schicksale von Menschen besprochen, die unter enorm schwierigen Bedin- gungen leben. Sie meistern ihr Leben vorbildlich und sind obendrein noch warmherzig und frohen Mutes, denn sie wissen zu schätzen, dass ihrem Leben Sinn gegeben wurde. Diese Le- benserfahrung kann einen Menschen besser machen, Trump hat das sicher nicht. Wir sind jeden Tag von neuem erstaunt, mit welchen überraschenden Schritten Trump aufhorchen lässt. Sie sprechen mit einem „sogenann- ten“ Richter – so hat Trump unseren Berufsstand bezeichnet. „Checks and Balances“ ist das Grundprinzip der Vereinigten Staaten. Die Judikative wird eine enorm wichtige Rolle in der weiteren Entwicklung einnehmen. Richter in den USA müssen täglich weitreichende Entscheidungen tref- Danielle Spera im Gespräch mit Richard Bernstein 1 | 2017 7
„Je mehr Herausforderungen und schlimmen Erfahrungen sich ein Mensch in seinem Leben stellen musste, desto mehr Dankbarkeit für das selbst Erreichte und Mitgefühl für Schwierigkeiten anderer Menschen wird er empfinden.“ Michigan hat einem blinden Men- wenn sie in einem Land als Minder- Wirkt es sich irgendwie aus, dass Trump schen ein so hohes Amt anvertraut. heit leben, immer danach streben sol- auch jüdische Familienmitglieder hat? Das ist eine starke Botschaft. Das war len, ein vorbildliches und makelloses Sicher nicht. Man kann ungehö- noch ein Schritt mehr in Richtung In- Leben zu führen, speziell wenn man riges Verhalten niemals damit ent- klusion und Gleichheit, als es bisher ein hohes Amt übertragen bekommt. schuldigen, nach dem Motto: Ich darf der Fall war. Im mittleren Westen, wo ich kandi- das, ich habe eine jüdische Tochter diert habe, war es für die Menschen und einen jüdischen Schwiegersohn. Für Sie war es ein weiter Weg. Als Sie auf dem Land etwas Außergewöhnli- Das wäre, als hätte man einen behin- Ihr Studium abschlossen, hat Ihnen nie- ches, einem jüdischen Kandidaten zu derten Menschen in der Familie und mand einen Arbeitsplatz gegeben, trotz begegnen. Mein Credo ist, mein Bestes würde daraus das Recht ableiten, sich hunderter Bewerbungen, heute sind sie zu geben. Nun bin ich für acht Jahre gegenüber Behinderten unfair zu ver- Oberster Richter. gewählt und reise weiterhin durch Mi- halten. Ja – und das ist etwas, das Donald chigan, weil ich finde, ich bin es den Trump fehlt, die bitteren Erfahrungen Menschen, die mich gewählt haben, Was bedeutet Trumps Präsidentschaft im Leben, die Herausforderungen des schuldig. Ich möchte mit ihnen in Ver- für Israel? Lebens. Wenn er das gehabt hätte, bindung bleiben und als Jude einen Ich bin sechsmal im Jahr in Israel wäre sein Benehmen anders, er hätte perfekten Eindruck hinterlassen. Ich und berate dort die Armee im Umgang sicher mehr Respekt. glaube fest daran, dass wir eine Ver- mit behinderten jungen Menschen pflichtung haben, uns von unserer be- und deren Integration in die Streit- Hat Ihr Judentum je eine Rolle gespielt? sten Seite zu zeigen. kräfte. Das ist ein großartiges Pro- Juden sind in den USA sehr gut gramm. Es gibt Behinderte, die in die in die Gesellschaft integriert. Mit Haben Sie jemals Antisemitismus er- Armee wollen. Dadurch, dass ich so meinem Namen stand immer außer lebt? stark in Israel involviert bin, betrachte Zweifel, woher ich komme. Bernstein Nein. Meine Behinderung war die ich das Land natürlich anders. In den klingt geradezu wie eine Werbung für große Herausforderung. Dass ich Jude USA leben wir ein sehr komfortables das Judentum. Ich liebe Amerika, aber bin, war dann vermutlich zweitrangig. Leben, in Frieden. Daher finde ich es Juden dürfen nie vergessen, dass sie, unangebracht, wenn wir aus unse- rer bequemen Position heraus einem Land Ratschläge geben, das ständig in einem Bedrohungszustand leben muss. Jeder, der das kritisiert, soll einmal in Israel leben. Ich unterstütze alles, was Israel tut, um das eigene Überleben zu sichern. Israel hat es geschafft, eine bemerkenswerte Ge- sellschaft aufzubauen, eine boomende Wirtschaft und eine revolutionäre Technologie zu entwickeln und trägt zum Fortschritt im Leben der Men- schen in aller Welt bei. Daher können wir den Menschen in Israel vertrauen, dass sie das Land gut verwalten. In Europa wird das teilweise ganz anders gesehen. Auch hier geht es um das Thema Erfahrungen. Die Israelis können nach ihren Erfahrungen besser urteilen als wir aus der Distanz. Ich treffe immer wieder auch mit Opfern von Terroran- „Mein Credo ist, mein Bestes zu geben, ich bin es den Menschen, die mich gewählt schlägen zusammen. Das sind Men- haben, schuldig.“ schen, die völlig fit waren – und plötz- 8 1 | 2017
„Israel hat es geschafft, eine bemerkenswerte Gesellschaft aufzu- bauen, eine boomende Wirtschaft und eine revolutionäre Technologie zu entwickeln und trägt zum Fortschritt im Leben der Menschen in aller Welt bei.“ Seitdem bin ich unter größten Schmer- zen drei Marathons gelaufen. Das war meine größte Herausforderung, doch ich habe dadurch meine Verbindung mit Gott gefunden. Im Leben gibt es zwei Kategorien von Menschen: Jene, die ihr ganzes Leben lang kämpfen müssen, und an- dererseits Menschen, denen immer alles glückt und die alles haben. Ich hatte beides: Ich musste gegen Vor- urteile kämpfen, hatte aber gleichzei- tig eine Einbettung in eine liebevolle Familie mit einem guten finanziellen Hintergrund. Das hat mir unglaublich viel Kraft gegeben. In den USA sind 85 Prozent aller blinden Menschen ar- beitslos, und zwar nicht deshalb, weil sie nicht hart arbeiten können oder wollen. Ich hatte das große Glück, dass ich in gute Schulen gehen und eine „Laufen ist für mich essenziell. Es verbindet mich eher mit Gott als der Besuch in wunderbare Ausbildung genießen einer Synagoge.“ konnte, sonst würde ich unter die 85 Prozent fallen. Meine Familie ist sehr lich fehlen ihnen Gliedmaße, Arme der UNO-Konferenz, die ich gerade in optimistisch, voll Energie und Begei- oder Beine, sie müssen erst lernen, mit Wien besuchte, hat Israel seine Tech- sterung für das Leben und hat immer einer Behinderung zu leben. Ich habe nologie zur Hilfe für Behinderte vor- zu mir gehalten. Sie wussten, dass ich so ein leichtes Leben, denn ich bin gestellt. Es ist unglaublich, was dort alles erreichen kann, wenn ich mich kein Terroropfer. Ich arbeite mit ihnen, für Menschen mit Beeinträchtigung anstrenge. Ich arbeite ununterbro- wie sie ihre nächsten Schritte in die- geschieht. Eine App beispielsweise, chen, meine Mitarbeiter lesen mir vor sem neuen Leben als Behinderte ma- die Blinden jeden Text vorliest, viele und ich muss alles in meiner Erinne- chen. Ich versuche, sie neu in die Ge- Dinge, die Behinderten das Leben er- rung behalten. Wenn ich reise, lesen sellschaft zu integrieren. Sehr hart war leichtern. sie mir über Skype vor, das geht nur, die Arbeit mit Frauen, deren Kinder bei weil ich meinen Glauben habe. Terroranschlägen getötet worden sind. Sie arbeiten sehr intensiv, 15 Stunden Diese Frauen haben ihre Kinder vor pro Tag, und Sie sind 18 Marathons ge- Sie reisen viel, wie ist das möglich? ihren Augen sterben gesehen. Viele laufen, wie machen Sie das? Das ist nur möglich, weil ich all dieser Frauen sagten zu mir: „Sie sind Laufen ist für mich essenziell. Es mein Geld für die Reisen ausgebe. genau wie mein Sohn.“ Ich fragte mich, verbindet mich eher mit Gott als der Nach Israel oder jetzt zur Konferenz wie können so viele Frauen das sagen? Besuch in einer Synagoge. Ich könnte nach Wien. Als Richter darf man sehr Die Antwort der Sozialarbeiterin war: das Gebetbuch in Brailleschrift lesen, viel, allerdings darf man niemals Geld „Diese Frauen sehen in Ihnen einen aber das stellt keine Verbindung her. annehmen, also zum Beispiel Hono- jungen, glücklichen, gesunden Mann Die sportliche Herausforderung ist für rare für meine Reden oder für Auftritte. voller Energie. So hätten sie ihre Kin- mich meine persönliche Verbindung der gesehen, wenn sie älter geworden mit Gott. Es ist leicht, wenn es einem Ich glaube, Sie hätten Ihre Karriere auch wären.“ Die Kinder waren aber schon gut geht, sich mit Gott im Einklang zu ohne den finanziellen Background Ihrer als kleine Kinder getötet worden. befinden. Ich hatte einen schweren Familie geschafft. Unfall, als ich vor fünf Jahren allein Vielleicht, aber es wäre sicher viel Und die palästinensischen Opfer? im Central Park unterwegs war. Ein schwieriger gewesen. Ich bin jetzt 43, Noch einmal: Israel muss selbst ent- Fahrradfahrer hat mich mit hoher vielleicht werde ich 100, ich hoffe, dass scheiden, was es tut. Ich finde nicht, Geschwindigkeit niedergefahren. Da- meine gesammelten Flugmeilen noch dass Israel unmoralisch handelt. Bei nach war ich zehn Wochen im Spital. so lange ausreichen. nu 1 | 2017 9
Aktuell Wien, ich komme! Eric Pleskow, 92, heißt NU © STARPIX/PICTUREDESK.COM in seinem Apartment will- kommen: Es ist Teil eines komfortablen Retirement Homes im US-amerikani- schen Stamford, Connecti- cut. Vom Bücherregal grü- ßen einige der Oscars, die Pleskow in seiner höchst erfolgreichen Karriere als Filmproduzent für Klassiker wie „Amadeus“ oder „Einer flog übers Kuckucksnest“ gewinnen konnte. „Der Schiefe ist der ‚Rocky‘“, klärt Pleskow den Gast über einen verbogenen Academy-Award auf, „der is’ meiner Tochter runter- NU: Herr Pleskow, wie geht es Ihnen? Nein, das war Peter Marboe, der Pleskow: Naja, wie’s einem halt damalige Kulturstadtrat. Vermittelt gefallen.“ Und dann spricht so geht in meinem Alter: Ich kann wurde das durch Gaby Flossmann, der Viennale-Präsident in mich nicht beklagen, auch wenn mir die mich ja überhaupt erst nach Wien bestem Wienerisch eine vor einiger Zeit ein Bein amputiert zurückgebracht hatte. Ich wollte von wurde. Der Fuß ist weg, sonst läuft Wien eigentlich nichts mehr wissen. Stunde lang aufgeräumt es nicht schlecht. Natürlich fresse Sie sagte mir: Das ist jetzt eine an- über sein bewegtes Leben, ich Pillen wie deppert, aber offenbar dere Generation, das sind ganz andere jüdische Identität sowie ak- funktioniert’s. Menschen – und ich muss sagen, sie hatte recht. Auch wenn es jetzt gerade tuelle politische Fragen. Sie sind nach wie vor Präsident der Vi- politisch wieder sehr mulmig wird, ennale, die Sie zuletzt 2015 besucht aber nicht nur in Österreich, hier in VON ANATOL VITOUCH haben. Wie sieht es für 2017 aus? den USA ja genauso. Ja, 2015 war meine Betreuerin mit mir in Wien, alleine kann ich nicht Haben Sie damit gerechnet, dass Trump mehr reisen. Wenn es mir so geht wie die Präsidentschaftswahlen gewinnt? jetzt, werde ich 2017 wieder nach Wien Ich hätte nie gedacht, dass in der kommen, weil Hans Hurch sein letz- heutigen Zeit, wo es so viele Möglich- tes Jahr als Chef der Viennale hat. Ich keiten zu Bildung und Information habe zur selben Zeit begonnen wie er, gibt, so viele Menschen so vertrottelt das ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Ich sind. Man kann ihnen alles Mögliche hab’ damals gefragt, was muss ich da erzählen, was überhaupt nicht stimmt, machen, und man hat mir gesagt: ei- und sie glauben es. Bitte, mir wäre es gentlich nix. Na, hab ich gesagt, dann ja wurscht – ich bin 92 Jahre alt. Aber mach ich’s. ich habe Kinder und Enkelkinder. Und wenn ich mir überlege, was für eine Hat Ihnen damals Hans Hurch selbst die Welt ich ihnen hinterlasse, dann finde Präsidentschaft angetragen? ich das alles nicht so lustig. 10 1 | 2017
„Ich hätte nie gedacht, dass in der heutigen Zeit, wo es so viele Möglichkeiten zu Bildung und Information gibt, so viele Menschen so vertrottelt sind. Man kann ihnen alles Mögliche erzählen, was überhaupt nicht stimmt, und sie glauben es.“ Viele Menschen ziehen angesichts des Zu einem Zeitpunkt, als der Zweite Welt- Trumps Schwiegersohn stammt: Der Siegeszugs der Rechtspopulisten Paral- krieg schon in vollem Gange war. Vater ist wegen Steuerhinterziehung lelen zum Aufstieg des Faschismus im Ja, ich war ja erst drei Tage vor im Gefängnis gesessen, hat seinem 20. Jahrhundert. Sehen Sie als Zeit- Kriegsausbruch aus Wien herausge- Schwager eine Prostituierte geschickt, zeuge solche Parallelen ebenfalls? kommen. Zum Glück hatte ich mei- um dessen Ehe zu zerstören – aber Ja, absolut. Nicht im Ausmaß, aber nen Vater überredet, nicht mit der ganz fromme Leute sind das, sehr vor- in der Tendenz ganz eindeutig. Schon „Bremen“ in die USA zu fahren. Ich nehm, richtig „liab“. seit einem Jahr sage ich meinen Kin- sagte zu ihm, wir gehen auf keinen dern, dass mich vieles, was da passiert, Fall auf ein deutsches Schiff. Tatsäch- Wie ging man in Ihrer Familie mit jüdi- an die 30er-Jahre erinnert. Alleine die lich kehrte die „Bremen“ um, und alle scher Tradition um, während Sie in Wien hate crimes hier in den USA, deren Emigranten unter den Passagieren aufwuchsen? Zahl nach der Wahl Trumps drama- landeten im KZ. Als meine Großeltern noch lebten, tisch gestiegen ist. Wissen Sie, Clinton gingen meine Eltern zu den hohen Fei- hat im Endeffekt circa zwei Millionen Mit welchem Schiff fuhren Sie und Ihre ertagen mit mir und meinem Bruder Stimmen mehr bekommen als dieser Eltern? in die Synagoge. 1937 hatte ich dann Typ. Aber dieses 300 Jahre alte Wahl- Mit einem holländischen Schiff, das meine Bar Mizwa, aber mein Bruder männer-System ist leider als solches dann am 14. September 1939 in den war nur wenige Tage zuvor gestorben vertrottelt. USA eintraf. Das Schiff war voll mit – er war leider schon von Geburt an Deutsch-Amerikanern, die im Som- kränklich. Mein Vater hatte versäumt, Überraschend war auch, dass selbst An- mer den Führer besucht hatten und mich rechtzeitig im Tempel im 20. gehörige von Minderheiten zu einem gar nach Hause zurückkehrten. Schlechte Bezirk anzumelden. Ich bekam dann nicht so geringen Anteil Trump gewählt Gesellschaft für jüdische Emigranten. halt ein bissl was zum Lesen und bin haben, oder? natürlich steckengeblieben. Aber ich Ja, auch die chassidischen Juden – Ist Religion heute für Sie persönlich von war umringt von alten Herren, also hat vertrottelt. Wenn der Typ nicht zufällig Bedeutung? keiner was gemerkt. einen frommen jüdischen Schwieger- Man sagt immer, im Alter wird sohn hätte, dann könnte das für die man religiöser und konservativer. Das Stimmt es, dass Ihre Frau, die aus einer Juden hier sehr unangenehm werden. scheint bei mir nicht so zu klappen. christlichen Familie stammte, zum Ju- So sind es die amerikanischen Mus- Wenn ich mir die Religiösen anschaue, dentum konvertierte – aber erst Jahre lime, die sich wirklich Sorgen machen ganz gleich welche: Das sind alles nach Ihrer Hochzeit und nachdem Ihre müssen, wie es mit ihnen weitergeht. verlogene, grauenhafte Typen. Zum gemeinsame Tochter schon auf der Welt Beispiel die Kushner-Familie, aus der war? Sie emigrierten 1939 gemeinsam mit ihren Eltern in die USA. Wie war es da- © DANIELLE SPERA mals, als Jude nach Amerika zu kom- men? Das US-amerikanische Außenmi- nisterium war total antisemitisch. Die haben alles versucht, um Juden die Einreise zu verunmöglichen, auch wenn alle Papiere in Ordnung waren. Es gab einen katholischen Priester, der im Radio gegen Juden hetzte, und den „Amerikadeutschen Bund“, eine Nazi-Organisation. Auch in New York sind die Nazis mit Hakenkreuzen her- umgelaufen und am Madison Square Garden aufmarschiert. Noch ein Jahr nach meiner Ankunft in den USA bin ich hier auf der Straße in eine Rauferei mit ein paar Nazis geraten. Der schiefe Oscar ist der Rocky. 1 | 2017 11
„Naja, seine Muttersprache verlernt man doch nicht, das ist halt wie schwimmen. Wobei, unlängst habe ich den Henry Kissinger wieder einmal gesehen, der ein Jahr älter als ich war, als er emigrierte. Wenn der Deutsch redet, ziagt’s ma ois z’samm.“ Ja, das war eine interessante Ge- um dort für das Team der USA Fußball beiden zu Kriegsausbruch wegen ihrer schichte. Als mein Vater starb, war ich zu spielen. Normalerweise wird so ein Nationalität gemeinsam in London in- beruflich gerade in Paris stationiert Großvater wie ich ja am Dachboden terniert worden waren. und hatte dort keinerlei Verbindung versteckt. zur jüdischen Gemeinde. Ich wollte Und Sie wären Frau Kösten als Schwie- das Trauerritual vollziehen, aber ich Was ich mich schon anlässlich Ihrer gersohn lieber gewesen? konnte weder zehn Juden noch einen Wien-Besuche gefragt habe: Wie haben Sicher, Claires Bräutigam war Rabbiner auftreiben. Schließlich fand Sie Ihr Deutsch und insbesondere Ihre ja etwa gleich alt wie ihr Vater. „Du ich einen algerischen Rabbiner. Der markante Wiener Sprachfärbung über kommst zu spät“, sagte sie vorwurfs- erklärte mir, dass er zu einer moder- so viele Jahrzehnte so ungebrochen be- voll zu mir. Ich habe dann versucht, nen Synagoge gehörte und meine Frau wahrt? ihr zu erklären, dass ich als Soldat im also mittrauern konnte. Nun, sagte ich Naja, seine Muttersprache ver- Krieg gewesen war, und nicht auf Ur- ihm, das wird leider nicht gehen, sie ist lernt man doch nicht, das ist halt wie laub. nämlich keine Jüdin. schwimmen. Wobei, unlängst habe ich den Henry Kissinger wieder einmal Und Ihre andere Schulfreundin? Und das war dann der Anlass für ihren gesehen, der ein Jahr älter als ich war, Das war die Lilly Schornstein. Die Übertritt? als er emigrierte. Wenn der Deutsch flüchtete mit ihren Eltern nach Tou- Nein. Der Rabbiner besorgte mir redet, ziagt’s ma ois z’samm. Sein Eng- louse und kehrte später mit der Mut- dann die notwendigen zehn Juden. lisch ist aber auch sehr bescheiden. ter nach Wien zurück. Mit ihr hab ich Aber er ließ meiner Frau ein paar Bü- den Kontakt wieder aufgenommen, als cher da, und sie begann, sich mit dem Sie haben gesagt, dass Sie mit Wien ich nach Wien kam. Wir trafen uns im Thema auseinanderzusetzen. Später eigentlich abgeschlossen hatten, bevor Café Mozart, und als ich hereinkam, ist sie dann übergetreten, ohne dass Gaby Flossmann Sie zu einer Rückkehr saß eine furchtbar hässliche Frau am ich sie dazu irgendwie gedrängt hätte. überreden konnte. Gab es Freunde aus Nebentisch. Oh Gott, dachte ich, das Wir mussten natürlich noch einmal Ihrer Kindheit, die Sie damals wiederge- kann ja nicht wahr sein. Sie war es heiraten. Die Synagoge in Paris, in sehen haben? auch nicht, sie kam ein paar Minuten der wir heirateten, wurde später von Ich hatte in Wien zwei gute Schul- zu spät: Ein Wiener „Muatterl“ mit Hut den Arabern gesprengt. So wie die freundinnen, eine davon war die Cla- und langem Mantel. Synagoge in Wien, wo ich meine Bar rissa Kösten. Clarissa, die später nach Mizwa hatte, von den Nazis gesprengt London emigrierte und sich Claire Haben Sie mit den beiden noch Kontakt? worden war. Wo ich eine Synagoge be- nannte, hatte noch einen kleinen Bru- Leider sind beide inzwischen schon trete, kommt irgendwie nichts Gutes der, Little Freddy. Im Augarten hab’ verstorben. Aber Little Freddy lebt heraus. ich den Little Freddy immer vor den noch, in London, der ist inzwischen anderen, größeren Buben in Schutz 88 Jahre alt und ein wunderbarer Typ. Spielt für Ihre Kinder die jüdische Her- genommen, auch um seiner Schwe- In Wien sind meine Bekannten mitt- kunft heute noch eine Rolle? ster ein bisschen näher zu kommen. lerweile alle viel jünger als ich – und Meine Tochter musste dann ja erst Mit Claire hielt ich später von den die lassen mich nicht aus. Als ich Vi- konvertiert werden, als sie drei, vier USA aus per Brief Kontakt. Als ich ennale-Präsident wurde, hieß es, das Jahre alt war. Sie hat heute einen jü- sie nach Kriegsende in London besu- machst du drei Jahre lang, dann is’ es dischen Mann und drei Kinder und hat chen wollte, öffnete ihre Mutter, Frau erledigt. ihrer Familie eine jüdische Tradition Kösten, die Tür und sagte: „Du bist an gegeben. Mein Sohn hingegen fühlt allem schuld!“ Inzwischen ist zu Ihren Ehren eine Brief- jüdisch, wenn es um die Wirklichkeit marke erschienen, ein Saal des Wiener geht, aber er ist überhaupt nicht reli- Woran waren Sie schuld? Metro-Kinos wurde nach Ihnen benannt. giös. Und mit meinen beiden Enkel- Frau Kösten hatte irgendwie damit Ja, und Ehrenbürger der Stadt Wien söhnen ist es so: Sie sind in Kalifornien gerechnet, dass die Lilly und ich heira- bin ich auch – dafür muss ich ja was an eine Jesuitenschule gegangen. Ich ten würden. Aber wir waren halt erst tun. Ich kann den Hurch nicht im Stich habe das bezahlt, weil es dort nicht vierzehn, als wir durch die Flucht ge- lassen, er hat das mit dem Programm viele gute Mittelschulen gibt. Aber trennt wurden. Als ich sie dann besu- immer sehr gut gemacht, das ist nicht dann kamen die Maccabi-Spiele. Und chen wollte, war sie gerade mit einem leicht bei so einer Größenordnung. da gruben die zwei ihren jüdischen Exil-Österreicher durchgebrannt, den Also in diesem Sinne: Ich komm’. nu Opa aus und fuhren nach Jerusalem, ihr Vater kennengelernt hatte, als die 12 1 | 2017
Unterwegs mit 14 1 | 2017
Café in der Josefstadt Erwin Steinhauer ist ein lungen. „Leere Kaffeehäuser, leere Vergangenheit sollten dem Kleinen Kinos, das ist so meins.“ Aber hallo. Was nicht zum Schaden werden. Aber so Ausnahmekünstler, der ist mit leeren Theatern? „Wenn mir die einfach ist es ja nie. Der Sohn erzählte sich in vielen Genres von Prinzipale meine Gage zahlen, können im katholischen Internat zu viel von Kabarett über Theater und die Säle gerne leer bleiben“, meint er Besuchen am jüdischen Friedhof. Und schmunzelnd. Ja, er wisse schon, ob er auch der Widerstandsgeist war ihm Film bis hin zur Musik vor einem leeren oder vollen Saal spielt, wohl eingepflanzt worden, jedenfalls bewegt und in jedem über- auch wenn die Scheinwerfer blenden. wurde er von der Schule gewiesen. Der zeugt. Peter Menasse hat Das spüre man auf der Bühne. Ganz so 14-Jährige wollte es jetzt genau wissen egal dürfte es ihm also doch nicht sein. und konfrontierte den Vater: „Ich kenne ihn „unterwegs“ im Kaffee- mich nicht aus, was ist los mit uns?“ haus getroffen. „Was ist los mit uns?“ Der Vater begann zu reden, und was Erwin Steinhauer ist von seiner er da erzählte, hat Erwin Steinhauer Großmutter, der Emmi, aufgezogen politisch bis heute geprägt. Da waren FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER worden. Sie war die Mutter seines Va- einmal die jüdischen Wurzeln von ters, des Feuerwehrmanns und Malers Oma Emmi. Ihr Vater Eduard Just war Wolfgang Steinhauer. Die Eltern waren ein aus Bukarest stammender Jude, der Eine längere Wanderung durch voll damit ausgelastet, in der schwieri- von den Nazis ins Konzentrationslager Wien, oder auch nur ein kleiner Spa- gen Zeit nach dem Krieg den Lebens- Theresienstadt verschleppt wurde. ziergang, ist es nicht geworden. „Un- unterhalt zu verdienen, die Großeltern Franz, ihr Mann, wiederum war Sozial- terwegs mit Erwin Steinhauer“ fand kümmerten sich um das Kind. Die Ge- demokrat, der sich auch nach dem Ver- im Kaffeehaus statt. Angenehm für schichte der Familie während der Nazi- bot der Partei 1934 politisch betätigte. ihn, angenehm für den Begleiter. Nicht Zeit wurde lange von Erwin ferngehal- Er arbeitete in der Hauptfeuerwache so wirklich unterwegs, aber guter Es- ten. Wie so viele Eltern wollten auch Floridsdorf unter dem Kommandan- presso. die Steinhauers ihr Kind schützen. ten Georg Weissel. Am 13. Februar 1934 Steinhauer wird im Gespräch dann Jüdische Wurzeln und revolutionäre bewaffneten sich die Feuerwehrleute, auch einmal sagen, dass er nie so wirklich sportlich begabt war und das anhand seiner Bemühungen um den Eislaufsport erläutern. „Ich habe Kind- heitserinnerungen an das Eislaufen. Damals hat man noch keine Kanadier gehabt, sondern Schuhe mit Zacken vorne zum Bremsen. Diese Zacken waren mein Unglück, weil ich bin pau- senlos gestürzt, immer auf den Hinter- kopf gefallen und habe dann, wenn ich aufgestanden bin, Sternderln gesehen. Das wollte ich schließlich irgendwann nicht mehr“. Das Café Eiles ist es geworden, weil Erwin Steinhauer ein Stück die Straße hinauf, im Theater in der Josefstadt, spielt und früher auch oft im nahege- legenen Tonstudio Holly Aufnahmen machte. Heute taugt es ihm nicht so sehr. Das Lokal ist bummvoll und er mag keine großen Menschenansamm- Erwin Steinhauer und Peter Menasse: Alle Wege führen ins Kaffeehaus 1 | 2017 15
die dem Schutzbund angehörten, unter Weissels Führung, um für eine demo- kratische Republik zu kämpfen, wurden aber verraten und von einem Standge- richt des Dollfuß-Regimes zum Tode verurteilt. Weissel wurde zwei Tage später im Landesgericht Wien hinge- richtet. Die anderen Feuerwehrleute, darunter auch Steinhauers Großvater, wurden begnadigt. „Man hat sie dann durch die ‚Salzergasse‘ geschickt. Das war ein Spalier von Heimwehrlern, die mit Gewehrkolben die Durchlaufenden auf die Schädel geschlagen und man- chen davon zertrümmert haben.“ Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten versteckten sich die jüdischen Mitglieder der Familie. Emmi lebte im Keller einer Lebensmit- „In der Löwengrube war mein Herzensstück.“ telhandlung in Schwechat und konnte so überleben. Ihr Vater Eduard Just und sein Enkelsohn Wolfgang, der Vater Einmarsches der Hitlertruppen noch Stadträten und ihre Gesprächspart- von Erwin Steinhauer, kamen in einer ‚die Politische‘ kassiert hat, das war ner an den Tischen in den Fenster- Kleingartensiedlung in Meidling unter. der illegale Beitrag für die SPÖ, stand nischen, ein paar Touristen auf den Doch 1943 wurden sie verraten und ver- dann am nächsten Tag, als mein Vater unbequemen Plätzen in der Mitte des haftet. gerade von der Schule heimgekom- Lokals und die üblichen Gruppen von Eduard wurde nach Theresienstadt men ist, neben meiner Großmutter am Jugendlichen, die auch nach vielen verbracht, der 16-jährige Wolfgang kam Gehsteig und hat mit der umgebunde- Stunden gemeinsamen Schulbesuchs ins Gestapo-Hauptquartier am Mor- nen SA-Binde darauf geachtet, dass sie nicht voneinander lassen wollen und zinplatz. Dort hieß es zynisch, dass er, den Gehsteig in der Schloßhoferstraße das Erwachsenenleben im Kaffeehaus der „Mischling zweiten Grades“, vom auch ordentlich putzt. Dadurch haben ausprobieren. Erwin Steinhauer würde Führer noch eine Chance bekäme. Er wir immer eine sehr kritische Distanz in der Intimität der Plüschecke, in der könne entweder der SS beitreten oder zur SPÖ gehabt. Ich war dann sogar wir sitzen, unbeachtet bleiben, wäre da an die Front gehen. Wolfgang ließ sich kurz Mitglied dieser Partei, weil ich nicht das Problem unserer Fotografin nicht vereinnahmen und wählte den einer Kollegin bei ihrer Magisterarbeit Mili, die mit der Spiegelung der Stein- harten Weg, die Front. Bereits drei Wo- geholfen habe, damit wir in die Archive hauerschen Brillengläser kämpft. „Da chen später kam er verwundet wieder hineindürfen. Als sie aber dann 1983 lässt sich was machen“, meint er dazu zurück. Auch Eduard überlebte und hat mit den Blauen koaliert haben, bin ich und nimmt die Brille ab. Steinhauer ist noch bis 1954 gelebt. Erwin Steinhauer eines Tages am Weg ins Burgtheater freundlich und charmant, das sei zwi- besucht bis heute das Grab seines Ur- in der Löwelstraße in die SPÖ-Zentrale schendurch erwähnt. großvaters am 4. Tor. gegangen und habe mein Parteibuch Wie aber steht es mit der Politik Auf die Frage, was aus der Famili- zurückgegeben. Sechs Jahre später hat heute, ist die SPÖ immer noch ein rotes engeschichte ihn mehr geprägt habe, mir der Poldi Gratz geschrieben und ge- Tuch, frage ich ihn. Seine Antwort ist der sozialistische Widerstand oder fragt, ob ich es mir nicht noch einmal fast so was wie ein Appell: „Jahrelang die jüdischen Wurzeln, erzählt Stein- überlegen will.“ hat man immer wieder, als wir schon hauer eine Geschichte aus dem Jahr längst die Grünen gewählt haben, über 1938, die sein Verhältnis zur Sozialde- Ist die SPÖ immer noch ein rotes die SPÖ als das kleinere Übel gespro- mokratie bestimmt: „Mein Vater und Tuch? chen, das man wählen müsse. Jetzt seine Eltern haben im Jahr 1938 in der Das Café Eiles ist noch immer allerdings habe ich ein bisschen das Schloßhoferstraße in Floridsdorf ge- bummvoll. Da gibt es die ernst bli- Gefühl, dass es in Anbetracht der glo- wohnt. Der Mann, der am Vorabend des ckenden Pressesprecher von Wiener balen und gesamteuropäischen Situa- Eine längere Wanderung durch Wien, oder auch nur ein kleiner Spaziergang, ist es nicht geworden. „Unterwegs mit Erwin Steinhauer“ fand im Kaffeehaus statt. Angenehm für ihn, angenehm für den Begleiter. Nicht so wirklich unterwegs, aber guter Espresso. 16 1 | 2017
und darunter vielleicht zehn wichtige. Man bekommt auch weiterhin Engage- ments, wenn man konsequent absagt. Es ist schwieriger, du hast viel Exi- stenzangst, es ist eine Nervensache, du wirst nicht reich, aber du kannst in den Spiegel schauen und weißt, warum du etwas machst.“ Eine Alzheimer-Geschichte Gefragt nach Lieblingsrollen, erzählt Steinhauer von zwei für ihn beson- deren Stücken: „Ich habe gerne eine Rolle gespielt, die der Otti Schenk nicht übernehmen wollte, eine Auftragspro- duktion für die Josefstadt, die dann im Volkstheater gelandet ist: In der Löwen- grube von Felix Mitterer. Das war auch „Meine Vorbilder sind Künstler, die es geschafft haben, in Würde alt zu werden.“ die Zeit 1997, wo mein Vater gestorben ist, der mein Lebensmensch war. Er hat es noch gesehen und hat es sogar noch tion doch auch zu einem Wiedererstar- dass er an der Akademie scheel ange- in einer Zeitschrift des Bunds sozialde- ken der sozialdemokratischen Ideen schaut wurde, nach dem Motto: ,Da ist mokratischer Freiheitskämpfer bespro- kommt, in Deutschland zum Beispiel einer, der nur halbert Maler ist und ei- chen. Das war mein Herzensstück. Ich durch Martin Schulz; und bei uns hat gentlich ein Feuerwehrmann.‘ Ich hatte bin aber kein typischer Schauspieler Christian Kern etwas vorgelegt, das die dieses Sicherheitsdenken nicht. Mein mit Wunschrollen. Mir war immer die Hoffnung leben lässt, dass die Partei Vater hat nie verstanden, warum ich Rolle, die ich gerade gespielt habe, die sich vielleicht wieder auf ihre Wurzeln später ein fixes Engagement am Burg- wichtigste. Zum Beispiel zuletzt bis und auf ihre eigentliche Aufgabe be- theater hergegeben habe. Er hat gesagt: zum Juni vorigen Jahres habe ich Vater sinnt, und nicht auf die Aufgabe, die ,Hearst Erschel, du bist ein Beamter, des gespielt, eine Alzheimer-Geschichte. Rechten rechts zu überholen.“ kaunst do net mochn.‘ Ich habe ihm Diese Rolle hat mich vollkommen aus- Unterwegs in der Geschichte und gesagt, dass mir der Otti Schenk ein gefüllt und beschäftigt. Wenn ich Thea- in der Politik ist uns die Schauspiele- Engagement am Theater in der Josef- ter spiele, kann ich auch nichts Ande- rei verloren gegangen. Das wäre bei stadt angeboten hat. Das war ihm auch res annehmen. Der Typ, der unter Tag einem Spaziergang aus konditionellen suspekt, weil das ja ein konservatives dreht und am Abend ins Theater rast, Gründen möglicherweise ein Problem Haus sei.“ bin ich nicht. geworden. Im Kaffeehaus beweisen wir Als Schauspieler hat Erwin Stein- Ich war vor vier Jahren beim Fringe- aber Riesenkondition und schreiten in hauer eine eindrucksvolle Liste von Festival in Edinburgh. Da lebt ja die unserer „Tour de Steinhauer“ elegant vollkommen unterschiedlichen Rollen ganze Stadt. Alles ist auf der Straße: weiter zur Kunst. gespielt. „Ich lasse mich nicht gern in Jongleure, Feuerspucker, Sänger, Schon Vater Wolfgang war Künstler ein Ladl hineinstecken. Wenn du ein- Bands, alles. Irgendwann stand ich in gewesen. Er hatte bei Josef Dobrowsky mal Erfolg hast, wollen sie dich gleich einer Menschenmenge und sehe einen an der Akademie der bildenden Künste immer in ähnlichen Rollen sehen. Das Mann die Straße entlangkommen, in Malerei studiert, malte in einem Atelier erste Mal war das bei mir mit Der Sonne einem gestreiften Pyjama mit zwei Ta- am Tiefen Graben und übte doch durch- entgegen, meiner ersten großen Fern- feln, hinten und vorne, dem aber, wie gehend den Beruf eines Feuerwehr- sehserie. Da hat man mir jahrelang nur beim Näherkommen zu erkennen war, manns aus. „Er hat eine Sicherheits- den lustigen Dicken angeboten. Das die rechte Hand marschiert ist und der variante gewählt, hat aber sein ganzes hat mich absolut nicht interessiert. Trenzerling aus dem Mund kam. Ich Leben lang gemalt. Meine Wohnung ist Mein Weg ist also gekennzeichnet von war entsetzt, dass man einen Men- wie ein Museum, da hängen seine Bil- meinen Absagen. Ich stehe auch dazu. schen mit einer so offensichtlichen der an allen Wänden. Ich stelle mir vor, Ich habe ungefähr 150 Filme gemacht Behinderung Werbung machen lässt. Die Geschichte der Familie während der Nazi-Zeit wurde lange von Erwin ferngehalten. Wie so viele Eltern wollten auch die Steinhauers ihr Kind schützen. Jüdische Wurzeln und revolutionäre Vergangenheit sollten dem Kleinen nicht zum Schaden werden. 17 1 | 2017 17 1 | 2017
Erwin Steinhauer ist heuer in die „Route 66“ des Lebensalters eingebogen. Selbst auf dem Plüsch der Kaffeehausbank strahlt er eine große Präsenz und eine von einem offenem Lachen geprägte Freundlichkeit aus. Als er ganz in der Nähe war, sagte er so schlecht und abfällig behandelten, geistern. Später, ich war zwölf, kam zu mir: ,Wollen Sie einen Abend mit nur weil sie in einer anderen Welt lebt.“ mein Onkel Emil Perlmutter auf mich Demenz verbringen?‘ Es stellte sich Unser erster Ober hat längst abkas- zu. Seine Familie war verwandt mit der heraus, dass er selbst in einem nahe- siert, der zweite bringt uns weiteren Familie Blaha. Der Ernstl Blaha, der ein- gelegenen Theaterraum einen Kranken Kaffee, während wir den Weg zum mal Mitarbeiter in der Kultusgemeinde spielte und jetzt auf der Straße für sich letzten Thema, der Musik, beschreiten. war, war so etwas wie ein Nennonkel selber Werbung machte. Ich habe es mir Steinhauer hat eine erste unglückliche meines Vaters und sein bester Freund. dann angeschaut und seitdem war das und eine zweite glückliche Begegnung Der Perlmutter hat gesagt ,Pass auf, ich für mich das Thema schlechthin. Der mit Instrumenten: „Meine Eltern woll- mache dir ein Angebot. Wenn du mit Schauspieler hat mir erzählt, dass man ten immer, dass ich Klavier lerne. Sie mir zwischen Weihnachten und Neu- bei einer dementen Frau nach ihrem haben mir nach langem Sparen einen jahr am Tivoli meine Glücksbringer Tod im Nachtkastl ein Gedicht gefun- Stutzflügel gekauft und ich habe fünf, verkaufst, schenke ich dir ein Instru- den hat. Zwei Seiten lang, wunderbar sechs Stunden mit einer Lehrerin ment.‘ Ich bin dann wirklich vom 27. gereimt, wo sie sich darüber aufregt, wie geübt. Dann war es aus. Man konnte bis 31. Dezember gestanden und habe sie dazu käme, dass die Menschen sie mich für dieses Instrument nicht be- verkauft. So mit Sprüchen wie ,Vier mal neun ist Donnerstag, gehen Sie nicht an Ihrem Glück vorbei.‘ Und dann hat mir der alte Perlmutter eine Wan- derklampfen gekauft, von der ich nicht mehr lassen konnte. Mit diesem Instru- ment habe ich begonnen, mir selbst das Spielen beizubringen und so bin ich zur Musik gekommen.“ Steinhauer spielt weiterhin Theater und er hat gerade einen neuen Polt ab- gedreht. „Die Serie ist interessant, weil sie außerhalb des Mainstreams ist. Als wir begonnen haben, war diese Art des Filmens noch gänzlich neu: Der Mut zu langen Einstellungen, vorsichtige Schnitte, große offene Landschafts- bilder, Porträts in Nahaufnahme. Die Erzählweise ist so, dass manche be- haupten, die DVDs mit den Polt-Filmen werden bald in der Apotheke als Schlaf- mittel verteilt werden.“ Erwin Steinhauer ist heuer in die „Route 66“ des Lebensalters eingebo- gen. Selbst auf dem Plüsch der Kaffee- hausbank strahlt er eine große Präsenz und eine von einem offenem Lachen geprägte Freundlichkeit aus. Vorbilder, so sagt er auf meine Nachfrage, seien ihm „Künstler, die es geschafft haben, in Würde alt zu werden, wie etwa Gene Hackman“. So viele würden Theater spielen und vollkommen vergessen, wie alt sie sind, wo sie herkommen und was sie sich zutrauen können. Weit sind wir gekommen mit un- serem Gespräch, wenn wir auch nicht weit unterwegs waren. Herr Ober, zah- len bitte. Herr Steinhauer muss eilig ins „Wenn ich Theater spiele, kann ich auch nichts Anderes annehmen.“ Theater. nu 18 1 | 2017
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