Ökologie und Anarchie - Positionen für das Überleben der Menschheit Band 2: Historische Texte - Gustav Landauer Initiative

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Ökologie und Anarchie - Positionen für das Überleben der Menschheit Band 2: Historische Texte - Gustav Landauer Initiative
Ökologie und Anarchie
Positionen für das Überleben der Menschheit
         Band 2: Historische Texte

        Gustav Landauer Initiative
Ökologie und Anarchie - Positionen für das Überleben der Menschheit Band 2: Historische Texte - Gustav Landauer Initiative
Impressum
1. Auflage Januar 2021
Gustav Landauer Initiative (Berlin)
https://gustav­landauer.org
Nachdruck mit Quellenangabe erbeten.
Abbildungen, sofern nicht anders angegeben,
stammen aus dem Archiv der Initiative.

Titelbild: Ruinen des ehemaligen Torfstecherhofs Grünhorst.
Ökologie und Anarchie - Positionen für das Überleben der Menschheit Band 2: Historische Texte - Gustav Landauer Initiative
Inhalt

Einführung                                                 4

Cordelia, Grundsätzliches über den radikaler Naturschutz
und die Robienschen Naturwarten (1923)                     8

Paul Robien, Arbeitsfreude (1921)                          13

Rolf Cantzen, Gustav Landauer und
Peter Kropotkin (1987)                                     35

John Clark, Elisée Reclus - Die Menschheit, die Natur
und das anarchistische Idea (2004)                         47

Elisée Reclus, Die große Familie (1896/1914)               58

Zum Weiterlesen                                            65

                                                            3
Einführung

Im zweiten Teils des Readers über An‐      Anarchist*innen darauf, zur Selbstor‐
archismus und Ökologie werden Bei‐         ganisation aufzurufen und politische
träge von und über Vorläufer der heu‐      und soziale Missstände anzuprangern.
tigen Ökologiebewegung zugänglich          Besondere Schwerpunkte bildeten
gemacht, die es verdienen, eingehen‐       stets die Kritik an religiöser Bevor‐
der betrachtet zu werden. Sie zeigen       mundung, an unterschiedlichen For‐
deutlich auf, dass die enge Verbindung     men von Ausbeutung, an kapitalisti‐
der libertären Bewegung zu Fragen          schen Strukturen sowie der repres-
des Umwelt- und Naturschutzes sich         siven staatlichen Ordnung.
aus der Frage nach einem dem Men‐
schen gemäßen Leben sachlogisch er‐        Um den Herrschaftssystemen ihrer
gibt und nicht unbeantwortet bleiben       Zeit Alternativen entgegenzustellen,
kann.                                      studierten die beiden – zu ihrer Zeit
                                           allgemein hochgeschätzten – Geogra‐
Michael Bakunin (1814-1876) formu‐         phen Elisée Reclus (1830-1905) und
lierte ab 1864 in seinen verschiedenen     Peter Kropotkin (1842-1921) das Le‐
Programmentwürfen die Kernsätze des
anarchistischen Denkens: Statt staatli‐
cher Institutionen soll eine neue Ge‐
sellschaft entstehen, die sich von un‐
ten aufbaut, aus der lebendigen
Selbstorganisation der Bevölkerung.
Die Verwaltung soll durch Delegier‐
ten-Komitees erfolgen, unabhängige
Gemeinden und Kreise gebildet wer‐
den. Föderale Strukturen sollen nicht
die Beteiligung an bestehenden Herr‐
schaftsverhältnissen sichern, sondern
generell Herrschaftsbeziehungen durch
freiwillige und solidarische Bünde
überwinden. Die Herrschaft des Men‐
schen über den Menschen soll so auf
allen Ebenen ein Ende finden. Ausge‐       Elisée Reclus (1830-1905)
hend von diesen Grundsätzen bezog          Quelle: http://dadaweb.de/wiki/
sich die politische Tätigkeit der frühen   Datei:Reclus_Elisée.png

4
ben indigener Bevölkerungen und de‐           grat einer erfolgreichen Ökonomie bil‐
ren naturräumliche und biologische            det und mehr Spielraum für Flexibili‐
Voraussetzungen. Von diesen Beob‐             tät, Kreativität und Individualität der
achtungen ausgehend, lieferten sie            Beschäftigten ermöglichen kann. Gu‐
auch heute noch relevante Beiträge für        stav Landauer (1870-1919) trat für die
die gegenwärtigen Debatten. Für Re‐           Gründung autonomer Gehöfte und
clus war ein wertschätzendes Verhält‐         Siedlungen ein, um neue Lebens- und
nis des Menschen zu seiner Umwelt             Produktionsmethoden zu erproben und
und den mitlebenden Tieren ebenso ei‐         einen solidarischen Umgang unterein‐
ne unabdingbare Voraussetzung für ei‐         ander einzuüben, der auf freiwillige
ne freie Gesellschaft, wie der völlige        Übereinkommen statt auf Zwang und
Abbau ideologisch bedingter Un‐               Hierarchien beruht. Für ihn war je‐
gleichheitsvorstellungen im Umgang            doch der waltende „Geist“ der Betei‐
der Menschen untereinander. Kropot‐           ligten unabdingbare Voraussetzung,
kin ergänzte die – auch heute noch –          d. h. es gilt eine notwendige – die Be‐
meist einseitig als Erfolg des Stärke‐        teiligten verbindende – gemeinsame
ren gedeutete Evolutionstheorie Dar‐          ideelle Grundlage zu schaffen, die in
wins mit seiner Lehre von der gegen‐          Diskussionen und Diskursen auf
seitigen Hilfe. Mit seinen umfang-            gleichberechtigter Basis erarbeitet
reichen statistischen Erhebungen              werden muss, bevor es zur Verwirkli‐
konnte er nachweisen, dass die Pro‐           chung kommen kann.
duktion von Gütern in kleinen und
mittelständischen Betrieben das Rück‐         Diese Ansätze beruhen durchweg auf
                                              der Ablehnung kapitalistischer Wirt‐
                                              schaftsformen, die sowohl die
                                              menschliche Arbeitskraft, als auch die
                                              natürlichen Ressourcen als vernutzba‐
                                              re Kostenfaktoren betrachten, aus de‐
                                              nen es höchstmögliche Gewinne zu
                                              erzielen gilt. Aus dieser Perspektive
                                              sind auch heute noch sämtlich Ansät‐
                                              ze eines irgendwie gearteten „Green
                                              Deals“ zum Scheitern verurteilt, denn
                                              sie tasten die ungerechte Verteilung
                                              der Verfügungsrechte und des gesell‐
                                              schaftlichen Reichtums nicht an, son‐
                                              dern garantieren die Gewinne der Ka‐
                                              pitalseite und zementieren ihre
                                              Herrschaft über die menschliche Ar‐
Peter Kropotkin (1842-1921)                   beitskraft und die natürlichen Res‐
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/   sourcen zugleich.
File:Kropotkin_Nadar.jpg

                                                                                    5
Zu den originellen Beiträgen, um tat‐               In seinen zahlreichen Artikeln im
kräftigen Naturschutz mit selbstbe‐                 „Freien Arbeiter“ nahm Robien zwi‐
stimmten, solidarischen Lebensver‐                  schen 1920 und 1925 Stellung gegen
hältnissen zu verbinden, gehört die                 die Folgen ungehemmten Profitstre‐
konkrete Utopie der Naturschutzwar‐                 bens und unkritischen Fortschritts‐
ten von Paul Robien (Pseudonym von                  wahns, gegen die Verschmutzung der
Paul Ruthke, 1882-1945), die er in                  Meere sowie aufkommende Utopien
seiner Broschüre „Arbeitsfreude“                    der Kernkraftnutzung. So hellsichtig
1921 veröffentlichte. Robien war zu‐                und seiner Zeit weit voraus seine ori‐
dem Initiator einer der ersten deut‐                ginellen Beiträge auch heute noch an‐
schen Naturschutzkongresse am Neu‐                  muten, so bestürzend wirkte sich die
jahrs- und Folgetag 1922 im Berliner                von ihm durch seinen Artikel „Der jü‐
Gewerkschaftshaus am Engelufer, auf                 dische Nimbus“ in Nr. 35 des „Freien
dem er seine Idee der Naturschutzwar‐               Arbeiters“ vom Ende August 1925
ten vorstellte, aber nur wenig Reso‐                ausgelöste Antisemitismuskontrover‐
nanz fand. Es gelang ihm und wenigen                se aus. Robien äußerte Vorurteile, wie
Unterstützer*innen unter erheblichen                sie die aufkommende NSDAP vertrat
persönlichen Entbehrungen die Natur‐                und in der Bevökerung weit verbreitet
schutzwarte „Mönne“ bei Stettin auf‐                wurden. In der sich anschließenden
zubauen und hier eine bis heute bei‐                Kontroverse stellte sich auch die Re‐
spiellose praktische Naturschutz-,                  daktion des „Freien Arbeiters“ unter
Bildungs- und Forschungstätigkeit zu                Rudolf Oestreich auf die Seite Ro‐
betreiben, die erst 1945 durch seinen               biens. Allerdings erntete Robien hefti‐
gewaltsamen Tod ein Ende fand.1                     gen Gegenwind. Die meisten beteilig‐

Die Naturschutzwarte „Mönne“ im Jahre 1926.
Quelle: Paul Robien, Unter gefiederten Freunden, Stettin 1926, S. 52.
6
ten Autoren sprachen sich gegen seine     beschimpft und damit entmenschlicht.
antisemitischen Äußerungen aus, dar‐      Die Unterdrückung der libertären Be‐
unter Berthold Cahn und Rudolf Ro‐        wegung durch die Nationalsozia‐
cker, der deshalb konsequent mit der      list*innen ab 1933 verzögerte indes
„Föderation kommunistischer Anar‐         die notwendigen Diskussionen über
chisten“ brach. In der Folgezeit publi‐   die Veränderung der sozialen Realitä‐
zierte Robien kaum noch im „Freien        ten und der eigenen blinden Flecken.
Arbeiter“ und es finden sich auch kei‐
ne weiteren antisemitischen Stellung‐     Erst seit den achtziger Jahren des 20.
nahmen. Robien soll später geflüchte‐     Jahrhunderts lässt sich in Deutschland
te Juden auf „Mönne“ versteckt haben,     wieder von einer libertären Bewegung
was sich aber nicht faktensicher bele‐    sprechen, die Freiheit und Selbstbe‐
gen lässt.                                stimmung in das Zentrum ihrer politi‐
                                          schen Aktivitäten rückt. Nun gilt es,
Dennoch zeigt die Antisemitismus‐         sich den historischen Erfahrungen kri‐
kontroverse, dass die anarchistische      tisch zu stellen und zugleich die noch
Bewegung imstande war, derartige –        verbleibende Zeit zu nutzen, um die
weit verbreitete – Vorurteile zu thema‐   drohende ökologische Katastrophe ab‐
tisieren und zu diskutieren. Ken‐         zuwenden. Doch dies kann nur gelin‐
ner*innen der Arbeiter*innenbewe‐         gen, wenn auch die Grundlagen für
gung jener Zeit weisen darauf hin,        hierarchiefreies, vorurteilsloses und
dass sich andere Strömungen zwar mit      solidarisches Zusammenleben der
der NSDAP als politischem Gegner          Menschen untereinander geschaffen
auseinandersetzten und in diesem Zu‐      werden, schließlich zerstört rück‐
sammenhang den Antisemitismus be‐         sichtsloses Konsumverhalten und Pro‐
kämpften, es aber kaum zu einer in‐       fitstreben nicht nur die natürlichen
haltlichen Auseinandersetzung über        Grundlagen des Planeten, sondern
Ursachen und soziale Hintergründe         verwüstet auch den sozialen Zusam‐
kam. An diesem Beispiel lässt sich er‐    menhalt. Die ökologische Perspektive
kennen, dass die konsequente Durch‐       für den Erhalt der Erde ist nur mit dem
setzung des Gleichheitsgedankens und      Projekt einer sozialen Utopie erfolg‐
der Hierarchiefreiheit in der anarchis‐   versprechend.
tischen Bewegung jener Tage erst
noch zu erkämpfen war. In Robiens         Anmerkung
Broschüre „Arbeitsfreude“ spielen
auch die später ankommenden Frauen        1
                                           Der 1998 erschienene Sammelband über Paul
nur eine untergeordnete Rolle, ihnen      Robien blendete die Antisemitismuskontroverse
wird verwehrt, die Lebensverhältnisse     und ihre Bedeutung weitgehend aus: Ornithologi‐
von Anfang an gleichberechtigt mitzu‐     sche Arbeitsgemeinschaft Mecklenburg-Vorpom‐
gestalten und sie bleiben auf traditio‐   mern e. V. (Hrsg.), Paul Robien (1882-1945), ein
nellen Rollenbilder beschränkt. Politi‐   pommerscher Naturschützer und Ornithologe,
sche Gegner werden als „Parasiten“        Friedland 1998.

                                                                                        7
Cordelia
Grundsätzliches über den radikaler Naturschutz
und die Robienschen Naturwarten
aus: „Der Freie Arbeiter“ Nr. 8, S. 2, 3 und Nr. 9/1923, S. 3.

... Dass der Staat, der wohl die Macht    Mittelbar und unmittelbar, für den
und die Mittel hätte, ein großzügiges     oberflächlichen Beschauer kaum
Naturschutzprogramm in die Tat um‐        sichtbar, und in schamloser Offenheit
zusetzen, für alles andere als ideale     arbeiten die Ursachen am Verfall uns‐
Werte Sinn hat, braucht wohl nicht        res Planeten, ständig erregt vom Men‐
weiter ausgeführt zu werden. – So         schen und seinem Verbündeten: der
kann es uns nicht wundern, dass es bis    Zivilisation. – In sträflicher Gedan‐
auf Teilerfolge nicht gelungen ist, den   kenlosigkeit oder auch mit zynischer
Untergang unwiederbringlich in            Bewusstheit sieht der Mensch tagtäg‐
Nichts hinübergehender Naturformen        lich zu, wie die Auswirkungen seiner
aufzuhalten.                              Kultureinrichtungen die Natur schädi‐
                                          gen. Die Gase und Abwässer der
Die Anhänger des radikalen Natur‐         Großindustrie, der Großstädte vergif‐
schutzes, als dessen Begründer Paul       ten die Luft, die Gewässer und veran‐
Robien zu bezeichnen ist, nehmen sich     lassen dadurch das Absterben der
die Freiheit, rücksichtslos und konse‐    Wälder, die Abnahme der Vegetation,
quent bis zum äußersten den ganzen        das Sterben der Fische. Melioration
Umfang der Naturverwüstung darzu‐         und Urbarmachung der Sümpfe – der
stellen, – wobei der Mensch als Art       letzten Zufluchtstätten ursprünglichen
unter Arten zum ersten Male in die‐       Lebens – ständige Zunahme des Lei‐
sem Zusammenhang berücksichtigt           tungs- und Schienennetzes entziehen
wird – ihren wahren Ursachen aufzu‐       ganzen Tier- und Pflanzengattungen
decken und danach neue Ziele und          die Lebensbedingungen, zwingen sie
Wege einzustellen. – Für den wahrhaf‐     zum Abwandern und Aussterben, zer‐
ten Naturschützer gibt es keine Rück‐     stören frevlerisch geologische Urfor‐
sichten an persönliche Bindungen zu       men. Und anstatt die Kräfte der er‐
Staat und Gesellschaft. Aufopferung       schöpften Muttererde mit den
persönlichen Wohllebens, der Sicher‐      natürlichen Stoffen, die nun als ekler
heit der Existenz bedeutet ihm nichts     Abgang die Flüsse trüben, aufzufüllen,
im Gegensatz zum Schmerz um das           peitscht man sie mit ätzenden chemi‐
Erlöschen herrlicher Lebensformen         schen Verbindungen auf. Der Groß‐
oder der Möglichkeit des Versuchs,        grundbesitz mit seiner auf Quantität
dem allgemeinen Niedergang Einhalt        eingestellten Extensivwirtschaft, die
zu tun.                                   Industrie entziehen den besten Kräften
                                          des Volkes den Nährboden, um sie in
                                          den Großstädten verenden zu lassen.

8
Und alle diese Frevel, aus Geldgier        Übermut den Prozess kosmischen Ge‐
und Machtsucht geboren, geschehen          schehens gehemmt: er hat seinen von
unter dem Titel: zum Wohle der             materieller Gier Eigenwillen zum
Menschheit, zum Besten des Volkes,         maßgebenden Faktor der Erde ge‐
zur Sicherstellung der Volksernährung.     macht, mit einem Wort: Er hat das
Wer glaubt noch an diese Märchen?          harmonische Spiel der Kräfte, das
Doppelt aber trifft jene der Fluch, die    Gleichgewicht in der Natur gestört.
offen und frech die Hand anlegen, um       – Doch die Natur nimmt diesen bruta‐
unmittelbar der Natur ihre Kräfte zu       len Eingriff in das Gesetz des Lebens
entreißen, nur um ihre Sattheit damit      nicht ungestraft hin. Schon spüren wir
zu behändigen und zu unterhalten –         allenthalben seine verheerenden Wir‐
um ihre Machtlust zu fröhnen. Feder-       kungen (Verkarstung einst fruchtbarer
und Pelzmode, die Sammelwut gewis‐         Länder, Missernten, Hungersnöte,
ser ruhmsüchtiger Forscher, nicht zu‐      Seuchen, Zunahme von Schädlingen,
letzt der Museen, das Fällen der Wäl‐      allgemeine Degeneration des Kultur‐
der – dieser Lebensspender! – zur          menschen, die in der Überproduktion
Herstellung von Lügenpapier, vor al‐       meist minderwertiger Geister und Lei‐
lem der Lustmord an edelsten Ge‐           ber, in Hospitälern und Irrenanstalten
schöpfen, tagtäglich durch eine an         ihren augenscheinlichen Ausdruck fin‐
Millionen zählender Jägerarmee (in         det). Welche furchtbaren Katastrophen
Deutschland eine Million, in Amerika       mögen sich erst im geheimen vorbe‐
fünf Millionen); und – dies bedeutet       reiten? Werden Berge über uns fallen,
den Gipfel des Zerstörungswahns und        Hügel uns decken? Wird das Meer
der Entartung! – die Ausrottung, De‐       rauschend über den verödeten Festlän‐
zemierung, absichtliche Versklavung        dern und entarteten Menschheit zu‐
von Volksgenossen durch Volksgenos‐        sammenschlagen? Wir wissen es
sen, die Entrechtung ganzer Bevölke‐       nicht! Wir wissen nur, dass der
rungsschichten und die bewusste            Mensch sich in rasender Eile sich dem
Selbstschändung des Kulturmenschen         Abgrund nähert und auf seinem Stur‐
durch Stimulanzen verwerflichster na‐      ze alles mit sich reißt.
türlicher Art: dies ist das Merkzeichen
der Zivilisation.                          Was kann aber das Verhängnis aufhal‐
                                           ten? Nichts, als dass wir versuchen,
Ziehen wir die Summe dieser Betrach‐       das gestörte Gleichgewicht der Natur
tungen, so kommen wir zu dem Er‐           wiederherzustellen! Darum formuliert
gebnis: Der Mensch hat in seinem           sich das erste und vornehmste Ziel des
Zerstörungswahn, seinem Machtkol‐          radikalen Naturschutzes, das alle an‐
ler die Natur in sich und in allen Krea‐   deren wie konzentrische Kreise einbe‐
turen geschändet, ihre Gesetze durch‐      greift, also: Wiederherstellung des
brochen, er hat aus der Kette der          gestörten Gleichgewichts in der Na‐
Daseinsformen naturnotwendige Glie‐        tur.
der gerissen; er hat in frevlerischem

                                                                                9
Dies ist der erste und wichtigste Weg     Fällen zur Einsicht, dass es sich hätte
zum Ziel: Anerkennung des natürli‐        vermeiden lassen einzig allein schon
chen Lebensgesetzes und Unterwer‐         darum, weil das Raubgut nicht dazu
fung aller menschlichen Handlungen        dient, eine Blöße zu decken, einen
und Unternehmungen unter dassel‐          Mangel zu stillen, sondern als Luxus,
be. Das heißt: Jede Lebensform, mag       als Tand, als Spekulationsobjekt über
sie sich darstellen in geologischen       den Markt getrieben wird und nur von
Formationen, Stein, Pflanze, Tier oder    denen zu erkaufen ist, die an sich
Mensch, ist daseinsberechtigt. Wir fre‐   schon in keiner Weise Not leiden und
veln gegen dieses Gesetz, wenn wir        die auf die urteilslose Masse nur eine
ohne wirkliche Notwendigkeit ihre         zur Nachahmung aufreizende Wirkung
Existenz auslöschen oder ihnen durch      ausüben, die wiederum weitere ver‐
Entziehung der vollen Lebensbedin‐        derbliche Kreise zieht. Warum
gungen das Dasein verkürzten und          schmückt man sich mit Federn edels‐
verschandeln. – Wir wissen, und das       ter Vögel? Warum wärmt man sich mit
wird bestehen bleiben, dass das Leben     den Pelzen seltener und aussterbender
nicht kampflos ist, täglich neu errun‐    Tierarten? Tun Wolle und Fell ge‐
gen werden muss. Wo aber in der Na‐       schlachteter Haustiere, Gewebe aus
tur, wird der „Kampf ums Dasein“ mit      Gespinstfasern nicht dasselbe? Warum
so viel List, Tücke, Lüge und Gewalt      setzt man Brotfrucht, nährendes Obst
geführt, wie beim Menschen? Ist es        u. a. in gesundheitsschädliche Genuss‐
nicht vielmehr ein Kampf um Besitz,       mittel um, indes tausende Hungers
um Macht, der mit der Stillung wirk‐      sterben? Warum schießt und verzehrt
licher Lebensbedürfnisse gar nichts zu    man die letzte Reste eines schrump‐
tun hat? Es muss wohl an der vollstän‐    fenden Wildbestandes, die für die
digen Verkennung der Naturgesetze         Volksernährung überhaupt nicht ins
gelegen haben, dass es dem Men‐           Gewicht fallen?
schen, trotz der ungeheuren Arbeit, die   [...]
Denker und Künstler, Apostel und          Es würde zu weit führen, die Unnötig‐
Heilande seit Jahrhunderten leisteten,    keit, ja Schädlichkeit des weitaus
bis heute nicht das gelungen ist: den     größten Teiles unsres heutigen indus‐
zweckwidrigen, sinnlosen Kampf al‐        triellen Unternehmungen darzustellen.
ler gegen alle auf die einfache Form      Man erinnere sich nur an die Waf‐
des wirklichen Kampfes „ums Dasein“       fen-, Munitions-, Luxus-, Genussmit‐
zu reduzieren, noch ganz zu schwei‐       telfabrikation, die Bleibergwerke, der
gen von der bewussten Ausübung je‐        Diamantgruben, der physischen wie
nes höheren Egoismus: der gegen-          moralischen Wirkungen ihrer Erzeug‐
seitigen Hilfe, die wohl erst der Zu‐     nisse auf die Menschheit, nicht zuletzt
kunft vorbehalten sein ist. – Betrach‐    der furchtbaren Tatsache, dass wissen
ten wir den oben geschilderten Raub-      und sehenden Auges, der Mensch den
bau der Zivilisation an der Natur nä‐     Menschen in diesen Betrieben seinem
her, so kommen wir in den meisten         Golddurst, seiner Machtgier opfert.

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– Der natürlich denkende Mensch           Artgenossen, ihre Leiber zerfetzen
kann zwischen diesen Tatsachen und        lassen, brauchen nicht mehr bei ent‐
dem Kampf ums Dasein unmöglich            nervender Danaidenarbeit in Farbrik‐
einen Zusammenhang finden!                hölen, in dumpfen Stuben ihr Leben
                                          dahin zu quälen, ohne Fühlung mit
Kehren wir zurück zum Leitsatz: An‐       den Naturkräften. Frei steht der
erkennung des natürlichen Lebensge‐       Mensch auf freier Scholle; die einför‐
setzes und Unterwerfung aller             mige, lebensarme Kulturfläche ist ge‐
menschlichen Handlungen und Unter‐        wichen; Garten reiht sich an Garten,
nehmungen unter dasselbe. – Versu‐        von dichten beerenreichen Hecken
chen wir ernstlich, ihn in die Praxis     umgeben, den natürlichen Nistplätzen
umzusetzen, so kommen wir von sel‐        vieler Singvögel. Was sonst einigen
ber von der heutigen sinnlosen und        wenigen übermäßig anstrengende, auf
komplizierten Konjunktur- und Aus‐        Verdienst eingestellte Berufsarbeit
beutungswirtschaft … zur einfachen        war, ist nun allen gleichsam, vom
und natürlichen Form der Bedarfswirt‐     Kinde bis zum Greise, Lebensnotwen‐
schaft. Der wahrhaftige und natürliche    digkeit, Quelle der Kraft und innigste
Mensch wird der Natur nicht mehr          Freude: der Gartenbau. Eine neue, lie‐
Kräfte entziehen, als er wirklich deren   bevolle Wissenschaft sammelt spar‐
bedarf, er wird den Kreislauf der na‐     sam alle natürlichen Abfallstoffe, um
türlichen Energien nur umschalten,        sie als Erde der Erde wiederzugeben.
seine unentbehrlichsten Maschinen in      Auf mehrere hundert Quadratmeter
ihn einschalten; er wird aber wie vor     gedeiht der Jahresunterhalt einer gan‐
einem Frevel davor zurückschrecken,       zen Familie. Nicht Sümpfe und Wäl‐
ihn jemals zu unterbrechen, seine         der brauchen geopfert werden. Die
Kräfte sinnlos zu vergeuden. Lieber       Kopfzahl der Menschen, die durch ein
wird er auf Errungenschaften moder‐       natürliches, von Kulturgiften freies
ner Technik und Wissenschaft verzich‐     Leben sich mehr und mehr den Natur‐
ten, als irgend eine natürliche Lebens‐   gesetzen wieder angleicht, schwankt
form, ganz gleich welcher Art,            nur um ein geringes. Der Mensch ist
dadurch zu schädigen. Dadurch wer‐        wieder Art unter Arten. Und dies ist
den Technik und Chemie – beide bis‐       die Basis, die erst zu erreichen ist, ehe
her im Dienste der Ausbeutung und         der Aufbau einer neuen, einer wahr‐
Zerstörung – eine völlig neue Einstel‐    haften Kultur beginnen mag, wo der
lung erfahren und vor bisher ungeahn‐     Mensch im harmonischen Spiel der
ten Zielen stehen.                        Kräfte alle Fähigkeiten entwickeln
[…]                                       kann, als Bebauer seiner Scholle, als
Verschwunden ist die aufpeitschende       Förderer gemeinnütziger Technik und
Helligkeit der Nächte, sind die ohren‐    Wissenschaft, als Pfleger der Kunst,
zerreißenden Kulturgeräusche, Men‐        stets aber in Unterordnung unter das
schen brauchen nicht mehr in sinnlo‐      Lebensgesetz. Und wo er, der zwin‐
sem Kampf gegen Brüder, gegen             genden Lebenswirklichkeit gehor‐

                                                                                11
chend, sich dem Lauf natürlichen Ge‐      Wärter kein Gehalt beziehen, sondern
schehens entgegenstellt, wird er scho‐    ihren Unterhalt durch ihre Hände Ar‐
nend, nach sorgfältiger Prüfung zu        beit einem Stückchen Gartenland ab‐
Werke zu gehen. Die Natur aber – sich     gewinnen und die Warten weder durch
selber … zurückgegeben, wird ihn          Kauf und Pacht erworben, sondern
letzten Endes dieser Verantwortung        vom Staat als Volkseigentum – als ers‐
ganz überheben; Gewicht und Gegen‐        te Etappe sozusagen auf dem Wege
gewicht, stets schwankend wie das         der Wiederherstellung des natürlichen
Zünglein an der Wage, regulieren sich     Rechtszustands, der in der Rückgabe
selber: Das Gleichgewicht, die Har‐       des Grund und Bodens an das Volk
monie ist wieder hergestellt.             gipfelt – zur Verfügung gestellt wer‐
[…]                                       den sollen.
Wir, die wir uns der Verantwortung für    [….]
die Zukunft bewusst sind, können          Vielleicht werden dereinst die Natur‐
nicht warten, bis durch geistige Propa‐   warten die erste und einzige gemein‐
ganda die gesamte Menschheit von der      same Basis sein, auf der sich – nach‐
Notwendigkeit des radikalen Natur‐        dem Kunst, Wissenschaft, Religion
schutzes überzeugt ist. Unterdessen       versagten – die Völker die Hand zum
wird – zum mindesten in Europa – der      Frieden reichen, sich dem einfachen
letzte Rest natürlichen Lebens ver‐       Vernunftgrunde beugend, das das
schwunden sein. Darum ist es nötig,       Prinzip aller Entwicklung, alles Auf‐
schon heute zu einer Tat zu schreiten,    strebens auch in der Natur nicht nur
die sich innerhalb dieser Zeitzustände    der Kampf, sondern der Zusam‐
verwirklichen lässt … und das ist der     menschluss zu gegenseitiger Hilfe
von Paul Robien geschaffene Plan der      ist. Nicht mehr „Mensch und Natur“
Naturwarten, der in der Naturwarte        in trennender Gegenüberstellung, son‐
Mönne bei Stettin im Mai 1922 be‐         dern „der Mensch mit der Natur“ geis‐
reits eine erste Verwirklichung fand.     tig, seelisch, physisch verwoben.

Die Naturwarten ähneln den Natur‐
schutzgebieten insofern, als auch sie     Über die Verfasserin des Artikels ist
rettende Inseln inmitten des Ausbeu‐      leider nichts bekannt.
tertums und Nivellierung wissen‐
schaftliche Beobachtungsstationen
sein sollen. Sie unterscheiden sich je‐
doch merklich von ihnen dadurch,
dass der Leiter jeder Warte selbst Wis‐
senschaftler sein muss, und von eini‐
gen Schülern umgeben ist, die er zur
gleichen Aufgabe heran bildet; ferner
dadurch, dass das kapitalistische Sys‐
tem insofern ausgeschaltet ist, als die

12
Paul Robien
Arbeitsfreude
Der Text erschien 1921 als Broschüre im Verlag Rudolf Cerny in Wien.

I.                                          zumutet. Man lasse sie wählen – und
                                            sie werden immer noch irgendwie ein
„Ja, wenn die Menschheit nicht so faul      Mitglied der sozialen Klasse werden.
wäre!“ schimpfte er die Faust ballend.      Einige haben verborgene Eigenschaf‐
Er, der feudale Oberstleutnant, jetzt als   ten, die nur geweckt zu werden brau‐
Vertreter der Landwirtschaft, ist so an     chen. Also von Seiten der Faulenzer
eine fronende und schwitzende, beim         besteht keine Gefahr. Die Gefahr be‐
Anblick des Herrn und Treibers zu‐          steht nur darin, daß die Menschheit
sammenzuckende Masse gewöhnt,               immer wieder in Ihr Laster verfallen
dass er sich einen freien Menschen,         könnte, zu viel zu arbeiten. Man be‐
wie wir ihn haben wollen, gar nicht         rechne doch einmal die gewaltige
vorstellen kann. „Glauben Sie“, sagte       Summe überflüssiger Arbeit. Unge‐
er, „Sie arbeiten nur, wenn einer mit       heure Zahlen würden entstehen. Arbeit
der Knute hinter Ihnen steht, oder          – geleistet für die Drohnen1, geleistet
wenn die Not Sie zwingt, zu arbeiten!“      für Werke des Mordens, des Zerstö‐
– und er erwähnte ein grausiges Bei‐        rens! . . . Mein Partner schweigt be‐
spiel aus dem Schützengrabenkrieg,          schämt „Ja“, – sagt er, „diese Idealis‐
wo er seine Leute immer anspornen           ten! Aber wenn keiner da ist, der eine
musste, damit sie ja die Grabenarbeit       Sache leitet, geht alles zum Teufel.“
gut ausführten. Ich hielt ihm den gan‐      Gut, Leiter mag es geben, aber keine
zen verrückten und verbrecherischen         Parasiten, intellektuelle Schmarotzer,
Arbeitsprozess während des Krieges          die da glauben, etwas Besonderes zu
vor, rechnete ihm vor, daß gerade die‐      sein, die da auf Autorität pochen, die
se Arbeitswut, die im Menschen steckt,      die Arbeit auf der Scholle, die Be‐
dieser Ameisenfleiß, sie ins Verderben      schäftigung mit den Haustieren als
geführt, das Leben der Nichtstuer er‐       entwürdigend ansehen – diese Men‐
möglicht hat. Nur wenn die Not sie          schen können wir nicht gebrauchen.
zwingt! . . . Ja, vielleicht ist das das    Es fehlt an guten Beispielen. Wohlan,
Richtigste, nur dann zu arbeiten, wenn      wir geben das Beispiel. Wir, wissen‐
es notwendig ist. Nein, werter Herr –       schaftlich erfahrene, künstlerisch ver‐
eine Faulheit der Menschheit gibt es        anlagte Menschen, gehen mit gutem
nicht, es gibt nur Faulheit notorischer     Beispiel voran. Für uns ist die Arbeit
Nichtstuer – und mit diesen darf nicht      auf der Scholle so interessant, dass wir
glimpflich verfahren werden. Manche         gar nicht die Zeit abwarten können, sie
dieser Faulenzer leiden an irgend einer     in Angriff zu nehmen. Wir wollen ar‐
Abneigung gegen das, was man ihnen          beiten, Muskelarbeit verrichten – aber

                                                                                 13
auch unseren Geist wirken lassen, um       den Drohnen geschüttelt werden soll.
Freizeit zu gewinnen für unsere wis‐       Nein – schlimmer als die Drohnen
senschaftlichen oder künstlerischen        sind die typischen Erbsklaven, die im‐
Interessen. Wir wollen, arbeiten – aber    mer noch die Peitsche küssen, die sich
wir fordern gebieterisch eine Möglich‐     eine Freiheit gar nicht vorstellen kön‐
keit der freien Arbeit, der Arbeit für     nen, die bisher alle Erhebungen der
uns, nicht für die Drohnen, für die        Menschheit vereitelten, die Erbskla‐
Herrscher, die Geldteufel, die Massen‐     ven; die, mitten im Volke lebend, je‐
mörder, die Weltlügner und die Mus‐        derzeit Verrat üben – unbewusst, Ihren
kelarbeit hassenden Bürokraten. Punk‐      verkümmerten Instinkten folgend.
tum! Das ist unser Weg, den wir            Dieses Erbsklaventum schafft der
gehen, unbeirrt. Wir wollen unser Ide‐     Drohnenwelt all die Annehmlichkei‐
al verwirklichen, wir wollen und wer‐      ten, und der Staat, den die parasitären
den! Das Forträumen der Hindernisse,       Elemente in Händen haben, hat ein In‐
die Abwehr der Parasiten – auch das        teresse daran, sich diese Erbsklaven zu
ist Arbeit, auch sie soll uns Freude ma‐   erhalten. Die typischen Erbsklaven
chen. Der soziale Kampf soll mit allen     sind arbeitsam, sie sind produktiv, sie
Listen und Kniffen geführt werden,         wirken dadurch, dass sie willig mehr
Arbeitsfreude auf allen Gebieten! Kei‐     leisten, als sie eigentlich leisten müs‐
ne Arbeitsunlust mehr!                     sen, so lähmend auf die Erhebung der
                                           Menschheit. Nun weiß das Parasiten‐
Also zunächst die Schaffung des Neu‐       geschlecht kein anderes Mittel, als ei‐
lands, die Eroberung des Bodens, den       ne andere Kaste, verräterische, ar‐
eine gewisse Kaste uns geraubt, der        beitsscheue Elemente über diese
notwendigen Luft, die eine andere          Erbsklaven zu stellen – um sie und ih‐
Kaste uns vergiftet, der Sonne, die        re Tätigkeit zu schützen. Wir haben
dieselbe Kaste uns verwehrt. Auf zur       den gewaltigen Polizei- und Wehrap‐
Arbeit! Gewaltige Hindernisse sind         parat vor uns. Nur die Leiter dieser In‐
weg zu räumen, und zwar sind es nicht      stitution sind eigentliche Drohnen,
die parasitären Elemente, die uns          9/10 sind Volkssöhne, und sie sind es,
schrecken. Das sind schwammige,            die den grässlichsten Verrat, das
wurzellose Gestalten, die ohne die         schaurigste Verbrechen begehen: die
Hilfe anderer verrecken würden. Die        Erbsklaven, diese tiefste Volksschicht
eigentlichen Drohnen der Gesellschaft,     im Interesse der Nichtstuer zu schüt‐
die Despoten, Geldmänner, Berufs‐          zen – und die edlen Elemente, die Re‐
mörder, Pfaffen und Bürokraten – sie       bellen, die noch Menschenblut in ih‐
sind zwar die Feinde der Menschheit,       ren Adern fühlen, durch Mord-
aber sie erfüllen jene Mission, das ei‐    waffengewalt niederzuhalten. Erleich‐
gentliche Volk immer wachsam zu            tert wird ihnen diese Arbeit durch ein
halten, die Sinne zu schärfen, das Volk    Parasitengeschmeiß fünften Grades,
immer daran zu ermahnen, sie abzu‐         Bureaukraten, die sich selbst am Kör‐
schütteln, wenn es nicht selber von        per der zur Abwehr organisierten Ar‐

14
beiterschaft festsaugen und diesen im‐    und parlamentarischen Wahlmanöver,
merfort lähmen, da nur ein gelähmter      die zwischendurch noch mehrmals
Körper stille hält. Diesen Feind, viel‐   versucht werden, bringen nur Ab‐
leicht den heimtückischsten scheinen      wechslung in den Kreuzzugsplan. Sie
die Massen nun allmählich kennen zu       können unserer Sache nicht schaden.
lernen.                                   Sie sind zum Tode verurteilt, weil sich
                                          immer wieder intellektuelle Schma‐
Diese Arbeit – die Abwehr der Volks‐      rotzer einnisten, weil immer wieder
feinde – harrt unser. Nun ans Werk.       Verräter mitwirken. Bei unserer Arbeit
Sie waren es, die von einer Sozialisie‐   gibt es keine Verräter. Sie werden
rung industrieller Betriebe – natürlich   vielleicht einen Tag bei uns verweilen,
im Interesse des Staatskapitalismus       wenn wir sie aber, einen Balken he‐
faselten, um das Volk in den Hunger‐      bend, auffordern, anzupacken oder ih‐
tod zu hetzen, um die Vergiftung          nen zumuten, den kostbaren Stoff ei‐
durch das großstädtische, industrielle    ner Kloake zu verarbeiten, werden sie
Gift zu vollenden. Es ist keine leichte   fahnenflüchtig werden, ganz von
Arbeit, einem vergifteten Körper die      selbst sich aus der Gemeinschaft lö‐
schädlichen Stoffe zu entziehen. Aber     sen, sich irgend wohin begeben, wo es
sie muß begonnen werden. Die kleins‐      noch möglich ist, als Parasit und Ver‐
ten Erfolge spornen unsere Arbeitslust    räter zu leben. Und wenn ihnen auch
an. Hei – wie sie beschämt schweigen,     dort zugemutet wird, am gleichen
wenn sie in die Enge getrieben wer‐       Strang zu ziehen, werden sie unstet
den! Weiter, vorwärts! Keine Stunde       und flüchtig irren, bis das Verhängnis
Rast. Sie dürfen nicht zur Besinnung      sie erreicht. Wenn diese Armee der
kommen! Die Massen horchen auf.           Produktiven fest gestaffelt dasteht,
Was wird da gesprochen: Brot, Wohl‐       entschlossen, nicht wieder dem Ruf
stand? Bald werden sie begreifen, und     der Verräter zu folgen, entschlossen,
wenn die neuen Organisatoren sich         die zaghaften und all zu arg versklav‐
vor Fehlern hüten, können sie bald die    ten Elemente dauernd zu bewachen, –
Massen auf ihrer Seite haben, die         dann wird die Prätorianergarde der
breiten Scharen als folgende Herde,       Kronen-, Geld-, Mord- und Lügen‐
die Fähigsten als aktive Truppe, die      menschen, die famose Sicherheits‐
geistig Regeren als freiwillige Hilfs‐    truppe ins Wanken geraten. Und wenn
mannschaft bei der Vorbereitung zum       ihnen gar zugemutet wird, sich ihre
Kreuzzug. Arbeitsfreude bei allen,        eigenen Produkte zu schaffen, dann
wenn sie wissen, dass sie endlich das     wird ihnen bange zumute werden, sie
Land ihrer Sehnsucht erobern werden,      werden keine Zeit mehr finden,
das sonnigherbe Vaterland Erde, das       Volksgenossen zu füsilieren. Sie wer‐
vor den Toren ausgebreitet liegt. Bald    den ihre Stunde nahen fühlen, eine
steht das Millionenheer bereit. Die       Massendesertion wird stattfinden. Sie
parteipolitischen Narrheiten und Ak‐      haben keine Bundesgenossen mehr,
tionen, die romantischen Schachzüge       denn Wahrheit und Gerechtigkeit sind

                                                                              15
auf Seiten der Fleißigen. Dann wird       Geschehen, das so gewaltig wirkt, daß
sich zeigen, wie fluchwürdig es ist,      Eigengelüste zunächst gar nicht auf‐
auf Brüder zu schießen, auf arbeiten‐     kommen. Wo ist die prophezeite Ar‐
de Volksgenossen, die nichts wollen       beitsscheu? Sie sind nicht zu bändigen
als Gerechtigkeit.                        in ihrem Eifer.

                                          Wir sind unser 12. In kurzer Frist sol‐
II.                                       len noch 8 Frauen kommen. Wir ken‐
                                          nen uns alle. Wir bilden seit längerer
Die Arbeit ist getan. Es war ein bitte‐   Zeit schon eine kleine Gemeinde auf
rer Kampf. Noch wogt hie und da die       naturwissenschaftlichem Interessenge‐
Empörung gegen die Zumutung, sel‐         biet. Wir sind Menschen – und hier
ber schaffen zu müssen. Wir treten un‐    wollen wir es ganz sein. Bei uns zeigt
ser Erbe an. Draußen, am Neuendor‐        es sich, dass es eine Volks-, keine Par‐
fer See, in dem seit Jahren leer          teisache ist. Wir gehörten sowohl der
stehenden Häuschen Raminshof wol‐         Bürgerklasse als auch dem Arbeiter‐
len wir uns niederlassen. Das schwebt     stande an. Jetzt sind wir Eins. Bei uns
uns seit Jahren vor. Seit Jahren küm‐     gibt es keine Klassen mehr. Wir wol‐
merte sich kein Mensch um dieses Ge‐      len neben unserer Arbeit den Natur‐
höft, die Türen und Fenster sind ver‐     schutz dieses Gebietes ausüben und
nagelt, in der großen Scheune lagert      unserer Forschung, die gerade hier äu‐
Heu für das Gut Stolzenburg. Rechts       ßerst günstige Ergebnisse zeitigte,
die Mauerreste einstiger Stallungen.      fortsetzen. Danach hat keiner außer
Wir konstatieren, dass außer uns kein     uns Verlangen gezeigt, keiner wollte
Mensch Verlangen nach dieser Einöde       in diese Einöde außer uns. Jetzt sind
gehabt hat. Kein Mensch außer uns         wir da. Nachdem wir unseren Wagen
weiß, was für köstliche Freuden gera‐     (aus dem Trümmerhaufen des Kriegs‐
de diese Einöde birgt. Wir wissen es.     geräts) mit den Habseligkeiten und
Wir haben es seit Jahren schon provi‐     Geräten, die uns von der Verteilungs‐
sorisch abgesteckt als „Naturschutzge‐    stelle des Gutes geliefert, unterge‐
biet Neuendorfer See“. Jetzt sind wir     bracht, die Pferde in die Stallecke ge‐
gekommen, unser Ideal zu verwirkli‐       führt, gefüttert, machen wir uns ans
chen. Sieben Güter in der Umgebung        Gebäude, schlagen die Bretter ab, die
sind besetzt worden von Landarbeitern     die Fensterhöhlen bedecken, lüften,
und Handwerkern, die alle Hände voll      fegen die Spinnweben fort und schlep‐
zu tun haben, sich einzurichten. Ein      pen Heu für die Nacht herbei. Immer
Stab geschulter Gärtner ist gewillt, in   anpassen. Immer genügsam. So lebten
der Ortsnähe intensive Gartenkultur zu    wir seit Jahren auf unseren naturwis‐
treiben. Alles ist rege, alles dürstet    senschaftlichen Exkursionen. Wie gut,
nach frischer Tätigkeit, alles atmet      dass wir so lebten! Welch einen Vor‐
Luft, alles trinkt Sonne. Die Trägsten,   sprung haben wir vor den Gutsleuten,
die größten Zweifler beugen sich dem      die sich fast närrisch und linkisch be‐

16
nehmen. Während einige das Lager          sich doch hier hauptsächlich der
bereiten, spalten andere Holz. Einer      Astronomie widmen. Da kein Hügel
bringt den Herd in Ordnung. Welch         in der Nähe ist, gedenkt er sich auf ei‐
ein Komfort! Wir wären auch glück‐        nem Baum eine Sternwarte zu bauen.
lich gewesen, wenn wir ganz von vor‐      Da ist B. ein junger, blasser Techniker,
ne hätten anfangen müssen. Aber ha‐       durchgeistigt von vielen Grübeleien.
ben wir nicht Anrecht auf ein Dach bei    Er wird uns einen Windmotor, der uns
der Überfülle von Baulichkeiten? Bis      mit elektrischem Strom versieht, bau‐
in die Nacht hinein sind wir tätig. Ich   en. Neben ihm liegt C., ein Maler,
glaube sicher, es wäre unmöglich, die‐    überhaupt ein Tausendkünstler, der
se Arbeitsfreude, diesen Schaffens‐       auch in praktischen Dingen auf der
drang zu dämpfen. Nach dem Mahl,          Höhe ist. Als einstigem Wandervogel
das wir draußen einnehmen hat noch        ist ihm das Kampieren zur zweiten
jeder etwas Besonderes vor. Das fri‐      Natur geworden. In jener Ecke kauern
sche Grün, dass jetzt überall hervor      die Gebrüder D., E., äußerst geweck‐
sprosst, das diese liebliche Wüstenei     te Jungen, der eine ein Käfer-, der an‐
überzieht, wird bald unseren Geräten      dere Schmetterlingsforscher, beide
weichen müssen. Wir sind gekommen,        aber auch in der Vogelkunde bewan‐
um zu leben, um das Leben, die Natur      dert. Sie sind 17, 18 Jahre alt, leisten
zu lieben. Bald liegen wir, immer noch    aber Arbeit wie ein Mann, so dass wir
plaudernd, auf der weichen Streu. Fie‐    sie mit Freuden in unsere Gemein‐
ber haben sie alle. Ja, das Arbeitsfie‐   schaft aufnahmen. Da ist F., ein geis‐
ber! Sie können den Tag nicht erwar‐      tig etwas schwerfälliger, aber gutmü‐
ten. Und da sage einer: die Menschheit    tiger und zu Scherzen aufgelegter
geht an Faulheit zugrunde. Auch der       Arbeiter, der auch in der Vogelkunde
Fünfstundentag – in unserer Grün‐         einige Erfahrung besitzt. G. ist Inge‐
dungszeit hat er keine Aussicht, be‐      nieuranwärter. Er ist‘s, der an unserer
folgt zu werden.                          Sache so lange zweifelte und die
                                          Menschheit für derart verdorben hielt,
Schließlich siegt aber doch die Natur     dass sie nur noch 100 Jahre existieren
im Menschen. Einer nach dem ande‐         könnte. Er würde, wenn ihm die Wahl
ren verfällt in süßen Schlummer. Ich      gelassen würde, mutterseelenallein auf
wache noch. Ich weiß, in dieser Nacht     eigener Scholle hausen. Nun hat er
werde ich kaum schlafen. Was liegt        sich uns doch mit Freuden ange‐
hinter uns? Welch ein Titanenkampf!       schlossen. Ja, sie wollen erst Zeichen
Ich blicke in die friedlichen Gesichter   und Wunder sehen. H. ist Botaniker, er
meiner Genossen, in denen sich der        geht gewöhnlich, die Flora in der Ta‐
Mond spiegelt. Ich will sie einzeln       sche, still einher, immer neues entde‐
vorstellen. Da schlummert rechts ne‐      ckend. Hat er eine seltene Pflanze ent‐
ben mir A., ein junger Lehrer; obwohl     deckt, ist er wie aus dem Häuschen, I.
er die Hauptfächer der Naturwissen‐       ist Fischer und Seemann. Er wird un‐
schaft so leidlich beherrscht, will er    ser Kapitän werden. J. ist Holzarbei‐

                                                                               17
ter, sowohl Tischler wie Zimmermann.      ser in seinen Gewohnheiten beobach‐
Außerdem hat er Erfahrungen im Gar‐       ten zu können.
tenbau. K. endlich ist geborener Land‐
wirt und Gärtner. Er hat sich die Pfle‐   Da bricht der Frühlingsmorgen an.
ge der Pferde ausbedungen, sowie alle     Der Drossel Jauchzen schallt durch
Funktionen, die mit den Pferden aus‐      den Wald. Ich erhebe mich und schrei‐
geführt werden sollen. Das sind außer     te in dem taufrischen Grase vor dem
mir die Mitglieder unserer Arbeitsge‐     Hause hin und her. Welch ein Konzert,
meinschaft. Da wir uns zumeist ge‐        ein Schmettern und Klingen – und
genseitig kennen, ist nicht zu erwar‐     doch sind‘s erst ein halbes Dutzend
ten, dass sich große Reibungen            Arten von Sängern, Wie soll es wer‐
einstellen werden.                        den im Mai. Ist dieser Genuss über‐
                                          haupt zu bewältigen? Da erwachen
Soeben ruft der Waldkauz seinen           zwei Gedanken. Erstens, dass wir das,
jauchzenden Frühlingsruf in die jetzt     war wir wollen, auch schon vor der
geöffneten Fensterhöhlen. Vielleicht      Entscheidung hätten tun können. Viel‐
staunt er über die Veränderung. Ich       leicht hätte es nur eines Bittgesuches
blicke hinaus. Einen Steinwurf ent‐       bei dem Besitzer bedurft, damit er die‐
fernt liegt der dunkle Wald. Ich trete    ses Plätzchen, um das sich niemand
ganz ins Freie und blicke seewärts,       kümmerte, uns überlasse. Die For‐
Welch ein Konzert! Bläßhühner, Tau‐       schererlaubnis hatte ich ja in der Ta‐
cher, Kraniche. Dazwischen das            sche. Also keine Utopien, sondern fes‐
dumpfe Gestöhn der Rohrdommel.            te herbe Erde, alles Wirklichkeit. Der
Lachmöwen kreischen, streichende          zweite Gedanke: All diese Genüsse
Enten quarren, ziehende Wasserrallen      waren schon dagewesen, wir hatten sie
pfeifen in der Luft. Modrig wehts vom     jahraus, jahrein gekostet – jetzt genos‐
See herüber, vom See, der seinem En‐      sen wir sie nur als freie Menschen auf
de, der allgemeinen Verlandung entge‐     freier Erde. Nur ein naturfreudiger
gengeht. Doch wir erleben es nicht        Mensch kennt diese Genüsse, die noch
mehr. Also – unser See ist es noch. Es    verstärkt werden durch genaue Kennt‐
gibt schönere Seen in der Nähe, aber      nis der Formen, ihres Lebens. Ein na‐
keiner birgt so viel geartetes Vogel‐     turfremder Mensch wird auch fremd
wild wie dieser. Die große Masse weiß     sein in der Natur. Er wird sich erst an
das nicht zu schätzen. Wir haben die‐     die herbe, frische Luft gewöhnen müs‐
se Perle entdeckt. Wir werden wachen,     sen.
dass kein Schuss eines Frevlers über
seine Fläche hallt. Ruhe, Schutz dem      Ich richte draußen die Herdstelle her
Wild, der Natur. Eine großzügige Ge‐      und bereite den Morgentrank. Ein Ge‐
flügelfarm soll an seinen Ufern entste‐   nosse, C., der Maler ist‘s, erhebt sich.
hen, ein Dorado soll es werden für al‐    Er blickt zum See, dessen Rohrgürtel
les Getier, mit dem wir endlich           uns den Überblick wehrt. Das muss
Frieden schließen wollen, um es bes‐      anders werden. Einen Streifen Sand‐

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strand müssen wir haben, zum Baden,       primitives Insektarium. Wird das eine
zum Ausblick – und zur Beobachtung.       Freude werden, wenn wieder die Fal‐
Abgemacht. Bald soll‘s geschehen.         ter schlüpfen. Wie der leichte Boden
Arbeit wird‘s kosten, Aber mit wel‐       sich öffnet, wie leicht dringt der Spa‐
cher Freude wollen wir ans Werk ge‐       ten ein. Und wie schön läßt es sich
hen. Die Schlafenden erheben sich ei‐     mit dem Rechen arbeiten. Wir raffen
ner nach dem anderen, verrichten ihre     alles, was Dungkraft hat, zusammen
Morgenwäsche und schlürfen den in‐        und schaffen es unter Erde, damit wir
zwischen bereiteten Trank. Wir bera‐      nur ja erst den Anfang machen, denn
ten, was zunächst zu tun ist. Mit dem     wir müssen pflanzen, pflanzen! Gegen
Lager müssen wir einige Wochen zu‐        Mittag haben wir einige Ar3 umgegra‐
frieden sein. Wir wollen noch kleine      ben. Und nun Schluss für heute. An‐
Verbesserungen treffen und dann mit       dere Dinge sind zu tun. Der Land‐
Eifer an die Bestellung des Bodens        mann hat inzwischen ein Gebirge
gehen. Bis Mittag wollen wir fleißig      Kompoststoffe, wie er sie gerade ge‐
graben. Also auf ans Werk. Zwischen       funden hat, aufgehäuft. Die Entomo‐
den verkümmerten Obstbäumen ist           logen sind mit ihren Fangkästen bei
der Boden mit Unkraut überwuchert.        der Hand. Es kribbelt von Lebewesen
Der Techniker entwirft einen Garten‐      Die Mittagsmahlzeit verschlingen sie
plan. Und dann geht‘s ans Graben.         in zehn Minuten, dann forschen sie
Der Landmann wird dauernd Kom‐            weiter. Mehr Ruhe besitzen F. und J.
poststoffe herbei fahren, Laub aus        Sie legen sich zu einem Schläfchen in
dem Walde, Morast vom Graben. Wir         die Aprilsonne. Ich mache mit den an‐
anderen stürzen uns auf die Scholle.      deren einen Gang zum See, vielmehr
Die Kräuter, die wir ausreißen – sind     zum Sumpfgürtel. Das muss anders
für uns Kennende nicht einfach Un‐        werden. Wir müssen das Wasser zu
kraut, wir prüfen, ob nicht irgendet‐     uns leiten. Wasser müssen wir haben.
was dazwischen ist, was wir unserem       Also einen Graben und ein größeres
Botaniker präsentieren können. Alle       Becken mit Sandgrund und Sand‐
Augenblicke hat er etwas zu erklären.     strand für Bäder aller Art. Beschlos‐
Der Entomologe2 achtet auf Käfer-         sen. Wir brechen Zweige und stecken
und Raupenfraß, alles hat Interesse für   den geplanten Binnenteich ab. Wir
uns. Das ist nicht die tote, mechani‐     fiebern fast. Ach, wenn wir doch mehr
sche Arbeit, wie die Alltagsmenschen      Hände hätten. Es könnte keine größe‐
sie sich vorstellen. Wir bedauern, dass   re Tortur für uns geben, als jetzt mü‐
kein gewiefter Geologe zwischen uns       ßig hier herumzulungern – nach voll‐
ist, so müssen die schwachen Kennt‐       brachter Tagesarbeit. Arbeit, Arbeit
nisse ausreichen. Da finden wir eine      schreit jeder Muskel in uns.
braune Schmetterlingspuppe. Welch
ein Fund! Welch ein Rätsel! Liebevoll     Den Nachmittag verbringt jeder mit
wird der Fund geborgen, in Moos ge‐       seiner eigenen Nebenbeschäftigung.
bettet. Heute noch zimmert sich E. ein    A. sucht einen günstigen Überhälter

                                                                              19
im Walde, wo er seine Warte errichten      len, sie verwehren uns den Ausblick.
will. Seine Wahl fällt schließlich auf     Auch brauchen wir Holz. K. ist ins
eine riesige Eckkiefer, die etwas über     Dorf gezogen, um die Kuh zu holen,
die anderen Bäume hinweg ragt. B.          die uns von der Verteilungsstelle zu‐
schätzt die Steine ab, die die Trümmer     gewiesen ist. So sind wir alle intensiv
der Stallung bergen. Er will sein Ma‐      beschäftigt. Wir fluchen über die
schinenhaus mit dem Windmotor bald         Flüchtigkeit der Zeit. Wir wünschen
in Angriff nehmen. C. geht mit mir an      alle, der Tag möge hundert Stunden
den See. Das Badebecken interessiert       haben und die Kräfte mögen ausrei‐
ihn lebhaft. Er läuft schon heute halb‐    chen für diese Zeitspanne. Ja, das ist
nackt einher. Wir nehmen gleich Spa‐       der Frieden in der Menschenseele, der
ten mit. Gebrüder D., E. machen sich       Frieden mit der Natur. Da wir alle Na‐
daran, am Waldrand einen Käfergra‐         turwissenschaftler sind, sind wir über‐
ben zu ziehen, eine schmale Rinne mit      eingekommen, keinerlei religiöse
steilen Wänden, in die kriechende In‐      Handlungen in unsere Gemeinschaft
sekten aller Art stürzen und nicht wie‐    zu verpflanzen als nur einen stummen
der heraus können. Den Inhalt werden       Blick zur Sonne, zu den Wolken, zu
sie dann alltäglich untersuchen. Auch      der Erde. Wir sind eins geworden mit
den Köderfang wollen sie sobald wie        der Natur.
möglich betreiben. F. macht sich ans
Abstecken eines Platzes für sein Ei‐       Wieder schaffen wir bis in die Nacht
genhaus. Er hat eine Frau und fünf         hinein. Abends haben wir einen ge‐
Kinder, letztere wird er erst in einigen   wissen Arbeitsplan entworfen. Dem
Wochen erwarten. Die Kindes, das ha‐       Land wollen wir je nach der Witte‐
ben wir beschlossen, sollen in einem       rung gemeinsam einen halben Tag
besonderen Hause gemeinsam erzogen         widmen, damit wir erst vorwärts
werden. G. denkt nicht mehr daran, al‐     kommen. Das Gebäude hat nur sechs
lein zu sein. Er betreibt auch Nackt‐      Räume, von denen wir zwei für die
kultur und hat ein Interesse an be‐        Frauen reservieren. C. will sich eine
schleunigter Herstellung des Bades. H.     Schlafhütte am Bad errichten. K. will
schnürt wie ein Fuchs auf der Wiese        in der riesigen Scheune deren süd‐
umher. Hat er eine Pflanze erwischt,       lichste Ecke jetzt als Stall dient, woh‐
nimmt er sie prüfend unter die Lupe.       nen. Bald werden wir den Grundstock
I. will mit einem Haken den Graben         legen zu einem größeren Gemeins‐
regulieren, der bis nahe an die zukünf‐    haftshaus, das wir auf den Trümmern
tige Badestelle führt. Mit kräftigem       der Stallungen errichten werden. Mag
Ruck reißt er das wuchernde Schling‐       es langsam wachsen, wir haben Zeit.
kraut ans Ufer. Der Landwirt wird es       Es soll unser eigen Werk sein. Und
sich holen für die Kompostierung. J.       helle soll es sein, ja, ausgerüstet mit
arbeitet mit Axt und Säge im Erlen‐        allen technischen Errungenschaften.
bruch. Ungefähr 30 Erlen müssen fal‐       Die alte Strohdachromantik liegt uns

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nicht. Wir sind ja Forscher und Erken‐     kurz alles mögliche. Die Kompostrei‐
nende – und bald werden wir Gäste          hen sind sein ganzer Stolz, und wir
haben aus allen Gebieten der Welt.         fühlen instinktiv den Segen, der dieser
                                           Muttererde einst entsprießen wird.
Unsere sieben Schöpfungstage sind          Unser Bad ist bald fertig. Das Wasser
vorüber. Halten wir Übersicht, was         ist noch etwas moorig. Aber wir wer‐
wir geleistet haben. Das ursprüngliche     den einen zweiten Graben ziehen, der
Gartenland ist in Ordnung, leidlich        einen anderen Behälter speist, dessen
gedüngt, mag die erste Ernte auch          Überschuss schließlich wieder in den
nicht gar zu großartig ausfallen. Der      See zurückfließt. Während unserer
Pflug hat einige Ar, auf denen wir Ge‐     Arbeit ziehen fortwährend Kranich‐
treide und Hackfrüchte bauen wollen,       heere über uns hinweg, sie waren von
gestürzt. Wir sind beim Pflanzen.          je Gäste hier gewesen. Wie oft hatten
Nachmittags arbeiten wir an unseren        wir früher hier geweilt, als die feuda‐
Verschönerungen. Ein kiesbestreuter        le Macht noch über der Heimat Erde
Weg, von jungen Fichten gesäumt,           lastete. Jetzt sind sie alle unsere Le‐
führt, sanft absteigend, zum Wasser.       bensgenossen, kein Schuss darf ihren
Erlenholz mit orangefarbenen Schnitt‐      Frieden stören. Wir merken, dass sie
flächen liegt überall umher. Ein Hau‐      von Tag zu Tag argloser werden. Der
fen Bretter harrt der Zerkleinerung.       Kanal ist gereinigt. J. ist auf seinem
Wir wollen das Gebäude so ausrich‐         primitiven Kahn zum ersten Male in
ten, dass es einen Winter noch unser       See gestochen. Mehrere brütende En‐
alter Hort ist. Die Steine sind sorgfäl‐   ten hat er auf den Kufen und Stümp‐
tig aufgeschichtet, der Bauplatz ge‐       fen gefunden. Stockenten, die sich
säubert. Auf der Wiese grast die Kuh,      bald an uns gewöhnen werden. Bald
unsere Milchspenderin. Die Lebens‐         soll unser Hausgeflügel sich hier tum‐
mittel die wir vom Gute erhalten, wer‐     meln. Auch die majestätischen
den sorgfältig aufbewahrt, damit die       Höckerschwäne, die Zierde des Sees,
Mäuse und sonstige Nutznießer unse‐        können jetzt ungestört brüten, desglei‐
rer Kolonisation nicht zu ihnen gelan‐     chen die Lachmöven. In einigen Ta‐
gen. Unsere helle Freude haben wir an      gen werden wir festlichen Besuch aus
den Komposthaufen, die K. in langen        Afrika erhalten: die herrlichen Fluss‐
Reihen angelegt hat. Ein Holzstab mit      seeschwaIben, die in einigen Paaren
einer Nummer und dem Tag der               hier brüten. Die Wildschweine und
Schichtung davor. Das ist unsere           Hirsche, die hier noch zu Hause sind,
ganze Kraft, sagt der Gärtner, diese       haben unseren Kulturen einen Besuch
werdende Erde. Das ist das Gut, das        abgestattet. Wir freuen uns ihrer Spu‐
wir am treuesten hüten müssen. Was         ren. Sollten sie ärgeren Schaden an‐
hat er auch alles herbeigeschleppt.        richten, werden wir Nachtwachen, die
Laub, den Grabenschlamm, unsere            ja für uns Naturfreunde ein Genuss
Abfälle, Erde, Asche, Stalldünger –        sind, halten. D. und E. haben zum ers‐

                                                                               21
ten Male auf Nachtschmetterlinge ge‐      Staunen über unsere Tätigkeit in der
ködert, bei dieser Gelegenheit haben      einen Woche ist allgemein. Wir haben
sie Wildschweine und Hirsche aus          aber auch getan, was in unseren Kräf‐
dem Wald treten sehen. Die Schweine       ten stand. Wie geht‘s in der Stadt? Ab‐
hatten sich einen Komposthaufen vor‐      bau, Abbau überall! In der Haustür
genommen. Jedenfalls hatten sie kei‐      prangt ein „Willkommen!“ aus fri‐
mende Eicheln, die mit dem Laub dort      schem Fichtengrün. Während die
hingekommen waren, gewittert. Wir         Frauen nun ihre Lasten niederlegen,
wollen nun nicht, dass unsere Arbeit      werde Ich sie vorstellen! Da ist zu‐
durch die Wühlarbeit der Borstentiere     nächst L., die sich wohl am meisten
korrigiert wird und werden um das         hierher gesehnt. Eine tapfere Kamera‐
Ganze Stacheldraht ziehen, um sie ab‐     din, die immer an erster Stelle stand,
zuwehren. Immerhin freuen wir uns,        wenn es galt, unsere Ideen zu verwirk‐
dass wir diese Wildarten zu Nachbarn      lichen. Da ist M. mit ihren beiden
haben. Wir werden schon Mittel fin‐       Kindern, die ihren Vater kaum ge‐
den, miteinander fertig zu werden.        kannt. Er fiel auf Russlands Fluren.
Unser Astronom hat seine Warte fast       Auch sie hat lange auf diesen Tag ge‐
vollendet. Er sinnt nur auf bessere,      wartet. N. und O., die Unzertrennli‐
bequeme Ausstattung. Er gedenkt dort      chen, glühen vor Begeisterung. Am
oben, seinen Sternen nahe, ganze          liebsten mochten sie gleich los arbei‐
Nächte zu verbringen. Nur je einer        ten, pflanzen und jäten. P. die Freun‐
kann ihm in seiner schwindelnden          din, und jetzige Lebensgefährtin des
Höhe Gesellschaft leisten. Der Blick      Technikers, der sich schon den südli‐
ist verhältnismäßig wunderbar. Wir        chen Giebel eingerichtet hat, folgte
werden die Warte auch als Seeblick        ihm ins neue Heim. G., F's Ehefrau,
benutzen. Einige störende Nachbar‐        fühlt sich etwas bedrückt in der Ge‐
bäume mussten wir fällen.                 sellschaft, sie hat keine naturwissen‐
                                          schaftlichen Interessen, ist aber ein
Heute treffen die acht Frauen ein. All‐   brauchbares Mitglied der Gemein‐
gemeiner Empfang. Sie kommen so,          schaft. Die Pflege der Kuh, überhaupt
wie sie immer kamen, wenn wir, vor‐       das lieben Viehs, will sie übernehmen.
ausgeeilt, sie irgendwo erwarteten, mit   Natürlich wird sie auch viel Arbeit mit
gepackten Rucksäcken, einige haben        ihren Kindern haben. R., von der wir
wie immer ihre Ferngläser umgehängt.      wissen, die unserem Astronom zuge‐
Der Wagen mit den notwendigen Hab‐        tan ist, bewundert dessen Warte. Sie
seligkeiten, die ein dauernder Aufent‐    stammt vom Lande und hofft nun, ih‐
halt hier erfordert, ist noch im Walde.   re ganze Fähigkeit zu entfalten. Sie
Der Empfang ist ein herzlicher, wie er    schwärmt ein wenig. Sie ist so recht
unter Naturmenschen nicht anders sein     das Gegenteil von S., die einen fast
kann. Man bespricht natürlich nicht       männlichen Zug hat. Auch sie hat un‐
nur das materielle Wohl, sondern auch     sere Idee immer belächelt, noch vor
die wissenschaftlichen Dinge. Das         wenigen Monaten war sie, wie fast al‐

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