Advent Syrien - (k)ein - 12I16 - Katholische Militärseelsorge
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Soldat in Welt und Kirche 12I16 Syrien – (k)ein Advent © picture alliance / abaca ISSN 1865-5149 Militärbischof Overbeck Beilage: in Potsdam „Betreuung aktuell“ 4/2016
© KS / Doreen Bierdel Editorial Liebe Leserinnen und Leser! Das Jahr 2016 neigt sich dem Ende zu. Für eine abschließen- Staat wurde Georgien am 27. Januar 2016 der Gegenstand de Jahresbilanz fehlen noch mindestens 30 Tage. Da könn- einer Ermittlung des IStGH. te noch so einiges passieren, was dringend in einer Bilanz hervorgehoben werden müsste. Doch schon jetzt es hat den Jetzt gesellt sich Russland ebenfalls zu den Staaten, die ih- Anschein, als ob die Welt fortschreitend aus ihren Fugen gera- ren Austritt forcieren: Russland erklärte – auch mit Blick auf ten würde. Zur Vielzahl schlechter Nachrichten im nun fast ab- die begonnenen offiziellen Ermittlungen in Georgien – am 16. gelaufenen Jahr kommt seit Kurzem eine weitere hinzu: Dem November 2016, es werde das IStGH-Statut nicht ratifizieren, Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag und zog seine Unterschrift, die es im Jahr 2000 geleistet hat- wird durch das Verhalten von immer mehr Vertragsstaaten, te, wieder zurück. Das russische Außenministerium erkläre langsam aber sicher, der Boden unter den Füßen entzogen. in diesem Zusammenhang, der IStGH arbeite ineffizient und einseitig. Was also in der Zeit zwischen 1998 und 2002 relativ Zur Erinnerung: der ständige Internationale Strafgerichtshof hoffnungsvoll begann, wird jetzt, nach knapp 15 Jahren, wie- wurde durch das multilaterale Römische Statut vom 17. Juli der zurückgedreht. 1998 geschaffen und nahm seine Tätigkeit am 1. Juli 2002 auf. Es ahndet Kernverbrechen des Völkerstrafrechts, nämlich Der Internationale Gerichtshof ist durch einen völkerrechtli- Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsver- chen Vertrag als eine auf Dauer angelegte juristische Einrich- brechen und Verbrechen der Aggression. Bislang sind 124 tung geschaffen worden. Er wird wirkungslos, wenn zuneh- Staaten dem Rom-Statut zum IStGH beigetreten. Weitere mend mehr Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ihren Staaten, die es nicht ratifiziert haben, sind die Volksrepublik Rückzug ins Auge fassen. Wer könnte sie darin hindern, dem China, Indien, Irak, Iran, Israel, Kuba, Nordkorea, Pakistan, Beispiel Russlands, der USA und anderer Staaten in der Welt Russland, Syrien, Saudi-Arabien, Sudan und die Türkei. zu folgen? Die 15. Jahreskonferenz der Vertragsstaaten des IStGH, die am 24. November in Den Haag endete, stand ganz Zu den schärfsten Kritikern des IStGH zählen die Vereinigten im Zeichen der bisher größten Krise des Gerichts. Es kann Staaten von Amerika. Zwar hat die US-Regierung im Jahr 2000 also gut sein, dass mit einer weiteren Schwächung des Inter- das Statut des IStGH unterzeichnet, aber noch im selben Jahr nationalen Strafgerichts diejenigen sicher sein und sich einer die völkerrechtlich unübliche, jedoch zulässige Rücknahme Strafverfolgung durch das Gericht entziehen können, die we- der Unterzeichnung erklärt. Seitdem wird amerikanischen Be- gen Kernverbrechen des Völkerstrafrechts angeklagt werden. hörden eine Zusammenarbeit mit dem Gericht verboten. Im Oktober 2016 gaben Südafrika, Gambia und Burundi ihren Unseren Leserinnen und Lesern wünscht die Redaktion der Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof bekannt. Sie Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs eine besinnliche begründeten ihren Austritt mit dem Hinweis, dass er bislang in Zeit des Advents und gesegnete Weihnachten. Zugleich wün- neun Staaten offizielle Ermittlungen durchführte, davon jedoch schen wir Ihnen einen guten Start ins Neue Jahr. acht in afrikanischen Staaten. Als erster nicht-afrikanischer Josef König, Chefredakteur Impressum Herausgeber dingt die Meinung des Herausgebers KOMPASS Soldat in Welt und Kirche Der Katholische Militärbischof für die wieder. Für das unverlangte Einsenden ISSN 1865-5149 Deutsche Bundeswehr von Manuskripten und Bildern kann keine Gewähr und für Verweise in das Redaktionsanschrift Verlag, Druck und Vertrieb Internet keine Haftung übernommen KOMPASS Soldat in Welt und Kirche Verlag Haus Altenberg werden. Bei allen Verlosungen und Am Weidendamm 2 Carl-Mosterts-Platz 1 Preisausschreiben in KOMPASS Soldat 10117 Berlin 40477 Düsseldorf in Welt und Kirche ist der Rechtsweg Telefon: +49 (0)30 20617-421/-420 ausgeschlossen. Telefax: +49 (0)30 20617-499 Leserbriefe E-Mail: kompass@katholische- Bei Veröffentlichung von Leserbriefen Internet soldatenseelsorge.de behält sich die Redaktion das Recht auf www.katholische-militaerseelsorge.de Kürzung vor. Chefredakteur Josef König (JK) Social Media Redakteur Jörg Volpers (JV) Hinweis Bild, Layout und Satz Doreen Bierdel Die mit Namen oder Initialen gekenn- Lektorat Schwester Irenäa Bauer OSF zeichneten Beiträge geben nicht unbe- 2 Kompass 12I16
Inhalt © Doreen Bierdel 4 Titelthema Aus der Militärseelsorge Rubriken Syrien – (k)ein Advent 4 Adventsgruß des Militärbischofs 18 Zentraler Standortgottesdienst 15 Kompass Glauben in München 5 Syrien – Zahlen & Fakten 16 Kolumne des Wehrbeauftragten 18 Friedenslicht aus Betlehem 2016 6 Bischöfe zur Situation im 17 Neu – zum LKU: Ordnung Mittleren Osten 19 zebis-Symposium 25 Auf ein Wort 8 Grundsatz von Kristin Helberg 20 Reportage vor Ort: Militärbischof Overbeck in Potsdam 26 Glaube, Kirche, Leben 12 Interview mit • Hallo, hier ist Leni! Prof. Dr. Udo Steinbach 22 Studienkreis Katholischer Offiziere • adveniat-Aktion • Weltfriedenstag 2017 14 Kommentar zur Sache 22 Leitender Militärdekan Wagner von Felizia Merten wird 50 28 Medien • Filmtipp: PAULA 23 Justitia et Pax zum Weißbuch • Buchtipps: Eine Reise … 23 Feldgottesdienst Umstrittene Religionsfreiheit Titelbild: © picture alliance / abaca 24 St. Martin in den USA 30 Vorschau: Unser Titelthema im Januar 2017 30 Personalien 31 Rätsel 25 17 28 NEU! © Pandora Film / Martin Menke © Eirik Newth / flickr
Liebe Leserinnen und Leser, Adventsgruß liebe Soldatinnen und Soldaten! „Adventus Domini“ – Zeit der Ankunft des Herrn. In dieser Zeit stehen wir gerade. Sie umschreibt für uns Christen einen jahreszeitlichen Ab- schnitt, in dem wir uns vorbereiten auf das Fest der Geburt Jesu. An den vier Sonntagen des Advents erinnern vier Kerzen auf den Advents- kränzen an die Gelegenheit, besinnlich und nachdenklich zu werden, sich zu öffnen für Gott. Allerdings – wir sehen es zur Genüge auf den © KS / Doreen Bierdel zahlreichen Advents- und Weihnachtsmärkten in unseren Städten –, bleibt auch diese Zeit vor einer radikalen Kommerzialisierung nicht verschont. Diesen Wirklichkeiten stellen wir uns, mühen uns aber dennoch immer wieder neu um eine bewusste Gestaltung dieser be- sonderen Zeit! Viele Menschen jedoch erleben diese Wochen, wie wir wissen, unter schrecklichen Umständen. „Syrien – (k)ein Advent“: Das Thema der Dezember-Ausgabe dieser Zeitschrift weist unumwunden darauf hin. Was erhoffen sich Menschen in Syrien – und wahrscheinlich auch noch an vielen weiteren Orten in der Welt, an denen Krieg, Leid und Zerstörung die bestimmende Lebenswirklichkeit sind –, wenn sie Christen sind, von dieser Zeit, die wir als Advent bezeichnen? Mit Sicherheit nichts sehnlicher als das Ende jeder Form von Gewalt, Leid und Zerstörung. In Syrien wütet seit 2011 ein Bürgerkrieg, der in seiner Grausamkeit ein Maß angenommen hat, welches weit jenseits von allem sittlich und moralisch Erlaubten liegt. Schon lange Zeit ist die Zivilbevölkerung direktes Ziel von Kriegshandlungen. Schulen, Krankenhäu- ser und andere wichtige Einrichtungen für die Zivilbevölkerung werden direkt unter Beschuss genommen. Dieses und weitere Kriegsverbrechen sind in keiner Weise zu rechtfertigen. Politisch und militärisch ist immer noch kein Friedensabschluss in Sicht. Friedensethisch und völkerrechtlich ist zu sagen: Wir brau- chen verstärkte Anstrengungen, die das Ziel verfolgen, die Gewalt zu beenden und die Kriegsverbrecher dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zuzuführen. Auch das gehört zum Advent 2016. Die Hoffnung auf Frieden darf nicht sterben. Dafür sollen alle Menschen beten und sich einsetzen. Denn der Normalfall des Lebens ist der Friede, nicht der Krieg. Weiteres liegt mir am Herzen: Am 26. Dezember begehen die Katholiken in Deutschland den „Gebetstag für verfolgte und bedrängte Christen“, der seit 2012 jedes Jahr am zweiten Weihnachtstag stattfindet. Der Festtag des heiligen Stephanus ist zum jährlich wiederkehrenden Gebetstag geworden. Im vergan- genen Jahr haben wir die Situation und die Lage der Christen in Syrien zum Anlass genommen, beson- ders für sie zu beten. In diesem Jahr werden wir die Lage der Christen in den Ländern der Arabischen Halbinsel in den Blick nehmen. Ich bin sehr froh, wenn auch Sie sich an diesem Tag im Gebet mit den verfolgten und bedrängten Christen verbinden. Liebe Soldatinnen und Soldaten, Ihnen sage ich an dieser Stelle meinen Dank für Ihren Dienst, den Sie oftmals in Grenzsituationen leisten und der uns allen sowie dem Frieden dient. Zugleich wünsche ich Ihnen und Ihren Angehörigen und allen Menschen, die Ihnen nahestehen, eine besinnliche Advents- zeit und gesegnete Weihnachtstage. Ihr + Dr. Franz-Josef Overbeck Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr © pixelio / Rainer Sturm 4 Kompass 12I16
„ICH BETE, DASS CHRISTEN NICHT GEZWUNGEN SIND, Titelthema IM IRAK UND IM NAHEN OSTEN AUFZUGEBEN.“ Papst Franziskus am 28.10.2015 Syrien © Wikimedia / CC BY-SA 3.0 (2) Syrien – Zahlen & Fakten • Kontinent: Asien Die beiden größten Agglomerationen in Syrien sind Aleppo • Fläche: 185.180 km2 und die Hauptstadt Damaskus. In diesen beiden Regionen • Einwohner: 22,8 Mio. leben 27 Prozent der Menschen des Landes • Präsident: Baschar al-Assad • Bevölkerung: ca. 86 % Araber, • Größte Städte: Damaskus 1,5 Mio. Einwohner über 12 % Kurden (z. T. staatenlos), Aleppo 1,6 Mio. Einwohner 2 % Armenier sowie Tscherkessen, Homs 798.781 Einwohner Turkmenen, Türken u. a. Latakia 347.026 Einwohner • Amtssprache: Arabisch Rakka 182.394 Einwohner • Staatsform: Sozialistische Volksrepublik mit (Berechnungen mit Stand 1.1.2006) Präsidialsystem • Unabhängigkeit: 28.09.1941 nominell • Religionen: 87 % Muslime 17.04.1946 de facto (74 % Sunniten, 12 % Alawiten, 1 % Ismailiten, Schiiten) Der Staat Syrien ist Mitglied der Arabischen Liga, 10 % Christen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) 3 % Drusen und gehört zu den 47 asiatischen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Syrien Kompass 12I16 5
Titelthema I n den Golfstaaten ist in den letzten Jahrzehnten eine leben- dige und bunte Migrantenkirche entstanden. Christen stel- len dort mittlerweile zwischen vier und fünfzehn Prozent der Wohnbevölkerung, die Mehrheit davon gehört der katholischen Kirche an. Sie kommen vor allem aus Indien oder den Philip- pinen, weil sie auf der Arabischen Halbinsel Arbeit gefunden haben. Meist bleiben die Arbeitsmigranten nur wenige Jahre in diesen Ländern. Sie erhalten fast ausschließlich Zeitverträge und zeitlich befristete Aufenthaltsgenehmigungen. „Es gibt Kultfreiheit, aber keine Religionsfreiheit“, mit diesen Worten hat Camillo Ballin, Bischof im Vikariat Nördliches Ara- bien, die Situation der Christen in den Golfstaaten, d. h. die Arabische Halbinsel ohne Saudi-Arabien und Jemen, zusam- mengefasst. Ich traf ihn auf einer Reise, die ich im Februar 2016 mit einer kleinen Delegation in die Länder Katar, Bah- rain, Vereinigte Arabische Emirate und Oman unternahm. Für © Pressestelle Erzbistum Bamberg Saudi-Arabien hatte meine Delegation kein Visum erhalten. Ziel meines Besuchs war, ein Zeichen der Solidarität mit den Christen in dieser Region zu setzen und ihre Lebensumstän- de kennenzulernen. Ich habe eine selbstbewusste, aktive und junge Ortskirche kennengelernt, die ihre Handlungsspielräume in einem mehrheitlich muslimischen Umfeld gut nutzt und von den politischen Autoritäten zunehmend als Gesprächspartne- rin wahr- und ernstgenommen wird. Ich habe erlebt, wie wichtig die Kirche gerade in der Fremde ist, um Menschen Heimat zu bieten: Die Kirchen sind nicht nur Orte des religiösen Lebens, sie bieten Freizeitaktivitäten und helfen den oft sehr harten Arbeitsalltag zu bestehen. „Trotz Einschränkungen Beeindruckt haben mich die Gottesdienste mit tausenden Gläubigen aus der ganzen Welt. In der Kathedrale des Vikari- ats Südliches Arabien in Abu Dhabi werden jedes Wochenen- eine lebendige de heilige Messen in zwölf verschiedenen Sprachen gefeiert. Ich bin unter anderem Indern, Philippinen, Europäern, Syrern und Ägyptern begegnet und habe Gläubige kennengelernt, die Kirche am Golf!“ dem römischen, dem koptischen, dem byzantinischen Ritus und den verschiedenen indischen Riten angehören. Wie in kaum einer anderen Region ist die katholische Kirche auf der Arabischen Halbinsel eine Weltkirche, in der Menschen der verschiedensten kulturellen und nationalen Hintergründe Gott Erfahrungsbericht der Solidaritätsreise von suchen und verehren. Erzbischof Dr. Ludwig Schick Neben der Feier der Gottesdienste und den Begegnungen mit den Gläubigen, ihren Priestern und den beiden Bischöfen, aus der Broschüre „Arabische Halbinsel“, habe ich Gespräche mit Vertretern des Islam und mit den Re- ligionsministern geführt. Die eingeschränkte Religionsfreiheit Arbeitshilfen 290 der DBK wurde bei diesen Gelegenheiten immer wieder angesprochen. Gerade meine muslimischen Gesprächspartner verstanden unter Religionsfreiheit häufig die friedliche Koexistenz der ver- schiedenen Religionen und nicht die Freiheit des Einzelnen, 6 Kompass 12I16
Titelthema selbstständig über den eigenen Glauben und die eigene Reli- Zur Lage im Mittleren Osten gionszugehörigkeit entscheiden zu dürfen. Die Freiheit, von ei- ner Religion zur anderen wechseln zu können, ist aber grundle- „Die Lage im Orient wirft für viele in unserer Ge- gender Bestandteil des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. sellschaft die Frage nach der Rolle des Islam auf. Dieses Recht auf Konversion ist auf der Arabischen Halbinsel Besonders verstörend wirkt es, dass Hunderte nicht gegeben, Mission ist verboten. Muslime, die in Europa gelebt haben, sich dem Kampf von ISIS und anderen militanten oder ter- Besonders aufschlussreich waren die Gespräche mit Orga- roristischen Organisationen angeschlossen haben. nisationen wie dem „Center for Interfaith Dialogue“ in Katar Die deutschen Bischöfe stellen sich auch weiterhin oder dem Al-Amana Centre im Oman, die bereits seit Jahren all jenen entgegen, die das Feindbild eines seinem im interreligiösen Dialog aktiv sind. Nicht unproblematisch ist Wesen nach gewalttätigen Islam propagieren. Islam allerdings, dass dieser Dialog überwiegend auf internationalen und ISIS sind nicht dasselbe. Konferenzen geführt wird, weniger im Alltag und im Leben der Vielmehr tobt in der muslimischen Welt selbst ein Menschen. Für ein friedliches und gleichberechtigtes Mitein- hitziger, manchmal erbarmungsloser und mörderi- ander ist jedoch der „Dialog des Lebens“, der das gegenseiti- scher Kampf um das rechte Verständnis der eige- ge Kennenlernen der Gläubigen der verschiedenen Religionen nen Religion, und zu Recht wird immer wieder auf und Traditionen ermöglicht, besonders wichtig. die große Zahl der Muslime hingewiesen, die Opfer dieses Konflikts werden. Hier sind die muslimischen Während der Reise waren Verletzungen von Menschenrechten Religions- sowie Staatsführer in besonderer Weise ausländischer Gastarbeiter immer wieder Thema. Internatio- gefordert, Position zu beziehen. Dennoch: Die über- nale Medien haben darüber oft berichtet, besonders im Zu- wältigende Mehrheit der friedliebenden Muslime sammenhang mit den Bauarbeiten für die Fußball-Weltmeis- muss sich der Frage stellen, welche Faktoren den terschaft in Katar 2022. Gerade in der Baubranche sind viele beängstigenden Entwicklungen in der eigenen Reli- Menschen aus Nepal, Pakistan und Indien unter Bedingungen gionsgemeinschaft zugrunde liegen. Nur auf Fehler, beschäftigt, die inakzeptabel sind. Hauptprobleme sind die Versäumnisse und Schuld zu verweisen, die außer- fehlende Arbeitssicherheit, unzulängliche Unterbringung in halb der islamischen Kultur liegen, greift zu kurz.“ Wüstencamps, mangelnde medizinische Versorgung, das Ein- behalten von Pässen und Löhnen und in manchen Fällen so- Auszug aus der Erklärung des Ständigen Rates gar Freiheitsberaubung. Im Bereich der Haushaltsangestellten der Deutschen Bischofskonferenz zur Situation im arbeiten überwiegend philippinische Frauen und zunehmend Mittleren Osten vom 25.8.2014 auch Äthiopierinnen. Es kommt zu sexuellen Übergriffen, die Haushaltshilfen werden eingesperrt, ihr Lohn einbehalten. Christen haben für diese Menschen eine besondere Verant- wortung. Tatsächlich leisten die Kirchen Unterstützung bei der Wahrung der Arbeitnehmerrechte, vermitteln juristischen Bei- Die Arbeitshilfe 290 der DBK stand und Kontakte zu den Botschaften der Entsendeländer „Arabische Halbinsel“ erscheint am und bringen das Thema immer wieder in die globale Öffent- 1.12.2016. lichkeit. Sie ist dann genau wie die Arbeitshil- fe Nr. 277 „Syrien“, die vor einem Jahr Die Internationalität und Offenheit der Kirche, die ich in den ebenfalls in der Reihe „Solidarität mit Golfstaaten kennengelernt habe, hat mich sehr angespro- verfolgten und bedrängten Christen chen. Trotz aller Unterschiede in Herkunft, Nationalität und Ri- in unserer Zeit“ erschien, zu bezie- tus bilden die Christen dort auf Grund ihres Glaubens eine Ge- hen beim Sekretariat der Deutschen meinschaft. Hiervon können wir in Deutschland lernen, denn Bischofskonferenz unter dbk@azn.de auch unsere Kirche wird durch den Zuzug von Migranten und oder Tel. (0228) 103-111 bzw. Flüchtlingen zunehmend internationaler. herunterzuladen als PDF-Datei unter www.dbk.de Erzbischof Dr. Ludwig Schick, Erzbischof von Bamberg und Weitere Informationen: Vorsitzender der Kommission Weltkirche www.dbk.de/verfolgte-bedraengte-christen/ der Deutschen Bischofskonferenz Kompass 12I16 7
Titelthema Syrien – von der Revolution zum Stellvertreterkrieg von Kristin Helberg D er Syrien-Konflikt ist so kompliziert, dass er gerne ein- fach erklärt wird – mit Religion oder Terrorismus, mit Regimewechsel von außen, Ressourcen oder westlichen Bashar öffnete das Land wirtschaftlich. Private Banken wur- den zugelassen, Staatsbetriebe privatisiert, ausländische Investitionen erleichtert und staatliche Subventionen abge- Interessen. Dabei geht es in Syrien bis heute darum, dass baut. Im syrischen Klientelismus entwickelte sich daraus Menschen in Würde und Freiheit mit wirtschaftlicher Chan- ein unsozialer neoliberaler Kurs, der die Gesellschaft in cengleichheit leben wollen. Gewinner und Verlierer spaltete. Die Geschäftselite wurde noch reicher. Beamte und Angestellte mussten sich we- Warum, das zeigt die Vorgeschichte des Konflikts. Unter gen steigender Lebenshaltungskosten weitere Nebenjobs Hafiz al-Assad, dem Vater des heutigen Präsidenten, entwi- suchen. Und wer schon vorher wenig hatte – als Arbeiter, ckelte sich Syrien zu einem autoritär geführten Einparteien- Bauer, Kleinunternehmer, Handwerker oder Tagelöhner –, Regime. Politische Vielfalt und Meinungsfreiheit wurden von kämpfte für die Zukunft seiner Kinder. den Geheimdiensten erstickt, die Medien gleichgeschaltet, Der jahrzehntealte Gesellschaftsvertrag in Syrien – politi- jeder bespitzelte jeden. Auf der Straße, bei der Arbeit und sche Unfreiheit gegen eine gesicherte Existenz – war so- in den Behörden drohte staatliche Willkür. Die Menschen mit außer Kraft. Das Regime verlangte Loyalität und Unter- duckten sich weg, Angst lähmte ihr Denken und Handeln. ordnung, ohne der Mehrheit etwas dafür zu bieten. Aber warum sollten Syrer, deren Alltag ein einziger Überlebens- Syrien wurde ein Land im Privatbesitz eines mafiaähnlich kampf geworden war, weiterhin staatliche Willkür, Korrup- organisierten Clans mit einem gewieften Präsidenten an tion und tägliche Erniedrigungen ertragen? Bashar selbst der Spitze, für den nur eines zählte: Loyalität. Sie war und hatte den Boden für gesellschaftlichen Unfrieden bereitet. ist bis heute das wichtigste Prinzip Assadscher Herrschaft. In der Praxis wurde daraus Totalitarismus. Wer Assads Es waren die Verlierer seiner Politik, die im Frühjahr 2011 Macht stützte, wurde belohnt – mit politischen Ämtern, mi- den Mut hatten, auf die Straße zu gehen. Die lokalen Pro- litärischen Führungspositionen, geschäftlichen Deals – und teste wurden vom Regime brutal niedergeschlagen, mit zwar unabhängig von Religion. Zum engsten Führungskreis jedem erschossenen Demonstranten solidarisierten sich zählten neben Alawiten auch Sunniten und Christen. Wer Menschen anderswo. Bis zum Sommer 2011 hatte die jedoch die Führung Assads grundsätzlich in Frage stellte, Revolution viele Städte und Orte erreicht, Millionen Syrer wurde verfolgt, verhaftet und mundtot gemacht – egal ob demonstrierten friedlich. Kommunist oder Liberaler, Sunnit, Alawit oder Christ, säku- larer Aktivist oder Islamist, Araber oder Kurde. Die Mehrheit Flickenteppich ohne nationale Dynamik der Syrer arrangierte sich mit Assads Herrschaftsanspruch und konnte so ein unfreies, aber geordnetes Leben führen. Assad weigerte sich, diese Realität im Land anzuerkennen und entwarf von Anfang an ein Gegen-Szenario, in dem er Assads Verlierer stehen auf Syrien vor Terroristen und ausländischen Verschwörern ret- tete. Sein oberstes Ziel wurde es, dieses Narrativ wahr Ab Sommer 2000 modernisierte Sohn Bashar das Land, werden zu lassen. Dazu bediente er sich einer Dreifach- ohne es zu reformieren. Seine Macht basierte weiterhin Strategie: brutale Gewalt gegen jeden, der mitmacht und auf dem Militär, den Geheimdiensten und der Baath-Partei. seine Herrschaft in Frage stellt, gezielte Diskreditierung Weil diese von den Assads über Jahrzehnte als Stützen und Unterwanderung der Bewegung und scheinbare Refor- der eigenen Herrschaft etabliert wurden, fungieren sie in men in Kombination mit leeren Versprechungen und peinli- der aktuellen Krise als persönliche Machterhaltungs-Instru- cher Propaganda. mente des Präsidenten. Weder das Militär noch die Polizei Deserteure der syrischen Armee, die sich weigerten, auf oder die Geheimdienste spielen in Syrien eine unabhängi- ihre Landsleute zu schießen, gründeten im Sommer 2011 ge Rolle, auch deshalb ist Assad noch im Amt. die Freie Syrische Armee (FSA). Sie kehrten in ihre Heimat- 8 Kompass 12I16
Titelthema © SYRIAN FREEDOM / flickr Demonstration am 6. Mai 2011 in Banyas (Syrien) gegen die Drangsalierung des Volkes durch den Geheimdienst orte zurück und schlossen sich dort mit freiwilligen Kämp- soll auf keinen Fall eine Alternative zu seiner Herrschaft fern zu lokalen Brigaden zusammen. Aus dem Flickentep- entstehen, Assads Raketen zerstören deswegen gezielt In- pich des zivilen Widerstands wurde ein Flickenteppich des frastruktur: Krankenhäuser, Schulen, Marktplätze, Bäcke- bewaffneten Aufstands. reien. Unpräzise Fassbomben verbreiten zusätzlich Terror. Indem das Regime die Proteste vor Ort mit aller Härte be- Im Laufe der Jahre gewinnt Assad mit dieser „Ergebt euch kämpfte, verhinderte es eine nationale Dynamik. Die loka- oder sterbt“-Strategie mancherorts die Kontrolle zurück. len Komitees waren mit der Versorgung ihrer Kommunen beschäftigt, die jeweiligen Rebellengruppen mit der Abwehr Mit den Radikalen gegen alles Gemäßigte von Regimeangriffen und der Beschaffung von Waffen. Den Demonstranten fehlte eine politische Führung, den Rebel- Um die Revolution zu schwächen, spaltete Assad die Ge- len ein zentrales Kommando. sellschaft entlang ethnischer und konfessioneller Linien. Dafür bediente er sich seiner beiden langjährigen inter- Aber das Regime konnte nicht überall gleichzeitig sein. Ab nen Feinde: der Islamisten und der Kurden. Islamische Herbst 2011 galten immer mehr Regionen als „befreit“ – Extremisten sollten den Volksaufstand kapern und einen vor allem im Umland von Damaskus, im Nordosten und Dschihad daraus machen. Bis Herbst 2011 entließ As- Süden des Landes. Dort herrschte Aufbruchsstimmung. sad 1.500 Salafisten und Al Qaida-Anhänger aus den Lokale Räte, die zum Teil demokratisch gewählt wurden, Gefängnissen, die die Bewegung in ein radikales Licht übernahmen staatliche Funktionen. Anwälte planten den rückten. Die Kurden sollten sich heraushalten und natio- Aufbau eines unabhängigen Justizsystems, Aktivisten ver- nalistische Interessen verfolgen, weswegen Assad gleich anstalteten Kulturfestivals, Lehrpläne wurden umgeschrie- zu Beginn 200.000 staatenlose Kurden einbürgerte und ben, oppositionelle Zeitungen veröffentlicht. Studierende, ab 2012 in der Partei der Demokratischen Union (PYD) Anwälte, Frauen und Journalisten gründeten neue Verbän- einen pragmatischen Partner fand, dem es nicht um ei- de. nen Machtwechsel in Damaskus, sondern die Rechte der Assad reagierte mit noch mehr Gewalt. Seit Februar 2012 Kurden insgesamt geht. Dadurch schadeten beide Grup- lässt er Wohngebiete aus der Luft bombardieren und mili- pen der Revolution, denn statt ihre Kräfte zu bündeln, be- tärisch abriegeln, um Rebellen und Zivilisten auszuhungern kämpfen sich Islamisten und Moderate, Kurden und Ara- und zur Aufgabe zu zwingen. In den „befreiten“ Gebieten ber gegenseitig – und Assad ist der lachende Dritte. >> Kompass 12I16 9
Titelthema >> Die Interessen des Auslands Während das Regime alle gemäßigten Akteure brutal ver- folgte, ließ es die Extremisten gewähren – vor allem die bei- Die USA konzentrieren sich auf den IS. Was Assad und sei- den von außen nach Syrien drängenden Al Qaida-Ableger: ne Verbündeten machen, wird verurteilt, aber ignoriert. Die die Nusra-Front (inzwischen Fatah al-Sham-Front) und den als Beleg für eine scheinbare Strategie des regime change „Islamischen Staat“ (IS), der sich im Sommer 2013 von herangezogene amerikanische Unterstützung von Rebellen Al Qaida lossagte und sein Kalifat ausrief. Assad braucht ist so planlos und inkonsistent, dass sie vielen Syrern als die Dschihadisten, um sich als „geringeres Übel“ zu prä- Beweis für das Gegenteil gilt: Washingtons Einverständnis sentieren. Als der IS in den „befreiten“ Gebieten gegen mit Assad. Tatsächlich war die amerikanische Nahost-Po- FSA-Rebellen und Aktivisten vorging, kam das Assad sehr litik der vergangenen 15 Jahre für Syrien verheerend. Der gelegen. Syrische Aufständische kämpfen seitdem an zwei interessengeleitete Interventionismus des George W. Bush Fronten: gegen Assad und gegen den IS. hat „Al Qaida im Irak“ den Boden bereitet, die krampfhaf- te Nichteinmischung des Barack Obama hat die Expansion Neben größtmöglicher Gewalt und der Zersplitterung der des daraus entstandenen IS nach Syrien ermöglicht und Revolution bleibt als letztes Element der erwähnten Drei- Islamisten erstarken lassen, weil gemäßigte Gruppen stets fach-Strategie Assads öffentliches Auftreten: Pseudo-Re- unterlegen waren. Ob Donald Trump in Syrien etwas ändern formen und das Gerede von Dialog, Versöhnung und na- wird, bleibt abzuwarten. Sollte der künftige US-Präsident tionaler Einheit gepaart mit dreisten Lügen. Was Assad in auf Moskau zugehen, um gemeinsam den IS zu bekämp- Damaskus erklärt und beschließt, erscheint völlig abgekop- fen, würde er Putin und Assad das Feld überlassen. pelt von den Ereignissen anderswo im Land. Russland verfolgt in Syrien drei Ziele, die im Grunde er- Syrien löst sich auf – in multiple Realitäten, deren Grenzen reicht sind: Es will als Weltmacht auf Augenhöhe behandelt dynamische Frontverläufe sind und die sich vereinfacht vier werden, sich im Nahen Osten als Ordnungsmacht etablie- Akteuren zuordnen lassen: den Assad-Loyalisten, dem IS, ren und russische Militärbasen in Syrien sichern. Präsident der PYD und den Rebellen. Sie alle begehen Verbrechen, Putin geht es nicht um die Person Assads, er weiß, dass aber Assads Verbrechen sind systematisch. Ein ganzer dieser ohne ausländische Unterstützung am Ende wäre Staatsapparat ist mit der Vernichtung von Menschen be- und das Land nicht komplett zurückerobern kann. Was schäftigt – das erklärt, warum 92 Prozent der getöteten Russland fehlt, ist eine akzeptable Alternative zu Assad – Zivilisten nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Men- diese verhindert das Regime jedoch effektiv. schenrechte auf das Konto des Regimes gehen. Iran dagegen kann im Falle eines Machtwechsels in Syrien Dieser Staatsterror ist ausführlich dokumentiert, Strafjuris- nur verlieren. Denn der schiitische Halbmond, der von Te- ten früherer Kriegstribunale sprechen von einer erdrücken- heran über Bagdad und Damaskus nach Beirut reicht und den Beweislast. Was fehlt, ist ein zuständiges Gericht. Und der für Irans Bemühen steht, seine islamische Revolution der Wille, Zivilisten zu schützen. Denn das einzig sinnvolle in Länder mit großen schiitischen Bevölkerungsgruppen militärische Engagement in Syrien müsste angesichts der zu exportieren, wäre unterbrochen. Da es in Syrien kaum Opferzahlen der völkerrechtlich verankerten responsibility Schiiten gibt, wird kein Nachfolger derart enge Verbindun- to protect, der internationalen Schutzverantwortung, die- gen nach Teheran aufrechterhalten wie Assad. Für den Iran nen. Stattdessen bombardiert in Syrien jeder, wen er will. steht folglich Grundlegendes auf dem Spiel. © Kurdishstruggle / flickr Kämpfer der kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) 10 Kompass 12I16
Titelthema Irans Einfluss in Nahost zurückzudrängen, ist wiederum das Hauptanliegen Saudi-Arabiens. In Syrien stärkt Riad deshalb wie Katar sunnitische Gruppen, darunter auch Salafisten. Die Golfstaaten wünschen sich in Damaskus eine islamisch geprägte Regierung, jedoch keine interna- © Jan Kulke / photoartberlin.de tional operierenden Dschihadisten – diese könnten ihnen schließlich selbst gefährlich werden. Die Türkei unterstützt die Opposition gegen Assad, wichti- ger ist für Ankara jedoch, den Einfluss der syrischen Kur- den zu beschränken, genauer der PKK-Schwesterpartei PYD, die im Nordosten Syriens ein autonomes Gebiet kon- trolliert. Seit August 2016 greift Ankara direkt militärisch ein, um einen zusammenhängenden Kurdenstaat entlang der türkischen Grenze zu verhindern. Mit der Unterstüt- zung arabischer und islamistischer Rebellengruppen gegen den IS will Präsident Erdogan sicherstellen, dass die US- gestützten und kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) die zurückeroberten IS-Gebiete nicht für sich beanspruchen. Zur Autorin: Kristin Helberg, geb. 1973 in Die Europäer, die angesichts der Flüchtlingskrise ein mas- Heilbronn, studierte Politikwissenschaft und sives Interesse an einer Lösung des Syrien-Konflikts ha- Journalistik in Hamburg und Barcelona. Ab ben, treten uneins und zögerlich auf. Für die Einrichtung 1995 arbeitete sie beim NDR in Hamburg. von Schutzzonen pochen sie auf ein UN-Mandat, Luftan- 2001 ging sie nach Damaskus, wo sie lange griffe und Aufklärungseinsätze gegen den IS fliegen sie in Zeit die einzige offiziell akkreditierte westli- Syrien jedoch ohne ein solches. che Korrespondentin war. Bis 2008 berichte- te sie von Syrien aus über die arabische und Zivilisten schützen, Machtwechsel verhandeln, islamische Welt für die Hörfunkprogramme IS bekämpfen der ARD, den ORF und das Schweizer Ra- dio und Fernsehen SRF sowie verschiedene Um Syrien zu befrieden, müsste nacheinander dreierlei Printmedien. passieren. Erstens müssten Zivilisten konsequent humani- Heute arbeitet sie als freie Journalistin und tär versorgt und vor Luftangriffen geschützt werden. Die UN Nahost-Expertin in Berlin. 2012 erschien sollten ihre Zusammenarbeit mit dem Regime an die Bedin- von ihr „Brennpunkt Syrien. Einblick in ein gung knüpfen, auch die Menschen in den von Assad bela- verschlossenes Land“ (seit 2014 in aktua- gerten Gebieten erreichen zu können. Ohne freie Fahrt für lisierter 2. Auflage), im Sommer 2016 kam UN-Konvois keine Millionen mehr für Regime-Programme. „Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns. Von Wer bei der Einrichtung von Flugverbotszonen die Konfron- Ängsten, Missverständnissen und einem tation mit Russland scheut, könnte ein Bombenverbot für veränderten Land“ heraus, beide im Herder Helikopter verhängen, damit träfe man nur das Regime und Verlag. würde den international geächteten Abwurf von Fassbom- ben sanktionieren. Auch ein konsequentes internationales tracking könnte helfen, denn sobald klar ist, wer wo fliegt, stärken. Denn solange sich die internationale Gemein- lassen sich Luftangriffe und deren Opfer eindeutig zuord- schaft in Syrien auf den sunnitischen Extremismus kon- nen und verurteilen. zentriert und dabei den ersten schiitischen Dschihad der Die Bereitschaft des Westens, sich in Syrien für den Schutz Geschichte – die Mobilisierung ausländischer schiitischer von Zivilisten (und nur dafür) auch militärisch zu engagie- Milizionäre auf Seiten Assads – ignoriert, befördert sie die ren, würde das notwendige Kräftegleichgewicht herstellen, IS-Propaganda vom „Kampf der Sunniten gegen den Rest das es für eine Verhandlungslösung braucht. Putin könn- der Welt“. te Assad zum gesichtswahrenden Rückzug bewegen, da- mit der bereits im Dezember 2015 per UN-Resolution be- Ohne ein Ende des Staats-Terrors Assads kein Sieg über schlossene geordnete Machtwechsel in Gang käme. den IS-Terror, so die bittere Erkenntnis nach fast sechs Jahren Syrien-Konflikt. Selbst wenn es aus westlicher Sicht Erst dann, also wenn eine politische Lösung auf dem Weg bequemer scheint, sich mit Assad zu arrangieren – die Sy- ist, lässt sich der IS in einem dritten Schritt effektiv be- rer werden in ihrer Mehrheit nicht ruhen, bis dieses Un- kämpfen. Bis dahin wird man ihn mit militärischer Über- rechtsregime beseitigt ist. Der Preis, den sie bereits ge- macht in den Untergrund drängen, dabei aber ideologisch zahlt haben, ist schlicht zu hoch. Kompass 12I16 11
„Genauer gesagt handelt es sich um zwei Titelthema Kriege: einen gegen den IS und einen um die Zukunft des Regimes in Syrien.“ Interview mit Prof. Dr. Udo Steinbach, dem ehemaligen Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg Kompass: Seit gut fünf Jahren tobt ein Kompass: Russland und die Verei- diesem Chaos gibt sich Israel zwar als Bürgerkrieg in Syrien. Zwischenzeitlich nigten Staaten sind zwischenzeitlich unparteiisch aus; aber wir dürfen sehr ist die politische und militärische Lage auch intervenierende Mächte. Ebenso wohl davon ausgehen, dass man in Je- mehr als unübersichtlich geworden. mischt sich die Türkei ein. Welche Inte- rusalem die Entwicklungen sehr genau Worum geht es Ihrer Meinung nach ei- ressen und Ziele verfolgen diese Staa- verfolgt. Eine Situation, in der Israel gentlich in Syrien? ten in der Region? feindliche Kräfte die Oberhand gewin- Udo Steinbach: Der Ausbruch des Kon- Udo Steinbach: Die drei genannten nen würden, wird man dort schwerlich flikts in Syrien im März 2011 war Teil Staaten haben sehr unterschiedliche tatenlos hinnehmen. Angesichts der der „arabischen Revolte“, die im De- Interessen, die sie auf syrischem Bo- Diffusität der oppositionellen Kräfte auf zember 2010 in Tunesien begonnen den austragen. Die USA sind nur noch der einen und der Entschlossenheit der und die den ganzen arabischen Raum halbherzig bei der Sache, seit Obama Pro-Assad Kräfte auf der anderen Seite von Marokko bis zum Indischen Ozean seine Entschlossenheit bekundet hat, konnte Assad – z. B. im Falle Aleppos – allerdings in sehr unterschiedlichen die USA nicht mehr im Nahen Osten mi- – seine militärische Position festigen. Formen und Ergebnissen – erfasst hat- litärisch zu engagieren. Für das Russ- te. Es handelt sich also wie in Tunesi- land Putins ist der Konflikt in Syrien Mit der Gründung des Islamischen Ka- en, Ägypten, Jemen und anderswo um eine goldene Gelegenheit, Russland lifats ist zudem eine weitere Heraus- einen Aufstand eines Teils des Volkes als Nahostmacht – die es seit dem 18. forderung aufgetreten. Die von ihm gegen den Despoten. Als dieser nicht Jahrhundert gewesen ist – wieder in die ausgehende terroristische Bedrohung gehen wollte, entwickelte sich der Pro- Region zurückzubringen. Auch in Anka- – insbesondere auch in westlichen, na- test zu einem bewaffneten Konflikt. ra träumt man alte post-osmanische mentlich europäischen Gesellschaften Dieser nahm eine besondere Härte an, Träume. Nachdem die internationale – hat dem Kampf gegen diese Priorität da eine religiöse Minderheit, die Ala- Gemeinschaft ErdoÀan die Unterstüt- erwachsen lassen. Das aber bedeutet witen, den Kern des politischen Regi- zung verweigerte, militärisch zu interve- ipso facto, dass der Sturz Assads auf mes und der Armee bilden. Nach Jahr- nieren, hat er sich in einem Dschungel der politischen Agenda der internatio- zehnten des Aufstiegs müssen sie bei obskurer politischer und militärischer nalen Gemeinschaft in den Hintergrund dem Verlust der Macht einen Rückfall Allianzen verwickelt. Gegenwärtig geht getreten ist. in jene Marginalisierung, ja Unterdrü- es ihm zuvorderst darum zu verhindern, ckung fürchten, die ihre Stellung in der dass aus einem Staatszerfall Syriens Kompass: Unter welchen Bedingun- Gesellschaft Syriens über Jahrhunderte die Kurden als Gewinner hervorgehen. gen und Voraussetzungen kann dieser gekennzeichnet haben. Hinzu kommt, grausame Krieg in Syrien Ihrer Mei- dass in Syrien nicht jene Massenmobi- Das Problem freilich geht über die ge- nung nach beendet werden? Bleibt lisierung stattgefunden hat, wie wir sie nannten drei Staaten hinaus. Denn Assad als Staatspräsident in Syrien an in anderen arabischen Ländern erlebt Syrien ist längst zu einer Bühne von der Macht? Gibt es eine Lösung ohne haben. Die christliche Minderheit etwa, Stellvertreter-Auseinandersetzungen ihn? immerhin mehr als 10% der Bevölke- geworden. Die Tatsache, dass der schi- Udo Steinbach: Genauer gesagt han- rung, konnte in einem säkularen Sys- itische Iran das Regime in Damaskus delt es sich um zwei Kriege: einen Krieg tem relativ unbehelligt leben. Ab 2012 intensiv und wirkungsvoll unterstützt, gegen den „Islamischen Staat“ (IS; griffen von außen kommende Gruppen hat das sunnitische Saudi-Arabien auf oder das „Islamische Kalifat“) und ei- islamistischer Extremisten und Dschi- den Plan gerufen, das sich auf die Sei- nen Krieg um die Zukunft des Regimes hadisten ein. Das wachsende Chaos te islamistischer Organisationen ge- in Syrien. Beide hängen miteinander ließ schließlich ein Vakuum entstehen, schlagen hat. Andere arabische Länder zusammen. Für den Krieg gegen den in dem sie im Sommer 2014 ein „Isla- – unter ihnen das winzige, aber reiche IS gibt es nur eine militärische Lösung. misches Kalifat“ ausrufen konnten. Katar – haben sich eingemischt. In Dabei konnte nie zweifelhaft sein, 12 Kompass 12I16
Diese Geschichte der arabischen Welt behandelt den Zeitraum des 20. Jahrhunderts, vom Beginn des Titelthema Ersten Weltkriegs bis zum Ausbruch des Arabischen Frühlings ab 2011. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Entwicklung aller 22 Mitglieds- länder der Arabischen Liga. Die Einzeldarstellungen sind in die po- litischen, wirtschaftlichen, kulturel- len und religiösen Zusammenhänge innerhalb der arabischen Welt als ganzer sowie in den Kontext der in- ternationalen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingebet- tet. Ein eigenes Kapitel ist der Rol- dass dieser auch besiegt und aufge- le Deutschlands im Nahen Osten löst würde. Die Frage war nur, wer die gewidmet. Ein Ausblick auf das 21. Streitmacht stellen würde, sie zu ver- Jahrhundert „der Araber“ projiziert wirklichen. Im Irak folgte seit etwa ei- die Ergebnisse der historischen Un- nem Jahr eine Offensive der nächsten. tersuchung in die Zukunft. Die gegenwärtige in Mosul dürfte das ISBN 978-3-17-021157-5 Schicksal des IS auf irakischem Boden besiegeln. In Syrien liegen die Dinge Professor Dr. Udo Steinbach war von 1976 bis 2007 schwieriger, da nur eine Koalition loka- Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg. ler Milizen in der Lage sein wird, den IS 2007–2010 lehrte er an der Universität Marburg Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens. zu besiegen. Da spielen die syrischen Kurden eine besondere Rolle. Gegen diese freilich wendet sich jetzt die gelingen, Aleppo in seine Hand zu be- litärische Unterstützung der Russen für Türkei in der Befürchtung, die Kurden kommen, bedeutete dies eine deut- Assad. Jetzt hieß es in westlichen könnten in Syrien einen eigenen Staat liche Stärkung auch seiner Position Hauptstädten, ein militärisches Enga- anstreben (und damit die Kurden in der bei künftigen Verhandlungen und eine gement könnte eine größere internati- Türkei ermutigen, Ähnliches zu tun). Weichenstellung für sein politisches onale Konfrontation provozieren. Ohne Deshalb scheint die türkische Staats- Überleben. Warum sollten er – und sei- eine starke Entscheidung in Washing- führung nunmehr entschlossen, den ne russischen Verbündeten – sich auf ton blieb die internationale Gemein- Kampf gegen den IS selbst zu führen. einen Waffenstillstand einlassen, der schaft führungslos. Sie wurde zum Zu- seine militärischen Gegner möglicher- schauer und begnügte sich mit hilflosen Ein Sieg über den IS freilich bedeute- weise wieder stärken könnte? Appellen für humanitäres Engagement. te noch nicht, dass damit das Phäno- Dies auch noch, als die Flüchtlinge men des extremistischen Islams auf Kompass: Warum sah und sieht die nach Europa kamen. Russland konnte syrischem Boden, also auch die Bedro- Völkergemeinschaft bislang so taten- zum Nulltarif seine Muskeln in Syrien hung Europas durch diesen, erledigt los zu? Warum lässt sie es zu, dass spielen lassen. Die letzte Antwort auf wären. Die Zukunft dieses Phänomens Aleppo gleichsam zerbombt wird? die gestellte Frage aber liegt im deso- wird am Ende mit der Frage verknüpft Udo Steinbach: Eine kluge militärische laten politischen und moralischen Zu- sein, ob es gelingt, in Damaskus ein Intervention der internationalen Ge- stand der Europäischen Union und in Regime zu etablieren, das in den Au- meinschaft in 2012/2013 wäre mög- seiner Handlungsunfähigkeit nach in- gen einer Mehrheit der Bevölkerung als lich gewesen. Eine Flugverbotszone nen wie nach außen. Europa hat keine legitim wahrgenommen würde. Genau für syrische Kampfflugzeuge und eine Führungspersönlichkeit, die Charisma hier scheiden sich die Geister. Soll Schutzzone an der türkisch-syrischen und Stärke hätte, die Prinzipien der Hu- Assad weiterhin an der Macht bleiben? Grenze hätten seinerzeit eine mobilisie- manität und der Menschenrechte, die Soll er nur übergangsweise an der rende Wirkung auf jene Teile der syri- man als Lippenbekenntnisse ständig Macht bleiben? Oder ist künftig nur ein schen Bevölkerung ausgeübt, die noch vor sich her trägt, in der Politik auch zu Syrien ohne Assad denkbar? Bei dem zögerten, dem Assad-Regime den Rü- bewähren. Und was die Flüchtlinge be- kriegerischen Geschehen geht es also cken zu kehren. Dass sich dafür ange- trifft – ein Folge der Tatenlosigkeit –, so wesentlich um die künftige Stärke am sichts des russischen Vetos im UN-Si- kann keine „Lösung“ billig genug sein Verhandlungstisch. Zwischen den Pro- cherheitsrat kein Mandat erhalten ließ, – auch nicht ein „Deal“ mit der Türkei, tagonisten der unterschiedlichen Ant- war eine bequeme Ausrede für jede einem Land, das in hohem Maße Teil worten auf diese Fragen wird Aleppo Form einer militärischen Hilfestellung des Problems geworden ist. zerrieben. Sollte es dem Assad-Regime für die Opposition. Dann begann die mi- Die Fragen stellte Josef König. Kompass 12I16 13
Titelthema © a.anis / GORAN TOMASEVIC / flickr Militärische Logik anstatt Menschlichkeit I n Syrien, insbesondere in der einstigen Metropole Aleppo, wird militärische Logik über die Menschlichkeit gestellt. Politisches Kalkül und Machtinteressen scheinen die Huma- len Strafgerichtshof geahndet werden müssen“, so auch der SPD-Vorstand in einem Beschluss Mitte Oktober. Berichte von Amnesty International bestätigen derweil die schlimms- nität abgelöst zu haben. Die Weltgemeinschaft scheitert an ten Befürchtungen über die Katastrophe und die Kriegsver- ihrer Diplomatie und bleibt handlungsunfähig. brechen in Aleppo. Demnach sollen zwischen 18. September und 1. Oktober 2016 „mehr als 110 zivile Gebäude beschä- Seit fünf Jahren herrscht der Bürgerkrieg in Syrien, an dem digt oder zerstört“ worden sein. Satellitenbilder würden be- sich vor allem Russland und die USA militärisch beteiligen. weisen, dass sich keiner der angegriffenen Orte in der Nähe Die ehemalige Wirtschaftsmetropole Aleppo gehört dabei militärischer Ziele befände. „Syrische Regierungstruppen mit zu den am stärksten umkämpften Gebieten und wird mitt- Unterstützung Russlands haben unnachgiebig Angriffe ge- lerweile zum Symbol für Unmenschlichkeit, Zerstörung und startet, die die grundlegenden Regeln des humanitären Völ- Kriegsverbrechen. „Es ist ein Spiel mit dem Feuer zwischen kerrechts eklatant vernachlässigt haben“, so Lynn Maalouf Russland und Amerika“, kritisierte der griechisch-katholische vom Amnesty International-Regionalbüro Beirut. melkitische Erzbischof von Homs, Jean-Abdo Arbach den Bür- gerkrieg, der sich mittlerweile zu einem Stellvertreterkrieg Es braucht ein deutliches Ultimatum durch die UN-Mitglieder, ausländischer Akteure entwickelt hat. Bereits 8 Millionen das Syrien, Russland und Rebellengruppen auf eine längere Menschen mussten seit Ausbruch ihre Heimat verlassen. Feuerpause verpflichtet. Solange es nur kurzzeitige Bombar- 4,5 Millionen Menschen leben laut Caritas International je- dierungsstopps gibt, können die eingekesselten Menschen doch weiterhin in für humanitäre Hilfe schwer erreichbaren weder aus den Gebieten fliehen noch mit dem Nötigsten ver- Gebieten. Besonders brenzlig ist die Situation in Aleppo, wo sorgt werden. Die Weltgemeinschaft darf bei derartigen Ver- bereits seit Sommer 2012 Rebellengruppen und Regierungs- letzungen gegen die Menschlichkeit nicht weiterhin zusehen militärs um die Vorherrschaft kämpfen. Das syrische Regime und muss statt Worten und Verhandlungen Taten und ein- unter Baschar al-Assad versucht mit der Unterstützung rus- deutige Forderungen folgen lassen. „Die Welt schaut einfach sischer Militärs mit aller Kraft die Stadt zurückzuerobern und nur zu und verliert mit jeder Minute, die verstreicht, ohne macht dabei nicht vor starken Bombardierungen halt. Die Op- dass die Bombardements gestoppt werden, ein wenig von fer der Angriffe sind meistens Zivilisten. ihrer Moral“, kritisiert auch der französische Ordensmann Seit Sommer 2016 hat sich die Lage noch weiter zugespitzt, Jacques Mourad, der 2015 selbst Geisel des „IS“ war. Dass da die Rebellengruppen im Ostteil der Stadt eingekesselt der zuletzt geplante Hilfs- und Evakuierungseinsatz für die sind; mit ihnen schätzungsweise 300.000 Zivilisten. Im Menschen in Aleppo an den Widerständen von Regime- und September hat die Armee unter Assad und Russland eine Rebellenseite gescheitert ist, zeigt, dass mahnende Worte in umfassende Gegenoffensive gestartet, um Aleppo endgültig diesem Krieg nicht mehr ausreichen. Es braucht eine gemein- zurückzugewinnen. Die Offensive habe bisher rund 500 Men- same Syrien-Resolution, die die Kriegsparteien auf eine Waf- schen getötet und ungefähr 2.000 verletzt, so UN-General- fenruhe verpflichtet. Der Hilfsplan der UN sollte eigentlich ver- sekretär Ban Ki Moon. In dem Dauerbeschuss wurde zuletzt letzte und kranke Menschen aus den umkämpften Gebieten auch einer der wenigen Hilfskonvois des Deutschen Roten transportieren, scheiterte aber schon in den Verhandlungen. Kreuzes zerstört. 20 Zivilisten und 12 Helfer sind bei dem An- Die Menschen vor Ort sind sich weiterhin selbst überlassen. griff auf die 31 Fahrzeuge getötet worden. US-Außenminister „Wieder einmal haben die politische und militärische Logik John Kerry machte Russland für den Angriff verantwortlich in Syrien über die elementare Menschlichkeit gesiegt“, so und kündigte Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen an. „An- Stephen O´Brien, der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe ist. griffe auf die Zivilbevölkerung, der Einsatz von Fassbomben Gegen militärische Logik sollte aber die Weltgemeinschaft für in bewohnten Gebieten und die Anwendung von chemischen Menschlichkeit auf der Welt sorgen. Kampfstoffen sind Kriegsverbrechen, die vom Internationa- Felizia Merten, Herder Korrespondenz 14 Kompass 12I16
Kompass Glauben (Denk-)Wege zu Gott II: Nur der größere Gott ist © Allie_Caulfield / flickr der wirkliche Gott „Allahu akbar!“ – „Gott ist größer!“ In diesem kurzen Be- Wie lässt sich von hierher der Glaube vom Missbrauch Gottes kenntnis ist verdichtet, was Hingabe an Gott meint: Gott unterscheiden? Zunächst: Nur dort bezieht sich ein Mensch im eigenen Leben als den anzuerkennen, der größer ist als auf Gott (und nicht auf einen selbstgemachten Götzen), wo alles andere und der allein Ganzhingabe verdient. Dieses dieser in seiner Unbedingtheit und Unüberbietbarkeit aner- Bekenntnis ist in Verruf geraten: Die Attentäter vom 13. No- kannt wird. Gott kann dann nicht einfach mit einer religiösen vember 2015 eröffneten mit dem Ausruf „Allahu akbar!“ in Vorstellung identifiziert werden. Die Wahrheit einer Religion, der Pariser Diskothek Bataclan das Feuer und richteten ein ihres Gottesverständnisses und ihrer Dogmen zeigt sich Blutbad an. Die Hingabe an Gott ist offenbar gefährlich und vielmehr darin, dass sie den Menschen in die Beziehung zu hoch ambivalent. Wie lassen sich denkend Unterscheidun- diesem größeren Gott rückt. Nur dieser dem menschlichen gen treffen? Zugriff entzogene, wirkliche Gott kann das sein, „wofür du leben kannst, und groß genug, um dafür zu sterben“ (Dag „Allahu akbar“ entspricht genau einer Formel, die im 11. Hammarskjöld, UN-Generalsekretär 1953–61). Jahrhundert der Mönch Anselm von Canterbury geprägt hat und die als „ontologischer Gottesbeweis“ in die Lehrbücher Ein Gott, der die Gläubigen in einen heiligen Krieg führt, um der Philosophie eingegangen ist: „Gott ist das, worüber hin- seine Feinde und eine dekadente und gottlose Welt zu ver- aus Größeres nicht gedacht werden kann.“ Diese Kurzformel nichten, wäre dagegen ein zutiefst widersprüchlicher Gott, der versteht Anselm als angemessenen Ausdruck des christli- mit seiner Schöpfung im Krieg liegt und der zur Gewalt greifen chen Glaubens, zugleich aber als ein vernünftiges Argument, muss, um seinen Willen durchzusetzen. Es wäre ein Gott, den um Nicht-Glaubenden die Existenz Gottes aufzuweisen und der Mensch in seiner Vernunft ablehnen muss. um den Glauben vor einem Missbrauch des Gottesnamens zu schützen. Ich beschränke mich auf wenige Grundzüge Gott ist größer: Er kann sich selbst und seiner Schöpfung der Argumentation. nicht widersprechen. Seine Größe zeigt sich gerade darin, dass er der Schöpfung eigenständigen Raum gewährt und Der Ausgangspunkt dürfte einsichtig sein: Das Wort ‚Gott‘ dem Menschen Freiheit schenkt, auch dort, wo diese in Wi- bezieht sich in Sprache und Denken auf eine Wirklichkeit, derspruch zu Gott tritt und Böses geschieht. Eine Macht, die über die hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. In nichts neben sich duldet, ist geringer als die Macht, in der der Idee Gottes zielt menschliches Denken auf ein Unbeding- Gott den Geschöpfen ihre Freiheit schenkt und zumutet, mit tes und Höchstes, das nicht aus anderem abgeleitet werden der er ihre Eigenständigkeit achtet und begleitet. Mit Juden kann. Anselm behauptet nicht, dass wir Gott zureichend und Muslimen bekennen die Christen Gott daher als den, der denken oder positiv beweisen können. Er argumentiert ne- in seiner Macht barmherzig ist und in seiner Gerechtigkeit gativ: Wird Gott als reines Produkt des Denkens verstanden, geduldig. Dem christlichen Glauben zeigt sich die Größe Got- dem keine Realität außerhalb des Gedachten zukommt, so tes gerade darin, dass er in Christus Mensch wird, dass er ist dies nicht „worüber hinaus Größeres nicht gedacht wer- das Böse mit einer Liebe überwindet, die bis zur Hingabe am den kann“. Das Denken gerät in einen Widerspruch. Ebenso Kreuz reicht. Christen bekennen hierin eine Liebe, wie sie grö- wenig aber kann die Vernunft Gott zureichend denken. Nur ßer nicht geschehen kann und die eine Hoffnung begründet, wenn Gott größer ist als alles Gedachte, ist er „das, worüber die stärker ist als der Tod. Der Glaube an diesen Gott führt hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.“ Gott kann im in die eigene Verantwortung, um im Handeln dieser Liebe zu Denken nicht ohne Selbstwiderspruch verneint, aber eben- entsprechen. Spätestens hier wird das Denken Gottes zur so wenig positiv bewiesen werden. Das Denken rückt in eine persönlichen Herausforderung. Beziehung zum Unbedingten, das es voraussetzt und das Prof. Dr. Martin Kirschner, sich seinem Zugriff zugleich entzieht. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Kompass 12I16 15
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