AkademieAktuell - und die Ehrenbögen von Pompeji Aus der Arbeit der Akademie
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Ausgabe 04/2012 – ISSN 1436-753X AkademieAktuell Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Schwerpunkt Gletscher, Votivbilder und die Ehrenbögen von Pompeji Aus der Arbeit der Akademie Bayerische Akademie der Wissenschaften
Edito r i a l Liebe Leserinnen, liebe Leser! B l au e i s, Watzman ngletsc h er, Höllentalferner, Nördlicher und Südlicher Schneeferner – so heißen die fünf Gletscher, die es Abb.: Archiv heute noch in den deutschen Alpen gibt. Wissenschaftliche Er- kenntnisse über den Rückzug des „Ewigen Eises“, der seit einigen Jahrzehnten zu beobachten ist, bietet der Bayerische Gletscher- bericht, für den die Glaziologen Christoph Mayer und Wilfried Hagg im Auftrag des Bayerischen Umweltministeriums erstmals alle wichtigen Daten zusam- mengestellt und analysiert haben. Wozu der Bericht dient und welche weiteren For- schungsergebnisse 2012 an der Akademie erarbeitet wurden, das erfahren Sie in dieser Ausgabe von „Akademie Aktuell“. Das vierte Heft des Jahres ist traditionell den vielfältigen Neuerscheinungen gewidmet. Mit einem aktuellen Umweltthema befasst sich auch Claudia Deigele: Sie stellt die Frage nach ökologischen und ökonomischen Konzepten für unsere künftige Energieversorgung (S. 28). Zu diesem Thema hat die Kommission für Ökologie 2012 gemeinsam mit dem ifo Institut ein großes Rundgespräch veranstaltet. Die weiteren Beiträge widmen sich geis- teswissenschaftlichen Neuerscheinungen: Valentin Kockel stellt die Ergebnisse der jüngs- ten Grabungen auf dem Forum von Pompeji vor (S. 12), Kristina Domanski erklärt, wie in mittelalterlichen Handschriften mit Bildern Geschichte geschrieben wurde (S. 18). Christine Steininger nimmt Sie mit ins „Herz des Pfaffenwinkels“: Auch der Band über die Inschriften des Landkreises Weilheim-Schongau ist vor kurzem erschienen (S. 22). Von den vielfältigen Kontakten zwischen Bayern und Russland, die bereits auf das 9. Jahrhundert zurückgehen, berichtet Gabriele Greindl (S. 24). Allen Autorinnen und Autoren gilt mein herzlicher Dank für ihre Mitwirkung an dieser Aus- gabe von „Akademie Aktuell“. Unseren Leserinnen und Lesern wünsche ich eine anregende Lektüre! Prof. Dr. Karl-Heinz Hoffmann Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Ausgabe 04/2012 – ISSN 1436-753X Unser Titel AkademieAktuellZeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Im Sommer 2012 präsentierte Umweltminister Marcel Huber der Öffentlichkeit den Bayerischen Gletscherbericht, der erst- mals alle fünf Gletscher in den deutschen Alpen dokumentiert. Glaziologen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Schwerpunkt Gletscher, Votivbilder und die Ehrenbögen von Pompeji Abb.: Zoonar/Gunar Streu haben den Bericht erstellt, „Akademie Aktuell“ stellt ihre Arbeit Aus der Arbeit der Akademie auf S. 30 bis 33 vor. Bayerische Unser Titelfoto zeigt die Eiskapelle unterhalb der Watzmann- Ostwand im Berchtesgadener Land. Akademie der Wissenschaften 04-2012 Akademie Aktuell 3
I n halt H e ft 4 3 AKTU ELL Tag u ng 5 Max Weber Stiftung – BAdW-Fishbowl – 41 Bräuche : Medien : Transformationen Au s g a b e Israel und seine Nachbarn Von Gabriele Wolf 04-2012 6 In der Champions League der Großrechner 44 „Lust an der Wortklauberey“ Von Ludger Palm Von Edith Funk und Anthony Rowley 8 Der Schatten des Maoismus 46 Fachsprache(n) im mittelalterlichen Latein Von Daniel Leese Von Marie-Luise Weber Pu b l i kation J u nges kolleg 12 Das Forum von Pompeji 48 Welche Rolle spielt Abstraktion für intelli- Von Valentin Kockel gentes Verhalten? 18 Mit Bildern Geschichte schreiben Von Alexandra Kirsch Von Kristina Domanski 50 Oberflächenphysik, Hörforschung 22 Im Herz des Pfaffenwinkels und das Bakterium Helicobacter pylori: Von Christine Steininger neue Mitglieder im Jungen Kolleg Interview mit Sabine Maier, Michael Pecka 24 Bayern und Russland in vormoderner Zeit und Cynthia M. Sharma Von Gabriele Greindl 28 Unsere künftige Energieversorgung Von Claudia Deigele PERSON EN 30 Das „Ewige Eis“ auf dem Rückzug 56 Kurz notiert Von Christoph Mayer Von Gisela von Klaudy digital VORSC HAU 34 Zertifiziertes Wissen im Netz 57 Termine Dezember 2012 bis März 2013 Von Hans Günter Hockerts 36 Alle Möglichkeiten der digitalen Welt Von Karl-Ulrich Gelberg IN F O 38 „Geschichtsquellen des deutschen 58 Auf einen Blick Mittelalters“ digital Von Markus Wesche 58 Impressum 12 48 Abb.: V. Kockel und D. Stante; The RobotCub Consortium 4 Akademie Aktuell 04-2012
A ktu e l l Neues Format: der BAdW-Fishbowl Auf Augen höh e diskutieren: Dieses Ziel verfolgte der erste BAdW-Fishbowl, der in Kooperation mit der Bay- erischen EliteAkademie am 13. September 2012 stattfand. Rund 80 Teilnehmer diskutierten mit Jutta Allmendinger (Wissenschaftszentrum Berlin), Andrea Prehofer (Siemens), Neue Lage: Nadja Hirsch (FDP) und Oliver Jörg (CSU) über die Frage „Brauchen wir eine Frauenquote?“ Das interaktive Format Israel und seine Nachbarn ermöglicht es dem Publikum, sich direkt in die Debatte einzubringen: In der Mitte – im Goldfischglas – diskutie- W i e s i e h t e s e i n Jah r nach dem ren die geladenen Experten, die übrigen Teilnehmer sit- Arabischen Frühling im Nahen Osten aus? zen im Außenkreis. Sie können temporär einen der freien Und was bedeuten die Veränderungen in der Stühle im Innenkreis einnehmen und mitdiskutieren. n Region für Israel? Diese Fragen diskutierten Richard Asbeck (Hanns-Seidel-Stiftung, Jeru- salem), Michael Brenner (LMU München) und Guido Steinberg (Stiftung Wissenschaft und Politik) am 10. Oktober 2012 mit Moderator Clemens Verenkotte und dem Publikum. Für die Veranstaltung kooperierte die Akademie mit der Hanns-Seidel-Stiftung. n Lebhafte Diskussion: Die Neuer Name: Max Weber Stiftung Moderatorin Gisela Freisinger (manager magazin, im Innen- kreis rechts) brachte im ersten D i e „Sti ftung D e uts c h er Geistes- Berichte über Webers Amerika-Reise 1904 BAdW-Fishbowl Studierende wissenschaftlicher Institute im Ausland“ (L. Scaff), beeindruckend seine Kontakte zu und Experten ins Gespräch. (DGIA) hat sich anlässlich ihres zehnjährigen russischen Intellektuellen (D. Dahlmann), Bestehens einen neuen Namen gegeben: Sie außergewöhnlich seine starke Rezeption heißt seit 1. Juli 2012 „Max Weber Stiftung“. in Japan (W. Schwentker) und hochaktuell Mit einem Augenzwinkern gab Präsident seine Bedeutung in der arabisch-islamischen Heinz Duchhardt zu, dass der alte Name Welt (A. Toumarkine, S. Leder, H. Ali). Einen für Ausländer kaum aussprechbar war. Nun Überblick über die weltweite Rezeption gab möchte man die Strahlkraft des deutschen E. Hanke, systematische Fragen warfen H. Soziologen und Universalgelehrten Max Bruhns zu Webers soziologischem Blick auf Weber (1864–1920) nutzen, um die Arbeit den Krieg und G. Hübinger zu Webers univer- der Auslandsinstitute in Beirut, Istanbul, salhistorischem Denken auf. Die Max-Weber- London, Moskau, Paris, Rom, Tokio, Warschau Gesamtausgabe, die im Auftrag der Kommis- und Washington öffentlichkeitswirksam zu sion für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der präsentieren. Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird, war durch Referenten Vertreter der Institute und Weber-Spezialisten und Teilnehmer vertreten. Das Tagungskon- des In- und Auslandes kamen am 4. und 5. Juli zept entwickelte A. Munding, Mitarbeiterin beide Abb.: BAdW in Bonn zur Tagung „Max Weber in der Welt“ der Kommission. zusammen, um die weltweite Bedeutung Webers zu vermessen. Spannend waren die In Kooperation mit dem Historischen Kolleg München vergibt die Max Weber Stiftung in Zukunft einen Internationalen Forschungsför- derpreis, der mit 30.000 Euro dotiert ist. n 04-2012 Akademie Aktuell 5
A ktu e l l Festakt In der Champions League der Großrechner Am 20. Juli 2012 war es soweit: Die Akademie feierte auf dem Forschungscampus in Garching mit Bundesministerin Schavan, Wissenschaftsminister Heubisch und vielen in- und ausländischen Gästen das 50-jährige Bestehen ihres Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) sowie die Inbetriebnahme des SuperMUC, eines der schnellsten Rechner der Welt. Von Lu dge r Palm Annette Schavan und Wolfgang De r ü b e r das Gau SS C entr e for Super- Heubisch überzeugten sich im computing gemeinsam von Bund und Freistaat Gespräch mit LRZ-Leiter Arndt Bayern finanzierte SuperMUC belegte pünktlich Bode eigenhändig von der in- zum Festakt mit einer Rechenleistung von 3 Peta- novativen Warmwasserkühlung flops auf der TOP500-Liste der schnellsten Europas entwickelte. Seit 2006 hat es seinen des SuperMUC. Rechner der Welt den vierten Platz und ist die Sitz auf dem Forschungsgelände in Garching Nummer 1 in Europa. „Es freut mich ganz beson- und versorgt weit über 100.000 Studierende, ders“, erklärte Akademiepräsident Karl-Heinz Professoren und Mitarbeiter der Unis, der Aka- IBM Research – Zürich präsen- Hoffmann bei dem Festakt in Garching, „dass demie und weiterer Forschungseinrichtungen tierte seine Entwicklungen in das Leibniz-Rechenzentrum der Akademie in der im Großraum München mit vielfältigen IT- der Warmwasserkühltechnik, Champions League der Großrechner erneut ganz Dienstleistungen, z. B. einem schnellen Internet- die bei SuperMUC zum Einsatz vorne mitspielt.“ zugang, Archivierung und Back-up sowie E-Mail. kommt. „Dabei hat sich das LRZ stets der Gestaltung Er verwies aber auch darauf, dass SuperMUC und Pilotierung innovativer Dienste verpflich- V. l. n. r.: Akademiepräsident „nur der jüngste Höhepunkt einer großen tet gefühlt“, erklärte der langjährige LRZ-Leiter Hoffmann, Martina Koederitz Erfolgsgeschichte ist, die vor 50 Jahren be- Heinz-Gerd Hegering. Der Abruf von Vorlesun- (IBM Deutschland), Bundesmi- gann“. Am 7. März 1962 gründete die Bayerische gen über das Internet von den Servern des LRZ nisterin Schavan, Bernd Huber Akademie der Wissenschaften ihre „Kommis- oder die Infrastruktur hinter der elektronischen (LMU München), Staatsminister sion für elektronisches Rechnen“, die heutige Abwicklung von Prüfungen in den Universitäten Heubisch, Wolfgang A. Herr- „Kommission für Informatik“. Sie errichtete sind nur zwei Beispiele von vielen. mann (TU München), LRZ-Leiter mit Unterstützung des Freistaates Bayern das Arndt Bode, sein Vorgänger Leibniz-Rechenzentrum, das sich zu einem Daneben versorgt das LRZ Wissenschaft und Heinz-Gerd Hegering und GCS- der führenden akademischen Rechenzentren Forschung mit Spitzenrechenleistung, denn die Vorstand Achim Bachem. Abb.: Hedergott (3); Schöfer; Raab 6 Akademie Aktuell 04-2012
A ktu e l l Heinz-Gerd Hegering, bis 2008 numerische Simulation ist heute, so LRZ-Leiter die sonst zusätzlichen Strom verbrauchen würden. Leiter des LRZ, erläuterte die Arndt Bode, „als dritte Erkenntnisquelle neben „SuperMUC ist ein Meilenstein auf dem Weg zu rasant wachsenden Aufgaben Theorie und Experiment für alle Wissenschafts- energiearmen, nachhaltigen und umweltfreund- des Rechenzentrums seit seiner bereiche unerlässlich“. Die Rechenkapazitäten lichen Supercomputern und das Ergebnis aus Gründung. werden auf Rechnern angeboten, die Forscher in mehrjähriger Forschungs- und Entwicklungsar- ganz Deutschland und auch in dem europäischen beit bei IBM“, sagte Martina Koederitz, die Vorsit- Beim Empfang: Martina HPC(High Performance Computing)-Verbund zende der Geschäftsführung der IBM Deutschland Koederitz (IBM Deutschland) im PRACE nutzen können und die gemeinsam mit GmbH. Auch Bundesministerin Schavan hob diese Gespräch. den Rechenzentren in Jülich und Stuttgart über Stärke des Rechners hervor: „Erfolge im Höchst- das Gauss Centre for Supercomputing (GCS) leistungsrechnen stärken die Wettbewerbsfähig- angeboten werden. „Solche Spitzenleistungen keit des Innovationsstandorts Deutschland und machen den Wissenschaftsstandort Bayern für schaffen neue Wertschöpfungspotentiale für die den Nachwuchs attraktiv“, betonte der bayerische Wirtschaft“, sagte sie. „Dabei ist die Schnelligkeit Wissenschaftsminister Heubisch in seiner Rede. der Supercomputer nur eine Seite der Medaille, „Auch High-Tech-Firmen sind auf Computersimu- die andere ist ihre Energieeffizienz. SuperMUC ist lationen und Modellierungsexperten angewiesen. ein Musterbeispiel für Energieeffizienz.“ Höchstleistungsrechnen gehört deshalb zu den Der Autor Technologien, die unser Land weiterhin fördern Das LRZ ist, das wurde bei dem Festakt deutlich, Dr. Ludger Palm ist für die muss, damit wir wettbewerbsfähig bleiben.“ Der eine 50-jährige Erfolgsgeschichte, die weiter- Presse- und Öffentlichkeitsarbeit neue SuperMUC zeichnet sich dabei durch seine gehen wird: SuperMUC wird bereits in gut einem des Leibniz-Rechenzentrums Benutzerfreundlichkeit aus: „Er ist“, erklärte Arndt Jahr auf eine Rechenleistung von über 7,2 Peta- der Bayerischen Akademie der Bode, „aus Prozessoren mit Standard-Befehlssatz flops ausgebaut. n Wissenschaften zuständig. aufgebaut, wie man ihn auch von Laptops, PCs und Servern kennt.“ Literatur und WWW SuperMUC ist nicht nur einer der schnellsten Rechner der Welt, er ist auch einer der energie- H.-G. Hegering, 50 Jahre LRZ. Das Leibniz-Rechenzentrum der effizientesten: Die beim Rechnen entstehende Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Chronik einer Wärme wird mit warmem Wasser abgeführt, das Erfolgsgeschichte, 2012, ISBN 978-3-00-038333-5 mit etwa 45 Grad Celsius in den Rechner einge- speist wird. Dadurch kann selbst an heißen Som- Ausgabe 2/2012 von „Akademie Aktuell“ war speziell dem LRZ mertagen auf Kühlaggregate verzichtet werden, gewidmet und stellt seine Dienstleistungen, seine Geschichte und den neuen Supercomputer mit beispielhaften Anwendun- gen des Höchstleistungsrechnens vor. www.badw.de/aktuell/akademie_aktuell/2012/heft2 04-2012 Akademie Aktuell 7
A ktu e l l Recht und Willkür Der Schatten des Maoismus In China steht im November 2012 ein politischer Führungswechsel an. Die Fraktionskämpfe um politischen Einfluss, die hinter den Kulissen stattfinden, verweisen dabei auf den problematischen Umgang mit der maoistischen Vergangenheit. Von Dan i e l Le ese I m Novem b e r 2012 blicken politische Beobachter aus aller Welt gespannt nach Peking. Anlass ist der 18. Parteitag der 1921 in Shanghai gegründeten Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), auf dem die politischen Führungsgremien der Partei neu besetzt werden. Nach zehn Jahren treten Parteichef Hu Jintao (geb. 1942) und Mi- nisterpräsident Wen Jiabao (geb. 1942) von ihren Ämtern zurück und übergeben die Führung des Landes an die so genannte fünfte Generation. Es wird allgemein erwartet, dass die seit Jahren zu Nachfolgern aufgebauten Parteikader Xi Jinping (geb. 1953) und Li Keqiang (geb. 1955) an ihre Stelle treten werden. Nach dem noch von Deng Xiao- ping (1904–1997) verfügten Wechsel von Jiang Ze- Mitglieder der „Viererbande“ min (geb. 1926) auf Hu Jintao im Jahr 2003 wird es und der „Lin Biao-Clique“ damit aller Voraussicht nach zum zweiten Mal zu werden propagandistisch durch einer geregelten innerparteilichen Machtüberga- das neue Strafrecht zerquetscht be kommen. Die Schwachstelle aller kommunisti- (1981). schen Parteidiktaturen, die Nachfolgeproblematik, wird so erneut erfolgreich behoben. Fraktionskämpfe Fraktion und der künftige Ministerpräsident Li Keqiang als sein Zögling. Hus Nachfolger Xi Jin- Auf dem 18. Parteitag sind keine Kampfabstim- ping hingegen steht sowohl für die Gruppe der mungen um politische Führungsämter zu „Prinzlinge“, der Söhne hochrangiger Parteikader, erwarten. Vielmehr dient der Kongress der De- als auch symbolisch für das Erbe der Reformpo- monstration von Einigkeit und Zusammenhalt. litik. Xis Vater war Xi Zhongxun (1913–2002), ein Das politische Tauziehen um Einfluss und Ämter, prominenter Parteikader der ersten Generation das auch in der KPCh mit aller Härte ausge- und „Erfinder“ der chinesischen Sonderwirt- fochten wird, findet in den Monaten zuvor statt, schaftszonen. Xi Jinping gilt als weltgewandt wenn in langen Diskussionen in der Parteispitze und umgänglicher als der hölzern wirkende Hu und in Kandidatenscreenings durch eine der Jintao. Bislang ist jedoch über seine Ehe mit einer am wenigsten bekannten Schaltstellen des prominenten Schlagersängerin mehr bekannt als kommunistischen Machtapparats, die Zentrale über seine politischen Ansichten. Organisationsabteilung, Kompromissmöglich- keiten zwischen den maßgeblichen Gruppen in Der Schrecken der Kulturrevolution Alle Abb.: Archiv Leese der Partei ausgelotet werden. Persönliche Profilierung bedeutet in einem Sys- In der KPCh gilt in stalinistischer Tradition ein tem, das auf Uniformität und die Allmacht der Fraktionsverbot. Dennoch gibt es eine Vielzahl Partei setzt, potentielle Gefahr und Instabilität. von Netzwerken und Seilschaften, die sich an ge- meinsamen geographischen, organisatorischen oder persönlichen Hintergründen orientieren. Hu Jintao etwa gilt als Kopf der „Jugendliga“- 8 Akademie Aktuell 04-2012
A ktu e l l Unmittelbar vor Bekanntwerden von Bo Xilais Sturz hielt Ministerpräsident Wen Jiabao im März 2012 eine denkwürdige Rede, in der er davor warnte, das Erbe der Reformpolitik zu verspielen. Ohne weitergehende politische Reformen, so Wen, könnten sich „historische Tragödien“ wie die Kulturrevolution (1966–1976) erneut ereig- nen. Wen führte seine Anspielung nicht weiter aus und stellte keine direkte Verbindung zu Bo Xilai her, aber allein der Begriff „Kulturrevolution“ reicht aus, um kommunistischen Parteikadern ei- nen Schauder über den Rücken laufen zu lassen. In einem politisch einmaligen Experiment hatte Mao Zedong (1893–1976), gestützt auf seine cha- rismatische Autorität, die Jugend zur Zerstörung des kommunistischen Parteiapparates aufgeru- fen, um mit einer weniger bürokratischen, direk- teren Herrschaftsform zu experimentieren. Die Phase des Machtvakuums dauerte jedoch nur kurze Zeit. Bereits 1967 setzte Mao auf die Macht des Militärs, um die staatliche Ordnung wieder- herzustellen. Die Geister der Anarchie ließen sich jedoch nicht unmittelbar wieder einfangen, und es folgte ein landesweiter Bürgerkrieg, der erst Ende 1968 weitgehend beendet werden konnte. Politische Verfolgungen und Kampagnenjustiz charakterisierten auch die letzten Lebensjahre des alternden Diktators. Dies wurde der erstaunten Weltöffentlichkeit im März 2012 vor Augen geführt, als der Kopf der Parteilinken und ebenfalls als Anwärter auf höchste Parteiwürden gehandelte Bo Xilai (geb. 1949) seiner Ämter enthoben und kurz darauf seine Frau aufgrund der Ermordung eines britischen Geschäftsmannes zur „bedingten Todesstrafe“ verurteilt wurde. Ungeachtet seiner möglichen Verstrickung in den Mordfall war der Anlass für Bo Xilais Sturz parteiinterner Natur: Er hatte sich in maoistischer Tradition als charisma- tischer Volkstribun inszeniert, der sich insbeson- dere für die Verlierer der Reformpolitik einsetzte und für Recht und Ordnung zu sorgen versprach. Gleichzeitig baute er einen eigenen Stab von Getreuen auf, der auch Telefonate höchster Parteiführer abgehört haben soll. Als Parteimit- glied untersteht Bo Xilai nicht den chinesischen Justizbehörden, sondern sein Fall wird klandestin Revision eines Konterrevolutionsurteils durch ein Pekinger von der Zentralen Disziplinkontrollkommission Bezirksgericht aus dem Jahr 1978. überprüft, so dass wenige Erkenntnisse über die genauen Hintergründe zu erwarten sind. 04-2012 Akademie Aktuell 9
A ktu e l l Der Autor Vergangenheitspolitik mentalisierte die Abkehr von Kulturrevolution JunProf. Daniel Leese, Ph. D., ist und charismatischer Herrschaft für den eigenen Mitglied des Förderkollegs der Die Furcht vor charismatischen Führungspersön- Machterhalt. Bayerischen Akademie der Wis- lichkeiten und Verlust der eigenen Macht zählt senschaften und leitet das Pro- seit dieser Zeit zu den prägendsten Erfahrungen Die Furcht vor dem Machtverlust jekt „Zwischen Revolution und der Parteiführung. Unmittelbar nach Maos Tod Reform. Übergangsjustiz und im Jahr 1976 wurde die so genannte „Viererban- Die Auseinandersetzung mit der Vergangen- Herrschaftslegitimation in der de“ um Maos Frau Jiang Qing als Anstifter der heit erfolgte jedoch nicht nur auf symbolischer VR China“. Seit 2012 hat er eine Kulturrevolution festgenommen. Mao Zedong Ebene. Das Jahr 1978 markiert auch den Anfang Juniorprofessur für Geschichte wurde in einer Resolution zur Parteigeschichte einer in der Wissenschaft bislang kaum beach- und Politik des modernen China als Hauptverantwortlicher für diese Abweichung teten juristischen und administrativen Ausein- an der Universität Freiburg inne. vom „korrekten“ kommunistischen Entwick- andersetzung mit dem Erbe der maoistischen Er ist Autor von „Mao Cult: lungspfad benannt. In seinem Falle habe es Ära. Millionen von Altfällen wurden überprüft Rhetoric and Ritual in China’s sich aber, anders als bei der Viererbande, um und zahlreiche Opfer politischer Kampagnen Cultural Revolution“ (Cambridge politische Fehleinschätzungen, nicht um kri- rehabilitiert. Teilweise wurden auch Entschädi- UP 2011) sowie Herausgeber von minelle Vergehen gehandelt. Seine Leistungen gungszahlungen geleistet und Besitzansprüche „Brill’s Encyclopedia of China“ für Partei und Staat wögen schwerer als seine auf enteignete Objekte neu verhandelt. Die (Brill 2009). späteren Verirrungen. Eine Ent-Maoisierung Fallrevisionen trugen, gemeinsam mit der wirt- hätte die KPCh fraglos ihres zent- ralen Gründungssymbols beraubt. Nicht zuletzt deshalb wurde scharf zwischen Fehlern und Verbrechen unterschieden. Der „Viererbande“ hingegen wurde 1980/81 öffentlich der Prozess gemacht. Vor einem Sondertribunal, das vom Beispiel der Nürnberger Posthume Rehabilitationsur- und Tokioter Kriegsverbrecherpro- kunde aus dem Jahr 1983 (Kreis zesse inspiriert war, wurden die Hechi, Provinz Guangxi), die Angeklagten zu hohen Haftstrafen eine Entschädigungsleistung in verurteilt. Der Prozess fungierte Höhe von 220 Yuan für Begräb- als symbolische Abkehr von der niskosten und Pensionsansprü- zumeist mit dem Begriff „Rechtsni- che genehmigt. hilismus“ umschriebenen Willkür- herrschaft der Kulturrevolution. Er sollte die Bedeutung von Gesetzen und Verfahrensregeln für den Aufbau eines „so- schaftlichen Liberalisierung und der Beendigung zialistischen Rechtsstaates“ demonstrieren und der Klassenkampfrhetorik, erheblich zur Stabili- wurde daher medial verbreitet und in vielfältiger sierung der Parteiherrschaft bei. Form didaktisch eingesetzt. Eine öffentliche Diskussion und kritische wissen- Der Umgang mit dem Erbe des Maoismus in der schaftliche Bestandsaufnahme der maoistischen Reformperiode ist von besonderem Interesse, Verbrechen ist in der VR China bis heute jedoch weil es sich um einen der wenigen Fälle eines nur innerhalb enger Grenzen möglich. Dies liegt fundamentalen politischen Paradigmenwechsels zum einen an der Selektivität der Geschichtsauf- in sozialistischen Parteidiktaturen handelt. Es arbeitung: Während Mitglieder des alten Partei- kam nach 1978 zu einem radikalen Kurswechsel, establishments, die in der Kulturrevolution in die nicht aber zu einem Regimesturz. Angesichts Kritik geraten waren, beinahe ausnahmslos re- der maoistischen Schreckensherrschaft mit habilitiert wurden, setzte sich die Verfolgung der Opferzahlen im hohen zweistelligen Millionen- als „radikal“ eingestuften kulturrevolutionären bereich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Aufständischen bis in die späten 1980er Jahre die kommunistische Parteidiktatur bis heute fort. Überdies zeigten sich nur zu bald Kontinu- andauert. Es gelang der Partei jedoch, die Schuld itäten zwischen alter und neuer Parteidiktatur. für die Kulturrevolution einer kleinen Gruppe Kritiker des Regimes, die für eine Demokratisie- von Sündenböcken zuzuschreiben und sich selbst als Garant für eine Politik des „Nie Wieder“ darzustellen. Somit bewahrte die Partei nicht nur ihr Herrschaftsmonopol, sondern sie instru- 10 Akademie Aktuell 04-2012
A ktu e l l rung Chinas eintraten, wurden bereits ab 1979 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, nun auf Basis Akademientag 2012: Recht und Willkür des im Strafrecht verankerten Vergehens der „Konterrevolution“ (seit 1997: „Anstiftung zum Die acht in der Union zusammengeschlossenen deutschen Umsturz der Staatsgewalt“). Akademien der Wissenschaften laden einmal im Jahr zum Akademientag ein, um einer breiten Öffentlichkeit ihre Arbeit Der Schatten des Maoismus lastet, wie die ein- vorzustellen. gangs zitierten Ausführungen von Wen Jiabao Der diesjährige Akademientag, der unter der Federführung der deutlich machen, bis heute auf der KPCh. Das Akademie der Wissenschaften zu Göttingen am 18. Juni 2012 Schreckensbild der Kulturrevolution und die wirt- in Hannover stattfand, widmete sich dem Thema „Recht und schaftlichen Erfolge der Reformpolitik haben den Willkür“. In Vorträgen und Diskussionsrunden beleuchteten Konsens befördert, dass nur mittels geordneter Rechtswissenschaftler und Historiker dieses hochbrisante Generationswechsel innerhalb der KPCh nach je- Gegensatzpaar aus aktueller und historischer Sicht. Zusätz- weils zwei Amtsperioden eine Perpetuierung der lich gaben 12 Projekte aus den Akademien Einblicke in ihre Diktatur möglich ist. Um die Legitimationsgrund- Forschung. Den Beitrag der Bayerischen Akademie der Wissen- lagen der Parteiherrschaft nicht zu gefährden, schaften lieferte JunProf. Daniel Leese, seit 2011 Mitglied des wird eine genauere Analyse der Verstrickungen BAdW-Förderkollegs, mit seiner Präsentation zeitgenössischer von Parteimitgliedern auf unterschiedlichsten Dokumente und Bilder zum Erbe des Maoismus, die er gemein- Ebenen in die Verbrechen der Kulturrevolution sam mit einer Projektmitarbeiterin vorstellte. Der Tag endete unterbunden. Überdies soll verhindert werden, im Rahmen einer feierlichen Abendveranstaltung mit dem dass die Kulturrevolution mit ihrer anti-elitären Streitgespräch „Humanitäre Interventionen zum Schutz der und bürokratiefeindlichen Ausrichtung eine Menschenrechte?“. partielle Neubewertung erfährt und als Gegen- www.akademienunion.de/anlass/2012-06-18 modell zur gegenwärtigen Selbstbereicherung der Parteinomenklatura fungiert. Die kommende Führungsgeneration der KPCh ist maßgeblich während der Kulturrevolution als „Rotgardisten“ sozialisiert worden. Eine Bereit- schaft zur vertieften Auseinandersetzung mit der Geschichte lässt sich derzeit jedoch nicht erkennen. Komplexere Erklärungsansätze werden in der Öffentlichkeit nicht geduldet, die Archive bleiben geschlossen. Es existiert aber eine Fülle quasi-archivalischer Materialien, die neben internen Parteidokumenten, Gerichtsurteilen und Zeitzeugeninterviews Auskunft über diese Zeit geben. Anhand ausgewählter Fallstudien werden im Rahmen eines am Förderkolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Pro- jekts die Leistungen und Grenzen maoistischer Ver- gangenheitsbewältigung rekonstruiert und damit für vergleichende Forschungen zum Umgang mit dem Erbe diktatorischer Willkürherrschaft verfüg- bar gemacht. Und nicht zuletzt trägt die Entwir- rung der komplexen historischen Zusammenhänge zu einem besseren Verständnis der Hintergründe der aktuellen chinesischen Politik bei. n Personalakte aus einem administrativen Revisionsver- fahren aus dem Jahr 1978 (Kreis Heishan, Provinz Liaoning). 04-2012 Akademie Aktuell 11
P u b l i kati o n K l assisc h e Arc h ä olo gi e Antikes Städtewesen Das Forum von Pompeji Der zentrale Platz von Pompeji war lange Zeit das einzige vollständig ausgegrabene Beispiel eines römischen Forums überhaupt. Ein Vorhaben der Kommission für antikes Städtewesen liefert nun neue Erkenntnisse über die rege Bautätigkeit im antiken Pompeji. Der erste Band über die Ehrenbögen – eines der beliebtesten Fotomotive auf dem Forum – ist kürzlich erschienen. Von Vale nti n Ko c k e l 12 Akademie Aktuell 04-2012
K l assisc h e A rc h ä olo gi e Pu b li kati o n Abb. 1: Forum von Pompeji: Panorama von Südosten. Abb. 2: Rekonstruktion eines Teils des Forums von Carl Weichardt (1897). I m Ja h r 1 8 1 4 stie SS en die Ausgräber des Königs von Neapel endlich auf den zentralen Platz des antiken Pompeji, auf sein Forum. Bis dahin kannte man nur kurze Straßenstücke mit Häusern und das Theaterviertel. Es sollte aber Aus C. Weichardt, Pompei vor der Zerstörung, 1897, S. 67 noch einige Jahre dauern, bis die große Flä- che von den Verschüttungen durch den Vesuv freigelegt und die verstreuten Architekturteile „befreit“ waren. In diesem Zustand erlebten Generationen von Besuchern den Platz als das einzige vollständig ausgegrabene Beispiel eines Abb.: V. Kockel und D. Stante; römischen Forums überhaupt. Zahlreiche Künst- ler und Architekten zeichneten, vermaßen und dokumentierten seine Ruinen, versuchten auch sein ursprüngliches Aussehen zu rekonstruieren (Abb. 2). So fand das Forum seinen festen Platz 04-2012 Akademie Aktuell 13
P u b l i kati o n K l assisc h e Arc h ä olo gi e nicht nur in den Handbüchern zur antiken Architektur, sondern auch in der damals aktuellen Diskussion zum Städtebau, in der es gern als gelungenes Beispiel eines zentralen, monumentalen Platzes angeführt wurde. Der ungewöhnlich lang gestreck- te Platz (Abb. 3) wird im Norden durch einen großen, in die Fläche hineinragenden Tempel dominiert, der den römischen Hauptgöttern geweiht war. Zweigeschossige Portiken rahmen die Schmal- und Langseiten der gepflasterten offenen Fläche. Hinter den Hallen schließen sich wichtige öffentliche Bauten an: im Westen die Basilika und ein Heiligtum des Apollo; im Osten ein Macellum (Viktualien- markt), Anlagen für den Kaiserkult und andere Bauten unbestimmter Funktion; im Süden schließlich drei große Apsidialbauten, deren Funk- tion umstritten ist. Der offene Platz Abb. 4: Ansicht des Forums um 1870. selbst diente der Repräsentation der städtischen und der Reichseliten. Hier stand ein Heer von Ehrensta- tuen: Reiterstatuen lokaler Würdenträger immer konzentriert. Ehrenbögen rahmten den Tempel, gleichen Formats und großartigere Monumente und die Eingänge zum Platz selbst waren durch (für Quadrigen?), die wahrscheinlich den Ange- verschließbare Tore markiert. hörigen des Kaiserhauses gewidmet wurden. Die Fußstatuen einzelner Honoratioren waren Systematische Bergung dagegen in den Vorhallen der Randbebauung kostbarer Materialien nach 79 n. Chr. Schon die Ausgräber des Jahres 1814 hatten je- Abb. 3: Plan des Forums von doch bemerkt, dass sie kein Dornröschenschloss ausgruben, das völlig ungestört die Zeiten seit Abb.: Aus H. Eschebach, Stadtplan von Pompeji, 1970; Soprintendenza di Pompei, Archiv Pompeji mit angrenzender Bebauung (nach H. Eschebach). dem Vesuvausbruch überdauert hatte, der Pom- peji im Jahr 79 n. Chr. ein plötzliches Ende setzte. Anders als an anderen Stellen der Stadt fand man am Forum kaum noch Reste der aufwän- digen Marmorverkleidungen von Statuenbasen, Bögen und Fassaden, erst recht waren alle Bron- zestatuen abgeräumt worden, nur einzelne Fin- ger und Hufe bezeugten deren einstige Existenz. Es fehlten fast alle Inschriften, so dass die Basen auch stumm blieben. Selbst das hervorragende Kalksteinpflaster war an vielen Stellen herausge- rissen und abtransportiert worden. Eine derart systematische Ausraubung wird man kaum „pri- vaten“ Raubgräbern zutrauen, und deshalb denkt die Forschung heute an systematische, von der römischen Administration geplante Bergungen, von denen auch in den antiken Quellen indirekt 14 Akademie Aktuell 04-2012
K l assisc h e A rc h ä olo gi e Pu b li kati o n die Rede zu sein scheint. Die kostbaren Materia- tete Säulen seit den Ausgrabungen auf lien seien entweder in beschädigten, aber nicht dem Platz nur wenig verändert hatte. Es verschütteten Städten der Umgebung zur Res- zeigte sich aber ebenso, dass es seit den taurierung eingesetzt oder aber eingeschmolzen Plänen des frühen 19. Jahrhunderts kei- worden. ne Dokumentation der Befunde mehr gab, die modernen Ansprüchen genü- Die Wahrnehmung des Forums beschränkte sich gen konnte. Nach längerer Überlegung seit dem 19. Jahrhundert jedoch weitgehend auf wurde der Platz mit Hilfe der Fotogram- den Ist-Zustand im Moment der Verschüttung metrie, einem traditionellen optischen 79 n. Chr. Einzelne spätere Grabungen und sorg- Verfahren, vermessen und dafür Stein- fältige Baubeobachtungen hatten zwar belegt, platte auf Steinplatte gereinigt – was dass die heute sichtbare Randbebauung erst uns übrigens spöttische Bemerkungen nach und nach ältere, weniger repräsentative der Besucher über deutsche Reinlich- Bauten ersetzte, doch hatte nur Paul Zanker bis- keit einbrachte. Ein 3D-Laserscan, wie lang gezeigt, welches interpretatorische Poten- er mittlerweile gern verwendet wird, tial eine diachrone Interpretation der Befunde lag zwar vor, erwies sich aber nicht als haben könnte. Unter anderem wurde daran geeignet für unsere Fragestellung. Bei deutlich, wie sehr sich Neubauten sowohl inhalt- der Reinigung zeigte sich, dass zeitwei- lich wie architekturtypologisch an Vorbildern in se zwei Laufbrunnen rechts und links Rom selbst orientierten. des Tempels gestanden hatten und ein dritter (Abb. 7) im Süden des Platzes, alle Das Kommissionsprojekt drei später aber aufgegeben worden Abb. 5: (oben) Forum von waren. Reiter- und Fußstatuen waren aufgestellt Pompeji: Blick durch einen Unser Projekt setzt gegenüber dieser eher globa- und zugunsten anderer wieder abgerissen wor- Ehrenbogen auf den Platz und Abb.: V. Kockel und D. Stante (2) len Sichtweise im Detail an, in der Hoffnung, aus den. An anderen Stellen hatten sich die Statuen seine Pflasterung. der detaillierten Beobachtung von Veränderungen immer mehr in den Weg der Benutzer des Platzes an den Monumenten Schlüsse auf die komplexen gedrängt: loco frequentissimo, an einem beson- Abb. 6: Südosthalle des Forums Prozesse auf dem Forum selbst zu ziehen. Eine mit Angabe der neu gefunde- Überprüfung alter Ansichten und Fotos (Abb. 4) nen Basen und der Ausrichtung erwies, dass sich bis auf einige wieder aufgerich- der Ehrenstatuen. 04-2012 Akademie Aktuell 15
P u b l i kati o n K l assisc h e Arc h ä olo gi e Abb. 7: (li. u.) Spuren eines Brun- ders belebten Platz, sollten solche Ehrungen auf- Die Erweiterung des Forums nach Süden nens im Südwesten des Forums. gestellt werden. Ein Blick auf die Verteilung und Ausrichtung der Statuen in der Südosthalle (Abb. 6) Eine andere, politisch-administrativ begründe- Abb. 8: (re.) Fassade des sog. macht deutlich, wie sie sich gleichsam den Pas- te Veränderung des Platzes konnten wir im östlichen Verwaltungsbaus. santen zuwenden, die von Süden das Forum Süden des Platzes beobachten. Beim Reinigen Dunkler eingefärbt ist die Fli- betreten, und wie sie den wichtigsten Eingang des Südportikus trat das Fundament einer alten ckung nach den Erdbebenschä- in den Komplex bisher unbekannter Funktion im Umfassungsmauer zu Tage (Abb. 9). Nach dem den von 62 n. Chr. Der Pfeil zeigt Osten gewissermaßen zu beobachten scheinen. Ergebnis der darauf folgenden Sondagen unter auf die Ausnehmung für einen Auch wenn die inschriftlichen Zeugnisse fehlen, sehr unübersichtlichen Bedingungen – Strom- Stützbalken. überliefert doch die dauernde Veränderung der kabel verschiedener Zeiten störten die Arbeiten –, Konstellationen sehr anschaulich die Dynamik wurde das Forum gegen Ende des 1. Jahrhunderts Abb. 9: Grabungsschnitt mit einer im steten Wandel begriffenen städtischen v. Chr. nach Süden hin erweitert und dort die modernen Kabelbäumen, Gesellschaft. großen apsidialen Bauten errichtet. Dafür muss- römischem Kanal (unter der ten eine öffentliche Straße aufgegeben und drei Schrifttafel) und dem Funda- Ein Erdbeben und seine Folgen Hausparzellen gekauft oder enteignet werden. ment der alten Südmauer mit Abbildung 10 zeigt, welche Art von Häusern (rot) Steinmetzzeichen. Daneben fanden sich bei unseren Forschungen auf diese Grundstücke passen könnten – ihre auch zahlreiche Spuren für ein weiteres histori- Existenz konnten wir zwar nachweisen, nicht Abb. 10: Südteil des Forums mit sches Ereignis, das literarisch und archäologisch aber ihr genaues Aussehen. Die Funktion der hypothetischer Angabe (rot) der für Pompeji gut überliefert ist: Bereits im Jahr großen Hallen ist nicht bekannt, sie muss aber Häuser unter den großen Apsi- 62 n. Chr. hatte die Erde heftig gebebt – eine, wie für das Gemeinwesen von zentraler Bedeutung dialbauten der Kaiserzeit. man rückblickend sagen kann, Warnung vor dem gewesen sein, wenn für ihre Errichtung solche großen Ausbruch von 79. Die Pompejaner hatten Eingriffe in das Grundeigentum durchgesetzt jedoch in den Jahren danach ahnungslos überall wurden. Wenigstens zwei von ihnen könnten Hand angelegt, repariert und neu gebaut, und als Sitzungssäle (neuer?) städtischer Gremien das gilt auch für das Forum. So wurden nicht gedient haben, wie man schon immer annahm. nur offenbar beschädigte Statu- en abgerissen, sondern auch ein Ehrenbogen und dieser dann durch einen prächtigeren, weiter nördlich stehenden ersetzt. Gleichzeitig öffnete sich damit der Blick auf die neue prächtige Marmorfassade des Macellum. Allein dieser neue Bogen (Abb. 5) wurde in den wenigen Jahren bis zum endgültigen Unter- gang drei oder vier Mal umgebaut, um ihn zu verschönern oder in neu geschaffenen Nischen weitere Möglichkeiten zur statuarischen Repräsentation anzubieten. Im Sü- den errichtete die Stadtverwaltung zwei der drei großen Säle völlig neu, ließ die Schäden an dem östlich gelegenen dagegen nur flicken (Abb. 8). Über den Türen musste Der Autor das Ziegelmauerwerk erneuert Prof. Dr. Valentin Kockel lehrt werden, ein schräges großes Loch in der Fassade Im mittleren Saal tagten dagegen vielleicht die Klassische Archäologie an der rührt von einer provisorischen Abstützung dieser Augustalen, der Kaiserkultverein. Ihr Vereinsheim Universität Augsburg und ist Wand her. An einer anderen Stelle konnte durch wurde bisher in Pompeji noch nicht entdeckt. Geschäftsführer der Kommission die Kartierung der Beschädigungen im Pflaster Auch in diesem Bereich des Forums lassen sich zur Erforschung des antiken die Fallrichtung der Portikus-Säulen rekonstruiert bis zur Zerstörung Pompejis stete Veränderun- Städtewesens der Bayerischen werden. Auch die Wasserleitung wurde durch gen in der Organisation des Zugangs zu den alle Abb.: V. Kockel und D. Stante Akademie der Wissenschaften. das Erdbeben von 62 n. Chr. zerstört, was das Sälen beobachten. Sie können nicht allein auf Seine Forschungsschwerpunkte Verschwinden der Brunnen erklären kann. frühere Erdbebenschäden zurückgehen, sondern sind die römische Architektur müssen auch politisch-administrative Entschei- und Urbanistik, das römische dungen spiegeln. Verschiedene Ausnehmun- Porträt sowie die Rezeptions- gen in den Säulen können als Halterungen für geschichte der Antike. ephemere Absperrungen durch Gitter oder Stäbe 16 Akademie Aktuell 04-2012
K l assisc h e A rc h ä olo gi e Pu b li kati o n interpretiert werden. Wer durfte wann diese Räume betreten, wer nur hineinschauen? Fanden eigenen Bildnisses. Der fast hektisch erscheinende hier Gerichtsverhandlungen oder notarielle Rhythmus der Veränderungen bezeugt die Dyna- Beglaubigungen durch den zuständigen Beam- mik solcher Auseinandersetzungen, aber auch ten statt? Gab es Wahlveranstaltungen an dieser den hartnäckigen Wunsch nach steter qualitati- Stelle? Anders als wir es gewohnt sind, wurden ver Aufwertung der „guten Stube“ der Stadt. Der solche juristischen Verfahren in der relativ gro- Vesuv selbst verschüttete die letzte Baustelle: Im ßen Öffentlichkeit von Portiken verhandelt. Süden des Platzes stand im Sommer 79 ein tiefer Graben offen, in dem die neuen Bleirohre verlegt Raum – Zeit – Bewegung werden sollten. Dazu kam es nicht mehr: Der Bimsstein des Ausbruchs verfüllte den Graben. Das Forum von Pompeji bietet dank seiner guten Bei einem solchen Befund fühlt sich der Archäo- Erhaltung – und trotz der bereits antiken „Raub- loge dann wirklich wie der Prinz, der Dornröschen grabung“ – sehr gute Bedingungen für solche wachküssen darf. n archäologisch-historischen Überlegungen, die die aktuelle Forschung beschäftigen. Die erneute und veränderte Befragung alter und vermeintlich Literatur bekannter Befunde führt zu weiterreichenden Antworten, wenn gleichwohl manche Beobach- K. Müller und V. Kockel, Die Ehrenbögen in Pompeji (Studien tung letztlich nicht sicher gedeutet werden kann. zur antiken Stadt 10), Wiesbaden 2011, 140 S., 138 SW-Abb., 2 Taf., Auch ohne die leider verlorenen inschriftlichen ISBN 978-3-89500-817-7, 59,00 Euro Zeugnisse scheint es aber möglich, Einblicke in die tägliche Nutzung des Platzes zu bekommen, Das Forschungsvorhaben ist auf drei Bände angelegt. Es konnte in seine Aufteilung nach Funktionen, die Bewe- mit der ungewöhnlich großzügigen Erlaubnis der Soprintenden- gungen der Nutzer durch diesen Komplex und za Speciale per i Beni Archeologici di Napoli e Pompei (P. Guzzo) den Wettstreit der Eliten durch die Präsenz des durchgeführt werden und wurde durch die Kommission zur Erforschung des antiken Städtewesens, die DFG und die Fritz Thyssen Stiftung gefördert. 04-2012 Akademie Aktuell 17
P u b l i kati o n L iteratu rwissensc haft Mittelalterliche Handschriften Mit Bildern Geschichte schreiben Mittelalterliche Handschriften enthalten zahl- reiche Bilder. Sie treten mit dem Text in eine Wechselwirkung, bieten vielfach darüber hinaus- weisende Botschaften, akzentuieren die Aussage oder interpretieren sie sogar. Der „Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters“ macht der Forschung diese Informationen für eine Fülle unterschiedlichster Fragestellungen zugänglich. Ein besonderes Beispiel sind die illustrierten Schweizer Chro- niken des 15. und 16. Jahrhunderts, die jüngst bearbeitet wurden. Von K risti na Domanski Abb. 1: Dynamik des Kampfes: D ie „S chwei ze r Bilderchroniken“ des 15. 1. die gemeinsam von den Berner Ratsherren Die „Berner Chronik“ von und 16. Jahrhunderts stellen einen Höhepunkt Heinrich Dittlinger und Bendicht Tschachtlan Diebold Schilling zieht verschie- spätmittelalterlicher Geschichtsschreibung dar; 1470/71 verfasste „Berner Chronik“ mit 555 dene Schlachtenszenen in einer sie berichten ausführlich über die fulminanten Blättern und 230 kolorierten Federzeichnun- Ab-bildung zusammen. militärischen Erfolge der Eidgenossen – etwa ge- gen, die auf der Grundlage früherer chronika- gen die Habsburger Herrschaft oder den burgun- lischer Werke die Geschichte der 1191 gegrün- dischen Herzog. In den umfangreichen Kodizes deten Stadt bis in ihre Gegenwart enthält zeugt eine in diesem Genre beispiellose Fülle von (Zürich, ZB, Ms. A 120); Bildern vom erwachenden Selbstbewusstsein 2. die dreibändige, zwischen 1474 und 1483 ent- und den Machtansprüchen der städtischen Füh- standene „Berner Chronik“ Diebold Schillings rungsschichten. Diese Gruppe bildet daher einen mit ihren 889 Blättern und 612 kolorierten besonderen Schwerpunkt der Dokumentation Federzeichnungen, die den Text der Vorgänger mittelalterlicher Chronistik in deutschsprachigen um eine Schilderung der 1477 mit dem Tod Abb.: Burgerbibliothek, Bern, Mss. h.h. I. 1, S. 135 bebilderten Handschriften, die mit der jüngst Karls des Kühnen siegreich beendeten Burgun- erschienenen fünften Lieferung des Bandes 3 des derkriege erweitert (Bern, BB, Mss. h.h. I. 1-3); „Katalogs der deutschsprachigen illustrierten 3. die nach ihrem Aufbewahrungsort, dem Handschriften des Mittelalters“ (KdiH) abge- Schloss Spiez, benannte „Spiezer Chronik“, eine schlossen wurde. Im Einzelnen handelt es sich Bearbeitung der „Berner Chronik“ Diebold bei den Werken um: Schillings, die Rudolf von Erlach, ehemaliger Berner Bürgermeister, 1484 in Auftrag gab, mit 411 Blättern und 339 kolorierten Federzeich- nungen (Bern, BB, Mss. h.h. I. 16); 18 Akademie Aktuell 04-2012
Literatu rwissensc haft Pu b li kati o n 4. Diebold Schillings „Große Burgunderchronik“ Im „Katalog der deutschsprachigen illustrierten von 1480/84, eine umfangreiche Beschrei- Handschriften des Mittelalters“ werden die Chro- bung der Burgunderkriege, deren 562 Blätter niken mit kodikologischen Angaben – etwa Blatt- mit 198 kolorierten Federzeichnungen ausge- zahl, Format und Beschreibstoff – verzeichnet, stattet sind (Zürich, ZB, Ms. A 5); insbesondere aber werden Kriterien untersucht, 5. die zwischen 1511 und 1513 von Diebold die die Bildausstattung betreffen, wie Format Schilling d. J., dem Neffen des gleichnami- und Anordnung der Illustrationen, ihr Bildaufbau gen Berner Stadtschreibers, angefertigte und ihre Ausführung sowie schließlich auch die „Schweizer Chronik“, im Wesentlichen eine behandelten Bildthemen. Geschichte der Stadt Luzern von der Grün- dung im Jahr 503 bis 1509 mit 324 Blättern Konzeption und Ausführung der Handschriften und 443 Deckfarbenillustrationen (Luzern, ZHB, S 23) sowie Für ihr Gemeinschaftswerk hatten Heinrich 6. Werner Schodolers zwischen 1510 und 1532 Dittlinger und Bendicht Tschachtlan (1.) unter entstandene, dreibändige „Eidgenössische anderem auch auf eine um 1430 abgefasste Chro- Bilderchronik“ mit insgesamt 745 Blättern und nik des Berner Stadtschreibers Konrad Justinger 326 ausgeführten Illustrationen, die nach dem zurückgegriffen, die in mehreren Abschriften der Vorbild der „Berner Chronik“ Diebold Schillings zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert ist. die Geschichte Zürichs von den sagenhaften An- In einem der Exemplare (Jena, ThULB, Ms. El. f. 69) fängen bis zum Jahr 1525 umfasst (Bd. 1: Über- legen 265 vom Text ausgesparte Freiräume nahe, lingen, Leopold-Sophien-Bibliothek, Ms. 62, dass eine umfangreiche Illustration zwar geplant, Bd. 2: Bremgarten, Stadtarchiv, Ms. 2, Bd. 3: aber nicht ausgeführt wurde. Für das Phänomen, Aarau, Aargauer Kantonsbibliothek, MsZF 18). dass vorgesehene Bildzyklen nicht, nur teilwei- se oder in mehreren Etappen zur Ausführung Diese sechs Handschriften bilden dabei gewis- kamen, bietet auch Werner Schodolers dreibän- Abb. 2: Kriegsgeräte und sermaßen nur die Spitze des Eisbergs, denn zum dige Chronik (6.) ein Beispiel, denn dort sind die Waffentechnik in der „Berner einen entstand zeitgleich eine ganze Reihe wei- Illustrationen nur im zweiten Band ausgeführt Chronik“ von Heinrich Dittlinger terer Geschichtswerke, in illustrierter wie auch und koloriert worden. Im dritten Band wurden die und Bendicht Tschachtlan. nicht illustrierter Form, zum anderen wurden in Federzeichnungen zwar weitgehend fertig ge- Anlehnung an die spätmittelalterlichen Vorläufer stellt, die farbige Ausarbeitung jedoch unterblieb, Abb. 3: Kriegsgräuel: Die „Berner bis ins 17. Jahrhundert hinein weitere Abschriften im ersten Band hingegen blieben die Bildräume Chronik“ von Diebold Schilling angefertigt. bis auf zwei Ausnahmen ganz leer. zeigt die Folgen für die Zivil- bevölkerung. Abb.: Zentralbibliothek, Zürich, Ms. A 120, S. 454; Burgerbibliothek, Bern, Mss. h.h. I. 3, S. 259 04-2012 Akademie Aktuell 19
P u b l i kati o n L iteratu rwissensc haft Dass nur ein Schreiber wie der Berner Gerichtsschreiber Diebold Schilling oder der Bremgartener Ratsherr und Schultheiß Werner Schodoler den Text herstellte, für die Bildausstattung dagegen mehrere Illustratoren, Zeichner und Koloristen herangezogen wurden, stellt eher die Normalität als die Ausnahme dar. Die ältere Forschung neigte oftmals dazu, im Schreiber zugleich den Illustrator zu vermuten, zumal wenn Ersterer namentlich bekannt war. Doch lässt eine unvoreingenommene Betrach- tung der Bildausführung bei allen Chroniken die Beteiligung mehrerer Hände erkennen, seien es verschiede- ne Mitarbeiter einer Werkstatt oder voneinander unabhängige Künstler. Für die Bebilderung wurden bevor- zugt kolorierte Federzeichnungen verwendet, die in mehreren Ar- beitsschritten entstanden. Auf der Grundlage einer mit Silberstift oder dünner Feder angefertigten Skizze, die heute oftmals nur noch an den nicht übermalten, also unvollen- deten Stellen sichtbar ist, wurde Abb. 4: Dankgebet der Sieger eine detaillierte Federzeichnung des Laupenkrieges in der ausgeführt. Auf eine Kolorierung, „Spiezer Chronik“ des Diebold manchmal in mehreren Etappen Schilling. mit zunächst lavierendem, dann zunehmend intensiverem Farbauf- trag, folgte häufig eine nochmalige Präzisierung der zeichnerischen Details mit Feder zusammen, wie dies in den Schlachtendarstellun- und Tinte. Ausgewählte Partien wurden unter gen des 15. Jahrhunderts verbreitet ist, um Dynamik Umständen mit intensiven Deckfarben oder gar und Unmittelbarkeit zur erzeugen (Abb. 1). Pinselgold hervorgehoben. Selbst wenn Format und Bildgestaltung bzw. Bildaufbau beibehalten Bei Belagerungen zur Erstürmung von Burgen wurden, um die Einheitlichkeit des Gesamtwerks und Stadtmauern werden Kriegsmaschinen und zu wahren, lässt die zeichnerische Ausführung Waffentechnik ebenso vorgeführt wie ausgefalle- doch unterschiedliche Zeichenstile erkennen: ne militärische Strategien – etwa ein Überfall aus Gerade Partien scheinbar nebensächlicher Bild- dem Hinterhalt oder die Errichtung von Hindernis- elemente, die routinemäßig ausgeführt wurden sen. Meist sind dabei die Berner bzw. die von Bern und wenig inhaltliche Bedeutung besitzen, etwa angeführten Eidgenossen bei ihren siegreichen Abb.: Burgerbibliothek, Bern, Mss. h.h. I. 16, S. 282 Gewandfalten oder Bäume im Landschaftshin- Eroberungen zu beobachten, etwa bei der Erobe- tergrund, dienen dabei als Anhaltspunkte. rung von Aarau am 20. April 1415 in der Chronik Heinrich Dittlingers und Bendicht Tschachtlans Bildthemen: Krieg in allen Facetten (Abb. 2). Im Vordergrund bringen einige eidgenös- sische Soldaten neben dem Zeltlager außer einem Mit Ausnahme der „Luzerner Chronik“ (5.) zeigen Geschütz auch eine Steinschleuder in Stellung, die die Bildfolgen in erster Linie kriegerische Auseinan- bereits schwere Beschädigungen in der Stadt- dersetzungen in ihren diversen Etappen: vom Aus- mauer hinterlassen hat, wie an einem klaffenden zug bewaffneter Truppen über kleinere Gefechte Loch zu erkennen ist. Im Hintergrund ist ein Trupp und große Schlachten bis hin zu Flucht und Kapi- tulation. Die Illustrationen ziehen dabei oftmals un- terschiedliche Kampfszenen zu einer Darstellung 20 Akademie Aktuell 04-2012
Literatu rwissensc haft Pu b li kati o n Soldaten zu sehen, der versucht, vom Schiff aus derten Ereignisse verstärken, indem sie zuneh- über die Stadtmauer zu gelangen. Das Pärchen im mend eine veristische Darstellungsweise anstre- Vordergrund hingegen gehört zu jenen genre- ben. Zur Charakteristik der Bildgestaltung gehört haften Szenen, die zuweilen in die Illustrationendementsprechend die Darstellung von Menschen eingefügt werden. und Tieren in unterschiedlichsten Haltungen und Bewegungen, die es erlaubt, Handlungsabläufe Außer dem eigentlichen Kampfgeschehen zeigen nachzuvollziehen. Perspektivisch angelegte Archi- die Bilder auch Begleiterscheinungen des Krieges tekturen und Innenräume, bekannte städtische – etwa Beutezüge zur Beschaffung von Proviant, Bauten wie Stadttore, Brücken oder Rathäuser Brandschatzung und Plünderungen (Abb. 3). Den sowie Landschaften mit atmosphärischer Tiefen- Frevel und die Grausamkeit der Burgunder und wirkung sorgen ebenso für Wirklichkeitsnähe wie ihrer Gefolgsleute während der Burgunderkriege die Einbindung von Alltagsszenen oder die direkte schildert eine Illustration im dritten Band der Ansprache des Betrachters durch Gestik und Mimik. „Berner Chronik“ Diebold Schillings in kompri- Diese Suggestion von „Realismus“ wird gepaart mit mierter Form, indem sie die Ermordung zweier tradierten ikonographischen Formeln, die Würde, Kinder, die Gewalt gegenüber einer Frau und die Rechtmäßigkeit und Souveränität anzeigen, etwa Schändung der Kirchenschätze – hier mit dem Herrscherbilder, Gerichtsszenen oder die Aussen- Ausleeren eines Reliquiars – ins Bild setzt. dung von Boten. Selbst wenn die Texte weitgehend unverändert Bereits das Ausmaß der Bebilderung, bei der bleiben, können die Bildfolgen an die Vorstellun- jedem Abschnitt ein Bild zugeordnet ist, ver- gen der Auftraggeber angepasst werden, wie deutlicht, dass die Illustrationen als konstitutiver die im Auftrag des Altschultheißen Rudolf von Er- Bestandteil der Geschichtswerke zu betrachten lach angefertigte „Spiezer Chronik“ (3.) zeigt. Im sind: Die Auftraggeber bedienen sich der Bilder, Vergleich zu der für den Berner Rat angefertigten um die vermittels der Historiographie erhobenen Fassung erhält dort die Bebilderung des für die Ansprüche zu bestärken. Die „Berner Chroniken“ Familiengeschichte bedeutsamen Laupenkrieges und ihre Nachfolger reihen sich damit in eine (1339–1340) ein eigenes Titelbild und 39 zusätz- Entwicklung ein, die bereits einige Jahrzehnte liche Illustrationen. Die Serie von fünf ganzsei- früher an der „Augsburger Chronik“ Sigismund tigen Bildern zur entscheidenden Schlacht bei Meisterlins oder in der „Chronik des Konstanzer Wyden schließt zudem mit der Darstellung eines Konzils“ Ulrich Richentals zu beobachten ist. Dankgebetes der Sieger auf dem Schlachtfeld ab (Abb. 4). Inmitten eines Kreises von gefalle- In dem jetzt abgeschlossenen Band können dem nen Kämpfern und Reittieren kniet eine Gruppe Kreis illustrierter Chroniken zudem einige bis- Gewappneter, die von den Bannern der Truppen lang wenig bekannte Werke wie etwa Küchlins überragt wird – außer Bern sind Uri, Schwyz und „Reimchronik vom Herkomen der Stadt Augs- Solothurn auszumachen. Den vordersten Platz burg“, die „Braunschweiger Reimchronik“ oder unter ihnen nimmt der Berner Hauptmann Rudolf Johanns von Morschheim „Chronik der franzö- von Erlach ein, der unschwer an seinem spitzen sischen Könige“ hinzugefügt werden. Für eine Hut mit dem Familienwappen zu erkennen ist. Der detaillierte Untersuchung dieser Bilderfolgen in Die Autorin neue Schwerpunkt der Bildausstattung spiegelt in ihren diversen Facetten liefert der „Katalog der Dr. Kristina Domanski ist freie dieser Handschrift also das Bestreben des Auftrag- deutschsprachigen illustrierten Handschriften“ wissenschaftliche Mitarbeiterin gebers wider, durch die prominente Inszenierung mit seiner Dokumentation nun neu aufbereite- der Kommission für Deutsche des namensgleichen Vorfahren die Verdienste sei- tes Grundlagenmaterial. n Literatur des Mittelalters. ner Familie um das Wohl der Stadt hervorzuheben. Anspruch und Funktion der Illustrationen Literatur und WWW In den „Berner Chroniken“, die Heinrich Dittlinger Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften und Bendicht Tschachtlan, der Berner Rat und des Mittelalters, Bd. 3, Lfg. 5, hrsg. v. U. Bodemann, P. Schmidt Rudolf von Erlach bebildern ließen (1. bis 3.), stellt und Chr. Stöllinger-Löser. 26. Chroniken, bearb. v. U. Bodemann, sich die Geschichte der Stadt in Texten und Bildern K. Domanski, P. Schmidt, Chr. Stöllinger-Löser, München 2011, in erster Linie als dichte Folge militärischer Erobe- ISBN 978-3-7696-0933-2, 67,50 Euro rungen und Siege dar. Ähnliches gilt auch für die „Große Burgunderchronik“ Diebold Schillings (4.) www.dlma.badw.de/kdih und das deutlich spätere Werk Werner Schodo- lers (6.). Die den Werken beigegebenen Illustratio- nen, mit Hans Wegener treffend als „Ereignisbilder“ bezeichnet, sollen die Wahrhaftigkeit der geschil- 04-2012 Akademie Aktuell 21
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