BFB Bibliotheksforum Bayern
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BFB Bibliotheksforum Bayern Library goes Gaming Gaming Zone in der Stadtbücherei Geretsried 400 Jahre Universitätsbibliothek Würzburg Bibliothek für Universität, Stadt und Region seit 1619 Bayern zeigt seine Schätze Eine gemeinsame Ausstellung der regionalen Staatlichen Bibliotheken in München Heft 01 | 13. Jahrgang Februar 2019 ISSN 0340-000X Das Cover zeigt die Wandbemalung mit Mangafiguren in der neuen Gaming Zone der Stadt- bücherei Geretsried. Der Abdruck des Wandgemälde-Ausschnittes erfolgte mit freundlicher Genehmigung der beiden Künstlerinnen Julie Birnbauer, juliebirnbauer@gmail.com und Helena Martin, martinhelena9@googlemail.com.
Inhalt BFB Bibliotheksforum Bayern Liebe Leserin, lieber Leser, FORUM BIBLIOTHEKEN IN BAYERN „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ 27. Bayerischer Bibliothekstag am 19. und 20. September 2018 in Weiden/Oberpfalz 400 Jahre Universitätsbibliothek Würzburg Bibliothek für Universität, Stadt und Region seit 1619 Bücher besser hören! 60 Jahre Bayerische Hörbücherei e. V. Bildung funktioniert nur als Netzwerk Seit April 2018 gibt es das Büchereinetzwerk Ebersberg (Oberbayern). Wir baten Christina Walser, Leiterin der Gemeindebücherei Vaterstetten und eine der beiden Sprecherinnen des Netzwerks, um ein Interview. FORUM BIBLIOTHEKSPOLITIK Offene Bibliotheken, urbane Öffentlichkeit. Teil 1: Bibliothek als Wohnzimmer Welche Erwartungen haben wir an öffentliche Orte der Kultur? Wie können und sollen Städte neue Wissens- und Bil- dungsräume denken und gestalten? Welchen Anteil können und sollen Bürgerinnen und Bürger daran haben? Und wie organisiert man die Debatte über die Zukunft der Stadt? Was tun, wenn sich gesellschaftliche Bedürfnisse schneller verändern als die lokalen Strukturen? FORUM HISTORISCHE SCHÄTZE Bayern zeigt seine Schätze Eine gemeinsame Ausstellung der regionalen Staatlichen Bibliotheken in München Wertvolle Cartographica aus dem Bestand der Bayerischen Armeebibliothek in der BSB – Zur wechselhaften Geschichte der ehemaligen Wehrkreisbiblio- thek, Teil 2 Rund ein Drittel ist bereits digital zugänglich*. FORUM DIGITALE BIBLIOTHEK Library goes Gaming Implementierung einer Gaming Zone in der Stadtbücherei Geretsried FORUM ERSCHLIEßUNG
Projekt zur Tiefenerschließung illuminierter Handschriften französischer Pro- venienz an der Bayerischen Staatsbibliothek Beschrieben und kommentiert werden 437 Codices aus dem 10. bis 16. Jahrhundert. FORUM BENUTZUNG Laufend die Bibliothek entdecken Interaktive Bibliotheks-Rallyes mit Actionbound FORUM AUS- UND FORTBILDUNG aubib.de – Information bewegt die Welt Eine Plattform für den Fachbereich Archiv- und Bibliothekswesen FORUM ÖFFENTLICHKEITSARBEIT 50 Jahre und kein bisschen leiser … Rock-Konzert und Erinnerungen an ‚1968‘ in der Gemeindebibliothek Burgkirchen FORUM LESE- UND LITERATURFÖRDERUNG ViVaVostok: Neue Kinder- und Jugendliteratur aus Mittel- und Osteuropa im deutschsprachigen Raum Bericht über ein Förderprogramm der Internationalen Jugendbibliothek in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung „Entdecke deine Stadt“ Stadtsafari als erlebnispädagogisches Ganztagesangebot der Stadtbibliothek Straubing FORUM BIBLIOTHEK UND SCHULE Eine Auszeichnung für vorbildliche Bildungspartnerschaft Im Rahmen einer Festveranstaltung erhielten 67 Bibliotheken aus ganz Bayern das Gütesiegel „Bibliotheken – Partner der Schulen“. Lernen und Wissensvermittlung mit digitalen Medien Bearbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem 5. Bayerischen Schulbibliothekstag 2017 in Nürnberg FORUM AUS VERBÄNDEN UND KOMMISSIONEN „Volkshochschulen und Bibliotheken in der digitalen Welt“ Zweiter gemeinsamer Praxistag von bvv und BBV am 8. Oktober 2018 in Ismaning FORUM WAS LESEN SIE GERADE?
KURZ NOTIERT Bayern Aschaffenburg Augsburg Bamberg Bayreuth Elsenfeld Erlangen Fürstenfeldbruck Fürth Landshut München Nürnberg Volkach Würzburg TERMINE Bibliothekarische Fortbildung in BAYERN AUSSTELLUNGEN UND VERANSTALTUNGEN IMPRESSUM Herausgeber Redaktion Redaktionsbeirat Gestaltung Druck Abonnements AUTORINNEN UND AUTOREN Karin Bärnreuther Dr. Ulrike Bauer-Eberhardt Anke Buettner Dr. Klaus Ceynowa Eva Deeg Christine Faidt Georg Fisch Tanja Gehring Thomas Geigenberger Tina Grahl Dr. Thomas Horst Beatrice Iturralde Bluhme Franz Käßl Dr. Bernhard Lübbers Luis Moßburger Ute Palmer-Horn Christina Rammler Jens Renner Björn Rodenwaldt Hans-Günter Schmidt Dr. Carolin Schreiber
Liebe Leserin, lieber Leser, Das Bild zeigt Steffen Wawra die erste Ausgabe des Bibliotheksforums Bayerns in 2019 zeigt uns in unglaublicher Dichte die beeindruckende Tiefe und Breite der Präsenz all unserer Bibliothekssparten – die sich bei aller Verschiedenheit ihrer Zielrichtungen in einem verbindenden Merkmal finden: Antworten zu finden auf die drängenden Fragen unserer zunehmend digitaler, komple- xer und heterogener werdenden Welt. Bestes Beispiel hierfür ist der 27. Bayerische Bibliothekstag in Weiden – der unter dem Motto „Kernorte der Kultur und des kulturellen Erbes: Bibliotheken“ im September 2018 tagte und von Jens Renner in seinem Beitrag „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ trefflich als Parcours der Vielschichtigkeit unserer bayerischen Bibliothekswelten beschrieben wurde. Der Beitrag „400 Jahre Universitätsbibliothek Würzburg“ von Hans-Günter Schmidt führt uns mit großer Deutlichkeit vor Augen, dass dieses Jubiläum nur deswegen so gefeiert werden kann, weil es die Würzburger Kolleginnen und Kol- legen vermocht haben, traditionelle Services neu zu denken und innovative Dienstleistungen darauf zu setzen – und uns dabei immer wieder daran erinnern, dass wir diese Aufgaben gemeinsam am besten schaffen… Schluss zu machen mit dem allzu bescheidenen Understatement, mit dem sich die Öffentliche Bibliothek als „Wohnzim- mer“ minimiert und stattdessen Offensivkraft in die Gesellschaft strahlen zu lassen – das fordert Anke Buettner in ihrem Beitrag „Offene Bibliotheken, urbane Wirklichkeit“ im Rückblick auf die interdisziplinäre Tagung „Public! Debatten über Bibliotheken und urbane Öffentlichkeit“ an der Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig im Februar 2018. Eine Debatte, die man sicher auch an wissenschaftlichen Bibliotheken verstärkt führen sollte…. Inmitten all der weiteren kleinen und großen Schätze, die die vorliegende Ausgabe in sich birgt, strahlt ein Licht besonders hell: das der Ausstellung „Gott, die Welt und Bayern. 100 Kostbarkeiten aus den regionalen Staatlichen Bibliotheken Bayerns“ in der Bayerischen Staatsbibliothek, über die Bernhard Lübbers und Bettina Wagner in ihrem Beitrag „Bayern zeigt seine Schätze“ berichten. Sehr eindrucksvoll wird beschrieben, dass man hier bis Juli 2019 auf leichterem Wege, als das je sonst möglich war, eine Ahnung über die tatsächliche Reichhaltigkeit unseres bayerischen kulturellen Erbes erlangen kann. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht Ihnen Ihr Steffen Wawra
FORUM BIBLIOTHEKEN IN BAYERN „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ 27. Bayerischer Bibliothekstag am 19. und 20. September 2018 in Weiden/Oberpfalz Von Jens Renner Das Bild zeigt eine Außenansicht der Ostbayerischen Technischen Hochschule in Weiden mit der Skulptur eines Kopfes, die einen jungen Denker symbolisiert. Bildrechte: BSB/Matthias Groß 227 Anmeldungen entwaffneten die Befürchtungen all derer, die einem Bayerischen Bibliothekstag außerhalb der Me- tropolen begrenzte Erfolgschancen gaben. Nicht nur die Attraktivität der Stadt Weiden lockte eine so große Zahl an Teilnehmenden, auch die Ostbayerische Technische Hochschule und die Regionalbibliothek sind längst in ganz Bayern Aushängeschilder ihrer Sparte. Bernd Sibler, damaliger Kultusminister und 1. Vorsitzender des Bayerischen Bibliotheksverbandes e. V. (BBV), begrüßte als Veranstalter den fast vollständig gefüllten großen Hörsaal der Hochschule. Zum ersten Mal fand ein Bay- erischer Bibliothekstag an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften statt. Bernd Sibler stellte heraus, dass in Weiden Bibliothekarinnen und Bibliothekare arbeiten, „die Bibliothek nicht nur leben, sondern lieben“. Und weiter: „Die Bibliotheken in Bayern brauchen eine Lobby. Dies ist kein abwertender Begriff. Bibliotheken brauchen die Vertretung ihrer Interessen.“ In die Freude über das zentrale Treffen der Bibliotheksbeschäftigten aller Sparten mischte sich aber auch Trauer, als Sibler zu einer Gedenkminute für den ganz kurz vorher verstorbenen Lothar Thalmann aufforderte, der über 50 Jahre hinweg wie kaum ein anderer das bayerische Bibliothekswesen mitgeprägt hatte. Weidens Oberbürgermeister Kurt Seggewiß betonte die Aufgabe der Bibliotheken zur Vermittlung von Informatio- nen und Informationskompetenz, die im Zeitalter von Fake News gerade auch für die nachwachsenden Generationen immer größere Bedeutung erlangt.
Passend zum Motto des Europäischen Kulturjahres konnte Prof. Dr. Ferdinand Kramer von der Ludwig-Maximilians-Uni- versität München als Festredner gewonnen werden. Als Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sprach er aus berufenem Mund über „Europäisches Kulturerbe und Bayern“. Er stellte heraus, wie die großen Linien der baye- rischen Geschichte bis ins Mittelalter zurück immer wieder in einer europäischen Verflechtung zu verstehen sind. Dabei war Bayern kulturell immer ebenso ein Geber- wie ein Nehmerland. Bayerisches Bewusstsein ist also nur in einem europäischen Kontext ganz zu erfassen, der das kulturelle Erbe bewahrt und zugänglich macht. Hier haben Bibliothe- ken eine wichtige Funktion, beispielsweise auch mit Angeboten wie der Bayerischen Landesbibliothek Online und dem Internetportal bavarikon. Mit dem Bayerischen Bibliothekstag endete auch die Amtsperiode des Vorstands, weshalb die Mitgliederversammlung des BBV auf besonderes Interesse stieß. Der scheidende Vorsitzende Bernd Sibler brachte in seinem Rückblick den Auftrag der Bibliotheken zu qualitätsgeprüfter Informationsvermittlung auf den Punkt: Gerade in gesellschaftlich und politisch turbulenten Zeiten bieten weltweit Bibliotheken den Anker, damit sich Bürgerinnen und Bürger ihr eigenes und von Fakten getragenes Bild von der Welt machen können, denn: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Neben Sibler und der stellvertretenden Vorsitzenden Sabine Lutz endete auch für das Geschäftsführende Vorstands- mitglied Jens Renner die Tätigkeit im BBV. Als neuer Vorsitzender wurde der Landtagsabgeordnete Dr. Gerhard Hopp, als stellvertretender Vorsitzender der Oberhachinger Bürgermeister Stefan Schelle und als Geschäftsführer Georg Fisch von der Stadtbücherei Straubing einstimmig gewählt. Auf den ersten Blick mag es seltsam anmuten, wenn ein Oberstleutnant der Bundeswehr ein Impulsreferat auf einem Bibliothekstag hält. Volker Kozok, Beauftragter für den Datenschutz in der Bundeswehr, aber war der Magnet, den sich die Verantwortlichen erhofft hatten. Vor vollen Rängen gab er einen faszinierenden Insiderblick in die Welt des Darknets. Information und Desinformation mischen sich hier in bedenklicher Dichte. In beeindruckender Weise und anhand vieler aktueller Beispiele zeigte er, was hinter Hackerangriffen z. B. im US-Wahlkampf steckte und wie diese Täter vorgingen. Gerade die sogenannten Sozialen Medien sind für gezielte Falschinformationen interessant. Danach starteten weitere Vorträge in zwei Themenkreisen. Nummer 1 „Kulturelles Erbe bewahren“ informierte über kulturelle Kooperationsmodelle (Dr. André Schüller-Zwierlein), bavarikon (Dr. Klaus Ceynowa) und Digitalisierung mit Kitodo (Jutta Faust und Anna Roth). Themenkreis 2 „Die Bibliothek als Raum“ stellte Bibliotheksservices in Weiden (Sabine Guhl und Stefanie Grimm), das neue Philologicum der UB München (Lena Berg) und die Planungen für eine neue hochschulübergreifende Bibliothek mit massiver privater Finanzierung in Heilbronn (Michael Schanbacher) vor. Das Bild zeigt Staatsminister Bernd Sibler beim Grußwort. Bildrechte: OTH Weiden Kein Bayerischer Bibliothekstag ohne Firmenausstellung und ohne Festabend. Am Abend glänzte die Regionalbiblio- thek als Gastgeber mit ihrem einladenden Ambiente, exzellenten Speisen und eigens für diesen Anlass gebrautem und gebrandetem Zoiglbier. Der bekannte Oberpfälzer Mundartpoet Hubert Treml hatte nicht nur seine bereits veröffent- lichten Songs über die Höhen und Tiefen des Lebens dabei, sondern gleich ein halbes Dutzend neuer Lieder eigens für und über Menschen in Bibliotheken geschrieben. Sehr kenntnisreich und durchaus bissig, aber immer mit einem liebe- vollen Blick, nahm er die Vorlieben und Marotten des Berufsstandes in die Mangel, wofür er mit viel Lachen und noch mehr Applaus belohnt wurde. Am zweiten Tag hatte der Bibliothekstag erneut die Verbundkonferenz des Bibliotheksverbunds Bayern (BVB) zu Gast, setzte das eigene Programm aber auch mit einem dritten Themenkreis „Die Bibliothek als kultureller Raum“ fort. Besonders beeindruckte das Beispiel der Stadtbücherei Würzburg, die nicht nur auf einem ehemaligen Militärgelände den Flugtower in eine neue Stadtteilbücherei verwandeln konnte, sondern dies mit internationaler Planungsunterstüt-
zung, aber unter Einbeziehung von Bürgern der Stadt als Design-Thinking-Prozess für ein neues Bibliotheksdenken umsetzte. Gleich neben der neuen Stadtteilbücherei liegt die altehrwürdige Universitätsbibliothek. Deren Direktor Dr. Hans-Gün- ter Schmidt zeigte, dass gerade eine große Universitätsbibliothek ebenfalls neue Wege gehen kann. Zielgruppenspe- zifische Angebote zwischen Edutainment und Serious Adventure bringen Kinder, Schulklassen und interessierte Bürge- rinnen und Bürger niederschwellig und in peppiger Gestaltung in Kontakt mit der Unibibliothek. Ebenso kooperiert die Bibliothek mit den Lehrstühlen der Universität, um Szenen und Inhalte aus den Handschriftenschätzen der Bibliothek in ein digitales Adventure Game zu überführen. Außerdem gab es noch zwei Praxisberichte aus dem Bereich der öffentlichen Bibliotheken. Jörg Weinreich, Leiter der Stadtbibliothek Bayreuth, stellte die inklusive Artothek vor (s. auch BFB 12 (2018), Heft 2, S. 87 ff.). Über die „Bre- zenrunde“ in der Kreisbücherei Pfaffenhofen als niedrigschwelliges Kulturangebot berichtete Bibliotheksleiter Stephan Ligl. Tolles Wetter, perfekte Gastgeber, gute Atmosphäre und eine breite Palette an spannenden Themen ergaben zwei rundum gelungene Tage in Weiden – nicht nur für die stolze Zahl der angemeldeten Teilnehmenden, sondern auch für sechs weitere Kolleginnen und Kollegen, die der Attraktivität des Bibliothekstages spontan erlagen und auch ohne Anmeldung dabei sein wollten und konnten. DER AUTOR: Jens Renner ist Leiter der Hochschulbibliothek Ansbach.
FORUM BIBLIOTHEKEN IN BAYERN 400 Jahre Universitätsbibliothek Würzburg Bibliothek für Universität, Stadt und Region seit 1619 Von Hans-Günter Schmidt Bibliothek für Universität, Stadt und Region seit 1619 Weit, sehr weit reichen die Wurzeln der Universitätsbibliothek Würzburg zurück. Aus der Zeit der kurzlebigen Würz- burger Universitätserstgründung von 1402 sind allerdings zwar Bücher, doch kein wirklich belastbarer Beleg für eine organisierte Bibliothek überliefert, und auch noch 1582, bei der Wiederbegründung der Universität durch Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn, kamen die einzelnen Kollegien noch mit kleineren Büchersammlungen aus. Mit dem Jahr 1619 aber beginnt die kontinuierlich dokumentierte Geschichte der Bibliothek als zentrale universitäre Einrich- tung, und auch dies eher leise, ohne formellen Gründungsakt, doch ganz handfest: Die Rechnungsbücher der Univer- sität verzeichnen unter diesem Jahr Ausgaben für die Abtrennung von Räumen des großen Kollegienhauses für eine „Newe Bibliotheca“, die Anfertigung von „Buchkästen“ und Pulten und den Ankauf großer Nachlassbibliotheken, die als Grundbestand auf Pferdefuhrwerken in „Stübichen“ (Fässern) aus Augsburg und Eichstätt herantransportiert wurden. Der Beginn einer langen Geschichte, und tatsächlich hat Würzburg damit die älteste Universitätsbibliothek in ununter- brochener örtlicher Kontinuität in Bayern und eine der traditionsreichsten in Mitteleuropa. Seither hat die Bibliothek das Schicksal ihrer Stadt geteilt: die Plünderung durch die schwedische Armee König Gus- tav Adolfs im Dreißigjährigen Krieg, Eroberung und Beschießungen durch Franzosen und Preußen, die Säkularisation des Hochstifts mit dem „zweimaligen“ Anschluss an Bayern 1802/3 und 1814, unterbrochen von der kurzfristigen erneuten Selbständigkeit als Großherzogtum Würzburg, schließlich die fast totale Zerstörung in den letzten Tagen des Bombenkrieges des Zweiten Weltkriegs, am 16. März 1945. Zugleich hat „die UB“ aber auch, allen Umbrüchen und Katastrophen zum Trotz, das langsame Wachstum ihrer Universität über die Jahrhunderte begleitet, Aufstieg und Aus- greifen der Naturwissenschaften und der medizinischen Fakultät im 19. Jahrhundert, schließlich die Bildungsreformen nach 1960 mit ihren ganz anderen Notwendigkeiten der Informationsversorgung in einer „Massenuniversität“, die den Umzug aus dem Stadtzentrum in die neu errichtete Zentralbibliothek am Hubland, am Stadtrand Würzburgs, mit sich brachte. Mit einem Festakt am 2. Mai 2019 wird die Bibliothek nun auf ihre vierhundertjährige Geschichte zurückbli- cken, der Auftakt für ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm über das ganze Jahr hinweg sein wird. Die um 1900 angefertigte Schwarzweißaufnahme zeigt das Innere des Alten Bibliothekssaales in der Alten Universität, eines der ersten Auftragswerke des späteren Baumeisters der Würz- burger Residenz, Balthasar Neumann, vor der Zerstörung 1945. Bildrechte: Photo Gundermann
Feiern, was wir sind… Die UB Würzburg heute ist ein logistisches Großunternehmen, das knapp 26.000 eingetragene Benutzer mit Informa- tion für Forschung und Lehre versorgt. Sie ist mit allein 3,5 Millionen analogen Medieneinheiten die mit Abstand größte Bibliothek Unterfrankens. Historisch ererbt ist dabei das komplexe Netzwerk von Zentralbibliothek, 16 voll organisier- ten Teilbibliotheken und ca. 50 anderen Bibliotheksstandorten. Die Bibliothek wurde in den vergangenen Jahrzehnten stärker als je zuvor als Ort des Lernens, der Begegnung und des Austausches, sei es des studentischen oder allgemein kulturellen, wahrgenommen. Um die zwei Millionen Besuche verzeichnet die Universitätsbibliothek jährlich. Studenti- sche Petitionen fordern mittlerweile schon Öffnungszeiten rund um die Uhr, 24/7 an 365 Tagen im Jahr, und zu den 850 Arbeitsplätzen in der Zentralbibliothek 300 weitere hinzu – ein ad hoc kaum erfüllbares Desiderat, aber zugleich auch ein schönes „Kompliment durch die Hintertür“. Ebenso ererbt ist die Funktion als Regionalbibliothek für Unterfranken: Wo andernorts sich eine Universitätsbibliothek und eine regionale staatliche Bibliothek die Aufgaben teilen, sind an der UB Würzburg beide Funktionen vereinigt. Seit 1794 gibt es das Fach „Res Patriae“, das Bestand aus und über Franken sammelt und verzeichnet, heute als Auftrag der Abteilung Fränkische Landeskunde und der von ihr betreuten Unterfränkischen Bibliographie. Seit 1803 ist die UB Erbin des säkularisierten literarischen Kulturerbes der mainfränkischen Klöster und Stifte, seit 1840 hält sie das Pflicht- exemplarrecht für in Unterfranken verlegte Literatur. Beide Aspekte, den universitären und den regionalbibliothekari- schen, darzustellen und für die Ziele und die Bedeutung der Bibliothek heute zu sensibilisieren, ist das große Ziel des Jubiläumsjahres 2019. Denn die vielfach totgesagte Bibliothek ist aktiv, nachgefragt und zukunftsorientiert wie kaum je in ihrer langen Geschichte – und sie kann richtig Spaß machen. Das Farbfoto zeigt eine Außenansicht der 1981 bezogenen Zentralbibliothek am Hubland, ge- baut nach den Plänen des Architekten Alexander Freiherr von Branca, der u. a. auch die Neue Pinakothek in München und die UB Regensburg entwarf. Bildrechte: UB Würzburg Feiern, was wir (vielleicht besonders intensiv) tun Ohne eine professionelle Medien- und Informationsversorgung, gedruckt wie elektronisch, sind Studium und Spitzen- forschung nicht möglich. Die UB liefert diese Dienste kontinuierlich, auch unter schwieriger werdenden Etatbedingun- gen und stetig wachsenden Studierendenzahlen. Besondere Expertise hat die Bibliothek im Bereich der Fortentwicklung der elektronischen Erwerbungssysteme ausgebildet, die sie im Rahmen des Bibliotheksverbundes Bayern immer wieder einbringt. Seit vielen Jahren ist die Universitätsbibliothek zudem in das Curriculum vieler Studiengänge der Julius-Ma- ximilians-Universität integriert und bietet ein breites Angebot fachspezifischer Kurse zur Vermittlung von Informations- kompetenz an. Neben den primären universitären Zielgruppen nutzen auch Schülerinnen und Schüler die Angebote der Universitätsbibliothek. Seit 2007, seit wissenschaftliche Bibliotheken in die Prämierung einbezogen sind, ist die Würz- burger UB Dauerpreisträgerin des Gütesiegels „Bibliotheken – Partner der Schulen“, das besonders intensive Koopera- tionen zwischen Schulen und Bibliotheken würdigt. Auch Altbestandsvermittlung wird an der UB großgeschrieben: In verschiedenen, besonders adressatenbezogen kon- zipierten Veranstaltungen, sei es in Kooperation mit der örtlichen Volkshochschule, inklusionsorientierten Führungen oder Formaten, die sich speziell an Schüler und Kinder richten, etwa im Rahmen des vom Westdeutschen Rundfunk unterstützten „Maus-Türöffner-Tages“, wird das kulturhistorische Erbe vermittelt, niederschwellig und ohne Bildungs- dünkel. Eng mit dem kulturhistorischen Auftrag verbunden ist auch das zwischen 2004 und 2008 aufgebaute Digitalisierungs- zentrum der Bibliothek. In unterschiedlichsten Kooperationen wurde hier nicht nur eines der ersten Systeme für elek- tronische Semesterapparate aufgebaut, sondern auch im Segment der High-End-Digitalisierung anspruchsvolle, durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte und erfolgreich evaluierte Projekte durchgeführt, etwa die Digitalisierung der Handschriften der Würzburger Dombibliothek (http://libri-kiliani.eu). Dass diese Digitalisate über
OAI-Schnittstellen auch in die großen, spartenübergreifenden Meta-Portale wie die Deutsche Digitale Bibliothek und die Europeana transportiert werden, ist dabei ebenso selbstverständlich wie die besondere technische Kompetenz der Bib- liotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die neben klassischen Komplettsystemen auch modulare Groß- und Mittel- format-Scanback-Systeme betreiben. Ein Dienst, der sich besonders an die eigene Hochschule wendet, sind schließlich die UB-Publikationsservices, sei es über das Repository OPUS oder den Open-Access-Verlag Würzburg University Press (WUP). Mit einer Open-Access-Ver- öffentlichungsquote von zuletzt 24,1 Prozent sind die Bemühungen der Bibliothek hier ein substantieller Beitrag zur Veränderung der Publikationskultur im Wissenschaftsbereich. Wer sich über das breite Portfolio der Bibliothek einen Eindruck verschaffen will, sei neben den vielen Sonderveran- staltungen übers Jahr insbesondere auf den Tag der Offenen Tür am 3. Oktober 2019 verwiesen. Der Blick hinter die Kulissen und „über die Schulter“ der Kolleginnen und Kollegen gibt manchen vordergründig anonym ablaufenden Pro- zessen in der Bibliothek ein Gesicht. Familien erwartet zudem ein besonderes Programm mit Spiel und Spaß rund um das Thema Bibliothek, samt Glücksrad, Hüpfburg, Getränken und Speisen. Auf dem Foto sind die ausgebrannten Ruinen der Alten Universität 1946/47 zu sehen. Bild- rechte: UB Würzburg Das Foto dokumentiert den Neuanfang 1946 und zeigt den einzigen noch einigermaßen nutz- baren Bibliotheksraum, improvisierter Arbeitsplatz für acht Bibliothekare und Behelfsraum mit wenigen Bänden Handbibliothek. Bildrechte: UB Würzburg
Feiern, was wir haben Die wechselvolle Geschichte und die kulturgeschichtliche Bedeutung der Universitätsbibliothek spiegeln sich in ihren Sondersammlungen wider. Dabei kommt der Würzburger UB in Bayern eine Sonderrolle zu, haben doch der besondere Gang der Säkularisationsereignisse und die Umbrüche der napoleonischen Zeit dafür gesorgt, dass nur sehr wenige Sammlungsobjekte an die damalige Hof- und Staatsbibliothek, die heutige Bayerische Staatsbibliothek, nach München abgegeben werden mussten. Der auch über die Kriegskatastrophe 1945 gerettete, international bedeutende Bestand präsentiert sich heute noch mit u. a. 2.300 Handschriften, die bis in die Anfänge der abendländischen Buchkultur zurückdatieren, über 3.000 Inkunabeln und einer umfangreichen Grafiksammlung. Die Prunkstücke der Sammlung werden im Jubiläumsjahr erstmalig im Rahmen der Ausstellung „Elfenbein und Ewig- keit – Schätze aus 400 Jahren Universitätsbibliothek“ vom 2. Mai bis zum 30. Juni 2019 in dieser Zusammenstellung präsentiert. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Führungs- und Veranstaltungsprogramm begleitet sein. Feiern, was wir sein können – zusammen mit unseren Partnern Wenn der Blick zurück auch immer ein Blick nach vorn ist, so in der Gewissheit, dass Aufgaben und zu lösende Pro- bleme auch in Zukunft nicht ausgehen werden. Neue Partnerschaften und Kooperationsprojekte mit Bibliotheken, Archiven und Museen in der Region sind in Vorbereitung. Die Sanierung und Umgestaltung der Benutzungsbereiche der 1981 bezogenen Zentralbibliothek ist auf den Weg gebracht. Mit der „Besiedelung“ des Campus Hubland Nord, der aus der Konversion der ehemaligen Flächen der amerikanischen Leighton Barracks, vormals der Standort einer ganzen US-Division, resultiert, stellen sich grundlegende Raumordnungs-, Nutzungs- und Magazinfragen für die Bibliothek neu. Nicht zuletzt tritt das Dauerprojekt einer weiteren Homogenisierung der Teilbibliothekslandschaft erneut auf den Plan, diesmal unter den Auspizien der nach dem Buchdruck nun zweiten, digitalen Medienrevolution. Denn wenn eine Bibliothek im 21. Jahrhundert sich selbst feiert, dann feiert sie in Wahrheit zugleich die anderen Informationseinrich- tungen, mit denen sie Tag für Tag Dienste, Medien und Daten tauscht. Wir feiern also die Kollegen in der Verbundzen- trale des BVB in München mit, wir feiern Kolleginnen und Kollegen in Potsdam, Tübingen, Marburg, Frankfurt am Main und Berlin. Wir feiern die französischen Kollegen, wenn wir ein Digitalisat über das europäische Kulturportal Europeana anklicken, das die Bibliothèque Nationale de France ins Netz gestellt hat, und wir feiern die Kollegen in Dublin, Ohio, wenn wir unseren Bestand im WorldCat mit dem anderer Bibliotheken weltweit abgleichen. Wo andernorts die Schlag- worte Globalisierung, Digitalisierung, Cloud-Services, kollaborative Dienste häufig noch inhaltsleere Schlagwörter sind, sind sie in unserem Metier längst alltägliche Realität, Errungenschaften, die man mit deutlich mehr Selbstbewusstsein gegenüber Öffentlichkeit und Politik, ja mitunter auch gegenüber der eigenen Einrichtung vertreten kann und muss. Das Jubiläumsjahr der Universitätsbibliothek Würzburg 2019 soll die Bühne sein, auf der man sich dieser Phänomene und Möglichkeiten in ihrer Gesamtheit und mit ihren vielen Facetten bewusst werden kann. Zumindest aber ist der 400-jährige Geburtstag eine Einladung, an den Main, ins schöne Würzburg zu kommen, sich über seine größte Biblio- thek zu informieren – und mit uns zu feiern! Die Abbildung zeigt den elfenbeingeschmückten Prachteinband des ursprünglich aus dem 6. Jahrhundert stammenden sogenannten Evangeliars des Heiligen Kilian, eine der bekanntes- ten Handschriften der UB Würzburg. Bildrechte: UB Würzburg
Geschichte der UB Würzburg im Überblick 1619 Gründung unter Fürstbischof Johann von Gottfried von Aschhausen. Seitdem gibt es kontinuierlich eine Bibliothek als zentrale Einrichtung der Universität, seit 1850 mit hauptberuflichen Bibliothekaren. 1631-34 Teile des Gründungsbestandes werden im Dreißigjährigen Krieg zusammen mit der berühmten Hofbibliothek des Fürstbischofs Julius Echter als Kriegsbeute nach Schweden und England verbracht. Nach dieser Zäsur wird die Bib- liothek Anfang des 18. Jahrhunderts reorganisiert. 1803 Die Säkularisation beschert der Bibliothek eine wahre Bücherflut, als die Kloster- und Stiftsbibliotheken des mainfränkischen Raumes aufgelöst und deren wichtigste Bestände an die Universitätsbibliothek abgegeben werden. Die UB wird damit Erbin der Buchkultur im unterfränkischen Raum, die bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht. 1945 Am 16. März 1945 wird ein Großteil der Stadt Würzburg bei einem Bombenangriff zerstört. Auch das Gebäude der Universitätsbibliothek brennt völlig aus, der Bestand wird zu 80 % vernichtet, alle Kataloge verbrennen. 1981 Bezug des von Alexander von Branca entworfenen Neubaus am Hubland, verbunden mit einer grundlegenden Modernisierung, wenig später der Einführung der Bibliotheks-EDV, 2003 der Digitalisierung. DER AUTOR: Dr. Hans-Günter Schmidt ist Leiter der Universitätsbibliothek Würzburg.
FORUM BIBLIOTHEKEN IN BAYERN Bücher besser hören! 60 Jahre Bayerische Hörbücherei e. V. Von Ruth Tiedge Allein in Bayern leben über 80.000 von Sehverlust Betroffene. Häufig ältere Menschen, denn viele Augenleiden wie Altersbedingte Makuladegeneration oder Grüner Star sind Alterskrankheiten. Die Betroffenen können nur einge- schränkt am kulturellen Leben teilnehmen. Für diese Menschen engagiert sich die Bayerische Hörbücherei für Blinde, Seh- und Lesebeeinträchtigte e. V. (BHB, vormals Bayerische Blindenhörbücherei) nun schon seit 60 Jahren. Öffentliche Bibliotheken bieten sehschwachen Menschen zwar Hörbücher zur Ausleihe an, doch leider ist das Angebot überschaubar, der Titelbestand vergleichsweise klein und oft auf den Unterhaltungssektor beschränkt. Wichtige Berei- che, wie zum Beispiel Sachliteratur, Ratgeber oder Biographien, werden kaum oder gar nicht bedient. Hinzu kommt: Viele dieser Hörbücher sind als gekürzte Fassung eingelesen. Ende 2017 intensivierten deshalb die Bayerische Hörbücherei, welche über ein Literaturprogramm von rund 40.000 Hörbüchern verfügt, und die öffentlichen Bibliotheken ihre Zusammenarbeit. Unter dem Motto „Inklusion in Bayerns Bibliotheken. Hörbücher für Menschen mit Sehschwäche“ verfolgten die beiden Partner das Ziel, blinden oder sehbe- einträchtigten Menschen in ganz Bayern ein größeres und besseres Literaturangebot zugänglich zu machen Jubiläumstournee vom Main bis an die Isar 60 Jahre im Dienste der Gesellschaft, doch leider bei Betroffenen und in deren sozialem Umfeld nur bedingt bekannt: höchste Zeit, dies mit einer Jubiläumstournee durch Bayern zu verändern. So nahm die Hörbücherei ihr Jubiläum zum Anlass, sich in allen Bezirken Bayerns zu präsentieren und gemeinsam mit Kooperationspartnern sowie Hörerinnen und Hörern im Herbst 2018 das 60-jährige Bestehen zu feiern. Bayreuth, Regensburg, Würzburg, Mainkofen bei Deg- gendorf, Augsburg und München waren die Stationen. Ein Festakt im Nürnberger Literaturhaus bildete den feierlichen Abschluss. „Vor 60 Jahren sprachen wir die Hörbücher noch im Nebenzimmer auf und schickten Spulentonbänder nach Hause. Heute produzieren wir in eigenen, hochmodernen Studios und ermöglichen sehbeeinträchtigten Menschen sogar die kostenlose Download-Ausleihe“ , beschreibt die Geschäftsführerin den Wandel ihrer Arbeit. „Unsere Hörerinnen und Hörer werden immer mediensicherer und legen Wert darauf, Literatur konsumieren zu können, wann, wo und wie sie es wollen. Dies zu ermöglichen, ist ein wichtiger Teil der Inklusionsarbeit, der wir uns verpflichtet fühlen.“ Und ergän- zend: „Hierbei spielt die Kooperation mit Bayerns Bibliotheken eine entscheidende Rolle.“ Kooperation mit Bibliotheken soll 2019 ausgeweitet werden Die in 2017 gestartete Partnerschaft zwischen der Bayerischen Hörbücherei und örtlichen Bibliotheken ist eine sehr wichtige Säule, um möglichst vielen Betroffenen, aber auch deren Angehörigen das kostenlose Hörbuchangebot näher- zu-bringen. Viele Menschen fühlen sich von einer Einrichtung für behinderte Personen nicht angesprochen. Gleichwohl kann jeder, der aufgrund seiner Sehbeeinträchtigung keine gedruckten Bücher mehr lesen kann, unser Angebot nut- zen. Und ist im Nachhinein sehr dankbar dafür! Mit Hilfe der öffentlichen Bibliotheken haben wir die Chance, Sehbehin- derte sowie deren Freunde und Verwandte umfangreich zu informieren. Und wir können ihnen vor Ort die neuen Wege zur kulturellen Teilhabe persönlich erklären. Deshalb will die BHB-Geschäftsführerin die Bibliotheks-Kooperationen im kommenden Jahr unbedingt ausbauen. Und wünscht sich, mindestens 100 weitere Partner zu gewinnen. Auch für die Bibliotheken ist diese Art von Beratung natürlich neu, wenngleich die BHB alles tut, um die Erklärungs- arbeit der Bibliotheken zu vereinfachen. Es gibt Flyer, welche den Prozess der Hörbuchausleihe erklären; Poster, die auf das neue Angebot aufmerksam machen; und vorbereitete Pressemitteilungen, welche den örtlichen Medien zuge- spielt werden können. Außerdem hat die BHB eine spezielle Webseite für Bibliotheken eingerichtet, welche den Umfang und den Ablauf der Kooperation erklärt. Natürlich gibt es auch telefonisch Beratung, wenn eine Bücherei Unterstützung braucht. Wir sind uns dessen bewusst, dass es für die Bibliothekare und Bibliothekarinnen einen gewissen Mehraufwand bedeu- tet. Und wir sind auch immens dankbar für jede Bibliothek, die sich gemeinsam mit uns für die gute Sache engagiert. Aber wenn Sie einmal in das freudenstrahlende Gesicht eines sehbehinderten Menschen geblickt haben, der endlich wieder grenzenlos am literarischen Angebot teilhaben kann, dann werden Sie sofort erkennen, dass sich dieses biss- chen Aufwand lohnt.
Das Bild zeigt Dr. Günther Denzler, Präsident des Bezirkstags Oberfranken, bei der Jubiläums- feier in Bayreuth. Bildrechte: BHB Das Bild zeigt den Schauspieler Klaus Haderer – einen bewährten Sprecher der Bayerischen Hörbücherei im Studio. Bildrechte: BHB So läuft der Prozess Die örtliche Bibliothek informiert interessierte Leser über das zusätzliche Hörbuchangebot und hilft auf Wunsch bei der Anmeldung zur Hörbücherei. Kunden der örtlichen Bibliotheken können das Hörbücherei-Angebot direkt vor Ort nutzen. Dazu ist es notwendig, dass sich sehbeeinträchtigte Interessenten über die kooperierende Bücherei für den Service in der Hörbücherei anmelden. Dann erhalten sie nach wenigen Tagen Zugangsdaten zur Ausleihe zugeschickt.
Die Nutzung der Hörbücherei ist kostenfrei und unterliegt keiner Mindestausleihe. Die Auswahl und Bestellung der Wunschtitel besorgt der Nutzer selbstständig oder mit Unterstützung seiner Bibliothek, z. B. über die Homepage der Hörbücherei: www.bbh-ev.org. Außerdem steht der telefonische Service der Bayerischen Hörbücherei unter 089/121551-0 jederzeit für Beratung zur Verfügung. Sämtliche Ausleihvorgänge – wie Verbuchung und Versand – werden durch die Hörbücherei gesteuert. Für die öffentli- che Bibliothek entsteht kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand. Infoseite für Bibliotheken Auf der Homepage der Hörbücherei steht ein Inklusionsbereich für Bibliotheken zur Verfügung: www.bbh-ev.org/biblio- theken Spendenkonto Empfänger: Verein zur Förderung der Bayerischen Hörbücherei für Blinde, Seh- und Lesebeeinträchtigte e. V. Hypo- Vereinsbank München IBAN: DE 30 70020270 000 2459230 BIC: HYVEDEMMXXX DIE AUTORIN: Ruth Tiedge ist Geschäftsführerin der Bayerischen Hörbücherei e. V.
FORUM BIBLIOTHEKEN IN BAYERN Bildung funktioniert nur als Netzwerk Seit April 2018 gibt es das Büchereinetzwerk Ebersberg (Oberbayern). Wir baten Christina Walser, Leiterin der Ge- meindebücherei Vaterstetten und eine der beiden Spreche- rinnen des Netzwerks, um ein Interview. Das Bild zeigt Robert Niedergesäß, Landrat des Landkreises Ebersberg, mit Autorin Christina Walser vor Buchregalen in der Gemeindebücherei Vaterstetten. Bildrechte: Gemeindebücherei Vaterstetten. Frau Walser, würden Sie uns bitte kurz den Landkreis Ebersberg und seine Büchereilandschaft vorstellen? Der Landkreis Ebersberg ist sowohl hinsichtlich der Fläche als auch in Bezug auf die Einwohnerzahl ein eher kleiner Landkreis im Speckgürtel von München. Allerdings ist die Büchereidichte mit 17 öffentlichen Einrichtungen relativ hoch. Es gibt mit Vaterstetten und Grafing b.München recht gut ausgestattete Häuser mit 25.000 bis 30.000 Medieneinheiten ebenso wie mit Oberpframmern oder Forst-inning eher kleine, mit nur wenigen Öffnungsstunden in der Woche. Der Landkreis ist stolz auf seine Position in Sachen Bildung (2011: Rang 3 von 144 im Deutschen Lernatlas in der Ver- gleichsgruppe „verdichtetes Umland“). 2013 wurde aus diesem Selbstverständnis heraus die Beteiligung an der Initiative „Bildungsregion Bayern“ der Staats- regierung gestartet. Zwei Jahre dauerten die Vorbereitungen und die Bewerbungsphase. Seit 2015 sind wir eine quali- fizierte „Bildungsregion“, was aber nicht vorrangig als Anerkennung für die Vergangenheit verstanden wird, sondern als Auftrag zur Weiterentwicklung. Die Büchereien waren an der Erarbeitung des Themenbereichs „Lernen ein Leben lang“ beteiligt. Wie entstand die Idee, die Zusammenarbeit der Büchereien zu intensivieren? Gemeinsame Aktivitäten gab es ja bereits in der Vergangenheit. Seit 2014 haben die Ebersberger Büchereien eine gemeinsame Veranstaltungswoche, die unter einem Leitthema die unterschiedlichsten Aktionen anbietet: Lesungen, Ausstellungen, Filmvorführungen, eigene Hörbuchproduktionen, Aus- flüge und vieles andere hatten wir schon im Programm. Dabei haben wir unsere Vorbereitungstreffen nicht nur für die Veranstaltungen genutzt, sondern immer mehr auch besprochen, was im Alltag gerade anstand. Plötzlich waren wir mitten in der „Flüchtlingswelle“ und jeder musste sich den Anfragen, die ja auch auf die Büchereien eingestürmt sind, stellen.
Also haben wir versucht, gemeinsam eine Linie zu finden. Danach ging es mit der Leseförderung weiter. Wir wollten diese gegenseitige Unterstützung ausbauen, weit über die Organisation einer Veranstaltungswoche hinaus. Dann wurde der Bayerische Bibliotheksplan veröffentlicht, der ja explizit die Kooperation fordert. So entstand die Idee, unsere Zusammenarbeit zu institutionalisieren. Erfuhren Sie Unterstützung seitens des Landratsamts? In die Zertifizierung des Landkreises zur Bildungsregion hat unsere Idee wunderbar hineingepasst. Das Landratsamt stand uns schon in der Planungsphase und auch jetzt noch mit Rat und Tat zur Seite – und auch mit finanzieller Unter- stützung in Form einer Anschubfinanzierung für den gemeinsamen Katalog. Der Landrat öffnet uns Türen, wo er nur kann. Wir konnten das Büchereinetzwerk in einer Bürgermeisterdienstbesprechung präsentieren und so alle Kommu- nen mit ins Boot holen. Genauso, wie wir beim Schulleitertag die Maßnahmen des Netzwerks für die Schulen vorstellen konnten. Gründungsmitglieder sind Büchereien aus den Arbeitsbereichen der Staatlichen Landesfachstelle für das öffentliche Bibliothekswesen und des Sankt Michaelsbundes? Gab es da Berührungsängste? Berührungsängste haben wir schon vor langer Zeit abgebaut. Schließlich arbeiten wir ja schon seit vielen Jahren erfolgreich bei unserer gemeinsamen Veranstaltungswoche zusammen. Dass wir zu verschiedenen Fachstellen gehö- ren, merkt man höchstens an kleinen Formalitäten: Es gibt beispielsweise unterschiedlichen Umgang mit Fördergel- dern. Was beinhaltet die Kooperationsvereinbarung? Als Ziel sieht die Vereinbarung eine stärkere Vernetzung der Büchereien im Landkreis vor. Dies soll durch den gemein- samen Katalog und einen Leihverkehr untereinander, aber auch durch gemeinsame Veranstaltungen, koordinierte Leseförderangebote oder Angebote für besondere Zielgruppen realisiert werden. Festgeschrieben sind auch eine vier- teljährliche Konferenz und die Unterstützung durch das Landratsamt. Wie erfolgen Koordination und Absprachen? Wer vertritt das Netzwerk nach außen? Im Gründungsjahr treffen wir uns recht häufig. Solange der gemeinsame Katalog noch nicht realisiert ist, ist einfach sehr viel abzustimmen. Vielleicht wird das in Zukunft mal weniger. Ansonsten klären wir natürlich viel auf direktem Weg per Mail oder telefonisch. Die Außenvertretung liegt bei den Büchereien Grafing und Vaterstetten. Uns war hier wichtig, dass diese Aufgaben von je einer kommunalen und einer Michaelsbund-Bücherei übernommen werden. So haben wir beide Fachstellen im Boot. Sie haben sogar ein eigenes Logo. Damit wir nach außen mit einem einheitlichen Gesicht auftreten können, wollten wir ein gemeinsames Logo für Flyer, Plakate etc. Das Landratsamt hatte die Idee, dazu einen Schulwettbewerb auszurufen. Mit deren Unterstützung haben wir alle Schulen im Landkreis aufgerufen, sich zu beteiligen. Die Resonanz war überwältigend. Die Jury – prominent besetzt, u. a. mit Bürgermeistern und Landtagsabgeordneten – musste am Ende aus über 50 Beiträgen auswählen. Beteiligt haben sich von der Förderschule bis zum Gymnasium alle Schularten. Die Klasse, aus der der Siegerentwurf kam, hat einen Airbrush-Workshop gewonnen. Welches konkrete Vorhaben wurde als erstes angepackt? Wir haben als allererstes unsere Klassensätze zusammengelegt. Ein paar Büchereien hatten zuvor wenige Titel in Klas- senstärke, die bei den Schulen am eigenen Ort irgendwann „durch“ waren. Jetzt haben wir den Bestand des ganzen Landkreises zusammengefasst und können allen Schulen alle Titel anbieten. Den Transport vom jeweiligen Standort an die Schule organisieren die Büchereien. So können wir nun auf einen Pool mit über 50 verschiedenen Titeln zugreifen. Wir haben die Klassensätze aufbereitet, wo nötig ergänzt, damit sie auch von großen Klassen genutzt werden können, Lehrermaterial organisiert und in praktische Transportkisten verpackt. Inzwischen haben uns einige Schulen sogar ihre Bestände übergeben, damit wir sie in den Pool aufnehmen. Wie sehen die weiteren Planungen aus? Im Moment laufen die Planungen für eine Kooperation mit der Bayerischen Hörbücherei. Um die Zusammenarbeit bekannt zu machen, organisiert das Büchereinetzwerk Ebersberg gerade einen Aktionstag im Oktober unter dem Motto „Lesefreude trotz Sehschwäche“: Büchereien und die Hörbücherei präsentieren sich mit ihren Angeboten. Außerdem werden wir von Optikern und Sanitätshäusern unterstützt, die Hilfsmittel und Lesegeräte für Sehbehinderte vorstellen. Es wird Mitmach-Stationen geben, die von den Aktionskoffern der Christoffel-Blindenmission bestückt werden, und eine Hundetrainerin erklärt ihre Arbeit. Zum Abschluss gibt es eine Lesung mit einem Sprecher der Bayerischen Hör- bücherei. Für 2019 steht dann die Umsetzung des gemeinsamen Katalogs an. Das gehen die Kolleginnen dann allerdings ohne mich an, da ich im September 2018 zur Münchner Stadtbibliothek gewechselt bin und mich dort nun um die Sozialen Bibliotheksdienste kümmere. INTERVIEW: Franz Käßl (Redaktion BFB)
FORUM BIBLIOTHEKSPOLITIK Offene Bibliotheken, urbane Öffentlichkeit. Teil 1: Bibliothek als Wohnzimmer Welche Erwartungen haben wir an öffentliche Orte der Kul- tur? Wie können und sollen Städte neue Wissens- und Bil- dungsräume denken und gestalten? Welchen Anteil können und sollen Bürgerinnen und Bürger daran haben? Und wie organisiert man die Debatte über die Zukunft der Stadt? Was tun, wenn sich gesellschaftliche Bedürfnisse schneller verändern als die lokalen Strukturen? Von Anke Buettner Im Rückblick auf die interdisziplinäre Tagung „Public! Debatten über Bibliotheken und urbane Öffentlichkeit“ im Feb- ruar 2018 in der Münchner Stadtbibliothek möchte ich die von Sonja Beeck gestellte Frage: „Sind Bibliotheken eher Straßen als Wohnzimmer?“ weiterdenken. In ihrer Public!-Keynote wählte Sonja Beeck Giambattista Nollis La Nuova Topografia di Roma (1748) als Ausgangs- punkt. Der Schwarzplan Roms blendet Planelemente wie Straßennamen, Vegetation oder Gewässer aus und stellt die Unterscheidung von bebauter und unbebauter Fläche in den Vordergrund. Kirchen werden darin als weiße Flächen, will heißen als öffentliche Räume dargestellt. Sie werden damit Straßen gleichgesetzt, die, im Plan betrachtet, die Kirchen umfließen, aber sie auch wie Buchten auszufüllen scheinen. Beeck verglich Kirche und Stadtbibliothek in ihrer Funktion und kam zu der These, dass die Bibliothek weniger als Wohnzimmer, denn als Straße betrachtet werden könnte. Als öffentliches Gebäude im Sinne Nollis, das sich elastisch mit der urbanen Umgebung verbindet und das der Stadtbevöl- kerung als positiver Ort der „vibrierenden Stille“ diente. Wohnzimmer für alle Die „Bibliothek als Wohnzimmer für alle“ ist ein emotionales Bild. Ein Bild, das die soziale Rolle und den menschlichen Kontakt in den Vordergrund stellt. Es hebt darauf ab, dass man in der Bibliothek nicht mehr leise sein muss, es aber doch einigermaßen geregelt zugehen sollte. Es steht zudem für einen diskret formulierten Anspruch auf ordentliche und geschmackvolle Innenausstattung. Als Wohnzimmer gedacht grenzt sich die Bibliothek deutlich ab von der Aus- leihe, Ausleihstelle oder Büchertankstelle und baut so eine zwischenmenschliche Distanz ab, die auch in Bezeichnun- gen wie „bibliothekarische Dienstleistung“ steckt. Vier (enge) Wände Kurt Eichlers Public!-Forderung, die Kulturinstitutionen mögen endlich ihre vier Wände verlassen, führt zu einem wei- teren Aspekt des Wohnzimmer-Bildes: Es ist konventionell. Das Wohnzimmer liegt in der Regel geschützt im Hausin- nern, manchmal mit einem Garten oder Balkon verzahnt mit der Außenwelt. Es ist ein Ort der Entspannung und der Muße. Es ist ein repräsentativer Ort für Gäste. Es gewährt Einblick ins Private. Es ist selten ein Ort des Zufalls (wie die Küche). Es hat überschaubare Dimensionen. Die Nutzung ist kulturell tradiert. Eichler geht es in seinem Public!-Statement um die kritische Überprüfung des Vermittlungskanons und der Ziel- gruppenansprache in einer immer internationaleren Gesellschaft. Er betont, wie beides von der eigenen kulturellen Sozialisation sehr geprägt und so die freie Sicht auf andere Lebensvorstellungen verhindert werde. In Anbetracht der vielfachen Interaktionen der Nutzerinnen und Nutzer in und mit der Bibliothek hat der Gute-Stuben-Vergleich nahezu ausgedient. Bibliotheken sind offene Kulturinstitutionen mit diversem Publikum, von exklusiver Selbstgenügsamkeit zwischen den engen Wohnzimmerwänden kann scheinbar keine Rede mehr sein. Trotzdem sind auch öffentliche Biblio- theken nach wie vor keine Gemeinschaftsräume. Sie repräsentieren größere Teile der Bevölkerung nicht ausreichend und bleiben in den Grenzen ihrer Tradierungen. Bebauter Raum mit schwarzen Linien In ihren jetzigen Dimensionen haben Bibliotheken in Deutschland selten die Gelegenheit, im sinnvollen Maß weiße Flächen für gut orchestrierte öffentliche Beteiligung und eine partizipative Nutzung zu schaffen. Tatsächlich treten die
Bibliotheken sozusagen mit Blick auf die begrenzten Sofaplätze und Spielwiesen auf die Werbebremse, damit niemand frustriert abgewiesen werden und gleichzeitig engagiertes Personal dauerhaft auf zu vielen Hochzeiten improvisieren muss. Die Bibliotheken bleiben dadurch weit hinter den Möglichkeiten, die sie für die Herausforderungen der Stadtent- wicklung und der digitalen Transformation bieten könnten. Bescheidenes Understatement, wie es im Selbstbild des Wohnzimmers für alle zum Ausdruck kommt, hilft also ein altbackenes Bibliotheksbild zu zementieren. Es erzeugt kaum politische Aufmerksamkeit und resultiert in finanzieller Unterausstattung, die in jüngster Vergangenheit die Bibliotheken in Deutschland gerade in Stadtteilen und Kleinstädten oft zu ästhetisch mehr oder weniger vernachlässigten Multifunktionseinrichtungen mit bunten Leseecken schrumpfen ließ. In Nollis Plan wären solche Bibliotheken vermutlich als bebauter Raum mit schwarzen Linien begrenzt gewesen. Nicht-Orte „Die Welt der Übermoderne hat nicht dieselben Maße wie die Welt, in der wir zu leben glauben, denn wir leben in einer Welt, die zu erkunden wir noch nicht gelernt haben. Wir müssen neu lernen, den Raum zu denken.“ Marc Augé Die Lektüre von Marc Augés Fast-schon-Klassiker „Nicht-Orte“ aus den 1990er-Jahren liefert noch mehr Argumente für ein „lautes Reden“ über Bibliotheken als herausragende Orte und weiße Flächen in Städten und Gemeinden. Der französische Ethnologe und „Anthropologe im Dschungel der Großstadt“ beschäftigt sich in „Nicht-Orte“ intensiv damit, wie man die „heutige Welt aufgrund ihres beschleunigten Wandels“ besser fassen könnte. Er beschreibt mehrere Aus- prägungen des Wandels und bezieht sich unter anderem auf unsere Zeitvorstellung und die Art, wie wir über Zeit ver- fügen. Der Zweifel an der Geschichte als Trägerin von Sinn sei für alle im Alltag genauso spürbar wie das bewusste Bedürfnis, Sinn herzustellen, und zwar für sich selbst in Bezug zur Welt und nicht mehr nur zur eigenen Stadt, zum Dorf oder zur Familie. Augé stellt fest, dass wir dadurch einen Preis für die Überfülle der Ereignisse zahlen und dass das wichtigste Merkmal der aktuellen Situation das Übermaß sei. Das Übermaß an Zeit, an Raum und Individualität, zumindest in der westlichen Welt. Augé schreibt das, ohne zu wissen, wie sich die Globalisierung weiter auswirken wird und ohne sich eine Vorstellung machen zu können, wie grundsätzlich die digitale Transformation die realen Welten ver- ändern und die Suche nach Sinn und Wahrheiten noch stärker vor sich her- treiben wird. Das Entstehen von Nicht-Orten, die nicht durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet sind, beschreibt Augé als weiteres Merkmal der „Übermoderne“. Er beschreibt Nicht-Orte als „das Maß unserer Zeit, ein Maß das sich quantifizieren lässt und das man nehmen könnte, indem man […] die Summe bildete aus Flugstrecken, den Bahnlinien und den Autobahnen, den mobilen Behausungen, die man als ‚Verkehrsmittel‘ […] bezeichnet, den Flughäfen, den Bahnhöfen […], den großen Hotelketten, den Freizeitparks und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze, die den extraterrestrischen Raum für eine seltsame Art der Kommunikation einsetzen, welche das Individuum vielfach nur mit einem anderen Bild seiner selbst in Kontakt bringen.“ Gegenpol zur Unverbindlichkeit Wie gesagt, es spricht eine Stimme aus den 1990er-Jahren. Jedoch wird die Qualität einer Bibliothek als fester Ort mit Geschichte und Beziehungen im Heute dadurch umso greifbarer. Auch wenn er noch eine digitale Entsprechung erhält. Bibliotheken sind keine standardisierten Kopien, kein kleinster Nenner des Zeitgeists und des Massengeschmacks. Sie sind reale, physische Manifestationen des Urbanen, der aktuellen lokalen Tradition. Sie sind kommunale Netzwerke und soziale Organisationen der in der zu diesem Zeitpunkt in der Stadt lebenden Bürgerinnen und Bürger. Sie bilden einen bewussten Gegenpol zur Austauschbarkeit, wie sie etwa im Namen der Aufenthaltsökonomien in Einkaufszent- ren, Ladenmeilen oder Tivolis für bestimmte Gesellschaftsgruppen zelebriert und, laut Bernd Bienzeisler vom Fraunho- fer Institut für Arbeit und Organisation, die Städte künftig vermutlich noch stärker prägen wird. Emanzipation und Augenblick Die Renaissance der Bibliotheken wird häufig begründet mit der demokratischen Wirkung, die sie als Möglichkeits- räume für alle entfalten können. Krist Biebauw, Direktor von De Krook in Ghent, stellt die öffentliche Bibliothek in sei- nem Public!-Vortrag so auch in die Tradition der Arbeiterbewegung und bezeichnet sie als Ort der Emanzipation. Rob Bruijnzeels, Bibliothekar und Mitbegründer des niederländischen Kollektivs Ministry of Imagination, denkt ähn- lich und weiter. Bruijnzeels erklärt die öffentliche Bibliothek i quasi zur Dirigentin des Übermaßes. Er macht sie – in den vom Ministry realisierten Bibliotheken in Gouda und Schiedam zum Beispiel – zu Orten, an denen Verständnis zählt. Er meint das Verständnis von Inhalten und das persönliche Verständnis für die Nutzerinnen und Nutzer. Letzte- res wirkt sich vor allem in der Begegnung sowie in der anspruchsvollen Gestaltung der Räume bis hin zum Café und dessen Speisekarte aus. Inhalte und Kontexte müssen für Bruijnzeels von den Bibliotheken immer wieder aufs Neue hinterfragt und gemeinsam mit den Nutzerinnen und Nutzern in aktuelle Zusammenhänge gestellt und zum Programm gemacht werden. Bibliotheken sind auch für ihn Orte, an denen die Menschen selbst etwas Bleibendes schaffen können, das als kom- mentierter Content wiederum anderen Menschen aus ihrem Nahbereich, der Gruppe, dem Viertel, der Gemeinde als lebendiger Bestand zur Verfügung gestellt werden kann. Und das, ohne das Sinnliche, den Spaß, die Interessen der Einzelnen in den Hintergrund treten zu lassen. Das ist eine Kunst. Denn die so geschaffenen lebendigen Bestände ent- sprechen dem eigenen Blick der Schaffenden. Gleichzeitig machen diese Bestände aber in ihrer Gesamtschau die Stadt so sichtbar, wie sie in dem jeweiligen Augenblick wirklich ist. Bibliotheken sind damit das Gegenteil vom kleinsten gemeinsamen Nenner, sie akzeptieren Widersprüche und halten Konflikte in einer zunehmend komplexen Zeit aus. Sie sind gegenwärtig.
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