Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
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aktuell 26. Jahrgang Das Magazin der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Baden-Württemberg Ausgabe 2/20 Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier
Inhalt AUS DEM VERBAND Im Fokus: Wohnen 46 Der digitale Karlsruher Rechtstag: und Leben im Quartier Schwerpunkt WEG-Reform 2020 48 Fachausschuss "Wohnen und Leben" zu Gast in Freiburg 50 Fachausschüsse besichtigen Projekte in Heilbronn 51 Das Energiehaus-Plus-Quartier 52 KoWo-Tagung zum Mietendeckel 54 GdW-Präsident Gedaschko auf Sommertour 4 Die Bedeutung des Quartiers für die Wohnungswirtschaft MITGLIEDER AKTUELL 6 Das neue Quartier im Fokus der Stadtentwicklung 56 Offenburger Baugenossenschaft: Erfolgreiches Mieterstromprojekt 9 Das Quartier heute und im Jahr 2050 57 Familienheim Freiburg: 12 Planungsfragen im Bestandsquartier Film zum 90-jährigen Jubiläum 15 Resiliente Quartiere 58 BBG Böblingen: Postareal wird offizielles IBA-Projekt 18 "Quartier 2030 – Gemeinsam.Gestalten." 59 AWTS-Assekuranz-GmbH feiert Jubiläum 21 Zukunft(s)Quartier: Future Living® Berlin 59 Tuttlinger Wohnbau: Neue Auszubildende 59 Fritz-Erler-Schule startet in neues Schuljahr 60 Bauverein Breisgau: Innovatives Holzbauprojekt in Herbolzheim B E ISPI ELE : 24 Die MieterBauGemeinschaft Q6 Neckarpark 26 Franklin in Mannheim – Konversion eines Quartiers 60 WOBAK Konstanz: 30 Revitalisierung des Hallschlags in Stuttgart-Bad Cannstatt DW-Zukunftspreis für "Reihenhäuser auf dem Parkdeck" 34 Alles Neumatt: Behutsame Quartiersumstrukturierung 61 Wohnungsbau Ludwigsburg: Individuelles Umzugsmanagement 36 wirRauner: Lebendige Nachbarschaft in Kirchheim/Teck 39 Stiftungen: Gemeinnützige Unterstützung im Quartier VERMISCHTES 43 Onlinevortrag: Gemeinschaftliches Wohnen im Quartier 62 Jubiläen / Impressum 44 Quartiersentwicklung mit DGNB-Zertifizierung 63 Termine 2
Editorial Liebe Leserinnen und Leser… in der vergangenen Magazinausgabe haben wir den Schwerpunkt auf die Klimapolitik und den Klimawandel gerichtet – in dieser Ausgabe blicken wir auf das Quartier. Wir lassen Expertinnen und Experten zu Wort kommen, die sich mit dem Quartier aus unterschiedlichen Blickwinkeln befassen – aus sozialen, ökologischen, infrastrukturellen und energetischen Aspekten. Der Wohn- und Lebensraum gewinnt durch die Pandemie einen noch höheren Stellenwert. Insbesondere während des Lockdowns wurde deutlich, wie wichtig eine sichere Wohnraum- versorgung, stabile und hilfreiche Nachbarschaften, eine gute Versorgungsinfrastruktur und Aufenthaltsqualität durch Grünanlagen, Parks und Gärten in der Nähe sind. Denn viele verbringen mehr Zeit zu Hause, arbeiten mobil, reisen weniger und bewegen sich in der Natur. Auch aus der gesellschaftlichen und demografischen Entwicklung ergibt sich ein Handlungs- bedarf bei der Quartiersentwicklung. Wie, wo in welchem Umfeld wollen wir in Zukunft woh- nen, leben und alt werden? Welchen Beitrag kann die Wohnungswirtschaft dafür leisten? Beispiele von unseren Mitgliedsunternehmen zeigen, in welcher Weise sich Wohnungsunter- nehmen in der Quartiersentwicklung engagieren. Wohnungsunternehmen schaffen Räume zum Wohnen, zur Begegnung und für das Zusammenleben, Versorgungsstrukturen und Netz- werke. Sie sind wichtige Akteure bei der Schaffung von generationengerechten Quartieren. Das Magazin soll Anregung bieten, über die Entwicklung nachzudenken und Impulse mitzu- nehmen. Lassen Sie sich von den Ideen und Beispielen inspirieren und motivieren. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Lektüre. Dr. Iris Beuerle, Verbandsdirektorin 3
Die Bedeutung des Quartiers für die Wohnungswirtschaft Im Gespräch mit vbw-Verbandsdirektorin Dr. Iris Beuerle Die Wohnungswirtschaft betrachtet in ihren strategischen Planungen, bei der Weiterentwicklung des Bestandes und insbesondere für die Mieter und Mieterinnen in zunehmendem Maße das Quartier. Ziel ist es, nach- haltige, generationengerechte, zukunftsfähige Quartiere zu schaffen und zu erhalten. Dies betrifft den Wohn- und Lebensraum, Räume der Begegnung inner- und außerhalb der Gebäude und letztlich das Zu- sammenleben der Menschen in ihrem nahen Lebensumfeld. Was heißt eigentlich Quartier? In welchen Bereichen spielt Überalterung, Individualisierung und Inter- das Quartier für die Wohnungs nationalisierung wirken sich, als Folgen der Für mich ist ein Quartier eine überschauba- wirtschaft eine Rolle? demografischen Entwicklung, auf die Bevöl- re Wohnumgebung, die unterschiedlich groß kerungsstruktur in den Städten, Gemeinden sein kann. Häufig sind es große Straßen, eine In der demografischen und gesellschaftli- und Quartieren aus. Um den Bedürfnissen der Bahn oder Flüsse, die ein Wohngebiet ein- chen Entwicklung aber auch beim Klima- Bewohner gerecht zu werden, reicht es nicht grenzen, es kann auch eine Wohnsiedlung, wandel und der energetischen Quartiersent- aus, nur die Wohnungen den veränderten ein Stadtteil oder ein Dorf sein. „Quartier“ wicklung. Bedingungen anzupassen. Was nützt eine betrachtet immer auch den Lebensraum. barrierefreie Wohnung für Senioren, wenn es Viele Menschen bewegen sich in ihrem „Kiez“ Wie ist der Zusammenhang zur im nahen Umfeld keine Einkaufsmöglichkei- oder ihrem „Viertel“, das wäre dann auch ihr demografischen Entwicklung? ten, keine ärztliche Versorgung und öffentli- Quartier. che Verkehrsmittel gibt? Was nützen familien- 4
Quartier freundliche Wohnanlagen ohne Kindergärten, cherung, Netzmanagement und Verbrauch das Quartier aus. Hier geht es dann um die Spielplätze und Schulen in der Nähe? Zum in ein Gesamtsystem können künftig in den Frage, wie geplante Frei- und Grünräume so Wohlfühlen benötigen die Bewohner eine Häusern sowohl Energie für Heizung und angelegt werden können, dass diese im Falle gute Nachbarschaft und ein Umfeld mit ver- Strom als auch für Elektroautos erzeugt wer- von Überflutungsereignissen auch als tempo- schiedenen Kultur- und Freizeitangeboten, den. Daneben gewinnen öffentliche Ladesta- rärer Speicher bzw. Pufferraum für Wasser Nahversorgung und Infrastruktur. Dafür sind tionen, auch für E-Bikes an Bedeutung. Durch fungieren können und so die Auswirkungen gemeinsame Handlungskonzepte mit allen die Zunahme des Fahrrad-Verkehrs werden auf die Gebäude verringern. Bei zunehmender Akteuren erforderlich, die sich in einem Quar- auch Radwege und Fahrradabstellplätze in Hitze sind auch Bäume und Schattenplätze tier engagieren. den Wohnanlagen und im öffentlichen Raum im Wohnumfeld relevant. relevant. Ãltere Menschen nutzen zunehmend Liegt die besondere Heraus Hilfsmittel wie Rollatoren und Elektromobile Was bedeutet energetische forderung bei der älter werdenden (Scooter). Hierfür müssen ausreichend Ab- Quartiersentwicklung? Gesellschaft? stellplätze vorgehalten und geeignete Wege errichtet werden. Viele Städte und Wohnungsunternehmen Ja. Die Menschen werden zunehmend äl- sind auf dem Weg zur Klimaneutralität im ter und können mit ihren damit verbundenen Quartier und Klimawandel. Jahr 2050 oder sogar früher. Um das Ziel zu Einschränkungen möglicherweise nicht mehr Wie ist da der Zusammenhang? erreichen, müssen auch die Quartiere ihren selbstständig in ihren Häusern oder Wohnun- Beitrag leisten, Energie und Kohlenstoffdioxid gen leben. Hier kann die Wohnungswirtschaft Die Nutzung regenerativer Energien wird (CO2) einzusparen. Bei der energetischen Lösungen bieten. Zahlreiche Wohnungsunter- auch das Stadtbild verändern. Der Schlüssel zu Gebäudesanierung, dem Aufbau von CO2- nehmen bieten entsprechende Wohnformen, mehr Energieeffizienz liegt im Gebäudebe- freundlichen Wärmenetzen, Maßnahmen zur wie Wohnpflegegemeinschaften, Demenz- stand. Dort werden 40 % der Endenergie ver- Begrünung oder dem Ausbau der Radwege wohngruppen oder Wohngemeinschaften für braucht. Passivhäuser, Null- oder Plusenergie- sind gemeinsame Maßnahmen mit den Ak- Ältere an, aber auch Betreuungs- und Dienst- häuser werden vermehrt gebaut und nach- teuren vor Ort sinnvoll. Ein Beispiel ist die leistungsangebote, wie Wohncafés, Angebo- gefragt. Integration von regenerativen Energieträgern te in Nachbarschaftstreffs oder sie vermitteln oder die Nutzung überschüssiger Abwärme entsprechende Serviceangebote. Klimawandelfolgen, wie Überflutungen durch im Quartier. Das Quartierskonzept beinhal- vermehrten Starkregen oder auch lokale tet auch eine CO2-Bilanz des Quartiers. Und weil es der Wunsch der Älteren ist, so Hochwasserereignisse wirken sich auch auf lange wie möglich selbstbestimmt in der ei- Was wäre Ihr Fazit? genen Häuslichkeit oder zumindest in der näheren Umgebung alt zu werden, macht es Generationengerechte Quartiere müssen Sinn, diese Angebote in ihrem Quartier zu zum Beispiel eine funktionale Mischung auf- etablieren und nicht außerhalb. weisen, um Wohnen, Arbeiten, Bildung, Ein- kaufen, medizinische Versorgung sowie Kul- … und die gesellschaftliche tur- und Freizeitangebote zu ermöglichen. Um Entwicklung? Quartiere nachfragegerecht und zukunftsfä- hig weiterentwickeln zu können, brauchen Betreuung und Pflege sowie Altersarmut wir eine koordinierte und strategisch ange- werden zur Gesellschaftsaufgabe. Durch die legte integrierte Quartiersentwicklung durch zunehmende Individualisierung gibt es viele Kooperationen mit Wohnungsunternehmen kleine Haushalte, Singles und Alleinerziehen- und anderen Akteuren. Wir brauchen aber de. Bezahlbares Wohnen gewinnt an Bedeu- auch Förderprogramme zur Finanzierung der tung. Die Nachfrage nach Mobilitätskonzep- Maßnahmen und Bündnisse mit Investoren, ten und technischen Assistenzsystemen wird Kommunen, Verwaltungen und der Politik. zunehmen. Insgesamt besteht die Herausforderung in der Können Sie den Bezug zur Mobilität Integration der technischen und baulichen, näher beschreiben? DR. IRIS sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Anforderungen. Dazu brauchen wir kluge Jüngere Menschen verzichten zunehmend BEUERLE Konzepte mit allen Akteuren, auch der Woh- auf ein eigenes Auto. Der Wunsch nach mo- nungswirtschaft. bilen öffentlichen Verkehrsmitteln wie Car- Sharing und Stadträdern nimmt hingegen Verbandsdirektorin vbw Verband weiter zu. Die Elektromobilität wird gefördert. baden-württembergischer Wohnungs- Durch die Bündelung von Erzeugung, Spei- und Immobilienunternehmen e.V. 5
Das neue Quartier im Fokus der Stadtentwicklung Das moderne Quartier: gemischt, resilient, nachhaltig Wozu soll sich die Stadtentwicklungsplanung mit dem Thema „Das neue Quartier“ auseinandersetzen? Das Baugesetzbuch gibt schließlich der öffentlichen Planung in § 1 sehr ambitionierte Grundsätze vor: „Die Bau- leitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozial gerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine men- schenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpas- sung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln. Hierzu soll die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen. ….“ 6
Quartier Würden die etablierten und die in den letz- ten. Damit sind dem städtebaulichen An- eine hohe wirtschaftliche Produktivität und ten Jahren neu entwickelten Quartiere diese spruch, neue Quartiere fertig zu planen oder eine hohe ökologische Effektivität selbstver- Grundsätze erfüllen, könnte eine Auseinan- bestehende Quartiere umfassend umzubauen, ständlich sein. Optionen zur Netzentkopplung dersetzung mit dem Thema „Das neue Grenzen gesetzt. Die digitale Stadtgesellschaft werden teilweise noch ergänzend gefordert. Quartier“ sich auf wenige Nachschärfungen, erfordert Technik zur sozialen und normativen Stadtentwicklungsplanerische Ansätze einer bspw. in den Bereichen der Resilienz und Di- Kontrolle. Die Resilienz, die Krisenfestigkeit adaptiven Planung, oft im deutlichen Unter- gitalisierung, konzentrieren. Tatsächlich sind erfolgt hier nicht aufgrund von puffernden schied zu städtebaulich fokussierten Ansät- jedoch viele Quartiere – auch neue und preis- Merkmalen, sondern auf der Grundlage von zen, setzen hier auf eine Integration sowohl gekrönte– Energiefresser, Verkehrserzeuger Daten, Explorationen und zu legitimierender von High Tech als auch von Low Tech. An die und dazu auch noch für Normalverdienende Eingriffe in die Quartiersentwicklung und den Stelle von linearen städtebaulichen Planun- zu teuer. Formale Vorgaben genügen also Alltag der dort Wohnenden und Arbeitenden. gen mit dem Entwurfsziel einer Finalplanung nicht, damit Quartiere das Modelabel „nach- Die Störanfälligkeit gesteuerter im Unterschied treten verstärkt adaptive Planungsansätze, haltig“ tatsächlich verdienten. zu selbstregulierenden Systemen sei hier nur die – als scheinbares Paradoxon – Räume für ergänzend erwähnt. Ungeplantes einplanen. Ein seit Jahren verfolgter Ansatz, um Quartie- re zukunftsfähig zu gestalten, ist der Ansatz ADAPTIVE PLANUNGSANSÄTZE Bei der unbestritten notwendigen Transfor- der sogenannten Smart City (smart = intelli- Welche Eigenschaften sollte demnach „das mation der Stadt und ihrer Quartiere kann gent). Die meisten Vorhaben und Forschungen neue Quartier“ aufweisen, um möglichst durchaus auf traditionellen und bewährten, zu Smart City fokussieren technische Lösungs- zukunftsfest zu sein? Abseits aller Romantik wie auch auf innovativen Ansätzen und Er- ansätze für Problemstellungen der Stadtent- und eklektizistischen Ausführungen, wie sie kenntnissen aufgebaut werden. Gründerzeit- wicklung, in der Regel unter Einsatz digitaler im Leitbild der europäischen Stadt oft mit- quartiere haben sich als sehr robust zur Adap- Techniken, manchmal sogar von Technologien. schwingen, sollten unter Ausnutzung aller tion sehr unterschiedlicher Rahmenbedingun- Dabei werden gemischte und reine Wohn- Möglichkeiten der Smart City bspw. eine gen erwiesen. Wesentliche Erfolgsfaktoren quartiere sowie Gewerbegebiete mittels City- hohe individuelle und soziale Lebensqualität, hierfür waren und sind: eine hohe städtebau- logistik, optimierender Gebäude- und Energie- technik, digitaler Produktionsabläufe, Möglich- keiten für mobile Arbeitsformen und weitere technikbasierte Handlungsansätze qualifiziert. Hierdurch können wesentliche Beiträge zur teilräumlichen und sektoralen Ressourcenef- fizienz geleistet werden. DIE INTELLIGENTE STADT- UND QUARTIERSENTWICKLUNG Doch reicht diese Form der „intelligenten Stadt- und Quartiersentwicklung“, um „das neue Quartier“ zu definieren und planerisch zu verfolgen? Ist „intelligent“ auch „klug“? Die intelligente Stadt erfordert Steuerung. Steuerung erfordert Informationen zu steue- rungsrelevanten Rahmenbedingungen. Dieser in industriellen Fertigungsprozessen und auch auf der städtebaulichen Objektebene einlös- bare Anspruch findet auf der Quartiersebene seine Grenzen. Städtebauliche Quartiere sind offene Systeme. Sie sind komplex, viele so- gar kompliziert und haben eine extrem lange Lebenserwartung und sollten für diese ausge- legt sein. Die Entwicklung der hierfür rele- vanten wirtschaftlichen, sozialen und ökolo- gischen Rahmenbedingungen ist zumindest mittel- bis langfristig von großen Unsicher- heiten geprägt. Die viel diskutierten Aspekte der disruptiven Stadtentwicklung haben durch Starkregenereignisse, Technologiesprünge, die Flüchtlingsthematik und aktuell mit der Corona-Pandemie einen neuen Schub erhal- Gründerzeitlich basierte gemischte Strukturen in Berlin 7
liche Dichte, mit der das planerische Prinzip enteignungsgleichen Eingriffen in die Boden Dichte zur Wahrung von Optionen ausgehal- der Nähe verfolgt werden kann, die Möglich- ordnung im Siedlungsbestand erforderlich ten werden müssen. Die Ausbildung der Fä- keit der Nutzungsmischung, die nicht unbe- werden. Das aktuelle Sanierungsrecht und higkeit zur Anpassung an sich verändernde dingt in jedem Gebäude realisiert werden auch die Überlegungen zu einer städtebau- Rahmenbedingungen und Systemdynamiken muss und eine Vielfalt der Verfügungsbe- lichen Entwicklungsmaßnahme im Innenbe- durch vernetzte Lern- und Steuerungspro- rechtigten. Derzeit diskutierte Modelle des reich werden hier nicht ausreichen. „Die Musik zesse erfordert Reallabore zur schrittweisen Clusterwohnens können hier auf der Objekt spielt im Bestand“. Vor allem im Siedlungs- Qualifizierung unserer Quartiere für unter- ebene Impulse setzen. Es geht um die Option bestand mit seiner ausgeprägten Persistenz schiedliche Zukünfte. der räumlich-funktionalen Zuordnung ver- wird sich zeigen, wie vulnerabel und wie schiedener Nutzungen zueinander, nicht um resilient unsere Städte sind. Das adaptive Quartier wird nur gemeinsam das derzeit oft vertretene Dogma der zwangs- mit der Bürgerschaft und den sehr unter- weisen gebäudebezogenen Mischung. Mo- DAS QUARTIER DER MÖGLICHKEITEN schiedlichen weiteren Akteuren der Quar- bilität wird im Quartier der Zukunft als Es bleiben viele offene Fragen, wie das Quar- tiersentwicklung erfolgreich erarbeitet werden Dienstleistung integriert sein. Homeoffice, tier der Zukunft aussehen kann und vor allem, können. Beteiligung entwickelt sich vor dem Coworking mit ergänzenden Angeboten zur wie dieses als „Quartier der Möglichkeiten“ Hintergrund, dass Planungs- und Nutzungs- Betreuung von Kindern und Senioren, Ein- planerisch-adaptiv entwickelt werden kann, phase eines Quartiers zunehmend verschwim- kaufsservice, City- und Quartierslogistik sind deren Beantwortung sicherlich nur interdis- men, immer mehr zu einer Daueraufgabe. bereits heute machbar. ziplinären Ansätzen zugänglich sein wird. Dabei werden die sehr unterschiedlichen Ähnlich der Zweit- und Drittverwendung von Handlungslogiken mit ihren Nutzungs- und Ein weiterer Faktor für ein sich resilient wan- Gebäuden werden Quartiere stärker mit ihren Verwertungsinteressen und zeitlichen Pers- delndes aber auch aktiv wandelbares Quartier Potenzialen zu sehen sein. Die derzeit gerade- pektiven der Beteiligten eine besondere He- sind hierfür geeignete Verfügungsformen für zu gebetsmühlenhaft geforderte hohe städte- rausforderung darstellen. Immobilien. Die bisher für die Stadtentwick- bauliche Dichte ist dabei kein Selbstzweck. lung prägenden Verfügungsformen und die Sie ist dem städtebaulichen und siedlungs- Ebenso stellt sich die Frage, inwieweit die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten auf strukturellen Kontext und Entwicklungsstand öffentliche Verwaltung und damit die öffent- die Quartiersentwicklung, die sich im We- eines Quartiers anzupassen. Gegebenenfalls liche Planung vorbereitet ist. Gegebenenfalls sentlichen nach den drei Formen Eigentum, werden auch längere Phasen geringerer ist sie den an sie gestellten Anforderungen Besitz und faktische Nutzung von Immobilien aus Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft usw. unterscheiden lassen, werden zukünftig an zu einem guten Teil gewachsen, nicht jedoch neue Herausforderungen angepasst werden den tatsächlichen, langfristigen, im Alltag müssen. So zeigt bspw. die aktuell diskutierte nicht formulierten, Herausforderungen, die Novelle des WEG-Rechts, dass notwendige strukturelle Änderungen des kommunalen Investitionen zur Weiterentwicklung des Sied- politisch-administrativen Systems erforderlich lungsbestandes wegen organisatorischer machen werden. Die notwendige verstärkte Hemmnisse unterbleiben. Auch aktuell oft Vernetzung der Quartiersentwicklung und favorisierte Modelle, wie Baugruppen, regeln der gesamtstädtischen Entwicklungsplanung zwar die Gründung und den Normalbetrieb, und damit ein neues Zusammenwirken von ein irgendwann anstehender grundlegender integrativer Gesamtplanung mit integrierten Umbau bis hin zu einem Abriss und damit dem Konzepten zeichnet sich bislang nur in Ansät- temporären Untergang der Immobilie ist in zen ab. Was bleibt ist ein Grundoptimismus, der Regel nicht Gegenstand der getroffenen dass sich die Gesellschaft von den aktuellen Vereinbarungen. Hier werden in Zukunft neue Anforderungen lösen und auf die anstehen- Verfügungsformen in einem Kontinuum von den Herausforderungen einstellen wird. Das privatem (und öffentlichem) Eigentum und Institut für Stadt- und Regionalentwicklung gemeinschaftlichen Trägerformen, die sowohl arbeitet sowohl in der wirkungsorientierten öffentlich und privat als auch in Mischformen Forschung als auch mit einer Vielzahl kommu- auftreten können. Womöglich steht eine Re- ALFRED naler Partner in der konkreten Stadtplanung naissance der altbewährten Allmende, nicht vor Ort. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, als Dorf- sondern als Quartiersanger, bevor. RUTHER-MEHLIS vor Ort umsetzbare Lösungen kooperativ zu Auch diese Räume, die durch gemeinsames erarbeiten und dabei auch langfristige und öffentliches und privates Handeln gezielt grundlegende Aspekte in die planerische und Optionen schafft für individuelle und kollek- Gesellschafter des Instituts für politische Diskussion einzubringen. tive Anpassungs- und Innovationsprozesse, Stadt- und Regionalentwicklung IfSR bedürfen einer Steuerung. Die bekannte und Prof. für Stadtplanung an der „Tragik der Allmende“ gilt es zu vermeiden. HfWU Hochschule für Wirtschaft und Es werden auch Kompensationsansätze bei Umwelt Nürtingen-Geislingen 8
Quartier Das Quartier heute und im Jahr 2050 Ein Blick auf die Entwicklung in den Städten Gesellschaftliche Krisen sind immer von der Gewissheit durchzogen, dass nissen charakterisiert wurde. Mit der Entwick- lung der modernen Kleinwohnung verband tiefgreifende Veränderungen bevorstehen und Entscheidungen fällig sich eine Enthäuslichung wichtiger Lebensbe- werden. Gerade wenn der kritische Zustand zunächst andauert, beschwört reiche, wie die Auslagerung fast aller Formen die Krise die Frage nach der geschichtlichen Zukunft herauf. 1 Als im Früh- der Arbeit, der Krankheit, der kindlichen Er- ziehung oder Bildung, und umgekehrt eine jahr 2020 die Corona-Pandemie ausbrach, erlebten sehr viele Menschen zunehmende Verhäuslichung sämtlicher leib- die eingetretenen Veränderungen als eine strenge Zäsur. Viele glaubten, licher Vitalfunktionen. Die stärkste Ausprä- gung erfuhr diese Entwicklung in den 1960er dass jetzt Entwicklungen wirksam werden könnten, die noch vor nicht und 1970er Jahren und erfährt heute wieder allzu langer Zeit als unvorstellbar erschienen. Die Coronakrise hat jedoch eine grundlegende Neubewertung. in den meisten Fällen nicht gänzlich Neues zu Tage gefördert, sondern In den Fluss des heutigen Wandels, der die nur Prozesse beschleunigt und zugespitzt, die, so Jürgen Kocka, „längst Zukunft gestalten wird, münden mehrere Ent- auf dem Weg sind“. 2 Dies gilt bei näherem Hinsehen auch für die Bereiche wicklungstendenzen: Zunächst hat die abge- schlossene Kernfamilie – Mutter, Vater, ein des Wohnens und besonders der Quartiersentwicklung. oder zwei Kinder – ihre normative Kraft ver- loren. Stattdessen ist eine Pluralisierung der ERWEITERTER WOHNBEGRIFF UND Familienformen und Lebensstile eingetreten, DIE BEDEUTUNG DES DRITTEN ORTES die neue Wohnkonzepte erfordern. Mit der Unsere heutige Vorstellung von Wohnen hat Singularisierung der Haushalte – in den Groß- sich erst seit dem Beginn der Moderne her- städten dominieren inzwischen die Einperso- ausgebildet. Erst dann setzte sich auch die nenhaushalte – gilt es zugleich, das Verhältnis Rechtsauffassung durch, dass eine Wohnung von Individuum und Gesellschaft neu auszu- eine baulich getrennte, in sich abgeschlossene tarieren. In diesem Prozess erfahren selbst- 1 einhart Kosselleck: Kritik und Krise. Frankfurt R Wohn-Einheit sei, die über einen eigenen bestimmtes Wohnen und Gemeinschaft neue 1973, S. 105. Zugang verfügen müsse. In der modernen Gewichtungen. Soziale und räumliche Ange- 2 Kocka, Jürgen: Digitalisierung, Arbeit, Staat. Wie Gesellschaft trat ein Bedeutungswandel des bote müssen nicht mehr zwingend in der die Corona-Krise bereits vorhandene Prozesse Wohnens ein, der als fortschreitende Ablö- Wohnung oder im Wohngebäude erbracht beschleunigt. In: Der Tagesspiegel. 17.05.2020. sung des Wohnens aus anderen Sozialverhält- werden, sondern können in ergänzenden 9
Räumen eines Wohnprojekts oder im Quartier offeriert werden. In den letzten Jahren wurde deshalb zu Recht auf die wachsende Bedeu- tung der „Third Places“ 3 verwiesen, die in Zeiten des „erweiterten Wohnens“ als Orte der Begegnung und des sozialen Austauschs für das Gemeinwesen – neben dem Wohn- und Arbeitsort selbst – bedeutsam werden. PRODUKTIVES WOHNEN UND ENTGRENZTES ARBEITEN Die Arbeitsstrukturen änderten sich in den letzten zehn Jahren grundlegend. So verbrei- ten sich zunehmend multilokale Arbeits- und Lebensformen. Der deutlichste Einschnitt erfolgte aber durch den Boom der „Heim“- Arbeitsplätze. Quasi als Katalysator wirkte hier die Corona-Pandemie, mit der in kürzester Zeit im „Home Office“-Bereich eine erstaunli- che Dynamik einsetzte, die sich aber dennoch bereits seit einigen Jahrzehnten abgezeichnet hatte. Mit dieser Entwicklung wird die klas- sische Trennung von Wohnen und Arbeiten, die sich mit der Industriegesellschaft durchge- setzt hatte, tendenziell wieder aufgehoben. Ein Coworking-Beispiel aus Los Angeles Menschen der fragmentierten Moderne Orte Nicht nur junge Start-Ups, sondern auch meh- der Identifikation und des Zusammenhalts. 7 rere DAX-Unternehmen verkündeten, dass die ZUSAMMENHALT UND ORCHESTRIER- Als Mittelpunkt-Orte sind Quartiere das „all- mobile Arbeit zur „neuen Normalität“ wird. TE VIELFALT IM QUARTIER tagsweltliche Experimentierfeld für Gemein- So verabschiedete der Siemens-Vorstand im Nicht mehr den Betrieben, sondern vermehrt samkeit und Individualität, Nähe und Distanz, Juli 2020 das „New Normal Working Model“. den Quartieren wird eine sozialintegrative für Öffentlichkeit und Privatheit, Anonymität Für die bis zu 140.000 Mitarbeiter des Kon- Bedeutung zugesprochen. Mit der stetigen und Intimität“. 8 In den subjektiv abgegrenzten zerns bedeutet dies, dass sie zwei bis drei Auflösung traditioneller Bindungen, beispiels- Sozialräumen können die Menschen sich – Tage in der Woche von zu Hause oder von weise in Gewerkschaften, Kirchen oder le- auch in der Großstadt – emotional verankern anderen Orten außerhalb des Büros arbeiten bensweltlichen Organisationen, suchen die und intensive Formen der Bindung aufbauen. können. 4 Arbeiten von zu Hause aus ist jetzt Ihre sozialen Kohäsionskräfte entfalten sie verbreitet, zumeist für jene gut Qualifizierten, durch urbane Kollaborationen. Das Quartier die nicht im klassischen Produktionsbereich wird durch die besondere Sozialität des urba- arbeiten. Zu Recht wird von einigen Forschern nen Nahraums und die vielen Kommunikati- jedoch darauf verwiesen, dass das Verhältnis onsmöglichkeiten bedeutsam. Damit sich die von Industrie und Dienstleistungen durch Potentiale der Quartiere entfalten können, Komplementarität und nicht durch Substitu- sind lebendige Räume wesentlich, wobei ne- tion gekennzeichnet sein wird. „Es lohnt sich“, ben den „dritten Orten“ (Kneipen, Cafés, so der Stadtforscher Dieter Läpple, „über Gemüseladen etc.) insbesondere die Erdge- neue Verknüpfungen und Kooperationen von Dienstleistungen, Industrie, Kreativwirt- 3 ldenburg, Ray: The Great Good Place. Cafés, O schaft, urbanen Manufakturen, FabLabs und Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and lokalen Ökonomien nachzudenken.“ 5 Die other Hangouts at the Heart Community. New York 1999. Konsequenzen dieses Strukturwandels sind 4 Pressemitteilung Siemens vom 16. Juli 2020. gravierend: Werden wir neue, größere Woh- 5 Läpple Dieter: In: Landeshauptstadt Stuttgart (Hg.): nungen mit Arbeitsräumen benötigen oder Die produktive Stadt. Bearb. Frank Gwildis, Stefan findet eine wohnortnahe Verlagerung der Werrer. Stuttgart 2015, S. 27. 6 Bauer, Wilhelm (Hg.): Coworking – Innovationstrei- Arbeit in Hubs oder Coworking Spaces statt? ber für Unternehmen. Mitarb. Klaus-Peter Stahl/ In den Coworking Spaces scheinen sich die Stefan Rief. IAO Fraunhofer Verlag, Stuttgart 2017. Vorzüge des Home Office – Freiheit und Un- DR. GERD KUHN 7 Hitzler, Ronald/ Honer, Anne/ Pfadenhauer, abhängigkeit – und die Qualitäten traditionel- Michaela (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. ler Arbeit – Struktur und Gemeinschaft – zu Theoretische und ethnografische Erkundigungen, Wiesbaden 2008. bündeln. Das Fraunhofer Institut sieht gera- 8 Schnur, Olaf: Nachbarschaft und Quartier. In: de in diesen wohnortnahen Arbeitsstruktu- Wohnsoziologe und Stadtforscher, Eckhardt, Frank (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie. ren große Potentiale zukünftiger Arbeit. 6 Büro urbi_et Tübingen Wiesbaden 2012, S. 451. 10
Quartier Studie von Dezeen / urban village project neuen Formen des sozialen Miteinanders flan- kiert werden muss. „Die Erfahrungen der Nähe zu anderen und des Miteinanders schaffen eigene Formen der urbanen Lebensqualität und gleichzeitig eine hohe Resilienz in Krisen zeiten“, so das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie während der Corona-Pan- demie 2020. Sie zeigte uns allen, wie „wich- tig und wertvoll unmittelbare lokale Solida- rität ist“. 9 Der Strukturwandel der Arbeitswelt wird zur Auflösung der funktionalen Stadt der indus- triellen Moderne führen. Neue kooperative Wohnformen, die die Vielfalt der Wohn- und Lebensformen 10 spiegeln, haben lebendige schosszonen und die Plätze zu nennen sind. könnte der Paradigmenwechsel, der nach der Freiräume und Erdgeschosszonen hervorge- Die Intensivierung sozialer Beziehungen im Jahrtausendwende einsetzte, bis 2050 Städte bracht, die die Kommunikationsmöglichkeiten gesellschaftlichen Nahbereich bedarf aber und Dörfer entstehen lassen, wie man sie fördern. Coworking Spaces, die konzentrier- neuer Formen der Zusammenarbeit und ihrer bisher nicht kannte. Klimatische Herausfor- tes und konzertiertes Arbeiten und den Aus- sozialen Orchestrierung. derungen forcierten, so ist zu hoffen, den tausch sichern, prägen die Quartiere 2050. „grünen“ Umbau der Städte, um unter an- 2050: IN DREISSIG JAHREN derem eine Erwärmung in den überhitzten Entwirft man ein Zukunftsbild bis zur Jahr- Städten zu begrenzen. Das Mobilitätsverhal- 9 uppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie W hundertmitte, so muss man angesichts welt- ten muss sich grundlegend verändern. Bereits gGmbH (Hg.) (2020): „Näher“ – „Öffentlicher“ – „Agiler“. Eckpfeiler einer resilienten „Post- weiter Tendenzen wie der offensichtlichen 2020 sprach die Bürgermeisterin von Paris, Corona-Stadt“. Bearb.: Uwe Schneidewind/ Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, dem Klima- Anne Hidalgo, von einer „15-Minuten-Stadt“. Carolin Baedeker/ Anja Bierwirth/ Anne Caplan/ wandel schnell und angemessen zu begeg- Großteils werden dann die Stadtbewohner Hans Haake. Diskussionspapier, April 2020. S. 5. nen, angesichts wachsendes Protektionismus ihre täglichen Wege nicht mehr mit Autos 10 Dürr, Susanne/ Kuhn, Gerd: Wohnvielfalt. Hg. und Nationalstaatsdenkens, viel Optimismus zurücklegen, sondern zu Fuß, mit dem Rad Wüstenrot Stiftung. Ludwigsburg 2017. Das Buch kann kostenfrei heruntergeladen werden: aufbringen, um ein positives Bild zu zeichnen. oder mit dem ÖPNV. Die „Post-Corona-Stadt“ https://wuestenrot-stiftung.de/publikationen/ Doch Ansätze gibt es hierzu, gerade auf der zeigte, dass die aus gesundheitlichen Gründen wohnvielfalt-gemeinschaftlich-wohnen-im-quar- Ebene der Städte und Quartiere, allemal. So zeitweise erforderliche räumliche Distanz mit tier-vernetzt-und-sozial-orientiert-download/ 11
Zwei-Zimmer-Küche-Bad? Planungsfragen im Bestandsquartier Der Grundrisskonzeption fällt in der strategischen Entwicklung von Be- „sozial, nachhaltig und kostengünstig“ (vgl. Gmür (2020)). Auch Empfehlungen zur Um- standsquartieren eine besondere Rolle zu. Eine geeignete Planung er- setzung sind vorhanden. Der Handlungsleit- möglicht, das Portfolio zu erweitern und dem sozialen Auftrag gerecht zu faden „Bauen in Nachbarschaften“ sei an die- werden. Vor allem aber können mit geeigneten Wohnungsgrundrissen ser Stelle empfohlen (Hunger, Weidemüller, Protz (2018)). die Weichen für ein zukunftsfähiges Quartier gestellt werden. Der Grundrissgestaltung, der Planung des Viele Wohnungsunternehmen verfügen über Wohnungsgemenges und der Konzeption von Bestandsquartiere aus den 60er Jahren und Wohnformen fällt bei diesen Transformatio- entwickeln diese in den nächsten Jahren nen aus mehreren Gründen eine besondere weiter. Durch bauliche Interventionen – Mo- Rolle zu. Zum einen können baulichen Ergän- dernisierungen, Aufstockungen, Anbauten, zungen das extrem homogene Wohnungs- Ersatzneubauten oder Nachverdichtungen angebot der 60er Jahre – fast ausschließlich – besteht die Chance, mehr Wohnraum zu kompakte Zwei- und Dreizimmerwohnun- schaffen und gleichzeitig die Quartiere weiter- gen – erweitern. So bietet sich die Chance, zuentwickeln. Die Ziele sind im Prinzip ge- größere Wohnungen für Familien oder kleine, setzt: aus „Sonne, Licht und Luft“ – die pla- barrierefreie Wohnungen zu etablieren, um so nerische Prämisse der 60er Jahre – wird das Portfolio zu erweitern. Zum anderen ist 12
Quartier „Reparaturwerkzeug“. Mängel werden be- Der Planer versteht sich hier als Seismograph hoben und die einseitige Struktur wird um gesellschaftlicher Veränderungen, der diese das Fehlende ergänzt. Aber sollte das Woh- in Grundrisse übersetzt. nen in der Quartiersentwicklung nicht auch nach vorne gedacht werden? Welche Woh- Gemeinschaftlich orientierte Wohnformen, nungen bauen wir für übermorgen? Wie kann die auch einen Mehrwert für die Nachbar- der Grundriss im Neubau, im Anbau, in der schaft leisten, sind sicher gut geeignet – gera- Aufstockung demographisch gedacht und de in den sehr stringenten und standardisiert entwickelt werden? Welche Antworten gibt geplanten Quartieren der 60er Jahre – Impul- es, um auf Pluralisierung und Individualisie- se zu setzen. Gelingt es in den Erdgeschossen rung zu reagieren und Diversität mitzuden- der neu hinzukommenden Strukturen Ange- ken? Vier Ansätze mit ganz unterschiedlicher bote für das ganze Quartier zu etablieren, Haltung werden im Folgenden aufgezeigt. profitieren insbesondere die Bestände mit den meist gut funktionierenden aber sehr kom- MIT VIELFALT AUF VIELFALT pakten Grundrissen in besonderem Maß von REAGIEREN ausgelagerten, geteilten Funktionen des Woh- Bei diesem Ansatz wird auf Individualisierung nens (z.B. Werkstatt, Gästewohnung, Ge- und Pluralisierung mit einer großen Band- meinschaftsraum, Waschküche etc.). breite an Wohnungstypen und Wohnformen reagiert (z.B. Sack (2016)). Häufig verbunden FLEXIBLE WÄNDE mit der Forderung nach einem hohen Maß an Hier soll die Wohnung selbst flexibel auf unter- Beteiligung zukünftiger Bewohner. Cluster- schiedliche Anforderung reagieren. So kann wohnungen, gemeinschaftliches Wohnen, sie durch „Schaltzimmer“ schrumpfen oder Bau- und Mieterbaugemeinschaften sind Aus- wachsen und damit auf veränderte Haus- druck dieser Philosophie. Ein erhöhtes Maß haltsgrößen reagieren. Flexibilität innerhalb an Solidarität, ehrenamtlichem Engagement der Wohnung kann durch das Entkoppeln von und Mehrwerte für den Stadtteil werden er- Tragstruktur und Ausbau erreicht werden. hofft. Auch fein ziselierte, zielgruppenspezi- Der Nutzer kann durch verschieben der In- fisch „gelabelte“ Wohnprodukte und Grund- nenwände den Grundriss an seine aktuellen risse lassen sich diesem Ansatz zuordnen. Bedürfnisse anpassen. Eine Idee, die nicht neu ist und bereits von den Pionieren der eine präzise und verantwortungsvolle Planung Moderne erprobt wurde. Dieser Ansatz hat der Wohnangebote eine soziale – eigentlich sich bislang allerdings nicht im größeren Stil eine sozialplanerische – Aufgabe. Bauliche durchgesetzt. Entwicklungen im Bestandsquartier sollten in guten Teilen auch für Bestandsmieter – meist NUTZUNGSNEUTRALITÄT ohne überdurchschnittliche Einkommen – UND ANEIGNUNG eine Möglichkeit bieten, sich räumlich zu ver- Bei nutzungsneutralen Grundrissen erfolgt die ändern. Daher gilt es, den Bedarf genau zu Belegung der einzelnen – meist relativ gro- analysieren und passende Wohnungsgrund- ßen – Zimmer oder Bereiche durch den Nut- risse zu bezahlbaren Mieten anzubieten. Zu- zer. Ein „Zimmer“ ist ein „Zimmer“ (nicht dem ist zu prüfen, inwieweit die Grundriss- „Schlaf-/Kinder-/Arbeitszimmer“) und die konzepte selbst kostendämpfend wirken Wohnung ist nicht hierarchisch organisiert. können. Wenn es gelingt, qualitätsvolle aber Ein eher großzügiges und indifferentes Flä- kompakte Grundrisse anzubieten, wäre die chenangebot lädt zur individuellen Aneignung Reduktion der Pro-Kopf-Wohnfläche eine ein. Man findet solche Grundrisse in gründer- legitime Bezahlbarkeitsstrategie und würde zeitlichen Stadthäusern, auch wenn Nutzungs- zudem Ressourcen schonen. Flankiert werden neutralität und Aneignung nicht das Pro- kann dieser Ansatz durch die Auslagerung gramm ihrer Schöpfer war. Ganz explizit sind von Teilfunktionen des Wohnens in gemein- diese Ziele allerdings den Projekten des fran- schaftlich genutzte Flächen. zösischen Architekturbüros Lacaton-Vasal ANJA KULIK eingeschrieben. Es plädiert für einen „Flächen- Die genannten Grundrissstrategien sind sinn- luxus“ auch im sozialen Wohnungsbau, der voll und notwendig, um die Schwächen der durch Low-Tec- und Low-Budget-Strategien Bestandsstrukturen zu beheben und bauliche Stadtsoziologin, ermöglicht wird. Großzügige Zwischenzonen Entwicklungen sozialverantwortlich und mie- bei der VOLKSWOHNUNG Karlsruhe und Zusatzräume schaffen üppige, wenig terfreundlich umzusetzen. Die Grundrisspla- für die Themen Quartier, strategische vordefinierte Räume, die den Nutzer zur An- nung ist hier notwendiges und wichtiges Entwicklung und Soziales zuständig eignung einladen. 13
Nutzungsneutrale Ansätze könnten die Be- genauso gut aber auch als WG funktionieren. vorbereitet ist auf Zukünfte, die wir noch standsquartiere sehr gut ergänzen. Die Pan- Der Ansatz ist pragmatisch ausgerichtet und nicht kennen. Und wie die Wohnung Nut- demieerfahrungen der letzten Monate haben eröffnet dadurch die Chance, sich verstärkt zern Heimat bietet, mit ihren unterschied- mit Lockdown, Homeschooling und Home- auf die zeitlosen Qualitäten der Räume zu lichsten Sorgen, Wünschen, Bedürfnissen und office auf beispielloser Weise gezeigt, wie konzentrieren. „Respekt vor dem Unspektaku- kulturellen Identitäten. Vielleicht erweisen schnell sich die Anforderungen an das Woh- lären“ so lautet eine von zehn Thesen zum sich einige der genannten Planungshaltun- nen ändern können und – was das Homeoffice Wohnen, die vom Bund Deutscher Architek- gen als geeignet, diese unbekannte Zukunft betrifft – vermutlich dauerhaft verschieben ten 2016 formuliert wurde. Es wird aufgefor- offen und neugierig mitzugestalten. werden. Ein nutzungsneutrales Design bean- dert, statt einer „reflexartigen Suche nach sprucht allerdings eher mehr Fläche als spezi- dem Ausgefallenen“ sich verstärkt mit dem fisch geplante Grundrisse und man stößt nicht Kern des Wohnens zu beschäftigen und Quellen selten an die Grenzen der Bezahlbarkeit so- Qualitäten wie Atmosphäre, Zeitlosigkeit, - Hunger, Weidemüller, Protz (2018): wie an die Grenzen der Wohnraumförderung, Material und Licht ins Zentrum zu rücken Bauen in Nachbarschaften. Kompetenz- welche Wohnen noch sehr klassisch denkt. (vgl. Osterwold/Schmidt (2016)). zentrum Großsiedlungen e.V. - Gmür (2020): Von der Politik und vom ROBUSTE STANDARDS AUSBLICK Bauen. S. 282-283. In: IBA_Wien 2022 UND ZEITLOSIGKEIT Der Begriff der Resilienz – ursprünglich aus und future.Lab: Neues soziales Wohnen. Hier soll die Wohnung auf zukünftige unter- der Psychologie kommend – ist schon länger Jovis Verlag schiedliche demografische und gesellschaft- eine Denkfigur der Stadtforschung und be- - Sack (2016): Das Unterschiedliche im liche Entwicklungen vorbereitet sein. Nicht schreibt die Widerstandsfähigkeit und Stress- Nebeneinander. In: Bahner, Böttger: die perfekte Wohnung für eine einzelne, de- resistenz von Strukturen und Systemen. Neue Standards. Zehn Thesen zum finierte Zielgruppe ist der Planungsauftrag. Durch die Pandemieerfahrung und das der- Wohnen. BDA Sie soll für unterschiedliche Zielgruppen gleich zeitige Erleben von Nichtplanbarkeit erhält - Osterwold, Schmidt (2016): Das gut funktionieren. Für das Seniorenpaar ge- der Begriff höchste Aktualität. Er wird noch Unterschiedliche im Nebeneinander. nauso gut, wie für einen alleinerziehenden stärkeren Einzug erhalten in Stadtplanung In: Bahner, Böttger: Neue Standards. Haushalt. Eine große 5-Zimmer-Wohnung und Architektur – verbunden mit der Frage- Zehn Thesen zum Wohnen. BDA sollte die Großfamilie beherbergen können, stellung, wie das Quartier und das Gebäude Im Rintheimer Feld plant die VOLKSWOHNUNG Garagenaufstockungen, die auch architektonisch einen neuen Impuls im Bestandsquartier setzen. Das Projekt wird im Rahmen von Innovativ Wohnen BW gefördert. 14
Quartier Resiliente Quartiere Ein stetiger Lern- und Anpassungsprozess aller Akteure Vielfältige soziale, ökologische und ökonomische Transformationsprozesse stellen unsere Gesellschaft vor komplexe Herausforderungen. Insbesondere unsere Städte und Regionen sind von diesen Veränderungen betroffen und gefordert, zukunftsweisende Lösungen zu ent- wickeln. Ein wichtiger Aspekt wird hierbei die Krisenfestigkeit und Anpassungsfähigkeit im Fall von Störereignissen sein. Die Quartiersebene nimmt in diesem Prozess eine bedeutsame Stellung ein. Im Quartier, im sozialen Nahraum, wohnen wir, hier begegnen sich die Menschen, dort leben sie im wahrsten Sinne des Wortes zusam- men. Herausforderungen und Missstände treten im Quartier deutlich zutage und werden greifbar. Gleichzeitig sind sie Orte der Innovation, der Kreativität, des Engagements. Damit sind sie gewissermaßen Seismographen unserer Gesellschaft. Probleme werden schnell sicht- bar, aber auch praktisch und unmittelbar in Angriff genommen. KRISEN DECKEN VERWUNDBARKEITEN AUF Unsere Gesellschaft ist verwundbar geworden. Insbesondere die Krisen und Megatrends haben uns diese Verwundbarkeit vor Augen geführt: 15
angefangen von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 ihrer Krisenfestigkeit ebenso wichtig sind wie die technische Infra- über sich verschärfende soziale Ungleichheiten, Terrorereignisse und struktur, die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes oder die Hand- den Klimawandel bis hin zur SARS-CoV-2-Pandemie. Häufig handelt lungsfähigkeit von Verwaltungsinstanzen. Eine gute Resilienzstra- es sich um multiple Krisen, die sich überlagern und dadurch mit einer tegie basiert demnach auf einem multidisziplinären Ansatz. ausgesprochenen Wirkmächtigkeit auftreten. Sie haben deutlich ge- macht, dass wir uns auf Störungen vorbereiten müssen. Es geht um • Charakteristika: Ein resilientes Quartier zeichnet sich dadurch aus, unsere Fähigkeit, Krisen zu meistern und darum, im Krisenfall hand- dass es „robust“ gegen äußere Einflüsse ist, dass es durch diver- lungsfähig zu bleiben. Es gilt, Risikokompetenz und eine umfassende sifizierte Strukturen auch in der Krise über ausreichend Sicher- Risikointelligenz aller Akteure im Quartier zu etablieren. Zukunftsfähig heitsreserven verfügt („Redundanz“) und dass alle relevanten zu sein, heißt resilient zu sein. Akteursgruppen über ausreichend Kreativität und Wissen („Ein- fallsreichtum“) verfügen, um mit risikobehafteten Situationen um- WAS BEDEUTET RESILIENZ? gehen zu können. Ursprünglich beschreibt der Begriff Resilienz die physikalische Fähig- keit eines Werkstoffs, unbeschadet auf Störungen reagieren zu können. • Ausprägung: Inwieweit die Resilienz in einem Quartier tatsächlich Das lateinische „resilire“ meint so viel wie abprallen oder zurückfedern. ausgeprägt ist, zeigt sich schließlich daran, was im Krisenfall passiert. Es geht bei der Resilienz um eine flexible Krisenfestigkeit und um eine Wie reagiert das System, wie reagieren die einzelnen Segmente? ständige Anpassung an Stressoren, Brüche und Schocks. Ein Quartier, Wie schnell kann sich ein Quartier nach einer Krise erholen? Wie das durch Störereignisse keine grundlegenden Schäden davonträgt, rasch sind eine Neuorganisation und Restrukturierung möglich? sich trotz der Belastung und des Stresses seine Entwicklungsmöglich- keiten bewahrt und sich als anpassungsfähig erweist, kann somit als ein „Resilientes Quar- tier“ bezeichnet werden. VON DER NACHHALTIGKEIT ZUR RESILIENZ? Die Frage, ob das Paradigma der Resilienz je- nes der Nachhaltigkeit ablöst oder ob es einen Teil der Nachhaltigkeitsstrategie darstellt, wird seit einigen Jahren viel diskutiert. Aus ethischer Perspektive bedeutet der gegenwärtige Fokus auf die Resilienz, dass sich unser Anspruch an den Umgang mit Krisen abgeschwächt hat. Das Prinzip der Nachhaltigkeit stellt nämlich im Gegensatz zur Resilienz die Vermeidung von Krisen in den Mittelpunkt. Als normatives Konzept zielt Nachhaltigkeit auf den Erhalt unserer sozialen, ökologischen und ökonomi- schen Potentiale, auf eine gerechte Verteilung und ein gutes Leben für alle. Resilienz hingegen stellt ganz pragmatisch die Frage, wie wir uns gegen die Risiken einer aus den Fugen gerate- nen Welt schützen können. Es geht vor allem um die Anpassung an den voranschreitenden Zerstörungsprozess, es geht darum zu lernen und mit Veränderungen zurecht zu kommen. EIN RESILIENTES QUARTIER IST EIN ZUKUNFTSFÄHIGES QUARTIER Worauf kommt es nun an, wenn unsere Quar- tiere resilient sein sollen? Welche Faktoren zeichnen die Resilienz aus (s. Abbildung)? RESILIENTE STRATEGIEBAUSTEINE FÜR QUARTIERE • Systemsegmente: Zunächst ist es wichtig, dass die Resilienz alle Um Resilienzstrategien für Quartiere zu entwickeln, ist es erforderlich, Bereiche unseres Lebens umfassen muss. Wirtschaft, Umwelt, zunächst die Risiken zu ermitteln. Wo und inwiefern ist ein Quartier Governance, Infrastruktur und Gesellschaft sollten als komplex verwundbar? Welche Sozialräume mit welcher Handlungsfähigkeit ineinandergreifende Segmente gleichermaßen resilient sein. Das können identifiziert werden? Welche Ressourcen und Potentiale be- bedeutet, dass das Humankapital und die gelebte Solidarität in stehen? Auf welchem Stand befindet sich die „Hardware“ des Quar- 16
Quartier tiers, die (technische) Infrastruktur? Auf dieser Grundlage können sen, um sich in Krisenzeiten gegenseitig unterstützen zu können. Gefahren frühzeitig erkannt und die Verwundbarkeit mit entspre- Dabei kann es um kurzfristige Hilfe gehen, wie sie in Form von chenden Maßnahmen begrenzt werden. Diese Notwendigkeit macht Nachbarschaftsprojekten im März und April 2020 realisiert wurden. gleichzeitig deutlich, dass es keine Blaupause für Resilienzstrategien Aber auch langfristige Herausforderungen, wie die Versorgung geben kann. Gleichwohl gibt es gewisse Bausteine, die für resiliente der alternden Bevölkerung, sind in diesem Kontext wichtig. Ein Quartiere praktisch unabdingbar sind: Quartier, das zusammenarbeitet und solidarisch agiert, ist wider- standsfähiger. • V ielseitige Planung mit „vielen“: Resilienz kann sich vor allem dann entfalten, wenn die Menschen die Probleme in ihrem Quar- Über diese Bausteine hinaus sind zahlreiche weitere Segmente von Be- tier als ihre eigenen begreifen und wenn sie an der Gestaltung deutung: von der „blauen Infrastruktur“ zur Sicherstellung der Was- ihres Wohnumfeldes mitarbeiten. Basis hierfür ist eine prozessorien- ser- und Abwasserversorgung bis hin zu unserem Finanzsystem. Mit tierte Planung, die zulässt, dass Menschen ihr Quartier mitgestalten den in diesem Beitrag hervorgehobenen Aspekten soll jedoch ver- können. Eigeninitiative und Engagement sind zentrale Ressourcen, deutlicht werden, dass resiliente Quartiersentwicklung im Wesentli- aus denen das Quartier der Zukunft schöpfen kann. chen von der Gesellschaft getragen wird. Von unserem Gemeinsinn und einem kooperativen Miteinander hängen letztlich auch Mensch- • Intelligente, digitalisierte Versorgung: Katastrophen bedro- Umwelt-Beziehungen ab, die sich in einem ausbalancierten systemi- hen oftmals Infrastruktursysteme, die für die Gesellschaft und ihr schen Gleichgewicht befinden. Funktionieren lebenswichtig sind. Anpassungsfähig und resilient werden wir in diesem Bereich durch Vielfalt und Dezentralität. Bür- MIT RESILIENZ HIN ZUR GROSSEN TRANSFORMATION gerwerke und Genossenschaften sind auf diesem Weg wichtige Resilienz ist vor allem in Zeiten, in denen sich Rahmenbedingungen Maßnahmen, die auch in unseren Quartieren angestoßen und rasch wandeln und zudem kaum prognostizierbar sind, ein überlebens- umgesetzt werden können. notwendiges Paradigma der Quartiersentwicklung. Resilient zu sein, bedeutet Krisen meistern zu können und auf das Unerwartete vor- • G leicher Zugang für alle: soziale Gerechtigkeit ist ein unabding- bereitet zu sein. barer Aspekt der urbanen Resilienz. Das bedeutet, dass alle Bürger gleichwertigen Zugang zu den Systemen einer Stadt haben. Somit Resilienz entbindet uns jedoch nicht von der Anstrengung, die große ist Resilienz auch ein Beitrag zu mehr Mitbestimmung, Selbster- Transformation entschieden zu verfolgen. Vielmehr geht es darum, mächtigung und Einfluss und in diesem Sinne wichtig für unsere die Strategien der Nachhaltigkeit um Resilienzstrategien zu ergänzen, demokratische Verfasstheit. um in der Quartiersentwicklung ethische Werte und pragmatische Instrumente klug miteinander zu verschränken. Resilienz ermöglicht • V ernetzter öffentlicher Nahverkehr: robuste Anpassung und Entwicklung – auch Einer der wichtigsten Faktoren für resilien- unter widrigen Bedingungen. Um diese gute te Städte ist ein nachhaltiges öffentliches „Verfassung“ in unseren Quartieren zu errei- Nahverkehrssystem. Dazu zählt ein viel- chen, ist sie als ein stetiger Lern- und Anpas- fältiges multimodales Angebot mit leicht sungsprozess aller Akteure – von Führungs- zugänglichen Diensten. Intelligente, digi- kräften in Politik und Wirtschaft bis hin zu tale Mobilitätslösungen erhöhen zudem den schwachen Gruppen in unserer Gesell- Steuerungsmöglichkeit und Zugänglich- schaft – zu betrachten und zu gestalten. keit und helfen, Engpässe zu vermeiden. • L okales Handeln stärken: Ein entschei- dender Baustein für Resilienz ist die Stär- kung des lokalen und regionalen Handelns. Je weniger ein Quartier auf überregionale Literatur: Märkte und Institutionen angewiesen ist, - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und umso unabhängiger und souveräner ist es Raumforschung (2018): Stresstest Stadt – und umso besser können Krisen bewältigt DR. ANJA wie resilient sind unsere Städte? Unsicher werden. Lokale Netzwerke von Unterneh- heiten der Stadtentwicklung identifizieren, men, Genossenschaften, starke Handels- REICHERT- analysieren und bewerten. Bonn. und Gewerbevereine sind Resilienzgemein- - Fekkak, Miriam et al. (2016): „Resiliente SCHICK schaften, die nicht nur Schutz, sondern Stadt – Zukunftsstadt“ (Forschungs auch Dienst- und Hilfeleistungen bieten gutachten des Wuppertal Instituts). können. - Jakubowski, Peter (2013): Resilienz – eine zusätzliche Denkfigur für gute • S olidarität und Gemeinschaft: Resilienz Studienleiterin für Stadtentwicklung, Stadtentwicklung. In: Informationen zur setzt Zusammenhalt voraus. Die Menschen Ländliche Räume und Wohnungsbau an Raumentwicklung, Heft 4, 371-378. benötigen die Mittel und das nötige Wis- der Evangelischen Akademie Bad Boll 17
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