Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online

Die Seite wird erstellt Hellfried Reinhardt
 
WEITER LESEN
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
aktuell
26. Jahrgang

Das Magazin der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Baden-Württemberg   Ausgabe 2/20

Im Fokus: Wohnen
und Leben im Quartier
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Inhalt

                                                                          AUS DEM VERBAND
Im Fokus: Wohnen                                                     46   Der digitale Karlsruher Rechtstag:
und Leben im Quartier                                                     Schwerpunkt WEG-Reform 2020

                                                                     48   Fachausschuss "Wohnen und Leben" zu Gast in Freiburg

                                                                     50   Fachausschüsse besichtigen Projekte in Heilbronn

                                                                     51   Das Energiehaus-Plus-Quartier

                                                                     52   KoWo-Tagung zum Mietendeckel

                                                                     54   GdW-Präsident Gedaschko auf Sommertour

    4   Die Bedeutung des Quartiers für die Wohnungswirtschaft            MITGLIEDER AKTUELL
    6   Das neue Quartier im Fokus der Stadtentwicklung              56   Offenburger Baugenossenschaft:
                                                                          Erfolgreiches Mieterstromprojekt
    9   Das Quartier heute und im Jahr 2050
                                                                     57   Familienheim Freiburg:
12      Planungsfragen im Bestandsquartier                                Film zum 90-jährigen Jubiläum

15      Resiliente Quartiere                                         58   BBG Böblingen:
                                                                          Postareal wird offizielles IBA-Projekt
18      "Quartier 2030 – Gemeinsam.Gestalten."
                                                                     59   AWTS-Assekuranz-GmbH feiert Jubiläum
21      Zukunft(s)Quartier: Future Living® Berlin
                                                                     59   Tuttlinger Wohnbau: Neue Auszubildende

                                                                     59   Fritz-Erler-Schule startet in neues Schuljahr

                                                                     60   Bauverein Breisgau:
                                                                          Innovatives Holzbauprojekt in Herbolzheim

        B E ISPI ELE :
24      Die MieterBauGemeinschaft Q6 Neckarpark

26      Franklin in Mannheim – Konversion eines Quartiers
                                                                     60   WOBAK Konstanz:
30      Revitalisierung des Hallschlags in Stuttgart-Bad Cannstatt        DW-Zukunftspreis für "Reihenhäuser auf dem Parkdeck"

34      Alles Neumatt: Behutsame Quartiersumstrukturierung           61   Wohnungsbau Ludwigsburg:
                                                                          Individuelles Umzugsmanagement
36      wirRauner: Lebendige Nachbarschaft in Kirchheim/Teck

39      Stiftungen: Gemeinnützige Unterstützung im Quartier               VERMISCHTES
43      Onlinevortrag: Gemeinschaftliches Wohnen im Quartier         62   Jubiläen / Impressum

44      Quartiersentwicklung mit DGNB-Zertifizierung                 63   Termine

2
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Editorial

                                           Liebe
                                           Leserinnen
                                           und Leser…
in der vergangenen Magazinausgabe haben wir den Schwerpunkt auf die Klimapolitik und
den Klimawandel gerichtet – in dieser Ausgabe blicken wir auf das Quartier. Wir lassen
Expertinnen und Experten zu Wort kommen, die sich mit dem Quartier aus unterschiedlichen
Blickwinkeln befassen – aus sozialen, ökologischen, infrastrukturellen und energetischen
Aspekten.

Der Wohn- und Lebensraum gewinnt durch die Pandemie einen noch höheren Stellenwert.
Insbesondere während des Lockdowns wurde deutlich, wie wichtig eine sichere Wohnraum-
versorgung, stabile und hilfreiche Nachbarschaften, eine gute Versorgungsinfrastruktur und
Aufenthaltsqualität durch Grünanlagen, Parks und Gärten in der Nähe sind. Denn viele
verbringen mehr Zeit zu Hause, arbeiten mobil, reisen weniger und bewegen sich in der
Natur.

Auch aus der gesellschaftlichen und demografischen Entwicklung ergibt sich ein Handlungs-
bedarf bei der Quartiersentwicklung. Wie, wo in welchem Umfeld wollen wir in Zukunft woh-
nen, leben und alt werden? Welchen Beitrag kann die Wohnungswirtschaft dafür leisten?

Beispiele von unseren Mitgliedsunternehmen zeigen, in welcher Weise sich Wohnungsunter-
nehmen in der Quartiersentwicklung engagieren. Wohnungsunternehmen schaffen Räume
zum Wohnen, zur Begegnung und für das Zusammenleben, Versorgungsstrukturen und Netz-
werke. Sie sind wichtige Akteure bei der Schaffung von generationengerechten Quartieren.

Das Magazin soll Anregung bieten, über die Entwicklung nachzudenken und Impulse mitzu-
nehmen. Lassen Sie sich von den Ideen und Beispielen inspirieren und motivieren.

Wir wünschen Ihnen eine angenehme Lektüre.

Dr. Iris Beuerle, Verbandsdirektorin

                                                                                                    3
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Die Bedeutung des Quartiers
für die Wohnungswirtschaft
Im Gespräch mit vbw-Verbandsdirektorin Dr. Iris Beuerle
                        Die Wohnungswirtschaft betrachtet in ihren strategischen Planungen,
                        bei der Weiterentwicklung des Bestandes und insbesondere für die Mieter
                        und Mieterinnen in zunehmendem Maße das Quartier. Ziel ist es, nach-
                        haltige, generationengerechte, zukunftsfähige Quartiere zu schaffen
                        und zu erhalten. Dies betrifft den Wohn- und Lebensraum, Räume der
                        Begegnung inner- und außerhalb der Gebäude und letztlich das Zu-
                        sammenleben der Menschen in ihrem nahen Lebensumfeld.

   Was heißt eigentlich Quartier?                	In welchen Bereichen spielt                     Überalterung, Individualisierung und Inter-
                                                   das Quartier für die Wohnungs­               nationalisierung wirken sich, als Folgen der
   Für mich ist ein Quartier eine überschauba-     wirtschaft eine Rolle?                       demografischen Entwicklung, auf die Bevöl-
re Wohnumgebung, die unterschiedlich groß                                                       kerungsstruktur in den Städten, Gemeinden
sein kann. Häufig sind es große Straßen, eine       In der demografischen und gesellschaftli-   und Quartieren aus. Um den Bedürfnissen der
Bahn oder Flüsse, die ein Wohngebiet ein-        chen Entwicklung aber auch beim Klima-         Bewohner gerecht zu werden, reicht es nicht
grenzen, es kann auch eine Wohnsiedlung,         wandel und der energetischen Quartiersent-     aus, nur die Wohnungen den veränderten
ein Stadtteil oder ein Dorf sein. „Quartier“     wicklung.                                      Bedingungen anzupassen. Was nützt eine
betrachtet immer auch den Lebensraum.                                                           barrierefreie Wohnung für Senioren, wenn es
Viele Menschen bewegen sich in ihrem „Kiez“      	Wie ist der Zusammenhang zur                 im nahen Umfeld keine Einkaufsmöglichkei-
oder ihrem „Viertel“, das wäre dann auch ihr       demografischen Entwicklung?                  ten, keine ärztliche Versorgung und öffentli-
Quartier.                                                                                       che Verkehrsmittel gibt? Was nützen familien-

  4
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Quartier

freundliche Wohnanlagen ohne Kindergärten,        cherung, Netzmanagement und Verbrauch            das Quartier aus. Hier geht es dann um die
Spielplätze und Schulen in der Nähe? Zum          in ein Gesamtsystem können künftig in den        Frage, wie geplante Frei- und Grünräume so
Wohlfühlen benötigen die Bewohner eine            Häusern sowohl Energie für Heizung und           angelegt werden können, dass diese im Falle
gute Nachbarschaft und ein Umfeld mit ver-        Strom als auch für Elektroautos erzeugt wer-     von Überflutungsereignissen auch als tempo-
schiedenen Kultur- und Freizeitangeboten,         den. Daneben gewinnen öffentliche Ladesta-       rärer Speicher bzw. Pufferraum für Wasser
Nahversorgung und Infrastruktur. Dafür sind       tionen, auch für E-Bikes an Bedeutung. Durch     fungieren können und so die Auswirkungen
gemeinsame Handlungskonzepte mit allen            die Zunahme des Fahrrad-Verkehrs werden          auf die Gebäude verringern. Bei zunehmender
Akteuren erforderlich, die sich in einem Quar-    auch Radwege und Fahrradabstellplätze in         Hitze sind auch Bäume und Schattenplätze
tier engagieren.                                  den Wohnanlagen und im öffentlichen Raum         im Wohnumfeld relevant.
                                                  relevant. Ãltere Menschen nutzen zunehmend
	Liegt die besondere Heraus­                     Hilfsmittel wie Rollatoren und Elektromobile     	Was bedeutet energetische
  forderung bei der älter werdenden               (Scooter). Hierfür müssen ausreichend Ab-          Quartiersentwicklung?
  Gesellschaft?                                   stellplätze vorgehalten und geeignete Wege
                                                  errichtet werden.                                   Viele Städte und Wohnungsunternehmen
    Ja. Die Menschen werden zunehmend äl-                                                          sind auf dem Weg zur Klimaneutralität im
ter und können mit ihren damit verbundenen        	Quartier und Klimawandel.                      Jahr 2050 oder sogar früher. Um das Ziel zu
Einschränkungen möglicherweise nicht mehr           Wie ist da der Zusammenhang?                   erreichen, müssen auch die Quartiere ihren
selbstständig in ihren Häusern oder Wohnun-                                                        Beitrag leisten, Energie und Kohlenstoffdioxid
gen leben. Hier kann die Wohnungswirtschaft          Die Nutzung regenerativer Energien wird       (CO2) einzusparen. Bei der energetischen
Lösungen bieten. Zahlreiche Wohnungsunter-        auch das Stadtbild verändern. Der Schlüssel zu   Gebäudesanierung, dem Aufbau von CO2-
nehmen bieten entsprechende Wohnformen,           mehr Energieeffizienz liegt im Gebäudebe-        freundlichen Wärmenetzen, Maßnahmen zur
wie Wohnpflegegemeinschaften, Demenz-             stand. Dort werden 40 % der Endenergie ver-      Begrünung oder dem Ausbau der Radwege
wohngruppen oder Wohngemeinschaften für           braucht. Passivhäuser, Null- oder Plusenergie-   sind gemeinsame Maßnahmen mit den Ak-
Ältere an, aber auch Betreuungs- und Dienst-      häuser werden vermehrt gebaut und nach-          teuren vor Ort sinnvoll. Ein Beispiel ist die
leistungsangebote, wie Wohncafés, Angebo-         gefragt.                                         Integration von regenerativen Energieträgern
te in Nachbarschaftstreffs oder sie vermitteln                                                     oder die Nutzung überschüssiger Abwärme
entsprechende Serviceangebote.                    Klimawandelfolgen, wie Überflutungen durch       im Quartier. Das Quartierskonzept beinhal-
                                                  vermehrten Starkregen oder auch lokale           tet auch eine CO2-Bilanz des Quartiers.
Und weil es der Wunsch der Älteren ist, so        Hochwasserereignisse wirken sich auch auf
lange wie möglich selbstbestimmt in der ei-                                                           Was wäre Ihr Fazit?
genen Häuslichkeit oder zumindest in der
näheren Umgebung alt zu werden, macht es                                                              Generationengerechte Quartiere müssen
Sinn, diese Angebote in ihrem Quartier zu                                                          zum Beispiel eine funktionale Mischung auf-
etablieren und nicht außerhalb.                                                                    weisen, um Wohnen, Arbeiten, Bildung, Ein-
                                                                                                   kaufen, medizinische Versorgung sowie Kul-
	… und die gesellschaftliche                                                                      tur- und Freizeitangebote zu ermöglichen. Um
  Entwicklung?                                                                                     Quartiere nachfragegerecht und zukunftsfä-
                                                                                                   hig weiterentwickeln zu können, brauchen
   Betreuung und Pflege sowie Altersarmut                                                          wir eine koordinierte und strategisch ange-
werden zur Gesellschaftsaufgabe. Durch die                                                         legte integrierte Quartiersentwicklung durch
zunehmende Individualisierung gibt es viele                                                        Kooperationen mit Wohnungsunternehmen
kleine Haushalte, Singles und Alleinerziehen-                                                      und anderen Akteuren. Wir brauchen aber
de. Bezahlbares Wohnen gewinnt an Bedeu-                                                           auch Förderprogramme zur Finanzierung der
tung. Die Nachfrage nach Mobilitätskonzep-                                                         Maßnahmen und Bündnisse mit Investoren,
ten und technischen Assistenzsystemen wird                                                         Kommunen, Verwaltungen und der Politik.
zunehmen.
                                                                                                   Insgesamt besteht die Herausforderung in der
	Können Sie den Bezug zur Mobilität                                                               Integration der technischen und baulichen,
  näher beschreiben?                                DR. IRIS                                       sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen
                                                                                                   Anforderungen. Dazu brauchen wir kluge
   Jüngere Menschen verzichten zunehmend            BEUERLE                                        Konzepte mit allen Akteuren, auch der Woh-
auf ein eigenes Auto. Der Wunsch nach mo-                                                          nungswirtschaft.
bilen öffentlichen Verkehrsmitteln wie Car-
Sharing und Stadträdern nimmt hingegen              Verbandsdirektorin vbw Verband
weiter zu. Die Elektromobilität wird gefördert.     baden-württembergischer Wohnungs-
Durch die Bündelung von Erzeugung, Spei-            und Immobilienunternehmen e.V.

                                                                                                                                             5
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Das neue Quartier
im Fokus der Stadtentwicklung
Das moderne Quartier: gemischt, resilient, nachhaltig
          Wozu soll sich die Stadtentwicklungsplanung mit dem Thema „Das neue
          Quartier“ auseinandersetzen? Das Baugesetzbuch gibt schließlich der
          öffentlichen Planung in § 1 sehr ambitionierte Grundsätze vor: „Die Bau-
          leitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die
          sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch
          in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in
          Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozial­
          gerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse
          der Bevölkerung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine men-
          schenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu
          schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpas-
          sung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die
          städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell
          zu erhalten und zu entwickeln. Hierzu soll die städtebauliche Entwicklung
          vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen. ….“

6
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Quartier

Würden die etablierten und die in den letz-       ten. Damit sind dem städtebaulichen An-             eine hohe wirtschaftliche Produktivität und
ten Jahren neu entwickelten Quartiere diese       spruch, neue Quartiere fertig zu planen oder        eine hohe ökologische Effektivität selbstver-
Grundsätze erfüllen, könnte eine Auseinan-        bestehende Quartiere umfassend umzubauen,           ständlich sein. Optionen zur Netzentkopplung
dersetzung mit dem Thema „Das neue                Grenzen gesetzt. Die digitale Stadtgesellschaft     werden teilweise noch ergänzend gefordert.
Quartier“ sich auf wenige Nachschärfungen,        erfordert Technik zur sozialen und normativen       Stadtentwicklungsplanerische Ansätze einer
bspw. in den Bereichen der Resilienz und Di-      Kontrolle. Die Resilienz, die Krisenfestigkeit      adaptiven Planung, oft im deutlichen Unter-
gitalisierung, konzentrieren. Tatsächlich sind    erfolgt hier nicht aufgrund von puffernden          schied zu städtebaulich fokussierten Ansät-
jedoch viele Quartiere – auch neue und preis-     Merkmalen, sondern auf der Grundlage von            zen, setzen hier auf eine Integration sowohl
gekrönte– Energiefresser, Verkehrserzeuger        Daten, Explorationen und zu legitimierender         von High Tech als auch von Low Tech. An die
und dazu auch noch für Normalverdienende          Eingriffe in die Quartiersentwicklung und den       Stelle von linearen städtebaulichen Planun-
zu teuer. Formale Vorgaben genügen also           Alltag der dort Wohnenden und Arbeitenden.          gen mit dem Entwurfsziel einer Finalplanung
nicht, damit Quartiere das Modelabel „nach-       Die Störanfälligkeit gesteuerter im Unter­­schied   treten verstärkt adaptive Planungsansätze,
haltig“ tatsächlich verdienten.                   zu selbstregulierenden Systemen sei hier nur        die – als scheinbares Paradoxon – Räume für
                                                  ergänzend erwähnt.                                  Ungeplantes einplanen.
Ein seit Jahren verfolgter Ansatz, um Quartie-
re zukunftsfähig zu gestalten, ist der Ansatz     ADAPTIVE PLANUNGSANSÄTZE                            Bei der unbestritten notwendigen Transfor-
der sogenannten Smart City (smart = intelli-      Welche Eigenschaften sollte demnach „das            mation der Stadt und ihrer Quartiere kann
gent). Die meisten Vorhaben und Forschungen       neue Quartier“ aufweisen, um möglichst              durchaus auf traditionellen und bewährten,
zu Smart City fokussieren technische Lösungs-     zukunftsfest zu sein? Abseits aller Romantik        wie auch auf innovativen Ansätzen und Er-
ansätze für Problemstellungen der Stadtent-       und eklektizistischen Ausführungen, wie sie         kenntnissen aufgebaut werden. Gründerzeit-
wicklung, in der Regel unter Einsatz digitaler    im Leitbild der europäischen Stadt oft mit-         quartiere haben sich als sehr robust zur Adap-
Techniken, manchmal sogar von Technologien.       schwingen, sollten unter Ausnutzung aller           tion sehr unterschiedlicher Rahmenbedingun-
Dabei werden gemischte und reine Wohn-            Möglichkeiten der Smart City bspw. eine             gen erwiesen. Wesentliche Erfolgsfaktoren
quartiere sowie Gewerbegebiete mittels City-      hohe individuelle und soziale Lebensqualität,       hierfür waren und sind: eine hohe städtebau-
logistik, optimierender Gebäude- und Energie-
technik, digitaler Produktionsabläufe, Möglich-
keiten für mobile Arbeitsformen und weitere
technikbasierte Handlungsansätze qualifiziert.
Hierdurch können wesentliche Beiträge zur
teilräumlichen und sektoralen Ressourcenef-
fizienz geleistet werden.

DIE INTELLIGENTE STADT- UND
QUARTIERSENTWICKLUNG
Doch reicht diese Form der „intelligenten
Stadt- und Quartiersentwicklung“, um „das
neue Quartier“ zu definieren und planerisch
zu verfolgen? Ist „intelligent“ auch „klug“?
Die intelligente Stadt erfordert Steuerung.
Steuerung erfordert Informationen zu steue-
rungsrelevanten Rahmenbedingungen. Dieser
in industriellen Fertigungsprozessen und auch
auf der städtebaulichen Objektebene einlös-
bare Anspruch findet auf der Quartiersebene
seine Grenzen. Städtebauliche Quartiere sind
offene Systeme. Sie sind komplex, viele so-
gar kompliziert und haben eine extrem lange
Lebenserwartung und sollten für diese ausge-
legt sein. Die Entwicklung der hierfür rele-
vanten wirtschaftlichen, sozialen und ökolo-
gischen Rahmenbedingungen ist zumindest
mittel- bis langfristig von großen Unsicher-
heiten geprägt. Die viel diskutierten Aspekte
der disruptiven Stadtentwicklung haben durch
Starkregenereignisse, Technologiesprünge,
die Flüchtlingsthematik und aktuell mit der
Corona-Pandemie einen neuen Schub erhal-          Gründerzeitlich basierte gemischte Strukturen in Berlin

                                                                                                                                                7
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
liche Dichte, mit der das planerische Prinzip     enteignungsgleichen Eingriffen in die Boden­     Dichte zur Wahrung von Optionen ausgehal-
der Nähe verfolgt werden kann, die Möglich-       ordnung im Siedlungsbestand erforderlich         ten werden müssen. Die Ausbildung der Fä-
keit der Nutzungsmischung, die nicht unbe-        werden. Das aktuelle Sanierungsrecht und         higkeit zur Anpassung an sich verändernde
dingt in jedem Gebäude realisiert werden          auch die Überlegungen zu einer städtebau-        Rahmenbedingungen und Systemdynamiken
muss und eine Vielfalt der Verfügungsbe-          lichen Entwicklungsmaßnahme im Innenbe-          durch vernetzte Lern- und Steuerungspro-
rechtigten. Derzeit diskutierte Modelle des       reich werden hier nicht ausreichen. „Die Musik   zesse erfordert Reallabore zur schrittweisen
Clusterwohnens können hier auf der Objekt­        spielt im Bestand“. Vor allem im Siedlungs-      Qualifizierung unserer Quartiere für unter-
ebene Impulse setzen. Es geht um die Option       bestand mit seiner ausgeprägten Persistenz       schiedliche Zukünfte.
der räumlich-funktionalen Zuordnung ver-          wird sich zeigen, wie vulnerabel und wie
schiedener Nutzungen zueinander, nicht um         resilient unsere Städte sind.                    Das adaptive Quartier wird nur gemeinsam
das derzeit oft vertretene Dogma der zwangs-                                                       mit der Bürgerschaft und den sehr unter-
weisen gebäudebezogenen Mischung. Mo-             DAS QUARTIER DER MÖGLICHKEITEN                   schiedlichen weiteren Akteuren der Quar-
bilität wird im Quartier der Zukunft als          Es bleiben viele offene Fragen, wie das Quar-    tiersentwicklung erfolgreich erarbeitet werden
Dienstleistung integriert sein. Homeoffice,       tier der Zukunft aussehen kann und vor allem,    können. Beteiligung entwickelt sich vor dem
Coworking mit ergänzenden Angeboten zur           wie dieses als „Quartier der Möglichkeiten“      Hintergrund, dass Planungs- und Nutzungs-
Be­treuung von Kindern und Senioren, Ein-         planerisch-adaptiv entwickelt werden kann,       phase eines Quartiers zunehmend verschwim-
kaufsservice, City- und Quartierslogistik sind    deren Beantwortung sicherlich nur interdis-      men, immer mehr zu einer Daueraufgabe.
bereits heute machbar.                            ziplinären Ansätzen zugänglich sein wird.        Dabei werden die sehr unterschiedlichen
                                                  Ähnlich der Zweit- und Drittverwendung von       Handlungslogiken mit ihren Nutzungs- und
Ein weiterer Faktor für ein sich resilient wan-   Gebäuden werden Quartiere stärker mit ihren      Verwertungsinteressen und zeitlichen Pers-
delndes aber auch aktiv wandelbares Quartier      Potenzialen zu sehen sein. Die derzeit gerade-   pektiven der Beteiligten eine besondere He-
sind hierfür geeignete Verfügungsformen für       zu gebetsmühlenhaft geforderte hohe städte-      rausforderung darstellen.
Immobilien. Die bisher für die Stadtentwick-      bauliche Dichte ist dabei kein Selbstzweck.
lung prägenden Verfügungsformen und die           Sie ist dem städtebaulichen und siedlungs-       Ebenso stellt sich die Frage, inwieweit die
damit verbundenen Einflussmöglichkeiten auf       strukturellen Kontext und Entwicklungsstand      öffentliche Verwaltung und damit die öffent-
die Quartiersentwicklung, die sich im We-         eines Quartiers anzupassen. Gegebenenfalls       liche Planung vorbereitet ist. Gegebenenfalls
sentlichen nach den drei Formen Eigentum,         werden auch längere Phasen geringerer            ist sie den an sie gestellten Anforderungen
Besitz und faktische Nutzung von Immobilien                                                        aus Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft usw.
unterscheiden lassen, werden zukünftig an                                                          zu einem guten Teil gewachsen, nicht jedoch
neue Herausforderungen angepasst werden                                                            den tatsächlichen, langfristigen, im Alltag
müssen. So zeigt bspw. die aktuell diskutierte                                                     nicht formulierten, Herausforderungen, die
Novelle des WEG-Rechts, dass notwendige                                                            strukturelle Änderungen des kommunalen
Investitionen zur Weiterentwicklung des Sied-                                                      politisch-administrativen Systems erforderlich
lungsbestandes wegen organisatorischer                                                             machen werden. Die notwendige verstärkte
Hemmnisse unterbleiben. Auch aktuell oft                                                           Vernetzung der Quartiersentwicklung und
favorisierte Modelle, wie Baugruppen, regeln                                                       der gesamtstädtischen Entwicklungsplanung
zwar die Gründung und den Normalbetrieb,                                                           und damit ein neues Zusammenwirken von
ein irgendwann anstehender grundlegender                                                           integrativer Gesamtplanung mit integrierten
Umbau bis hin zu einem Abriss und damit dem                                                        Konzepten zeichnet sich bislang nur in Ansät-
temporären Untergang der Immobilie ist in                                                          zen ab. Was bleibt ist ein Grundoptimismus,
der Regel nicht Gegenstand der getroffenen                                                         dass sich die Gesellschaft von den aktuellen
Vereinbarungen. Hier werden in Zukunft neue                                                        Anforderungen lösen und auf die anstehen-
Verfügungsformen in einem Kontinuum von                                                            den Herausforderungen einstellen wird. Das
privatem (und öffentlichem) Eigentum und                                                           Institut für Stadt- und Regionalentwicklung
gemeinschaftlichen Trägerformen, die sowohl                                                        arbeitet sowohl in der wirkungsorientierten
öffentlich und privat als auch in Mischformen                                                      Forschung als auch mit einer Vielzahl kommu-
auftreten können. Womöglich steht eine Re-          ALFRED                                         naler Partner in der konkreten Stadtplanung
naissance der altbewährten Allmende, nicht                                                         vor Ort. Es hat sich zur Aufgabe gemacht,
als Dorf- sondern als Quartiersanger, bevor.        RUTHER-MEHLIS                                  vor Ort umsetzbare Lösungen kooperativ zu
Auch diese Räume, die durch gemeinsames                                                            erarbeiten und dabei auch langfristige und
öffentliches und privates Handeln gezielt                                                          grundlegende Aspekte in die planerische und
Optionen schafft für individuelle und kollek-       Gesellschafter des Instituts für               politische Diskussion einzubringen.
tive Anpassungs- und Innovationsprozesse,           Stadt- und Regionalentwicklung IfSR
bedürfen einer Steuerung. Die bekannte              und Prof. für Stadtplanung an der
„Tragik der Allmende“ gilt es zu vermeiden.         HfWU Hochschule für Wirtschaft und
Es werden auch Kompensationsansätze bei             Umwelt Nürtingen-Geislingen

  8
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Quartier

                                                        Das Quartier heute
                                                        und im Jahr 2050
Ein Blick auf die Entwicklung in den Städten
Gesellschaftliche Krisen sind immer von der Gewissheit durchzogen, dass                                  nissen charakterisiert wurde. Mit der Entwick-
                                                                                                         lung der modernen Kleinwohnung verband
tiefgreifende Veränderungen bevorstehen und Entscheidungen fällig
                                                                                                         sich eine Enthäuslichung wichtiger Lebensbe-
werden. Gerade wenn der kritische Zustand zunächst andauert, beschwört                                   reiche, wie die Auslagerung fast aller Formen
die Krise die Frage nach der geschichtlichen Zukunft herauf. 1 Als im Früh-                              der Arbeit, der Krankheit, der kindlichen Er-
                                                                                                         ziehung oder Bildung, und umgekehrt eine
jahr 2020 die Corona-Pandemie ausbrach, erlebten sehr viele Menschen                                     zunehmende Verhäuslichung sämtlicher leib-
die eingetretenen Veränderungen als eine strenge Zäsur. Viele glaubten,                                  licher Vitalfunktionen. Die stärkste Ausprä-
                                                                                                         gung erfuhr diese Entwicklung in den 1960er
dass jetzt Entwicklungen wirksam werden könnten, die noch vor nicht                                      und 1970er Jahren und erfährt heute wieder
allzu langer Zeit als unvorstellbar erschienen. Die Coronakrise hat jedoch                               eine grundlegende Neubewertung.
in den meisten Fällen nicht gänzlich Neues zu Tage gefördert, sondern
                                                                                                         In den Fluss des heutigen Wandels, der die
nur Prozesse beschleunigt und zugespitzt, die, so Jürgen Kocka, „längst                                  Zukunft gestalten wird, münden mehrere Ent-
auf dem Weg sind“. 2 Dies gilt bei näherem Hinsehen auch für die Bereiche                                wicklungstendenzen: Zunächst hat die abge-
                                                                                                         schlossene Kernfamilie – Mutter, Vater, ein
des Wohnens und besonders der Quartiersentwicklung.                                                      oder zwei Kinder – ihre normative Kraft ver-
                                                                                                         loren. Stattdessen ist eine Pluralisierung der
                                                        ERWEITERTER WOHNBEGRIFF UND                      Familienformen und Lebensstile eingetreten,
                                                        DIE BEDEUTUNG DES DRITTEN ORTES                  die neue Wohnkonzepte erfordern. Mit der
                                                        Unsere heutige Vorstellung von Wohnen hat        Singularisierung der Haushalte – in den Groß-
                                                        sich erst seit dem Beginn der Moderne her-       städten dominieren inzwischen die Einperso-
                                                        ausgebildet. Erst dann setzte sich auch die      nenhaushalte – gilt es zugleich, das Verhältnis
                                                        Rechtsauffassung durch, dass eine Wohnung        von Individuum und Gesellschaft neu auszu-
                                                        eine baulich getrennte, in sich abgeschlossene   tarieren. In diesem Prozess erfahren selbst-
1
   einhart Kosselleck: Kritik und Krise. Frankfurt
  R                                                     Wohn-Einheit sei, die über einen eigenen         bestimmtes Wohnen und Gemeinschaft neue
  1973, S. 105.                                         Zugang verfügen müsse. In der modernen           Gewichtungen. Soziale und räumliche Ange-
2
  Kocka, Jürgen: Digitalisierung, Arbeit, Staat. Wie   Gesellschaft trat ein Bedeutungswandel des       bote müssen nicht mehr zwingend in der
   die Corona-Krise bereits vorhandene Prozesse         Wohnens ein, der als fortschreitende Ablö-       Wohnung oder im Wohngebäude erbracht
   beschleunigt. In: Der Tagesspiegel. 17.05.2020.      sung des Wohnens aus anderen Sozialverhält-      werden, sondern können in ergänzenden

                                                                                                                                                   9
Aktuell Im Fokus: Wohnen und Leben im Quartier - vbw Online
Räumen eines Wohnprojekts oder im Quartier
offeriert werden. In den letzten Jahren wurde
deshalb zu Recht auf die wachsende Bedeu-
tung der „Third Places“ 3 verwiesen, die in
Zeiten des „erweiterten Wohnens“ als Orte
der Begegnung und des sozialen Austauschs
für das Gemeinwesen – neben dem Wohn-
und Arbeitsort selbst – bedeutsam werden.

PRODUKTIVES WOHNEN UND
ENTGRENZTES ARBEITEN
Die Arbeitsstrukturen änderten sich in den
letzten zehn Jahren grundlegend. So verbrei-
ten sich zunehmend multilokale Arbeits- und
Lebensformen. Der deutlichste Einschnitt
erfolgte aber durch den Boom der „Heim“-
Arbeitsplätze. Quasi als Katalysator wirkte hier
die Corona-Pandemie, mit der in kürzester
Zeit im „Home Office“-Bereich eine erstaunli-
che Dynamik einsetzte, die sich aber dennoch
bereits seit einigen Jahrzehnten abgezeichnet
hatte. Mit dieser Entwicklung wird die klas-
sische Trennung von Wohnen und Arbeiten,
die sich mit der Industriegesellschaft durchge-
setzt hatte, tendenziell wieder aufgehoben.        Ein Coworking-Beispiel aus Los Angeles           Menschen der fragmentierten Moderne Orte
Nicht nur junge Start-Ups, sondern auch meh-                                                        der Identifikation und des Zusammenhalts. 7
rere DAX-Unternehmen verkündeten, dass die         ZUSAMMENHALT UND ORCHESTRIER-                    Als Mittelpunkt-Orte sind Quartiere das „all-
mobile Arbeit zur „neuen Normalität“ wird.         TE VIELFALT IM QUARTIER                          tagsweltliche Experimentierfeld für Gemein-
So verabschiedete der Siemens-Vorstand im          Nicht mehr den Betrieben, sondern vermehrt       samkeit und Individualität, Nähe und Distanz,
Juli 2020 das „New Normal Working Model“.          den Quartieren wird eine sozialintegrative       für Öffentlichkeit und Privatheit, Anonymität
Für die bis zu 140.000 Mitarbeiter des Kon-        Bedeutung zugesprochen. Mit der stetigen         und Intimität“. 8 In den subjektiv abgegrenzten
zerns bedeutet dies, dass sie zwei bis drei        Auflösung traditioneller Bindungen, beispiels-   Sozialräumen können die Menschen sich –
Tage in der Woche von zu Hause oder von            weise in Gewerkschaften, Kirchen oder le-        auch in der Großstadt – emotional verankern
anderen Orten außerhalb des Büros arbeiten         bensweltlichen Organisationen, suchen die        und intensive Formen der Bindung aufbauen.
können. 4 Arbeiten von zu Hause aus ist jetzt                                                       Ihre sozialen Kohäsionskräfte entfalten sie
verbreitet, zumeist für jene gut Qualifizierten,                                                    durch urbane Kollaborationen. Das Quartier
die nicht im klassischen Produktionsbereich                                                         wird durch die besondere Sozialität des urba-
arbeiten. Zu Recht wird von einigen Forschern                                                       nen Nahraums und die vielen Kommunikati-
jedoch darauf verwiesen, dass das Verhältnis                                                        onsmöglichkeiten bedeutsam. Damit sich die
von Industrie und Dienstleistungen durch                                                            Potentiale der Quartiere entfalten können,
Komplementarität und nicht durch Substitu-                                                          sind lebendige Räume wesentlich, wobei ne-
tion gekennzeichnet sein wird. „Es lohnt sich“,                                                     ben den „dritten Orten“ (Kneipen, Cafés,
so der Stadtforscher Dieter Läpple, „über                                                           Gemüseladen etc.) insbesondere die Erdge-
neue Verknüpfungen und Kooperationen
von Dienstleistungen, Industrie, Kreativwirt-                                                       3
                                                                                                       ldenburg, Ray: The Great Good Place. Cafés,
                                                                                                      O
schaft, urbanen Manufakturen, FabLabs und                                                             Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and
lokalen Ökonomien nachzudenken.“ 5 Die                                                                other Hangouts at the Heart Community. New
                                                                                                      York 1999.
Konsequenzen dieses Strukturwandels sind                                                            4
                                                                                                      Pressemitteilung Siemens vom 16. Juli 2020.
gravierend: Werden wir neue, größere Woh-                                                           5
                                                                                                       Läpple Dieter: In: Landeshauptstadt Stuttgart (Hg.):
nungen mit Arbeitsräumen benötigen oder                                                                 Die produktive Stadt. Bearb. Frank Gwildis, Stefan
findet eine wohnortnahe Verlagerung der                                                                 Werrer. Stuttgart 2015, S. 27.
                                                                                                    6
                                                                                                        Bauer, Wilhelm (Hg.): Coworking – Innovationstrei-
Arbeit in Hubs oder Coworking Spaces statt?
                                                                                                         ber für Unternehmen. Mitarb. Klaus-Peter Stahl/
In den Coworking Spaces scheinen sich die                                                                Stefan Rief. IAO Fraunhofer Verlag, Stuttgart 2017.
Vorzüge des Home Office – Freiheit und Un-
                                                     DR. GERD KUHN
                                                                                                    7
                                                                                                         Hitzler, Ronald/ Honer, Anne/ Pfadenhauer,
abhängigkeit – und die Qualitäten traditionel-                                                            Michaela (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften.
ler Arbeit – Struktur und Gemeinschaft – zu                                                               Theoretische und ethnografische Erkundigungen,
                                                                                                          Wiesbaden 2008.
bündeln. Das Fraunhofer Institut sieht gera-                                                        8
                                                                                                          Schnur, Olaf: Nachbarschaft und Quartier. In:
de in diesen wohnortnahen Arbeitsstruktu-            Wohnsoziologe und Stadtforscher,                      Eckhardt, Frank (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie.
ren große Potentiale zukünftiger Arbeit. 6           Büro urbi_et Tübingen                                 Wiesbaden 2012, S. 451.

 10
Quartier

                                                                                                 Studie von Dezeen / urban village project

                                                                                                 neuen Formen des sozialen Miteinanders flan-
                                                                                                 kiert werden muss. „Die Erfahrungen der Nähe
                                                                                                 zu anderen und des Miteinanders schaffen
                                                                                                 eigene Formen der urbanen Lebensqualität
                                                                                                 und gleichzeitig eine hohe Resilienz in Krisen­
                                                                                                 ­zeiten“, so das Wuppertal Institut für Klima,
                                                                                                  Umwelt, Energie während der Corona-Pan-
                                                                                                  demie 2020. Sie zeigte uns allen, wie „wich-
                                                                                                  tig und wertvoll unmittelbare lokale Solida-
                                                                                                  rität ist“. 9

                                                                                                 Der Strukturwandel der Arbeitswelt wird zur
                                                                                                 Auflösung der funktionalen Stadt der indus-
                                                                                                 triellen Moderne führen. Neue kooperative
                                                                                                 Wohnformen, die die Vielfalt der Wohn- und
                                                                                                 Lebensformen 10 spiegeln, haben lebendige
schosszonen und die Plätze zu nennen sind.       könnte der Paradigmenwechsel, der nach der      Freiräume und Erdgeschosszonen hervorge-
Die Intensivierung sozialer Beziehungen im       Jahrtausendwende einsetzte, bis 2050 Städte     bracht, die die Kommunikationsmöglichkeiten
gesellschaftlichen Nahbereich bedarf aber        und Dörfer entstehen lassen, wie man sie        fördern. Coworking Spaces, die konzentrier-
neuer Formen der Zusammenarbeit und ihrer        bisher nicht kannte. Klimatische Herausfor-     tes und konzertiertes Arbeiten und den Aus-
sozialen Orchestrierung.                         derungen forcierten, so ist zu hoffen, den      tausch sichern, prägen die Quartiere 2050.
                                                 „grünen“ Umbau der Städte, um unter an-
2050: IN DREISSIG JAHREN                         derem eine Erwärmung in den überhitzten
Entwirft man ein Zukunftsbild bis zur Jahr-      Städten zu begrenzen. Das Mobilitätsverhal-     9
                                                                                                      uppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
                                                                                                     W
hundertmitte, so muss man angesichts welt-       ten muss sich grundlegend verändern. Bereits        gGmbH (Hg.) (2020): „Näher“ – „Öffentlicher“
                                                                                                     – „Agiler“. Eckpfeiler einer resilienten „Post-
weiter Tendenzen wie der offensichtlichen        2020 sprach die Bürgermeisterin von Paris,
                                                                                                     Corona-Stadt“. Bearb.: Uwe Schneidewind/
Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, dem Klima-     Anne Hidalgo, von einer „15-Minuten-Stadt“.         Carolin Baedeker/ Anja Bierwirth/ Anne Caplan/
wandel schnell und angemessen zu begeg-          Großteils werden dann die Stadtbewohner             Hans Haake. Diskussionspapier, April 2020. S. 5.
nen, angesichts wachsendes Protektionismus       ihre täglichen Wege nicht mehr mit Autos        10
                                                                                                    Dürr, Susanne/ Kuhn, Gerd: Wohnvielfalt. Hg.
und Nationalstaatsdenkens, viel Optimismus       zurücklegen, sondern zu Fuß, mit dem Rad            Wüstenrot Stiftung. Ludwigsburg 2017. Das
                                                                                                     Buch kann kostenfrei heruntergeladen werden:
aufbringen, um ein positives Bild zu zeichnen.   oder mit dem ÖPNV. Die „Post-Corona-Stadt“          https://wuestenrot-stiftung.de/publikationen/
Doch Ansätze gibt es hierzu, gerade auf der      zeigte, dass die aus gesundheitlichen Gründen       wohnvielfalt-gemeinschaftlich-wohnen-im-quar-
Ebene der Städte und Quartiere, allemal. So      zeitweise erforderliche räumliche Distanz mit       tier-vernetzt-und-sozial-orientiert-download/

                                                                                                                                                  11
Zwei-Zimmer-Küche-Bad?
Planungsfragen im Bestandsquartier
Der Grundrisskonzeption fällt in der strategischen Entwicklung von Be-                 „sozial, nachhaltig und kostengünstig“ (vgl.
                                                                                       Gmür (2020)). Auch Empfehlungen zur Um-
standsquartieren eine besondere Rolle zu. Eine geeignete Planung er-
                                                                                       setzung sind vorhanden. Der Handlungsleit-
möglicht, das Portfolio zu erweitern und dem sozialen Auftrag gerecht zu               faden „Bauen in Nachbarschaften“ sei an die-
werden. Vor allem aber können mit geeigneten Wohnungsgrundrissen                       ser Stelle empfohlen (Hunger, Weidemüller,
                                                                                       Protz (2018)).
die Weichen für ein zukunftsfähiges Quartier gestellt werden.
                                                                                       Der Grundrissgestaltung, der Planung des
                                     Viele Wohnungsunternehmen verfügen über           Wohnungsgemenges und der Konzeption von
                                     Bestandsquartiere aus den 60er Jahren und         Wohnformen fällt bei diesen Transformatio-
                                     entwickeln diese in den nächsten Jahren           nen aus mehreren Gründen eine besondere
                                     weiter. Durch bauliche Interventionen – Mo-       Rolle zu. Zum einen können baulichen Ergän-
                                     dernisierungen, Aufstockungen, Anbauten,          zungen das extrem homogene Wohnungs-
                                     Ersatzneubauten oder Nachverdichtungen            angebot der 60er Jahre – fast ausschließlich
                                     – besteht die Chance, mehr Wohnraum zu            kompakte Zwei- und Dreizimmerwohnun-
                                     schaffen und gleichzeitig die Quartiere weiter-   gen – erweitern. So bietet sich die Chance,
                                     zuentwickeln. Die Ziele sind im Prinzip ge-       größere Wohnungen für Familien oder kleine,
                                     setzt: aus „Sonne, Licht und Luft“ – die pla-     barrierefreie Wohnungen zu etablieren, um so
                                     nerische Prämisse der 60er Jahre – wird           das Portfolio zu erweitern. Zum anderen ist

 12
Quartier

                                                 „Reparaturwerkzeug“. Mängel werden be-           Der Planer versteht sich hier als Seismograph
                                                 hoben und die einseitige Struktur wird um        gesellschaftlicher Veränderungen, der diese
                                                 das Fehlende ergänzt. Aber sollte das Woh-       in Grundrisse übersetzt.
                                                 nen in der Quartiersentwicklung nicht auch
                                                 nach vorne gedacht werden? Welche Woh-           Gemeinschaftlich orientierte Wohnformen,
                                                 nungen bauen wir für übermorgen? Wie kann        die auch einen Mehrwert für die Nachbar-
                                                 der Grundriss im Neubau, im Anbau, in der        schaft leisten, sind sicher gut geeignet – gera-
                                                 Aufstockung demographisch gedacht und            de in den sehr stringenten und standardisiert
                                                 entwickelt werden? Welche Antworten gibt         geplanten Quartieren der 60er Jahre – Impul-
                                                 es, um auf Pluralisierung und Individualisie-    se zu setzen. Gelingt es in den Erdgeschossen
                                                 rung zu reagieren und Diversität mitzuden-       der neu hinzukommenden Strukturen Ange-
                                                 ken? Vier Ansätze mit ganz unterschiedlicher     bote für das ganze Quartier zu etablieren,
                                                 Haltung werden im Folgenden aufgezeigt.          profitieren insbesondere die Bestände mit den
                                                                                                  meist gut funktionierenden aber sehr kom-
                                                 MIT VIELFALT AUF VIELFALT                        pakten Grundrissen in besonderem Maß von
                                                 REAGIEREN                                        ausgelagerten, geteilten Funktionen des Woh-
                                                 Bei diesem Ansatz wird auf Individualisierung    nens (z.B. Werkstatt, Gästewohnung, Ge-
                                                 und Pluralisierung mit einer großen Band-        meinschaftsraum, Waschküche etc.).
                                                 breite an Wohnungstypen und Wohnformen
                                                 reagiert (z.B. Sack (2016)). Häufig verbunden    FLEXIBLE WÄNDE
                                                 mit der Forderung nach einem hohen Maß an        Hier soll die Wohnung selbst flexibel auf unter-
                                                 Beteiligung zukünftiger Bewohner. Cluster-       schiedliche Anforderung reagieren. So kann
                                                 wohnungen, gemeinschaftliches Wohnen,            sie durch „Schaltzimmer“ schrumpfen oder
                                                 Bau- und Mieterbaugemeinschaften sind Aus-       wachsen und damit auf veränderte Haus-
                                                 druck dieser Philosophie. Ein erhöhtes Maß       haltsgrößen reagieren. Flexibilität innerhalb
                                                 an Solidarität, ehrenamtlichem Engagement        der Wohnung kann durch das Entkoppeln von
                                                 und Mehrwerte für den Stadtteil werden er-       Tragstruktur und Ausbau erreicht werden.
                                                 hofft. Auch fein ziselierte, zielgruppenspezi-   Der Nutzer kann durch verschieben der In-
                                                 fisch „gelabelte“ Wohnprodukte und Grund-        nenwände den Grundriss an seine aktuellen
                                                 risse lassen sich diesem Ansatz zuordnen.        Bedürfnisse anpassen. Eine Idee, die nicht
                                                                                                  neu ist und bereits von den Pionieren der
eine präzise und verantwortungsvolle Planung                                                      Moderne erprobt wurde. Dieser Ansatz hat
der Wohnangebote eine soziale – eigentlich                                                        sich bislang allerdings nicht im größeren Stil
eine sozialplanerische – Aufgabe. Bauliche                                                        durchgesetzt.
Entwicklungen im Bestandsquartier sollten in
guten Teilen auch für Bestandsmieter – meist                                                      NUTZUNGSNEUTRALITÄT
ohne überdurchschnittliche Einkommen –                                                            UND ANEIGNUNG
eine Möglichkeit bieten, sich räumlich zu ver-                                                    Bei nutzungsneutralen Grundrissen erfolgt die
ändern. Daher gilt es, den Bedarf genau zu                                                        Belegung der einzelnen – meist relativ gro-
analysieren und passende Wohnungsgrund-                                                           ßen – Zimmer oder Bereiche durch den Nut-
risse zu bezahlbaren Mieten anzubieten. Zu-                                                       zer. Ein „Zimmer“ ist ein „Zimmer“ (nicht
dem ist zu prüfen, inwieweit die Grundriss-                                                       „Schlaf-/Kinder-/Arbeitszimmer“) und die
konzepte selbst kostendämpfend wirken                                                             Wohnung ist nicht hierarchisch organisiert.
können. Wenn es gelingt, qualitätsvolle aber                                                      Ein eher großzügiges und indifferentes Flä-
kompakte Grundrisse anzubieten, wäre die                                                          chenangebot lädt zur individuellen Aneignung
Reduktion der Pro-Kopf-Wohnfläche eine                                                            ein. Man findet solche Grundrisse in gründer-
legitime Bezahlbarkeitsstrategie und würde                                                        zeitlichen Stadthäusern, auch wenn Nutzungs-
zudem Ressourcen schonen. Flankiert werden                                                        neutralität und Aneignung nicht das Pro-
kann dieser Ansatz durch die Auslagerung                                                          gramm ihrer Schöpfer war. Ganz explizit sind
von Teilfunktionen des Wohnens in gemein-                                                         diese Ziele allerdings den Projekten des fran-
schaftlich genutzte Flächen.                                                                      zösischen Architekturbüros Lacaton-Vasal
                                                   ANJA KULIK                                     eingeschrieben. Es plädiert für einen „Flächen-
Die genannten Grundrissstrategien sind sinn-                                                      luxus“ auch im sozialen Wohnungsbau, der
voll und notwendig, um die Schwächen der                                                          durch Low-Tec- und Low-Budget-Strategien
Bestandsstrukturen zu beheben und bauliche         Stadtsoziologin,                               ermöglicht wird. Großzügige Zwischenzonen
Entwicklungen sozialverantwortlich und mie-        bei der VOLKSWOHNUNG Karlsruhe                 und Zusatzräume schaffen üppige, wenig
terfreundlich umzusetzen. Die Grundrisspla-        für die Themen Quartier, strategische          vordefinierte Räume, die den Nutzer zur An-
nung ist hier notwendiges und wichtiges            Entwicklung und Soziales zuständig             eignung einladen.

                                                                                                                                             13
Nutzungsneutrale Ansätze könnten die Be-           genauso gut aber auch als WG funktionieren.     vorbereitet ist auf Zukünfte, die wir noch
standsquartiere sehr gut ergänzen. Die Pan-        Der Ansatz ist pragmatisch ausgerichtet und     nicht kennen. Und wie die Wohnung Nut-
demieerfahrungen der letzten Monate haben          eröffnet dadurch die Chance, sich verstärkt     zern Heimat bietet, mit ihren unterschied-
mit Lockdown, Homeschooling und Home-              auf die zeitlosen Qualitäten der Räume zu       lichsten Sorgen, Wünschen, Bedürfnissen und
office auf beispielloser Weise gezeigt, wie        konzentrieren. „Respekt vor dem Unspektaku-     kulturellen Identitäten. Vielleicht erweisen
schnell sich die Anforderungen an das Woh-         lären“ so lautet eine von zehn Thesen zum       sich einige der genannten Planungshaltun-
nen ändern können und – was das Homeoffice         Wohnen, die vom Bund Deutscher Architek-        gen als geeignet, diese unbekannte Zukunft
betrifft – vermutlich dauerhaft verschieben        ten 2016 formuliert wurde. Es wird aufgefor-    offen und neugierig mitzugestalten.
werden. Ein nutzungsneutrales Design bean-         dert, statt einer „reflexartigen Suche nach
sprucht allerdings eher mehr Fläche als spezi-     dem Ausgefallenen“ sich verstärkt mit dem
fisch geplante Grundrisse und man stößt nicht      Kern des Wohnens zu beschäftigen und             Quellen
selten an die Grenzen der Bezahlbarkeit so-        Qualitäten wie Atmosphäre, Zeitlosigkeit,        - Hunger, Weidemüller, Protz (2018):
wie an die Grenzen der Wohnraumförderung,          Material und Licht ins Zentrum zu rücken            Bauen in Nachbarschaften. Kompetenz-
welche Wohnen noch sehr klassisch denkt.           (vgl. Osterwold/Schmidt (2016)).                    zentrum Großsiedlungen e.V.
                                                                                                    - Gmür (2020): Von der Politik und vom
ROBUSTE STANDARDS                                  AUSBLICK                                            Bauen. S. 282-283. In: IBA_Wien 2022
UND ZEITLOSIGKEIT                                  Der Begriff der Resilienz – ursprünglich aus        und future.Lab: Neues soziales Wohnen.
Hier soll die Wohnung auf zukünftige unter-        der Psychologie kommend – ist schon länger          Jovis Verlag
schiedliche demografische und gesellschaft-        eine Denkfigur der Stadtforschung und be-        - Sack (2016): Das Unterschiedliche im
liche Entwicklungen vorbereitet sein. Nicht        schreibt die Widerstandsfähigkeit und Stress-       Nebeneinander. In: Bahner, Böttger:
die perfekte Wohnung für eine einzelne, de-        resistenz von Strukturen und Systemen.              Neue Standards. Zehn Thesen zum
finierte Zielgruppe ist der Planungsauftrag.       Durch die Pandemieerfahrung und das der-            Wohnen. BDA
Sie soll für unterschiedliche Zielgruppen gleich   zeitige Erleben von Nichtplanbarkeit erhält      - Osterwold, Schmidt (2016): Das
gut funktionieren. Für das Seniorenpaar ge-        der Begriff höchste Aktualität. Er wird noch        Unterschiedliche im Nebeneinander.
nauso gut, wie für einen alleinerziehenden         stärkeren Einzug erhalten in Stadtplanung          In: Bahner, Böttger: Neue Standards.
Haushalt. Eine große 5-Zimmer-Wohnung              und Architektur – verbunden mit der Frage-         Zehn Thesen zum Wohnen. BDA
sollte die Großfamilie beherbergen können,         stellung, wie das Quartier und das Gebäude

Im Rintheimer Feld plant die VOLKSWOHNUNG Garagenaufstockungen, die auch architektonisch einen neuen Impuls im Bestandsquartier setzen.
Das Projekt wird im Rahmen von Innovativ Wohnen BW gefördert.

 14
Quartier

Resiliente Quartiere
Ein stetiger Lern- und Anpassungsprozess aller Akteure
Vielfältige soziale, ökologische und ökonomische Transformationsprozesse stellen unsere
Gesellschaft vor komplexe Herausforderungen. Insbesondere unsere Städte und Regionen
sind von diesen Veränderungen betroffen und gefordert, zukunftsweisende Lösungen zu ent-
wickeln. Ein wichtiger Aspekt wird hierbei die Krisenfestigkeit und Anpassungsfähigkeit im
Fall von Störereignissen sein.

            Die Quartiersebene nimmt in diesem Prozess eine bedeutsame Stellung
            ein. Im Quartier, im sozialen Nahraum, wohnen wir, hier begegnen sich
            die Menschen, dort leben sie im wahrsten Sinne des Wortes zusam-
            men. Herausforderungen und Missstände treten im Quartier deutlich
            zutage und werden greifbar. Gleichzeitig sind sie Orte der Innovation,
            der Kreativität, des Engagements. Damit sind sie gewissermaßen
            Seismographen unserer Gesellschaft. Probleme werden schnell sicht-
            bar, aber auch praktisch und unmittelbar in Angriff genommen.

            KRISEN DECKEN VERWUNDBARKEITEN AUF
            Unsere Gesellschaft ist verwundbar geworden. Insbesondere die Krisen
            und Megatrends haben uns diese Verwundbarkeit vor Augen geführt:

                                                                                           15
angefangen von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09               ihrer Krisenfestigkeit ebenso wichtig sind wie die technische Infra-
über sich verschärfende soziale Ungleichheiten, Terrorereignisse und           struktur, die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes oder die Hand-
den Klimawandel bis hin zur SARS-CoV-2-Pandemie. Häufig handelt                lungsfähigkeit von Verwaltungsinstanzen. Eine gute Resilienzstra-
es sich um multiple Krisen, die sich überlagern und dadurch mit einer          tegie basiert demnach auf einem multidisziplinären Ansatz.
ausgesprochenen Wirkmächtigkeit auftreten. Sie haben deutlich ge-
macht, dass wir uns auf Störungen vorbereiten müssen. Es geht um            • Charakteristika: Ein resilientes Quartier zeichnet sich dadurch aus,
unsere Fähigkeit, Krisen zu meistern und darum, im Krisenfall hand-           dass es „robust“ gegen äußere Einflüsse ist, dass es durch diver-
lungsfähig zu bleiben. Es gilt, Risikokompetenz und eine umfassende           sifizierte Strukturen auch in der Krise über ausreichend Sicher-
Risikointelligenz aller Akteure im Quartier zu etablieren. Zukunftsfähig      heitsreserven verfügt („Redundanz“) und dass alle relevanten
zu sein, heißt resilient zu sein.                                             Akteursgruppen über ausreichend Kreativität und Wissen („Ein-
                                                                              fallsreichtum“) verfügen, um mit risikobehafteten Situationen um-
WAS BEDEUTET RESILIENZ?                                                       gehen zu können.
Ursprünglich beschreibt der Begriff Resilienz die physikalische Fähig-
keit eines Werkstoffs, unbeschadet auf Störungen reagieren zu können.       • Ausprägung: Inwieweit die Resilienz in einem Quartier tatsächlich
Das lateinische „resilire“ meint so viel wie abprallen oder zurückfedern.      ausgeprägt ist, zeigt sich schließlich daran, was im Krisenfall passiert.
Es geht bei der Resilienz um eine flexible Krisenfestigkeit und um eine        Wie reagiert das System, wie reagieren die einzelnen Segmente?
ständige Anpassung an Stressoren, Brüche und Schocks. Ein Quartier,            Wie schnell kann sich ein Quartier nach einer Krise erholen? Wie
das durch Störereignisse keine grundlegenden Schäden davonträgt,               rasch sind eine Neuorganisation und Restrukturierung möglich?
sich trotz der Belastung und des Stresses seine Entwicklungsmöglich-
keiten bewahrt und sich als anpassungsfähig
erweist, kann somit als ein „Resilientes Quar-
tier“ bezeichnet werden.

VON DER NACHHALTIGKEIT ZUR
RESILIENZ?
Die Frage, ob das Paradigma der Resilienz je-
nes der Nachhaltigkeit ablöst oder ob es einen
Teil der Nachhaltigkeitsstrategie darstellt, wird
seit einigen Jahren viel diskutiert. Aus ethischer
Perspektive bedeutet der gegenwärtige Fokus
auf die Resilienz, dass sich unser Anspruch an
den Umgang mit Krisen abgeschwächt hat.
Das Prinzip der Nachhaltigkeit stellt nämlich
im Gegensatz zur Resilienz die Vermeidung
von Krisen in den Mittelpunkt. Als normatives
Konzept zielt Nachhaltigkeit auf den Erhalt
unserer sozialen, ökologischen und ökonomi-
schen Potentiale, auf eine gerechte Verteilung
und ein gutes Leben für alle. Resilienz hingegen
stellt ganz pragmatisch die Frage, wie wir uns
gegen die Risiken einer aus den Fugen gerate-
nen Welt schützen können. Es geht vor allem
um die Anpassung an den voranschreitenden
Zerstörungsprozess, es geht darum zu lernen
und mit Veränderungen zurecht zu kommen.

EIN RESILIENTES QUARTIER IST EIN
ZUKUNFTSFÄHIGES QUARTIER
Worauf kommt es nun an, wenn unsere Quar-
tiere resilient sein sollen? Welche Faktoren
zeichnen die Resilienz aus (s. Abbildung)?
                                                                            RESILIENTE STRATEGIEBAUSTEINE FÜR QUARTIERE
• Systemsegmente: Zunächst ist es wichtig, dass die Resilienz alle         Um Resilienzstrategien für Quartiere zu entwickeln, ist es erforderlich,
   Bereiche unseres Lebens umfassen muss. Wirtschaft, Umwelt,               zunächst die Risiken zu ermitteln. Wo und inwiefern ist ein Quartier
   Governance, Infrastruktur und Gesellschaft sollten als komplex           verwundbar? Welche Sozialräume mit welcher Handlungsfähigkeit
   ineinandergreifende Segmente gleichermaßen resilient sein. Das           können identifiziert werden? Welche Ressourcen und Potentiale be-
   bedeutet, dass das Humankapital und die gelebte Solidarität in           stehen? Auf welchem Stand befindet sich die „Hardware“ des Quar-

 16
Quartier

tiers, die (technische) Infrastruktur? Auf dieser Grundlage können          sen, um sich in Krisenzeiten gegenseitig unterstützen zu können.
Gefahren frühzeitig erkannt und die Verwundbarkeit mit entspre-             Dabei kann es um kurzfristige Hilfe gehen, wie sie in Form von
chenden Maßnahmen begrenzt werden. Diese Notwendigkeit macht                Nach­bar­schafts­projekten im März und April 2020 realisiert wurden.
gleichzeitig deutlich, dass es keine Blaupause für Resilienzstrategien      Aber auch langfristige Herausforderungen, wie die Versorgung
geben kann. Gleichwohl gibt es gewisse Bausteine, die für resiliente        der alternden Bevölkerung, sind in diesem Kontext wichtig. Ein
Quartiere praktisch unabdingbar sind:                                       Quartier, das zusammenarbeitet und solidarisch agiert, ist wider-
                                                                            standsfähiger.
• V
   ielseitige Planung mit „vielen“: Resilienz kann sich vor allem
  dann entfalten, wenn die Menschen die Probleme in ihrem Quar-          Über diese Bausteine hinaus sind zahlreiche weitere Segmente von Be-
  tier als ihre eigenen begreifen und wenn sie an der Gestaltung         deutung: von der „blauen Infrastruktur“ zur Sicherstellung der Was-
  ihres Wohnumfeldes mitarbeiten. Basis hierfür ist eine prozessorien-   ser- und Abwasserversorgung bis hin zu unserem Finanzsystem. Mit
  tierte Planung, die zulässt, dass Menschen ihr Quartier mitgestalten   den in diesem Beitrag hervorgehobenen Aspekten soll jedoch ver-
  können. Eigeninitiative und Engagement sind zentrale Ressourcen,       deutlicht werden, dass resiliente Quartiersentwicklung im Wesentli-
  aus denen das Quartier der Zukunft schöpfen kann.                      chen von der Gesellschaft getragen wird. Von unserem Gemeinsinn
                                                                         und einem kooperativen Miteinander hängen letztlich auch Mensch-
• Intelligente, digitalisierte Versorgung: Katastrophen bedro-          Umwelt-Beziehungen ab, die sich in einem ausbalancierten systemi-
  hen oftmals Infrastruktursysteme, die für die Gesellschaft und ihr     schen Gleichgewicht befinden.
  Funktionieren lebenswichtig sind. Anpassungsfähig und resilient
   werden wir in diesem Bereich durch Vielfalt und Dezentralität. Bür-   MIT RESILIENZ HIN ZUR GROSSEN TRANSFORMATION
   gerwerke und Genossenschaften sind auf diesem Weg wichtige            Resilienz ist vor allem in Zeiten, in denen sich Rahmenbedingungen
   Maßnahmen, die auch in unseren Quartieren angestoßen und              rasch wandeln und zudem kaum prognostizierbar sind, ein überlebens-
   umgesetzt werden können.                                              notwendiges Paradigma der Quartiersentwicklung. Resilient zu sein,
                                                                         bedeutet Krisen meistern zu können und auf das Unerwartete vor-
• G
   leicher Zugang für alle: soziale Gerechtigkeit ist ein unabding-     bereitet zu sein.
  barer Aspekt der urbanen Resilienz. Das bedeutet, dass alle Bürger
  gleichwertigen Zugang zu den Systemen einer Stadt haben. Somit         Resilienz entbindet uns jedoch nicht von der Anstrengung, die große
  ist Resilienz auch ein Beitrag zu mehr Mitbestimmung, Selbster-        Transformation entschieden zu verfolgen. Vielmehr geht es darum,
  mächtigung und Einfluss und in diesem Sinne wichtig für unsere         die Strategien der Nachhaltigkeit um Resilienzstrategien zu ergänzen,
  demokratische Verfasstheit.                                            um in der Quartiersentwicklung ethische Werte und pragmatische
                                                                         Instrumente klug miteinander zu verschränken. Resilienz ermöglicht
• V
   ernetzter öffentlicher Nahverkehr:                                                            robuste Anpassung und Entwicklung – auch
  Einer der wichtigsten Faktoren für resilien-                                                    unter widrigen Bedingungen. Um diese gute
  te Städte ist ein nachhaltiges öffentliches                                                     „Verfassung“ in unseren Quartieren zu errei-
  Nahverkehrssystem. Dazu zählt ein viel-                                                         chen, ist sie als ein stetiger Lern- und Anpas-
  fältiges multimodales Angebot mit leicht                                                        sungsprozess aller Akteure – von Führungs-
  zugänglichen Diensten. Intelligente, digi-                                                      kräften in Politik und Wirtschaft bis hin zu
  tale Mobilitätslösungen erhöhen zudem                                                           den schwachen Gruppen in unserer Gesell-
  Steuerungsmöglichkeit und Zugänglich-                                                           schaft – zu betrachten und zu gestalten.
  keit und helfen, Engpässe zu vermeiden.

• L okales Handeln stärken: Ein entschei-
   dender Baustein für Resilienz ist die Stär-
   kung des lokalen und regionalen Handelns.
   Je weniger ein Quartier auf überregionale                                                       Literatur:
   Märkte und Institutionen angewiesen ist,                                                        - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
   umso unabhängiger und souveräner ist es                                                            Raumforschung (2018): Stresstest Stadt –
   und umso besser können Krisen bewältigt
                                                   DR. ANJA
                                                                                                      wie resilient sind unsere Städte? Unsicher­
   werden. Lokale Netzwerke von Unterneh-                                                             heiten der Stadtentwicklung identifizieren,
   men, Genossenschaften, starke Handels-
                                                   REICHERT-
                                                                                                      analysieren und bewerten. Bonn.
   und Gewerbevereine sind Resilienzgemein-                                                        - Fekkak, Miriam et al. (2016): „Resiliente

                                                   SCHICK
   schaften, die nicht nur Schutz, sondern                                                            Stadt – Zukunftsstadt“ (Forschungs­
   auch Dienst- und Hilfeleistungen bieten                                                            gutachten des Wuppertal Instituts).
   können.                                                                                         - Jakubowski, Peter (2013): Resilienz –
                                                                                                      eine zusätzliche Denkfigur für gute
• S
   olidarität und Gemeinschaft: Resilienz         Studienleiterin für Stadtentwicklung,              Stadtentwicklung. In: Informationen zur
  setzt Zusammenhalt voraus. Die Menschen          Ländliche Räume und Wohnungsbau an                 Raumentwicklung, Heft 4, 371-378.
  benötigen die Mittel und das nötige Wis-         der Evangelischen Akademie Bad Boll

                                                                                                                                             17
Sie können auch lesen