Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube

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Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Analyse aktueller globaler
    Entwicklungen im Bereich
KI mit einem Fokus auf Europa
Olaf Groth
Tobias Straube

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Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Analyse aktueller globaler
    Entwicklungen im Bereich
KI mit einem Fokus auf Europa

Olaf Groth
Tobias Straube

Mit Unterstützung von:
Johannes Glatz
Dan Zehr
Lauren Hildenbrand
Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Auf einen Blick

1.   Europa hat das Potenzial Künstlicher Intelligenz (KI) erkannt und strebt danach, es sich zu Nutze zu
     machen. Die Koordination nationaler KI-Strategien in Europa ist jedoch verbesserungswürdig.

2.   Mit seinem menschenzentrierten Ansatz bildet Europa eine normgebende Kraft im Bereich KI und
     Data Science, ganz besonders in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten im digitalen Raum
     und den Schutz der Menschenrechte. Der unverwechselbare europäische Ansatz stellt zudem eine
     Stärke des europäischen KI-Innovationsökosystems für die internationale KI-Arena dar.

3.   Europa verfügt außerdem über die notwendigen Ressourcen, um im internationalen Rennen um
     die Innovationsführerschaft bei KI eine führende Position einzunehmen. Europa bietet bereits
     einen hohen Grad an Automatisierung in seiner starken industriellen Basis, einen großen Pool an
     Industriedaten, eine herausragende Forschungs- und Entwicklungslandschaft, aus der Innovationen
     und KI-Talent hervorgehen, eine hohe Zahl an Internetnutzerinnen und -nutzern und einen großen
     digitalen Binnenmarkt.

4.   Gleichzeitig steht die normative Stärke Europas im Zusammenhang mit Schwächen in Bezug auf
     das KI-Innovationsökosystem – insbesondere bezogen auf die Verfügbarkeit von Daten. Es müssen
     Wege gefunden werden, die europäischen Werte zu bewahren und gleichzeitig große und qualitativ
     hochwertige Datenpools zu ermöglichen. Weitere verbesserungswürdige Bereiche sind die Verfüg-
     barkeit von KI-Expertinnen und Supercomputern, eine starke Abhängigkeit von ausländischen Halb-
     leiterherstellern und die Kommerzialisierung von KI.

5.   Darüber hinaus weisen die nationalen Innovationsökosysteme große Unterschiede in ihrer
     Leistungsfähigkeit auf. Diese Ungleichheit stellt ein Risiko für den wirtschaftlichen Zusammenhalt
     Europas dar und gefährdet damit für die politische Stabilität in der Zukunft.

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Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung		                                                                               4

1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus 		                                              8

  1.1 Daten: Europas „Achillesferse“ 		                                                         9
  1.2 KI-Talent: eine wichtige Ressource 		                                                    13
  1.3 Rechenleistung: (noch) keine strategische Ressource in der EU 		                         15
  1.4 Forschung: nicht überall in der Region auf Weltklasseniveau 		                           18
  1.5 Kommerzialisierung: Unterschiede im wirtschaftlichen Reifegrad 		                        20

2. Zusammenfassung der KI-Strategie der EU                                                     25

  2.1 Übereinstimmungen und Unterschiede der nationalen KI-Strategien in der EU 		             25
  2.2 Entwicklung eines menschenzentrierten politischen Rahmens für KI in der EU               28
  2.3 Die EU und der globale KI-Wettbewerb 		                                                  32

3. Voraussetzungen für KI-Führerschaft entwickeln                                              36

  3.1 Ausbau der Digitalwirtschaft: der Wettstreit um die nächsten 3 Mrd. Internetnutzer       36
  3.2 Umgestaltung der Datenwirtschaft                                                         38
  3.3 Hardware-Innovationen und die Grenzen der Rechenleistung 		                              41
  3.4 KI-Governance: jenseits von ethischen Grundsätzen für KI und Compliance                  44

4. Die nächste Stufe in der KI-Forschung und -Entwicklung		                                    50

  4.1 KI gestalten und verstehen oder die Hürde der Kontextualisierung                         50
  4.2 „Explainable AI“ wird zum entscheidenden Forschungsfeld                                  53
  4.3 Zähmung der unbegreiflichen KI durch Rechenschaftspflicht                                56

5. Treibende Kräfte für die Verbreitung von KI in Wirtschaft und Gesellschaft                  60

  5.1 Der Wandel der Förderlandschaft im kognitiven Zeitalter                                  60
  5.2 Die unterschätzte Rolle der smarten Beschaffung                                          62
  5.3 Datengetriebene Innovation der Geschäftsmodelle                                          63
  5.4 KI für das Gemeinwohl und die Rolle des öffentlichen Sektors und der Zivilgesellschaft   65

6. Methoden und Anmerkungen zur Analyse                                                        71

  6.1 Definitionen und Quellen                                                                 72

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Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Zusammenfassung

Die Europäische Union (EU) und ihre Mitglieds-         weltweit der drittgrößte Markt nach Indien und
staaten haben das Potenzial von Künstlicher Intel-     China, gibt es keinen Pool von hochwertigen Daten
ligenz (KI) als Triebkraft für wirtschaftlichen und    zur Förderung von Forschung und Entwicklung
gesellschaftlichen Wohlstand erkannt. Ebenso wie       von KI. Dies gilt ganz besonders für die Industrie
die Potenziale hat die Europäische Union aber          in Europa, in der die Sorge um Geschäftsgeheim-
auch die Risiken erkannt, die mit KI und den ver-      nisse und regulative Anforderungen (z. B. DSGVO)
schiedenen Anwendungen und Systemen, die sie           den Austausch und das Teilen von Industriedaten
ermöglicht, einhergehen. Dies spiegelt sich in den     behindern. Auch fällt es der EU schwer, Fachkräfte
unterschiedlichen nationalen und EU-weiten KI-         im Bereich Data Science weiterzuentwickeln und
Strategien und -Normen wider. Vielleicht mehr als      vorhandene langfristig zu halten. Obwohl euro-
jede andere Region oder Land der Welt hat die EU       päische Institutionen erstklassiges Talent und
die Menschenrechte und den Datenschutz zum             herausragende Forschungsergebnisse im Bereich
Leitmotiv für ihre Strategien, Partnerschaften,        KI hervorbringen, hinken Sie dem wissenschaft-
Regulierungen und die Kommerzialisierung fort-         lichen Einfluss ihrer chinesischen und US-ameri-
schrittlicher Technologien gemacht.                    kanischen Pendants hinterher. Auch muss kon-
                                                       statiert werden, dass ein großer Teil des in der EU
Dieser Ansatz ist zu einer der wichtigsten Stärken     ausgebildeten KI-Talents noch immer in die USA
bei der Entwicklung der KI-Ökosysteme der EU           und China abwandert. Darüber hinaus verfügt
und ihrer Mitgliedsstaaten geworden, gleichzeitig      die EU nur sehr eingeschränkt über eigene Hoch-
liegen hierin aber auch viele der zentralen Schwä-     leistungscomputer, die ebenso eine grundlegende
chen der Region begründet. Die Datenschutz-            Voraussetzung für KI-Innovation auf Weltklasse-
Grundverordnung (DSGVO) veranschaulicht diese          niveau darstellen. Und auch wenn sich das Klima
Dualität vielleicht am besten. Während die DSGVO       für eine erfolgreiche Kommerzialisierung in den
zu einem weltweiten Standard für die Sicherung         einzelnen EU-Mitgliedsstaaten unterscheidet, hinkt
des Datenschutzes und zu einem wichtigen Kor-          das europäische Ökosystem in seiner Gesamtheit
rektiv gegenüber digitalen Plattformen geworden        auch hier hinterher. Dies zeigt sich im Vergleich
ist, bremsen die Vorgaben der DSGVO gleichzeitig       zu den USA und China sowohl an einer geringe-
Innovationen und Kommerzialisierung im Bereich         ren Risikobereitschaft und entsprechend geringe-
KI und hemmen teils unnötig die Sammlung mas-          ren Investitionsvolumen bei Wagniskapital, einem
siver Datenpools, die für die Entwicklung und das      schwächeren Technologietransfer und weniger
Training von KI-Systemen elementar sind. Eine          Start-up-Wachstum.
Anpassung von Partnerschaften, Regulierungen
und Ansätzen bei der Kommerzialisierung kann es        Europa hat aber auch viele Stärken zu bieten, die
der EU und ihren Mitgliedsstaaten ermöglichen,         den Aufstieg der EU zu einem wichtigen KI-Akteur
ihren Einfluss auf die weltweite KI-Entwicklung aus-   auf internationaler Ebene begünstigen. Hierzu
zubauen, während gleichzeitig innerhalb der EU         zählen sowohl die vorhandene Forschungsland-
ein Umfeld gefördert wird, das es Unternehmen          schaft, seine geopolitische Stärke als bedeutender
und Forschungseinrichtungen ermöglicht, mit den        Wirtschaftsraum sowie der normative Ansatz
USA und China auf Augenhöhe zu konkurrieren.           mit einer Reihe ethischer Grundsätze für den
                                                       Bereich KI und damit verbundener Felder. Wenn
Solche Anpassungen müssen auf einem bewuss-            der europäische Markt zu einem geschlossenen
ten und genauen Verständnis der Faktoren               digitalen Binnenmarkt zusammenwächst und für
basieren, die derzeit die KI-Entwicklung in der        Entwicklerinnen und Entwickler verfügbar wird,
EU bremsen. Obwohl die EU die Heimat von ins-          kann daraus ein immenser und wertvoller Daten-
gesamt 446 Millionen Menschen ist und damit            pool entstehen, der eine weltweit führende For-

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Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Zusammenfassung

schungs- und Entwicklungslandschaft begründen        Partnerschaften: Um ihre Stärken zu fördern
kann. Die führenden europäischen KI-Institute        und ihre Schwächen zu beheben sollte die EU sich
bringen auch weiterhin erstklassiges KI-Talent       bemühen, formale Kooperationen mit Ländern
hervor und die fortschreitende Digitalisierung der   und Institutionen jenseits der eigenen Grenzen
bestehenden, leistungsstarken industriellen Basis    aufzubauen. Die Überwachung und Sicherung
beginnt diesen Fachkräften immer mehr Möglich-       ihrer Position in globalen Lieferketten bei Halb-
keiten zu bieten. Darüber hinaus ist die Region      leitern würde der EU den Zugang zu jener compu-
auch weiterhin weltweiter Vorreiter in Bezug auf     ting power sichern, die für eine zukunftsweisende
ein Bewusstsein für und die Betonung von einer       Entwicklung von KI benötigt wird. Eine Sonder-
menschenzentrierten, vertraulichen und ethi-         zone für Wissenschaft und Innovation zwischen
schen Nutzung von KI und Daten. Dies sind ent-       der EU und Großbritannien würde mögliche
scheidende Stärken, auf die sich die EU – und in     „Innovationsverluste“ durch den Brexit abfangen.
vielen Aspekten die ganze Welt – in den kommen-      Eine indopazifische KI-Partnerschaft wiederum
den Jahrzehnten verlassen kann. Diese Vorteile       könnte die EU zu einer der führenden Kräfte im
allein reichen jedoch nicht aus, damit die EU mit    Schutz einer liberalen Weltordnung für das digi-
ihrem eigenen Weg allein neben den USA und           tale Zeitalter erheben und gleichzeitig die Ver-
China bestehen kann. Letztendlich müssen die         bindungen zum globalen Süden vertiefen, wo
Länder sich einzeln oder gemeinsam zumindest         neue Handelsverträge für die Digitalwirtschaft
teilweise der Sichtweise der USA oder Chinas in      digitale Handelsregeln und Kooperationen über
Bezug auf Technologie, Geopolitik und wirtschaft-    mehrere Wirtschaftsräume hinweg errichten
liche Entwicklung annähern. An anderer Stelle        würden. Trotzt ihrer derzeitigen Schwierigkeiten
haben wir argumentiert, dass der europäische         würde ein neues Kooperationsmodell (Sequential
Weg sich am ehesten mit den liberalen Ideen der      Bridging Model) zwischen den USA und der EU die
Verfassung der USA in Einklang bringen lässt.        gemeinsamen Werte stärken und anderen Län-
                                                     dern eine wichtige Alternative zur chinesischen
Im Rahmen dieses Berichts liegt unser Fokus auf      Belt and Road Initiative bieten. In Ihrer Gesamt-
den derzeitigen Stärken und Schwächen der EU         heit könnten diese Allianzen der EU helfen, die
im Vergleich mit anderen führenden KI-Natio-         Nutzung von KI zum Wohl der Allgemeinheit zu
nen sowie darauf, wie die EU ihre Stärken aus-       fördern und damit den Grundstein für wichtige
bauen und ihre Schwächen abmildern könnte.           Fortschritte im globalen Gesundheitswesen und
Der Bericht beginnt mit einem Überblick über den     im Kampf gegen den Klimawandel wie auch im
aktuellen Stand des KI-Innovationsökosystems in      Bereich der Bildung sowie in anderen derzeit vom
Europa und in anderen Teilen der Welt. Darauf        Privatsektor vernachlässigten Bereichen legen.
folgt eine Zusammenfassung der KI-Strategie der      Empfehlungen zu Partnerschaften
EU. Anschließend werden die Voraussetzungen          (R3), (R6), (R7), (R9), (R10), (R20)
für die Innovationsführerschaft eines Lands oder
einer Region bei KI sowie die Veränderungen die-     Governance: Die EU kann ihre weltweite Vor-
ser Faktoren betrachtet. Dies liefert die Grund-     reiterstellung für eine ethische und menschen-
lage für die abschließenden Kapitel des Berichts,    zentrierte KI-Governance festigen, hierzu muss
in denen bedeutende Trends im Bereich KI sowie       sie jedoch ihre Regelsetzungen weiterentwickeln,
jene Faktoren untersucht werden, die eine erfolg-    um diese wichtige Position zu halten. Die Ver-
reiche Diffusion von KI in Wirtschaft und Gesell-    besserung und Harmonisierung administrativer
schaft befördern. Im Zuge dieses Vorgehens           Verfahren würde die Schaffung eines digitalen
entwickeln wir 20 Handlungsempfehlungen, die         Binnenmarktes beschleunigen, einen vertrauens-
wiederum den folgenden vier Hauptkategorien          würdigen Datenaustausch ermöglichen und eine
zuzuordnen sind: Partnerschaften, Governance,        florierende datengetriebene Wirtschaft in der
Kommerzialisierung sowie Talentförderung und         gesamten EU fördern. Auf ähnliche Weise würde
Forschung.                                           eine paneuropäische Regulierungsbehörde eine
                                                     Art „Wachstum mit Leitplanke“ ermöglichen,
                                                     durch das der Schutz der Privatsphäre und andere

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Analyse aktueller globaler Entwicklungen im Bereich KI mit einem Fokus auf Europa - Olaf Groth Tobias Straube
Zusammenfassung

Aspekte eines menschenzentrierten Umgangs mit          kann, anstatt diese kaufen zu müssen. Die Steuer-
Daten gefördert und durchgesetzt werden, ohne          politik und staatlich gestützte Dachfondsmodelle
dass dabei Innovation und globaler Einfluss auf        würden Risikoinvestitionen befördern, die eher
der Strecke bleiben. Die Etablierung gemeinsamer       „kreatives Aufrüsten“ von Wirtschaftssektoren
technischer Standards und Maßstäbe in der EU           als die „kreative Zerstörung“ derer begünstigen.
würde die ethischen Grundsätze und Ideen der           Indem Anreize für Unternehmen und Entre-
Region innerhalb der KI-Entwicklung in Europa          preneurinnen geschaffen werden, neue Geschäfts-
und in der Welt operationalisieren und in Pro-         modelle wie z. B. B2B2C- und P2P-Modelle anzu-
dukten/Dienstleistungen verankern. Durch die           nehmen, sollte die EU bestehende Hemmnisse im
Ausarbeitung innovativer Governance- und               Bereich des Datenzugangs so lösen, dass gleich-
Regulierungsmodelle auf eine Art und Weise, die        zeitig der Schutz von Nutzerinnen und Konsu-
große europäische Unternehmen dazu ermutigt,           menten gewährleistet bleibt.
gemeinsam mit Start-ups Ökosysteme für die eine        Empfehlungen zu Kommerzialisierung
„smarte Beschaffung“ zu gestalten, würde die EU        (R5), (R11), (R12), (R17), (R19)
mehr gemeinsame Forschung fördern, die Innova-
tion beschleunigen und die Wirtschaft resilienter      Talentförderung und Forschung: Die EU kann
machen.                                                in der Gestaltung zukünftiger KI-Trends eine
Empfehlungen zu Governance                             Führungsrolle einnehmen, wenn sie die Tatsache
(R1), (R8), (R13), (R18)                               anerkennt und ausnutzt, dass Experten und
                                                       Forscher, die den Fortschritt vorantreiben, aus
Kommerzialisierung: Durch eine erneute                 unterschiedlichen Ländern und Regionen sowie
Abstimmung ihrer Regularien und Rechtsnormen           Fachrichtungen zusammenkommen. Während
kann die EU ein Umfeld schaffen, dass eine             die Talentabwanderung eine Folge der schwa-
stärkere Kommerzialisierung von Technologien           chen europäischen Digitalwirtschaft ist, würde
fördert, ohne dass dabei der Schutz personen-          eine gezielte Nutzbarmachung eben dieser
bezogener Daten im digitalen Raum und andere           Abwanderung zur Bildung internationaler Talent-
gesellschaftliche Bedenken im Zusammenhang             netzwerke und Förderprogramme der EU dabei
mit der Nutzung von KI auf der Strecke bleiben.        helfen, die Expertise, die ihre Institutionen hervor-
Die Förderung der Cyber- und KI-Sicherheit als         bringt, noch besser auszuschöpfen. Eine Steuer-
integraler Bestandteil staatlicher und regionaler      politik, die Investitionen in Weiterbildung stärker
Sicherheitsbestrebungen würde mehr Ressourcen          fördert als Technologieausgaben, würde zu mehr
aus dem öffentlichen Sektor in eine fortschrittliche   Unternehmensinvestitionen in diesem Bereich
Forschungs- und Entwicklungslandschaft und neue        und damit einer besseren Digitalkompetenz der
Innovationen fließen lassen. Das Befördern einer       europäischen Bevölkerung beitragen. Gleichzeitig
stärkeren Durchlässigkeit zwischen militärischen/      würden Programme, in denen KI als ein multi-
öffentlichen und privaten digitalen Ökosystemen        disziplinäres Forschungsfeld und Hilfswissen-
würde außerdem ermöglichen, dass die Ergeb-            schaft etabliert wird, es den akademischen Ins-
nisse dieser Forschung für den privaten Sektor         titutionen der EU ermöglichen, auf bestehende
nutzbar werden. Die Förderung der Erprobung            Stärken in anderen Disziplinen aufzubauen (z. B.
neuer Entwürfe für Datenmarktplätze könnte ein         Klima-, Friedens- und Konfliktforschung). In der
Datentauschmodell hervorbringen, dass die Privat-      eigentlichen Kerndisziplin Informatik würde die
sphäre schützt und die kommerzielle Nutzung von        Schaffung eines europäischen Exzellenzzentrums
Daten ebenso stärkt wie das Vertrauen zwischen         für „kontextuelle KI“ die bestehende Expertise in
Konsumentinnen und Unternehmen – und so der            Europa nutzen, um Innovationen im Nexus ver-
Digitalwirtschaft neue Wachstumsmöglichkeiten          schiedener fortschrittlicher Technologien voranzu-
eröffnet. Eine Anpassung vorhandener Regulie-          treiben. KI steht im Kern zunehmend komplexer
rung von und Investitionen in Hardware, etwa           und invasiver Anwendungen und Technologien.
durch ein zentrales KI-Entwicklungszentrum ähn-        Die Fähigkeit der EU, klare, messbare und umsetz-
lich dem CERN, würde dafür sorgen, dass die EU         bare Rahmen für eine vertrauenswürdige KI zu
die KI-Infrastruktur der Zukunft selbst erschaffen     schaffen, würde sicherstellen, dass die Euro-

                                                                                                               6
Zusammenfassung

päische Union auch auf möglicherweise bahn-        Die Empfehlungen in diesem Bericht stellen keine
brechende Neuentwicklungen – wie etwa Brain-       umfassende Liste aller Strategien dar, die die
Computer-Interfaces – vorbereitet ist, die unser   EU und ihre Mitgliedsstaaten verfolgen könn-
Leben auf derzeit noch nicht bekannte Art und      ten. Jedoch würde jeder dieser Vorschläge es der
Weise verändern werden und den Schutz des Indi-    EU erlauben, ihre Fähigkeiten im Bereich KI-Ent-
viduums als Verbraucherinnen, Nutzer und Bürge-    wicklung und -Kommerzialisierung auszubauen,
rinnen vor neue Herausforderungen stellen.         ohne dabei ihre Grundsätze für ethische und
Empfehlungen zu Talentförderung und                menschenzentrierte KI-Standards zu opfern.
Forschung (R2), (R4), (R14), (R15), (R16)

                                                                                                       7
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

1. Aktueller Stand in der EU
			und darüber hinaus

Seit der ersten von der Obama-Administration           eigenständigen europäischen KI-Ansatzes gilt –
im Jahr 2016 ausgerufenen KI-Strategie haben           mit der Realität vergleichen. Als Vergleichsgrößen
mehr als 50 Länder nationale KI-Strategien ent-        haben wir die EU-Mitgliedsstaaten, Norwegen,
wickelt. Hierdurch wurde KI nicht nur umfassend        die Schweiz und das Vereinigte Königreich sowie
gefördert, es wurde damit auch zu einem wichti-        Staaten ausgewählt, die wir als weltweit führend
gen Gegenstand im geopolitischen Wettbewerb            in diesem Bereich ansehen. Zusätzlich hierzu wur-
erhoben. Nach der Veröffentlichung einer ver-          den auch die USA, China und acht weitere Staaten
gleichenden Studie nationaler KI-Strategien            als Referenzgrößen einbezogen.2
haben verschiedene Institutionen und Staaten
weltweit Systeme entwickelt, um die Ergebnisse         Zu den Stärken der EU zählt, dass sie über einen
der KI-Förderung und der Umsetzung dieser              gemeinschaftlichen Markt von beachtlicher Größe
nationalen Pläne zu überwachen und damit die           mit einem Datenpool verfügt, der helfen könnte,
KI-Strategien selbst zu einem Forschungsobjekt         leistungsstarke KI-Systeme hervorzubringen. Der
gemacht und sie in andere Disziplinen getragen         Leistungsvergleich von mehr als zwanzig Daten-
(z. B. Wirtschaftsförderung, Bildung sowie Ver-        punkten als Indikatoren des KI-Fortschritts deckt
teidigung und Sicherheit). Diese Überwachungs-         außerdem Ländercluster auf, die nicht nur geo-
initiativen, insbesondere die zweite Ausgabe des       grafischen Regionen entsprechen, sondern auch
AI Index der Universität Stanford, das AI Policy       verdeutlichen, dass sich in Europas KI-Landschaft
Observatory der OECD und AI Watch1 der EU, lie-        eine Fragmentierung entlang von fünf, sich teil-
fern ein detaillierteres Bild des KI-Fortschritts in   weise überschneidenden Regionen bereits etab-
der EU (s. Anhang 1). Basierend darauf können          liert hat.3 Eine Untersuchung und Auseinander-
wir den oft formulierten Anspruch einer exzel-         setzung mit den Stärken und Schwächen dieser
lenten KI-Forschungslandschaft in Europa – die         Regionen wird die gemeinsamen Stärken hervor-
als entscheidende Säule für den Aufbau eines           heben, auf denen die EU aufbauen kann, gleich-

                                                                                                              8
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

zeitig aber auch die regionalen Unterschiede          Die EU, und insbesondere Deutschland, besitzt eine
herausstreichen, die das Potenzial für eine hoch      wahre Fülle an Daten aus automatisierten Her-
problematische Verfestigung wirtschaftlicher          stellungsprozessen sowie erstklassige Kompeten-
Ungleichheiten im Zuge der digitalen Trans-           zen und Fähigkeiten im Bereich Automatisierung
formation bergen.                                     und Robotik. So hat Europa im Jahr 2018 beispiels-
                                                      weise mit mehr als 75.000 installierten Roboterein-
                                                      heiten einen neuen Höchststand erreicht, wobei
1.1 Daten: Europas „Achillesferse“                    Deutschland weltweit zu den fünf wichtigsten
                                                      Märkten für Roboter zählt; zum Vergleich: US-
Daten, sind zwar kein Öl aber dennoch der Treib-      Unternehmen installierten etwa 55.000 Einheiten.6
stoff für das aufkommende KI-Zeitalter. Sie wer-      Zusätzlich zu diesen Zahlen ist anzumerken, dass
den hauptsächlich aus vier Quellen gewonnen:          die Menge existierender Daten (wenn auch noch
Konsumenten/Verbraucherinnen, Unternehmen,            nicht integriert) in Europa, dem Nahen Osten und
Regierungen und andere KI-Systeme (in der Form        Afrika allein bis zum Jahr 2025 auf 43,3 Zettabyte
synthetisch erzeugter Daten). Da die EU im Bereich    anwachsen wird, wobei 22 Prozent der Daten aus
Konsumentinnendaten hinterherhinkt, zielt sie         Produktionstätigkeit und 19 Prozent aus dem Inter-
darauf ab, sich in der Welt mit einer KI-Strategie    net der Dinge (IoT) stammen.7 Die damit in die-
zu positionieren, die verstärkt auf die Nutzung von   sen Räumen vorhandenen Daten wären größer
Unternehmens- und Regierungsdaten setzt.              als der Datenraum der USA, der auf eine Größe
                                                      von 30,6 Zettabyte im Jahr 2025 prognostiziert
Die Größe des europäischen Datenpools basie-          wird.8 Auch wenn nur ein Bruchteil der Daten bis
rend auf Daten von Konsumenten und Konsu-             heute annotiert (3 Prozent weltweit) und analysiert
mentinnen ist bemessen an der Zahl der Internet-      (0,5 Prozent weltweit) sind, haben diese riesigen
nutzerinnen und Internetnutzer im Jahr 2019 auf       Datenmengen und deren potenzieller Mehrwert,
397 Millionen gestiegen (474 Millionen, wenn Nor-     wenn sie durch KI verarbeitet werden, das Poten-
wegen, das Vereinigte Königreich und die Schweiz      zial, die Welt der Fertigung und Produktion global
einberechnet werden) und bleibt damit nur hinter      zu verändern. Die EU hat dieses Potenzial erkannt
China (854 Millionen) und Indien (560 Millionen)      und setzt den Fokus auf KI in der Wirtschaft als Teil
zurück.4 Internetplattformen wie Facebook, Twit-      des weitergefassten Rahmens der Industrie 4.0.
ter, Google, Tencent und Baidu waren weltweit         Dies erfordert jedoch wirksame Mechanismen,
bisher am erfolgreichsten darin, diese Daten-         um diese Industriedaten nutzbar zu machen und
pools für sich nutzbar zu machen. Sie sammeln         einen sicheren und vertrauenswürdigen Austausch
und speichern die Daten von Nutzer und Nutze-         von Daten zu ermöglichen, der für den Aufbau
rinnen, um ihre Algorithmen und Services fort-        hochwertiger und ausreichend großer Datenpools
laufend weiterzuentwickeln. Mit einem Anteil von      notwendig ist. Letzteres ist insofern keine leichte
gerade einmal 3 Prozent am weltweiten Daten-          Aufgabe, da gerade Unternehmen den Verlust
plattformmarkt für europäische Unternehmen            von Wettbewerbsvorteilen fürchten, wenn sie ihre
und mit nur zwei bedeutenden B2C-Plattformen          Daten mit anderen Unternehmen und Akteuren
in Europa (Spotify aus Schweden und Zalando           teilen. Wenn die KI-Strategien der EU diese Sorge
aus Deutschland) fehlt es der EU aber an Akteu-       unbeachtet lassen, werden nur wenige Unter-
ren, die das KI-Zeitalter mit einem europäischen      nehmen sich an dem Aufbau großer Datenpools
Ansatz nachhaltig prägen könnten.5 Das Defizit        in verschiedenen Sektoren beteiligen und ihre
der EU, Nutzen aus der weltweit dritthöchsten         Daten mit Entrepreneurinnen, potenziellen Wett-
Zahl an Datenproduzentinnen (d. h. Internetnut-       bewerbern und Forscherinnen teilen, was diesen
zerinnen und Internetnutzer) zu ziehen, bedeutet,     Punkt zur „Achillesferse“ der Datenstrategie der EU
dass ein proaktives Handeln zur Stärkung von          werden lassen könnte (s. Kapitel 2.2 „Entwicklung
KI-Entwicklungen im industriellen Sektor von          eines menschenzentrierten politischen Rahmens
entscheidender Bedeutung für den KI-Standort          für KI in der EU“).9 Auch andere externe Faktoren
Europa ist.                                           werden Einfluss auf die Bereitschaft und die tat-
                                                      sächliche Möglichkeit für den Austausch von Daten

                                                                                                              9
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

haben, darunter viele Dynamiken, die auf den        verbunden sein. Ein Beispiel: Die Fragmentierung
ersten Blick wenig mit digitalen Systemen zu tun    des Insolvenzrechts, die eine allgemeine Nutz-
haben. Insbesondere wird die Diversität nationa-    barkeit von Finanzdaten verhindert (s. oben), ist
ler Regulierungen in den einzelnen EU-Mitglieds-    tiefgreifender als die Unterschiede zwischen den
staaten eine allgemeine Nutzbarkeit der in der      vielen Sprachen in der EU. Eine vollumfängliche
Region erzeugten Daten behindern. Ein Beispiel:     Ausräumung der verschiedenen Hürden wird
Selbst wenn gemeinsame Daten zur Kreditwürdig-      neue Wege zur Harmonisierung und Angleichung
keit von EU-Unternehmen und Einzelpersonen          von Gesetzen erfordern. Diese könnten zum Bei-
zum Trainieren von KI-gestützten Finanzdienst-      spiel im Kontext der bereits angedachten euro-
leistungen bereit stünden, hätten diese nur einen   päischen data spaces zu finden sein, die die EU in
beschränkten Nutzen, denn das Insolvenzrecht –      ihrer Datenstrategie vorhersieht (s. Kapitel 2.2).
und damit die Daten zur finanziellen Gesundheit     Ein Rechtsrahmen allein wird jedoch noch kei-
von Unternehmen – ist in der EU nicht harmoni-      nen digitalen Binnenmarkt befördern, in dem
siert.                                              der Schutz der Privatsphäre gesichert ist. Neben
                                                    Regularien und Bestimmungen wird es dazu einer
Empfehlung 1: Rechtsrahmen verbessern und           Harmonisierung der administrativen Verfahren
administrative Verfahren harmonisieren: Eine        bedürfen sowie einer Vereinbarung zwischen
Beschleunigung bei der Schaffung eines digitalen    Organisationen zu Themen wie der Standardisie-
Binnenmarktes, Experimente mit unterschied-         rung von technischen Schnittstellen. Beraterinnen
lichen Arten von Mechanismen für den Datenaus-      und Berater für den Datenaustausch, die in
tausch (z. B. Datentreuhänder, ein Konzept, das     der gesamten EU vernetzt eingesetzt werden –
von der deutschen Bundesregierung entwickelt        vergleichbar mit den in der „Nationalen Strategie
wurde)10 und das Vorantreiben von gemeinsamen       für Künstliche Intelligenz“ der deutschen Bundes-
Standards für den Datenaustausch und deren          regierung vorgesehenen „KI-Trainerinnen“ – könn-
Schnittstellen sind entscheidend für die Förde-     ten Organisationen dabei helfen, Rechtssicherheit
rung einer datengetriebenen Wirtschaft in der       und technische Umsetzbarkeit ihrer Datenaus-
gesamten EU. Ein einheitlicher Rechtsrahmen         tauschinitiativen sicherzustellen.
für den digitalen Binnenmarkt muss jedoch über      Empfehlungen zu Governance
digitale Kernbereiche hinausgehen und mit der       (R1), (R8), (R13), (R18)
breiteren wirtschaftlichen Integration der Region

                                                                                                          10
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

KI-Expertendichte nach Staaten

          Länder

      Luxemburg
        Singapur
         Schweiz
        Finnland
           Irland
           Israel
EU + Durchschnitt
  Großbritannien
             USA                                        47,8
     Niederlande
          Kanada
       Schweden
       Norwegen
         Portugal
          Zypern
       Dänemark
  EU Durchschnitt                           27,3
    Griechenland
          Belgien
       Frankreich
         Spanien
      Tschechien
     Deutschland
       Österreich
           Italien
         Ungarn
        Slowakei
           Polen
       Rumänien
             VAE
           Malta
        Bulgarien
        Südkorea
           Japan
        Russland
           Indien
           China         0,4
        Kroatien
          Estland
         Lettland
         Litauen
       Slowenien

                     0         10   20     30      40   50     60   70   80   90       100   110   120
                                         # der KI-Experten pro 1 Millionen Einwohner

                     Region
                          EU             EU+            andere

                                                                                                                     11
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

Digitalkompetenzen und Kompetenzen für die zukünftige Arbeitswelt nach Land und Region

Regionen            Länder

      EU           Finnland
                  Schweden
                Niederlande
                    Estland
                 Dänemark
                 Luxemburg
               Deutschland
                      Irland
                     Zypern
                    Litauen

                    Belgien
                  Slowenien
                    Lettland

                 Tschechien
                 Österreich
            EU Durchschnitt
                      Malta
                  Bulgarien
                   Slowakei
                   Portugal
                 Frankreich
                  Rumänien
                    Spanien
                      Polen
                      Italien
               Griechenland
                    Ungarn
                   Kroatien
     EU+            Schweiz
                  Norwegen
           EU + Durchschnitt
             Großbritannien
  Andere           Singapur
                       Israel
                        USA

                        VAE
                    Kanada
                  Südkorea                                                               Kompetenzstufen von 0 bis 100
                                                                                         (kein Land erzielt < 40)
                   Russland
                      China                                                              Kompetenzen
                                                                                             Digitalkompetenzen
                      Japan
                                                                                             Kompetenzen für die
                      Indien                                                                 zukünftige Arbeitswelt

                                0   10   20   30   40   50   60   70     80   90   100                                12
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

1.2 KI-Talent: eine wichtige Ressource               die ihren ersten akademischen Grad in Europa
                                                     erworben haben, sind gegenwärtig weniger als
Wollen die EU und ihre Mitgliedsstaaten die          die Hälfte (46 Prozent) überhaupt noch innerhalb
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Poten-       der EU tätig. Entsprechend bringen mehr als die
ziale von KI zur Entfaltung bringen und sowohl       Hälfte der in Europa ausgebildeten KI-Talente ihre
die hierfür notwendige Kommerzialisierung und        Kompetenzen und Expertise mittlerweile in außer-
Spitzenforschung vorantreiben als auch die Risi-     europäische Forschungs- und Innovationsöko-
ken von KI klug managen, bedarf es Bürgerinnen       systeme ein. Allein ein Viertel des abgewanderten
und Bürgern mit hoher digitaler Kompetenz. Blickt    Talents arbeitet und forscht dabei in den USA.
man allein auf digitale Basiskompetenzen von         Hierbei wandern sowohl Experten und Expertin-
Erwerbstätigen (d. h. Computerkenntnisse, grund-     nen ab, die ihre akademische Ausbildung inner-
legende Programmierung, digitale Kompetenz),         halb von Graduiertenprogrammen in den USA
nimmt die Europäische Union im internationalen       fortsetzen, wie auch vollständig ausgebildete
Vergleich eine Position in der Spitzengruppe ein     und graduierte KI-Expertinnen.13, 14 Die starke
und steht vor Ländern wie China, Russland oder       Anziehungskraft der USA – sowohl im Bereich der
auch Indien. Innerhalb der internationalen Spitze    akademischen Forschung wie auch der privatwirt-
hinkt Europa trotz seiner guten Basis den füh-       schaftlichen F&E-Landschaft – könnte sich aller-
renden KI-Nationen – darunter die USA, das Ver-      dings aufgrund von Entscheidungen der Trump-
einigte Königreich, Südkorea und Singapur – den-     Administration etwas abschwächen, da diese
noch hinterher. Darüber hinaus zeigt sich, dass      die Einwanderungsgesetze verschärft und dabei
auch in Europa selbst erhebliche Divergenzen         auch die Entscheidung getroffen hat, die Einreise-
bei der digitalen Kompetenz der erwerbstätigen       möglichkeiten für internationale Studentinnen
Bevölkerungen verschiedener Länder bestehen.         und Studenten stark einzuschränken.15 Während
Dabei verfügen in Mittel- und Nordeuropa die         die Ausbildung und Verfügbarkeit von KI- und
Erwerbstätigen nicht nur über eine höhere digitale   Datenwissenschaftlerinnen für jedes Land eine
Kompetenz. In diesen Regionen bestehen zugleich      wichtige Voraussetzung ist, um von KI profitieren
erheblich bessere Rahmenbedingungen, die die         zu können, werden für die Kommerzialisierung
Entwicklung von Kompetenzen für die zukünftige       und breite Diffusion in die Wirtschaft und schließ-
Arbeitswelt befördern. Im Vergleich hierzu weisen    lich auch die Gesellschaft Entwicklerinnen und
Süd- und Osteuropa sowohl im Bereich der Kom-        Ingenieure mit einem hohen Verständnis von
petenzen wie auch der Rahmenbedingungen grö-         KI ebenso benötigt, wie KI-kompetente Entre-
ßere Defizite auf.11 Ein solches innereuropäisches   preneure, Unternehmerinnen und Produkt-
Auseinanderdriften verschiedener Regionen            entwickler. Zusätzlich zu KI-Expertinnen und
zeigt sich ebenso bei der Dichte von KI-Talen-       KI-Experten braucht es also über alle Sektoren
ten, sprich der Zahl von KI-Fachkräften pro eine     hinweg wirtschaftliche Fachkräfte und Unter-
Million Einwohner. Zusätzlich zu diesen großen       nehmerinnen, die ein hohes Maß an KI-Kompe-
Unterschieden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten       tenz aufweisen. Um diese zu entwickeln bedarf es
zeigt der internationale Vergleich der Dichte von    nicht nur einer hervorragenden Forschungsland-
KI-Talenten, dass Europa als Region sich auch hier   schaft, sondern auch effektiven Weiterbildungs-
insgesamt deutlich hinter führenden Nationen wie     programmen innerhalb Unternehmen sowie
Singapur, dem Vereinigten Königreich, den USA        ergänzenden Bildungsprogrammen, bei denen
und Kanada einsortiert.12                            praxisbezogene Kompetenzen stärker im Fokus
                                                     stehen als akademische Grade.
Es ist deshalb verständlich – und tatsächlich
unerlässlich –, dass alle KI-Strategien in der EU    Empfehlung 2: Weltweite KI-Talentnetzwerke
einen Fokus auf Talentförderung und -erhalt          schaffen und zukunftsweisende (Firmen-)
legen, um der Abwanderung von KI- und Daten-         Weiterbildungsprogramme fördern. Die
expertinnen in attraktivere Forschungsöko-           Abwanderung von KI-Talent ist einerseits eine
systeme entgegenzuwirken. Von allen KI-Forsche-      Folge der Schwäche des europäischen KI-
rinnen und derzeitigen Studenten im Fachbereich,     Innovationsökosystems im Vergleich zur inter-

                                                                                                           13
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

Anzahl an Supercomputern und Supercomputern pro Kopf pro Land
(Nicht gelistet sind Länder ohne Supercomputer)

          Länder

           China
             USA
  EU Durchschnitt
            Japan
       Frankreich
     Deutschland
EU + Durchschnitt
     Niederlande
           Irland
  Großbritannien
          Kanada
           Italien
        Singapur
        Russland
        Südkorea
           Indien
       Norwegen
         Spanien
       Schweden
         Schweiz
             VAE
       Österreich
      Tschechien
        Finnland
           Polen

                     0        50     100    150        200     0,0       0,5    1,0    1,5     2,0    2,5     3,0
                                   Supercomputer                      Supercomputer pro Millionen Einwohner

                     Region
                         EU        EU+        Andere

nationalen Spitze. Gleichzeitig birgt diese             der im außer-europäischen Ausland erworbenen
Abwanderung allerdings auch neue Gelegen-               Expertise ermöglichen und unterstützen. Anzu-
heiten für den KI-Standort Europa. Bedeutet             denken wäre hierbei etwa, eine engere Ver-
die Abwanderung europäischer KI-Exper-                  knüpfung mit außereuropäischen Innovations-
ten und Expertinnen doch ebenso, dass diese             ökosystemen über virtuelle Entsendungs- und
umfassenden Zugang zu den international füh-            Austauschprogramme, die es ermöglichen auch in
renden KI-Ökosystemen haben, insbesondere in            Teilzeit Expertise in die europäische Forschungs-
den USA. Hiervon kann die europäische Wirtschaft        landschaft und Wirtschaft einzubringen. Über
mittelfristig profitieren, wenn belastbare Netz-        solche Netzwerke und Programme könnten KI-
werke geschaffen werden, die einen Rückfluss            Expertinnen und KI-Experten, die mittlerweile im

                                                                                                                    14
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

außereuropäischen Ausland tätig sind, ihre Kom-     den 500 leistungsstärksten Supercomputern der
petenz weiterhin in die europäische Wirtschaft      Welt 76 in der EU (das entspricht 0,17 je 1 Mil-
aber auch Forschungslandschaft einbringen, ohne     lion Einwohner) und zusammengefasst weitere
ihre neue Heimat verlassen zu müssen. Um die        15 im Vereinigten Königreich, Norwegen und der
bestehende Talentbasis innerhalb der EU noch        Schweiz. Diese Zahlen stehen im Vergleich zu
besser zu nutzen, sollten die EU-Mitgliedsstaaten   117 Supercomputern in den USA (0,35 je 1 Million
außerdem ihre Steuermodelle für Unternehmen         Einwohner) und 228 in China (0,15 je 1 Million Ein-
überdenken, die gerade versuchen, sich von den      wohner). Hier weist Europa eine Schwäche auf, die
Auswirkungen der Corona-Pandemie zu erholen.        letztlich nur in Teilen durch die Auslagerung von
Änderungen in der Steuerpolitik sollten darauf      Rechenleistung in die Cloud oder die Nutzung pri-
ausgerichtet sein, zukunftsweisende (Firmen-)       vater Rechenzentren aufgefangen werden kann.
Weiterbildungsprogramme auf eine Art steuerlich     Zusätzlich weist Europa erhebliche Defizite in der
absetzbar zu machen, die Anreize für die Weiter-    europäischen Halbleiterindustrie auf, wodurch
bildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern       starke Abhängigkeiten zu einer kleinen Anzahl
schafft. Während allgemeine Steueranreize Unter-    außereuropäischer Chipentwickler und -hersteller
nehmen ermöglichen, Liquiditätsreserven oder        entsteht. Die Halbleiterindustrie ist dabei inso-
Kapital aufzubauen, was ihnen hilft, schnell auf    fern von enormer Bedeutung, dass sie sozusa-
Marktstörungen zu reagieren, werden Unter-          gen die Grundbausteine für jene Hochleistungs-
nehmen diese Ressourcen nicht in ihre Arbeits-      rechenzentren und Supercomputer liefert, in
kräfte investieren, wenn dieselbe Investition in    denen Künstliche Intelligenz trainiert, entwickelt
Technologie, insbesondere in Software, zu einer     und angewandt wird. Blickt man auf die globale
größeren Produktivitätssteigerung führt.16 Des-     Halbleiterindustrie, gibt es weltweit derzeit nur
halb sollten Steueranreize auf (Firmen-)Weiter-     drei Unternehmen, die über die notwendigen
bildungsprogramme ausgerichtet sein, die Men-       Kapazitäten verfügen, modernste Chips im 5- bis
schen einen unanfechtbaren Vorteil gegenüber        10-Nanometer-Bereich herzustellen. Hierbei han-
Maschinen verleihen und Arbeitnehmern helfen,       delt es sich um TMSC (Taiwan), Samsung Elec-
in zukunftsfähigere Berufe zu wechseln, in denen    tronics (Südkorea) und Intel (USA).17 Ein zusätz-
Maschinen dazu eingesetzt werden, Menschen zu       liches Risiko erwächst aus dieser Abhängigkeit für
entlasten und sie zu unterstützen und nicht dazu,   Europa auch daher, dass die Halbleiterindustrie
ihre Arbeitskraft (und ihre Jobs) zu ersetzen.      in der jüngeren Vergangenheit immer mehr zu
Empfehlungen zu Talentförderung und                 einem Gegenstand des geopolitisch aufgeladenen
Forschung (R2), (R4), (R14), (R15), (R16)           Handelskonflikts zwischen den USA und China
                                                    geworden ist.

1.3 Rechenleistung: (noch) keine                    In Europa fertigen lediglich die deutschen Firmen
strategische Ressource in der EU                    Infineon und Bosch sowie das österreichische
                                                    Unternehmen AT&S Chips für namhafte Kunden
Wenn Daten der Treibstoff der modernen Welt-        (z. B. Apple). Auf dem weltweiten Markt hatten in
wirtschaft sind, dann sind Rechenleistung und       der EU hergestellte Chips im Jahr 2018 allerdings
Chips ihre Motoren. Künstliche Intelligenz kommt    gerade einmal einen Anteil von neun Prozent.18
bereits heute vielfach im sog. DeepTech-Bereich     In der Hoffnung, zu China und den USA im Halb-
zur Anwendung, seien es komplexe Berechnungen       leiterbereich aufzuschließen und den Abstand
in der Arzneimittelforschung, Modellierungen des    zu verringern,19 hat die EU das Electronic Com-
Klimawandels oder die Analyse enormer Daten-        ponents and Systems for European Leadership
mengen. Damit KI bei rechenintensiven Auf-          Joint Undertaking (ECSEL JU) ins Leben gerufen.
gabengebieten eingesetzt werden kann, ist der       Das Ziel dieser Public-Private-Partnership-Initia-
Zugang zu Supercomputern unerlässlich, so dass      tive ist es, die europäische Halbleiterindustrie
diese eine weitere strategische Ressource für       über Leuchtturmprojekte mit einem Fokus auf
die Leistungsfähigkeit von KI-Innovationsöko-       drei Schlüsselbereiche (Industry4.0, Mobility.E
systemen darstellen. Im Juni 2020 standen von       und Health.E) zu fördern.20 Zusätzlich könnte die

                                                                                                          15
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

durch das EU-Rahmenprogramm Horizon 2020              kompetenz. Dieser Umstand hat Chips – die
geförderte European Processor Initiative (EPI)        Bausteine der Rechenleistung – zu einem Wirt-
dabei helfen, die europäische Abhängigkeit von        schaftsgut mit geopolitischer Bedeutung und
dieser Schlüsseltechnologie21 weiter zu verringern.   Systemrelevanz werden lassen. Passende Antwor-
Im Kern konzentriert sich EPI auf die Förderung       ten auf Unterbrechungen der globalen Lieferkette
der europäischen Fähigkeiten in den Bereichen         zu finden, erfordert ein tiefes Verständnis der glo-
Hochleistungsrechnen (High Performance Com-           balen Akteure in der Branche und der Dynamiken,
puting, HPC), energieeffizientes Allzweckrechnen      die den Wertschöpfungsprozess von Chips beein-
(General Purpose Computing), Forschung in den         flussen. Als Ergänzung bestehender KI-Observa-
traditionellen Wissenschaften (z. B. Chemie und       torien auf nationaler und europäischer Ebene
Physik) und Deep-Learning-Architekturen für hoch-     könnte ein Halbleiter-Observatorium Informatio-
effiziente Inferenz in der Industrie und der Auto-    nen für fundierte Politikentscheidungen liefern.
mobilbranche.22 Eine weitere Alternative wäre,        Die EU sollte jedoch auch einen kontinuierlichen
dass Europa nicht selbst eigene Hersteller fördert,   Zugang zur Chip-Lieferkette sicherstellen, indem
sondern stärker darauf abzielt, seine eigene Rolle    sie ergänzende Kapazitäten in der Wertschöpfung
innerhalb der globalisierten Produktionsketten im     von Halbleitern schafft. Eigene Sonderwirtschafts-
Bereich Halbleiter und Supercomputer zu stärken.      zonen (oder Cluster) könnten als Basis für in der
Sich innerhalb der Zulieferketten heute dominan-      EU angesiedelte Nischenanbieter dienen und
ter Chip- und Supercomputerhersteller stark zu        internationale Firmen in diesem Bereich anziehen,
positionieren, ist ein weiterer Weg um Europas        von denen europäische Akteure Wissen für die
digitale Souveränität zu stärken.                     Entwicklung ergänzender Ressourcen wie z. B.
                                                      Firmware (in die Chips eingebundene Software)
Empfehlung 3: Zugang zu weltweiten Liefer-            gewinnen können. Diese engeren internationalen
ketten in der Halbleiterindustrie überwachen          Interaktionen und Wissenstransfers würden der
und sichern. Geistiges Eigentum, zu einem             EU helfen, sich den Zugang zu Halbleiterlieferket-
Standardprodukt gemachter Code und Daten              ten zu sichern. Das Förderprogramm der deut-
zählen zu den Kernelementen einer jeden Digital-      schen Bundesregierung für das Chip-Werk von
wirtschaft und bewegen sich fast ungehindert          Bosch in Dresden im Jahr 2017 könnte als Blau-
über Grenzen hinweg. Das verbleibende Grund-          pause für solche Sonderwirtschaftszonen dienen,23
element, die Rechenleistung, ist jedoch an einen      wenn es für eine größere Bandbreite an Akteuren
physischen Ort gebunden. Zwar ist Rechen-             geöffnet würde.
leistung über die Cloud breit verfügbar, doch die     Empfehlungen zu Partnerschaften
Verbindung damit oder der Aufbau von Cloud-           (R3), (R6), (R7), (R9), (R10), (R20)
Servern bedarf spezieller Hardware und Fach-

                                                                                                             16
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

H-Index, Anzahl an KI-Forschungspapieren, -studien und KI-Forschungsdichte nach Land

           Länder

              USA
   Großbritannien
            China
      Deutschland
           Kanada
        Frankreich
          Spanien
            Japan
            Italien
 EU + Durchschnitt                 Durchschnitt               Gesamt                             Durchschnitt
      Niederlande
          Schweiz
             Israel
         Singapur
            Indien
         Südkorea
           Belgien
         Finnland
     Griechenland
            Polen
        Schweden
        Österreich
          Portugal
   EU Durchschnitt             Durchschnitt                               Gesamt          Durchschnitt
       Tschechien
        Dänemark
        Norwegen
            Irland
        Slowenien
           Ungarn
         Slowakei
        Rumänien
        Russland
              VAE
           Zypern
       Luxemburg
           Litauen
          Kroatien
         Bulgarien
           Estland
            Malta
          Lettland

                      0   100      200 300    400    0     50 Tsd. 100 Tsd. 150 Tsd. 0   10 20 30 40 50            60
                                   H-Index               Anzahl an KI-Forschungs-         KI-Wissenschaftler pro
                                                            papieren, -studien             Millionen Einwohner
                      Region
                          EU            EU+         Andere

                                                                                                                        17
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

1.4 Forschung: nicht überall in der                     wahrscheinlich die Tatsache, dass viele der Arbei-
Region auf Weltklasseniveau                             ten nicht auf Englisch, sondern in einer ande-
                                                        ren Sprache veröffentlicht wurden, wodurch die
Europa besitzt eine starke internationale               Zitierhäufigkeit sinkt – die innerhalb des H-Index
Forschungslandschaft. In der EU, Norwegen,              als entscheidender Faktor zur Beurteilung des
der Schweiz und dem Vereinigten Königreich              Einflusses von Veröffentlichungen herangezogen
zusammen wurden im Zeitraum 1996 bis 2018               wird. Bemühungen, den Einfluss der EU in der
nach Auswertungen des SCImago Journal & Coun-           Forschungslandschaft zu steigern, könnten durch
try Rank 223.879 wissenschaftliche Publikationen        die vorgeschlagenen Mittelkürzungen für Hori-
zum Thema KI veröffentlicht – das sind 1,7-mal          zon Europe, dessen Mittel auf 75,9 Mrd. EUR
mehr als in China (131.001) und 1,8-mal so viele        zusammengestrichen wurden (plus fünf Mrd. EUR
wie in den USA (122.617). Die Qualität der For-         aus dem Corona-Wiederaufbaufonds), zusätz-
schung variiert jedoch stark innerhalb der Region       lichen Gegenwind erhalten.25 Das Europäische
und erreicht nicht immer internationales Spitzen-       Parlament, das 120 Mrd. EUR für Horizon Europe
niveau. In einigen Fällen liegt der Einfluss europäi-   gefordert hat, kann aber noch immer sein Veto
scher KI-Veröffentlichungen sogar weit darunter.        einlegen.
Im Vergleich mit anderen forschungsstarken
Ländern leben in den EU-Mitgliedsstaaten im             Empfehlung 4: KI als übergreifendes akademi-
Mittel weit weniger KI-Forscherinnen und KI-For-        sches Lehrfach fördern. Künstliche Intelligenz,
scher. Mit Ausnahme von Malta kann keines der           insbesondere die Teildisziplin Maschinelles Lernen,
Mitgliedsländer so viele KI-Forscherinnen und           findet verstärkt Eingang in Hochschulprogramme
KI-Forscher pro Kopf vorweisen wie Singapur, die        jenseits der Computerwissenschaften. Friedens-
Schweiz, die USA, Israel, das Vereinigte König-         und Konfliktforscherinnen und -forscher nut-
reich oder Kanada.24 Gemessen an diesem Wert            zen KI-Modelle, um die Eskalation von Konflikten
war das Vereinigte Königreich bis zum Brexit der        vorherzusehen. Klimaforscherinnen und Klima-
stärkste KI-Forschungsstandort in der Region            forscher nutzen KI für Wettervorhersagen und
Europa. Während die skandinavischen Länder              auch in den Bereichen Genforschung, Biologie
innerhalb der EU an der Spitze stehen, spielen die      und Materialforschung wird KI immer wichtiger.
meisten ost- und südeuropäischen Länder besten-         Während die Förderung von eigenen auf KI aus-
falls eine marginale Rolle in der KI-Forschung          gerichteten Programmen in der Computerwissen-
und bauen häufig auf die Zusammenarbeit mit             schaft weiterhin höchste Wichtigkeit genießt, muss
Forschern und Forscherinnen in anderen Län-             die EU Wege finden, eine grundlegende Einführung
dern. Durchschnittlich 43 Prozent aller wissen-         in den Bereich KI und Maschinelles Lernen (ML) zu
schaftlichen Veröffentlichungen zum Thema KI            einem Grundpfeiler akademischer Programme zu
aus einem EU-Mitgliedsstaat werden von min-             machen – beispielsweise durch Integration in all-
destens zwei Autorinnen/Autoren aus unter-              gemeine Kurse wie die „Einführung in das wissen-
schiedlichen Ländern verfasst – ein Indikator für       schaftliche Arbeiten“, wie sie an vielen deutschen
die Stärke der akademischen Netzwerke eines             Universitäten angeboten wird. Dies kann im Zuge
Landes. In diesem Bereich wird die EU lediglich         der akademischen Ausbildung dazu beitragen,
von den VAE (65 Prozent), Singapur (61 Prozent),        dass das Bewusstsein für die enormen Potenziale
Norwegen, dem Vereinigten Königreich und der            von KI in verschiedenen Bereichen der Forschung
Schweiz (gemeinsamer Mittelwert 58 Prozent),            gestärkt wird und die spätere Zusammenarbeit
Kanada (48 Prozent) und Israel (44 Prozent) über-       von KI-Experten mit Forscherinnen und Forschern
troffen. Der durchschnittliche Einfluss von Ver-        aus anderen Disziplinen erleichtert wird. Inwieweit
öffentlichungen zum Thema KI (75,8) gemessen            hierdurch einfache KI-Anwendungen durch Infor-
anhand des sog. H-Indexes bleibt jedoch hinter          matik-fremde Forscherinnen und Forscher genutzt
den beiden führenden KI-Forschungsnationen              werden können, müsste darüber hinaus in der
zurück (USA: 465 und China: 236) und weist in den       Praxis getestet werden.
europäischen Ländern eine breite Spanne auf.            Empfehlungen zu Talentförderung und
Einer der Gründe für den niedrigen H-Index ist          Forschung (R2), (R4), (R14), (R15), (R16)

                                                                                                              18
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

Ausgaben für Software, Ausgaben für Forschung und Entwicklung
und KI-Finanzierungsdichte nach Land

          Länder

             USA
  Großbritannien
           China
     Deutschland
         Kanada
      Frankreich
         Spanien
           Japan
           Italien
EU + Durchschnitt
     Niederlande
         Schweiz
           Israel
        Singapur
           Indien
        Südkorea
          Belgien
        Finnland
    Griechenland
           Polen
       Schweden
       Österreich
         Portugal
 EU Durchschnitt
      Tschechien
       Dänemark
       Norwegen
           Irland
       Slowenien
         Ungarn
        Slowakei
       Rumänien
        Russland
             VAE
          Zypern
      Luxemburg
         Litauen
        Kroatien
       Bulgarien
          Estland
           Malta
         Lettland

                     0        20   40     60   80 100 0       50     100      150       0   1.000   2.000   3.000   4.000
                             Softwareausgaben             Forschung und Entwicklung         KI-Finanzierung pro Kopf
                         (Basierend auf % vom BIP,        Top 1.000 Unternehmen in IT          (Q1 2016–Q1 2020)
                                 USA = 100)                      (in Milliarden)

                     Region
                         EU             EU+          Andere
                                                                                                                            19
1. Aktueller Stand in der EU und darüber hinaus

1.5 Kommerzialisierung: Unterschiede                   dings weit hinter dem Investitionsvolumen in den
im wirtschaftlichen Reifegrad                          USA (877 Mrd. USD) und China (458 Mrd. USD).
                                                       Bezogen auf die Förderung von KI-Start-ups pro
Europa als industrieller Produktionsstand-             Kopf (Fördersumme für KI-Start-ups pro 1 Mil-
ort, häufig als ein Schwerpunkt für die Politik-       lion Einwohner) stellt sich die Situation sogar
gestaltung im Bereich Wirtschaft und Technologie       noch dramatischer dar. Obwohl das Verhältnis
betrachtet, droht die Chance, auf ein digitales        im Mittel in der EU (406 USD) besser ausfällt als
Upgrade zunehmend zu verpassen. Im Durch-              in China (318), bleibt der Wert doch weit hinter
schnitt investieren Unternehmen in der EU weni-        Singapur (4.060), den USA (2.697), den VAE (1.176)
ger in neue Technologien26 als alle anderen Län-       und Kanada (987) zurück. Dieses Ergebnis des
der in der untersuchten Gruppe (mit Ausnahme           internationalen Vergleichs unterstreicht die hohe
von Russland),27 wobei allerdings auch hier            Dringlichkeit von Maßnahmen, die die Zukunfts-
erneut große regionale Unterschiede in Europa          fähigkeit der europäischen Wirtschaft verbessern.
existieren. Überdurchschnittliche Investitionen in     Wenn wir die Flexibilität der Rechtsrahmen-
neue Technologien findet man häufiger in West-         bedingungen im digitalen Bereich vergleichen,
und Nordeuropa als in Ost- und Südeuropa. Der          zeigt sich außerdem, dass digital fortschrittliche
vornehmliche Grund dafür ist die Konzentration         Länder ihre Rechtsrahmen schneller anpassen,
von börsennotierten Unternehmen der Informa-           als die EU-Mitgliedsstaaten. Die EU muss also
tions- und Kommunikationstechnologie (IKT) mit         nicht nur die Investitionen in den F&E-Bereich und
großen Forschungs- und Entwicklungsbudgets             Start-ups stärken. Sie muss angesichts der hohen
in diesen Ländern, z. B. Nokia in Finnland,            Dynamik des Tech-Sektors auch regulatorisch
Telefonaktiebolaget LM Ericsson in Schweden,           schneller werden, um eine starke digitale Wirt-
SAP in Deutschland und Halbleiterhersteller wie        schaft in Europa zu fördern.
NXP und ASML Holding in den Niederlanden. Der
Anteil dieser großen börsennotierten IKT-Unter-        Die Regierung und der öffentliche Sektor spielen
nehmen an den Gesamtausgaben für Forschung             bei der Regulierung neuer Technologien, wie KI,
und Entwicklung aller in der EU ansässigen IKT-        eine entscheidende Rolle. Zusätzlich sind sie aber
Unternehmen (25,8 Milliarden USD), die auf der         auch ein wichtiger Treiber der Unterstützung und
Liste der 1.000 größten Aktienunternehmen              der Entwicklung von Innovation – sei es dabei als
weltweit zu finden sind, liegt bei fast 80 Pro-        die Innovationskultur stärkendes Vorbild, als Geld-
zent. Diese Ungleichheiten innerhalb der EU            geberin (z. B. durch öffentliche Förderung von
verschärfen nicht nur den relativen Mangel an          Grundlagenforschung, direkt durch Forschungs-
Investitionen in neue Technologien insgesamt           programme und indirekt über die Hochschul-
noch zusätzlich.28 Es entsteht hierdurch auch das      finanzierung) oder als „Gründer und Gründe-
Risiko, dass sich heutige wirtschaftliche Asym-        rin“ von Märkten (z. B. das hohe Volumen der
metrien innerhalb der EU erheblich verschärfen.        öffentlichen Beschaffung).29 Letzteres lässt sich in
                                                       Zahlen fassen: Zwölf Prozent des Bruttoinlands-
Darüber hinaus zeigt sich, dass das Gesamt-            produkts geht in OECD-Ländern im Durchschnitt
budget für Forschung und Entwicklung der füh-          auf die öffentliche Beschaffung zurück, und die
renden IKT-Unternehmen der EU gerade ein-              allgemeinen Ausgaben des öffentlichen Sektors
mal einen Bruchteil des Budgets ihrer Pendants         belaufen sich auf 35 bis 60 Prozent des Brutto-
in den USA (151,2 Mrd. USD) erreicht, gleich-          inlandsprodukts.30 In Deutschland allein könnte
zeitig allerdings noch immer die entsprechenden        die Digitalisierung des öffentlichen Sektors Bür-
Investitionen in anderen führenden Ländern über-       gerinnen und Bürger jedes Jahr 84 Millionen
trifft, sei es dabei Japan (21,5 Mrd. USD), Südkorea   Stunden an Zeit einsparen.31 Dieses Potenzial ist
(21,1 Mrd. USD) oder auch China (19,1 Mrd. USD).       alles andere als theoretisch. Estland hat bereits
Mit Blick auf die Förderung von KI-Start-ups           99 Prozent seiner öffentlichen Dienstleistungen
lagen die Investitionen in junge Unternehmen in        digitalisiert. Nur Hochzeiten, Scheidungen und
der EU zwischen dem ersten Quartal 2016 und            Immobilientransaktionen erfordern hier noch
dem ersten Quartal 2020 (180 Mrd. USD) aller-          eine Interaktion von Angesicht zu Angesicht mit

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