Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
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www.magazin-mitbestimmung.de | Nr. 3 | Juni 2022 Wir haben nur eine Erde Wie Krisen uns mobilisieren können Zeit für eine Frau Reiseziel Paris Yasmin Fahimi führt den So geht Mitbestimmung Deutschen Gewerkschaftsbund beim Dienstleister Spie
BOECKLER.DE/HANS GESTATTEN? HANS. Die aktuellsten Nachrichten, Forschungs- Dazu Interviews, Porträts, Veranstaltungs- ergebnisse und Publikationen aus der berichte und natürlich die wichtigsten Hans-Böckler-Stiftung gibt es jetzt per Termine. Jetzt anmelden und auf dem Newsletter im Zweiwochentakt. Laufenden bleiben: boeckler.de/hans
editorial LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER, Mein Lesetipp: „Nach der letzten Schicht“ von Andreas Molitor, S. 30 ff., weil LIEBE Foto: Jan Rathke der Beitrag zeigt, wie wichtig und wie viel nachhaltiger es INTERESSIERTE ist, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. D as WSI der Hans-Böckler-Stiftung befragt seit April 2020 Erwerbstätige und Arbeitssuchende zu ihrer Lage. Anders als zunächst gedacht, mussten wir nicht nur einmal fragen. Jetzt liegen die Daten der achten Befragung vor, weil die Krise kein Ende nimmt. Die Sorge um soziale Ungleichheit ist größer als in den bisherigen Erhebungen: Zwei Drittel aller Befragten fürchten, dass die Gesellschaft „Gefahr läuft, zu zerbrechen“. Zu Hause singt meine Fünfjährige: „El pueblo unido jamás será vencido!“ Was aber heißt „vereint“, wenn die einen lieber weiter im Homeoffice arbeiten, während die anderen die Maschi- nen nicht von zu Hause bedienen und die Kranken nicht von zu Hause pflegen können? Wie organisiert man da Zusammenhalt? Seit mehr als 150 Jahren haben Gewerkschaften Antworten darauf gefunden. Wenn Reiner Hoffmann seiner Nachfolgerin, der Chemikerin Yasmin Fahimi, die chemische Formel von Kleb- stoff schenkt, dann weil die Fliehkräfte angesichts der Krisen enorm sind. Es sind die Menschen in den Betrieben, die für mich den Klebstoff bilden und von denen einige in diesem Heft ihre Geschichten erzählen. Eine interessante Lektüre wünscht Claudia Bogedan, Geschäftsführerin claudia-bogedan@boeckler.de MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 3
IN DIESER AUSGABE … TITELTHEMA: KRISE 10 Auf Messers Schneide Die Rückkehr der Krisenrhetorik in der Politik. Von Kay Meiners 18 „Die Realität toppt gerade frühere Krisen“ Daniela Cavallo über Mitbestimmung im VW-Konzern 22 „Doppelt so schnell gealtert“ Corona, Inflation, Krieg – Menschen erzählen, was das für sie bedeutet 26 Das wird teuer Die Inflationsrate ist so hoch wie vor 40 Jahren. Von Stefan Scheytt 28 Die Krise als Nagelprobe Betriebsräte werden gegründet, wenn es rumort. Von Andreas Schulte 10 30 Nach der letzten Schicht Die krisengebeutelte Lausitz soll Vorbild werden. Von Andreas Molitor ARBEIT UND MITBESTIMMUNG 33 Praxistipp Konzepte von „New Work“ richtig regulieren 34 Wir bestimmen mit Michael Kessler, Arbeitnehmervertreter bei Spie. Von Kevin Galant 34 36 Comeback im Solar Valley Eine Schweizer Firma hat zwei ostdeutsche Solarfabriken wiederbelebt. Von Andreas Molitor POLITIK UND GESELLSCHAFT 39 Den Nerv voll getroffen Wie ein Betriebsrat zum Gewinner des IG-Metall-Contest wurde. Von Martin Kaluza 42 Zeit für eine Frau Bericht vom DGB-Kongress. Von Fabienne Melzer 42 46 In Abneigung vereint Gewerkschaften in der Ukraine. Von Stefan Scholl 4 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
IMMER IM HEFT … WAS SONST NOCH GESCHAH KOMPAKT Foto: Alfred Yaghobzadeh/ABACAPRESS.com 6 NACHRICHTEN 8 CHECK Die Zahlen hinter der Zahl 9 PRO & CONTRA Ein Thema, zwei Experten AUS DER STIFTUNG 48 RADAR Böckler-Institute, Böckler-Projekte, Meldungen 50 WIR — DIE STIFTUNG Branchen In der Grauzone Für die Veröffentlichung seines Textes hat ein Autor uns eine besondere Bedin 52 gung gestellt. Sein Text, schrieb er, dürfe nicht das Wort „Krieg“ für die russische Militäraktion gegen die Ukraine enthal ten. Hintergrund ist die Angst vor straf Porträt rechtlicher Verfolgung in Russland,seiner UTE KLAMMER wurde als junge Wissenschaftlerin geför- Wahlheimat. Auch Begriffe wie „Inva dert. Heute ist sie eine gefragte Expertin für Sozialpolitik. sion“ und „Angriff“ dürfen dort nicht mehr verwendet werden; Präsident Putin hat sie verboten. Wer sie dennoch ver wendet, riskiert strafrechtliche Konse 54 EVENTS Termine, die sich lohnen quenzen. Aber auch Menschen, die die 55 ZUR SACHE Ernesto Klengel: EuGH-Urteil zur Leiharbeit Gesetze formal nicht verletzen, werden drangsaliert. Zensur und Repression setzen auf Unsicherheit, auf eine Grau zone, die zur umfassenden Selbstzensur MEDIEN führt. Darf man schreiben, dass russi sche Panzer seit Monaten durch die 56 BUCH Rezensionen, Tipps & Debatten Ukraine rollen? Dass russische Soldaten Städte angreifen? Dass sie Zivilisten 59 DAS POLITISCHE LIED Elvis Costello: „Shipbuilding“ töten, ganze Stadtviertel in Schutt und 60 DIGITAL Links, Apps & Blogs Asche legen? Putin lebt in seiner eigenen Welt. Der Welt der „Spezialoperation“. Ich habe die Fantasie, dass er eines Tages versehentlich eines der verbotenen Wörter benutzt. Ob dann wohl auch die Justiz einschreitet? RUBRIKEN 3 EDITORIAL 62 FUNDSTÜCK Foto: Karsten Schöne 64 LESERFORUM 66 65 IMPRESSUM/VORSCHAU KAY MEINERS ist Redakteur des Magazins 66 MEIN ARBEITSPLATZ Mitbestimmung. MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 5
Foto: © Vincenzo Circosta/ZUMA Press Wire Foto: Benjamin Jenak Der Krieg und das Getreide In einem Getreidefeld nahe der ukrainischen Stadt Mykolayiv steckt liegen Millionen Tonnen Getreide fest, die Preise steigen. Gleichzeitig der Transportbehälter einer Artillerierakete. Russland und die Ukra- erlebt Ostafrika die schwerste Dürre seit Jahrzehnten. Laut Oxfam ine gehören für Länder in Afrika und Nahost zu den wichtigsten verhungert dort alle 48 Sekunden ein Mensch. Experten befürchten, Getreidelieferanten. Der Krieg in der Ukraine werde die Ärmsten der dass die gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise weltweit bis zu Welt treffen, warnen Hilfsorganisationen. In den Schwarzmeerhäfen 40 Millionen Menschen mehr in die Armut treiben werden. STREIK BETRIEBSRATSGRÜNDUNG Zurück auf Normalniveau Aldi schießt ein Eigentor Anzahl der Arbeitskämpfe in Deutschland 2015 bis 2021 Verdi rechnet in Zukunft mit mehr Mitbestimmung bei Aldi- Süd. „Wir hoffen jetzt auf mehr Initiativen zu Betriebsratsgrün- 238 227 dungen“, sagt Robert Puleski, Sekretär der Gewerkschaft in 216 221 201 197 Düsseldorf. Unfreiwillig hatte Aldi-Süd im April darauf auf- merksam gemacht, dass in fast allen Regionalgesellschaften des 133 157 109 113 Discounters Betriebsräte fehlen. Laut der Organisation „Aktion 108 101 88 Arbeitsunrecht“ hatten Filialleiter ein Treffen zur Bestellung 86 eines Wahlvorstands im April in Köln mit Zwischenrufen und Falschbehauptungen gestört. Mehrere Personen sollen die Büh- 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 ne gestürmt haben, es kam zu Gerangel und Beleidigungen. Anzahl der Arbeitskämpfe Sogar die Polizei rückte an. Die Initiatoren mussten die Ver- Arbeitskämpfe Dienstleitungssektor (inkl. Druck und Verlage) sammlung auflösen. Die Kölner Tageszeitung „Express“ sprach Quelle: WSI-Arbeitskampfbilanz 2021; Böckler Report Nr. 74, April 2022 von einem Eklat. 6 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
kompakt 56,1 % HARTZ IV EINE FRAGE, HERR BURKERT Sanktionen ausgesetzt Foto: evg-online Die Ampelkoalition hat einige Sanktionen für Hartz-IV-Emp- der Betriebs- und fänger bis Mitte kommenden Jahres gestrichen. Im Koaliti- Personalräte onsvertrag hatten die drei Parteien vereinbart, dass es bis zur berichten von einer gesetzlichen Neuregelung der Strafen ein einjähriges Morato- zunehmenden Belas rium für die Sanktionen geben soll. Ausgesetzt wird die Mög- tung bei ihrer Arbeit lichkeit, das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung durch die Coronakrise um 30 Prozent zu mindern. Bei Meldeversäumnissen muss – so das Ergebnis der Betriebs- und man ferner für ein Jahr erst im Wiederholungsfall Sanktionen Personalrätebefragung in Höhe von maximal zehn Prozent des Regelbedarfs fürchten. des Wirtschafts- und Die Gewerkschaft Verdi hatte die Pläne als unzureichend kri- Sozialwissenschaft tisiert und ein echtes Moratorium gefordert. Ihr Vorsitzender lichen Instituts der Ist das Neun- Frank Werneke bezeichnete den Gesetzentwurf im Vorfeld Hans-Böckler-Stiftung. Nur fünf Prozent Euro-Ticket als „Bruch des Versprechens, das im Koalitionsvertrag gegeben wurde“. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren müsste nun die fanden, ihre Belastung eine gute Idee? sei gesunken. Häufigste Bundesregierung zu ihrem Wort stehen. Soziale Sicherheit sei Themen der Betriebs- derzeit für den Zusammenhalt in der Gesellschaft von zen und Personalratsarbeit Das Ticket ist ein wichtiges Si- traler Bedeutung. Rund 80 Prozent der Hartz-IV-Sanktionen während der Pandemie gnal für mehr ÖPNV. Gleich- waren Corona und die gehen auf Meldeversäumnisse zurück. zeitig sind die drei Monate eine Folgen für den Betriebs ablauf, für Arbeits riesige Herausforderung und schutz und Gesundheit ein teurer politischer Schnell- sowie mobile Arbeit schuss. Die Beschäftigten wer- oder Heimarbeit. den alles ihnen Mögliche zum Gelingen des Feldversuchs tun. Quelle: AUFSICHTSRAT WSI Report Nr. 75, Mai 2022 Angesichts des zu erwartenden Ansturms bräuchte es jedoch EuGH-Gutachter stützt mehr Personal und Angebot. Natürlich muss der ÖPNV Gewerkschaftsposition auch preislich attraktiv sein. Aber mit dem Neun-Euro- WISSEN SIE … Im Streit um die Wahl in den Aufsichtsrat hat der Generalan- Ticket wird der zweite Schritt walt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Position der vor dem ersten gemacht. Ärger … dass rund ein Zehntel Gewerkschaften gestützt. Nach Ansicht des Gutachters müssen und Frust der Fahrgäste über der Erwerbstätigen Gewerkschaftsvertreter auch nach der Umwandlung in eine Workaholics sind? Verspätungen, überfüllte Züge Europäische Aktiengesellschaft (SE) in einem eigenen Wahl- „Suchthaftes Arbeiten“, oder Räumung von Bahnstei- gang bestimmt werden. Beim Softwareunternehmen SAP so eine von der Hans- gen könnten an den Beschäftig- besteht der Aufsichtsrat seit Umwandlung in eine SE aus 18 Böckler-Stiftung geför ten hängen bleiben. Deshalb ist derte Studie, ist mit Personen. Allerdings ermöglicht die SE-Beteiligungsvereinba- es wichtig, auch dauerhaft 12,4 Prozent vor allem rung, den Aufsichtsrat zu verkleinern. Die Gewerkschaften unter Führungskräften mehr Geld für den gesamten könnten in diesem Fall zwar weiter Kandidaten vorschlagen, verbreitet. In mitbe ÖPNV bereitzustellen. Nur so einen eigenen Wahlgang sollte es aber nicht mehr geben. Ge- stimmten Betrieben wird man langfristig die not- gen diese Option hatten IG Metall und Verdi geklagt. Sebas- kommt suchthaftes wendigen Kapazitäten errei- Arbeiten mit 8,7 Prozent tian Sick, Mitbestimmungsexperte der Hans-Böckler-Stiftung, chen können. deutlich seltener vor. stimmt der Schlussantrag optimistisch: „Das ist eine gute Ausgangslage. Der EuGH folgt häufig den Empfehlungen des MARTIN BURKERT ist stellvertre Generalanwalts.“ Die Wahl der Gewerkschaftsvertreter sei tender Vorsitzender der Eisen Quelle: Beatrice von Berk/Christian wichtig. „Sie sind in besonderem Maße unabhängig und stär- Ebner/Daniela Rohrbach-Schmidt: bahn- und Verkehrsgewerk Wer hat nie richtig Feierabend? In: ken die Kontrolle des Aufsichtsrats“, sagt Sick. Zeitschrift Arbeit 3/2022 schaft (EVG). MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 7
kompakt CHECK DIE ZAHLEN HINTER DER ZAHL Industrie bleibt Basis des Wohlstands WIRTSCHAFTSSTRUKTUR In Deutschland bleibt die Industrie auch im Zeitalter der Dienstleistungen Basis des wirtschaftlichen Wohlstands. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) geförderte Studie. Von Fabienne Melzer Langsamer gewachsen International Zwischen 1991 und 2020 veränderte im Mittelfeld sich der Produktionswert der Industrie um ................................... 81 % Anteil der industriellen Bruttowertschöpfung am des Dienstleistungssektors um............. 160 % Bruttoinlandsprodukt: 121 % 37,8 % der Gesamtwirtschaft um ..................... China Wichtigster Lieferant für den eigenen Sektor Aus diesen Sektoren bezieht die Industrie ihre Vorleistungen: Industrie 29,1 % Japan Dienst- Forst- und Land- leistungen 26,2 % 66 % wirtschaft 30 % Deutschland 3% 18,2 % USA Bei Investitionen vorne Entwicklung der Bruttoinvestitionen zwischen 1991 und 2020: Industrie 531 17,7 % Brasilien 298 16,9 % 207 Großbritannien Dienst- leistungen 43 Quelle: Oliver Emons/Henrik Steinhaus/ Stephan Kraft: Volkswirtschaftliche 1991 2020 1991 2020 in Mrd. EUR Bedeutung des industriellen Sektors in Deutschland. Mitbestimmungsreport Nr. 73, April 2022 8 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
kompakt PRO & CONTRA EIN THEMA, ZWEI EXPERTEN Sollte die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel gesenkt werden? Foto: G. Baumbach/vzbv Foto: Peter Himsel Weniger Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse Lebensmittel wurden zuletzt massiv JA. und Hülsenfrüchte – neu ist die Idee nicht. Der Wissenschaftliche Beirat beim Ernährungsmi- NEIN. teurer. Familien und Menschen mit geringen Einkommen setzt der Preis- nisterium sprach sich schon 2020 dafür aus, die Zukunftskom- anstieg immer mehr unter Druck. Doch eine geringere Mehr- mission Landwirtschaft 2021. In den letzten Wochen hat die wertsteuer für bestimmte oder alle Nahrungsmittel, wie sie zu- Diskussion angesichts der hohen Inflationsraten Fahrt aufge- letzt in der öffentlichen Debatte gefordert wurde, wäre nommen. Ziel einer solchen Mehrwertsteuersenkung wäre es, gesamtgesellschaftlich keine gute Lösung. Zunächst entlastet den Anreiz für eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu eine Mehrwertsteuersenkung sozial nicht besonders zielgenau. erhöhen, indem Obst und Gemüse billiger werden, gerade im Denn alle Haushalte würden weniger zahlen, auch jene, die dank Vergleich zu tierischen Lebensmitteln wie Fleisch. hoher Einkommen keine Geldsorgen haben. Bei stark gestiegenen Lebensmittelpreisen könnte eine Mehr- Zweitens dürfte eine allgemeine Steuersenkung reiche Haus- wertsteuerbefreiung außerdem Menschen entlasten, wenn auch halte sogar stärker entlasten als jene mit geringen Einkommen. nur geringfügig. Es ist davon auszugehen, dass der Lebensmit- Der französische Käse aus dem Delikatessenladen für 5,99 Euro telhandel die Steuerbefreiung tatsächlich weitergibt. Zumindest pro 100 Gramm würde um rund 40 Cent billiger, der abgepack- bei der letzten temporären Mehrwertsteuersenkung 2020 war te Gouda für 60 Cent pro 100 Gramm gerade einmal um 4 Cent. das der Fall. Drittens kostet eine Mehrwertsteuersenkung den Staat viel Die Mehrwertsteuerbefreiung von Obst und Gemüse kostet Geld, das in den kommenden Jahren für Aufgaben wie Infra- den Staat nicht nur etwas, sondern fördert eine gesunde Ernäh- struktur, Bildung und Dekarbonisierung benötigt wird. Das rung und spart langfristig auch Kosten, beispielsweise im Ge- wiegt umso schwerer, als diese Einnahmeausfälle bei einer sundheitssystem. Klar ist aber auch: Gerade für Geringverdiener Steuersenkung wohl dauerhaft wären. reicht eine Mehrwertsteuersenkung natürlich nicht, um die stark Sinnvoller, als an der Mehrwertsteuerschraube zu drehen, ist gestiegenen Lebenshaltungskosten auszugleichen. Der Staat es deshalb, besonders belasteten Haushalten und Familien mit muss dringend die ernährungsbezogenen Regelsätze in der einmaligen Zahlungen zu helfen und insbesondere im unteren Grundsicherung anheben und einkommensschwache Haushal- Einkommensbereich für ordentliche Lohn- und Gehaltssteige- te gezielt entlasten. rungen zu sorgen. SEBASTIAN DULLIEN ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts ANNE MARKWARDT leitet das Team Lebensmittel bei der Verbrau für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans- cherzentrale Bundesverband e.V. Böckler-Stiftung. Und Ihre Meinung? Was halten Sie davon? Schreiben Sie an redaktion@boeckler.de MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 9
titelthema: krisen Klima-Streik von Schülern im australischen Sydney (2019): Dem Planeten Erde geht es schlecht. AUF MESSERS SCHNEIDE POLITIK Die Krisenrhetorik ist zurück auf dem politischen Parkett. Das Wort Krise kann Menschen für den Fortschritt mobilisieren. Aber es kann auch selbst zur Gefahr werden. Von Kay Meiners B ill Anders, einer der Astronauten an Bord von Apollo 8, handelt am Heiligen Abend des Jahres 1968 gegen das Proto- koll, als er zur Kamera greift. Auf dem Raumflug, der die Mondlandung im kommen- den Jahr vorbereiten soll, sieht er die Erde über der grauen Mondoberfläche aufgehen – und ist überwältigt. Vor dem schwarzen All sieht die Erde aus wie ein wertvoller, funkelnder Opal. Anders macht ein Foto, das zum ersten Mal die Erde als Ganzes zeigt. Unter dem Namen „Earth rise“, auf Deutsch „Erdaufgang“, wird es zur Ikone. Es ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem globalen Bewusstsein. Der Planet Erde ist eine Solidargemeinschaft. Und es geht ihm schlecht. „Alle Krisen, die die 1970er Jahre in Westeuropa und in den USA zu einem krisenhaften Jahrzehnt machten, wurden als globale Krisen diskutiert: die Öl- und Energiekrisen, die Wirtschafts- und Währungskrise, die Umwelt-, die Überbevölke- rungs- und die Welternährungskrise“, so Rüdiger Graf, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeit- historische Forschung in Potsdam. MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 11
KRISEN DER NEUZEIT 1857: BANKENPANIK Graf hat den Begriff der Krise, seine Kon- Während des Krimkrieges hat junkturen und semantischen Verschiebungen im Foto: Alamy Europa auf billigen russischen Lauf der Zeit analysiert und zwei Epochen näher Weizen verzichtet und teurer in untersucht, in denen die Rhetorik der Krise ihre den USA gekauft. Jetzt ist der Höhepunkte hatte: die 1920er und die 1970er Krieg zu Ende, die Preise sinken, Jahre. Krise ist für Graf ein Schlüsselbegriff der US-Farmer bleiben auf der Ware sitzen. Sie können ihre Kredite Moderne. Der Historiker sagt: „Wer von Krise nicht zurückzahlen. Bald muss spricht, glaubt daran, dass die Zukunft von der die erste Bank ihre Zahlungen eigenen Aktivität abhängt. Eine Krise ist eine einstellen. Die Krise breitet sich Herausforderung, die man meistern kann.“ rasch um die Welt aus. Viele Menschen begreifen zu ersten Mal, wie vernetzt die Wirtschaft ist. Die Welt am Scheideweg? An solchen Herausforderungen besteht kein Mangel. Deutschland hat die Coronakrise noch nicht verdaut, die EU ist geschwächt, China ist 1873: GRÜNDERKRISE auf dem Weg zur ökonomischen Supermacht – und dem Planeten geht es auch nicht gut. Die Die Reichsgründung von 1871 und der Fall Foto: AKG der Zollgrenzen sind Dünger für die deutsche Welt stehe an einem „Scheideweg“, heißt es im Wirtschaft. Überall wird investiert. Doch die Bericht „Gemeinsame Sicherheit 2022“ des Inter- Wirtschaft ist überhitzt. Es kommt zum Bör nationalen Friedensbüros, der gemeinsam mit sencrash. Für die Industrialisierung ist die internationalen Gewerkschaftsbünden entstan- Gründerkrise allerdings nur eine Atempause. den ist: „Wir sind Zeugen einer globalen Krise, Interessengruppen organisieren sich verstärkt. In Gotha schließen sich 1875 zwei Arbeiter die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei den Klimawandel zu stoppen, ein lückenhaftes Deutschlands zusammen, der heutigen SPD. und ungleiches globales Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie und eine lange Liste von Konflikten, bei denen die internationale Gemein- schaft versagt hat.“ 1929: WELTWIRTSCHAFTSKRISE Der Begriff Krise kann, so Rüdiger Graf, „eine komplexe Gemengelage auf eine Entweder-oder- Foto: Deutsches Historisches Museum / Walter Ballhause Die USA sind die führende Antwort bringen – mit einer positiven Lösung Wirtschaftsnation der Welt. Viele Länder, auch Deutsch auf der einen Seite und einer negativen Drohung land, sind nach dem Welt auf der anderen Seite“. Für Politiker sei das ver- krieg hoch verschuldet. führerisch. Das gelte auch dann, wenn am Ende Als 1929 eine Spekulations ein Kompromiss erzielt werden muss, der ver- blase an der New Yorker schiedene Interessen unter einen Hut bringt. Börse platzt, kommt es zur Kernschmelze. US-Banken Krise und Hoffnung waren lange ein frucht- ziehen Geld aus dem Aus bares Paar. In den 1920er Jahren und selbst nach land ab, die Industriepro 1929, als Deutschland in den Strudel einer dra- duktion bricht ein. Die matischen Weltwirtschaftskrise geriet, wurde der Arbeitslosigkeit explodiert. Diskurs noch überwiegend im nationalen Rah- Die Menschen sind ver zweifelt. Z wischen 1925 men geführt, aber dafür mit der Hoffnung auf und 1933 nimmt die Zahl eine dauerhafte Überwindung der Krise. der Beschäftigten im Reich Dagegen war der Grundton der 1970er Jahre, um 30,3 Prozent ab. Löhne als die internationale Zusammenarbeit viel stär- und Renten werden gekürzt. ker eingefordert wurde, wesentlich fatalistischer 12 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen Foto: national arhives and records und pessimistischer. Die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher und ökologischer Krise, so Graf, „zerstörte für viele Zeitgenossen die Idee, dass der Mensch den Fortschritt gestalten kann“. Krisen als Wendepunkte zum Guten zu ver- stehen, diesem Gedanken hatte sich im 19. Jahr- hundert auch die Arbeiterbewegung verschrie- ben. In der Marx’schen Lehre waren Krisen dazu da, Revolutionen zu verursachen, die dann zu fortschrittlicheren Gesellschaften führten. Doch spätestens in Weimar wurde auch eine dunkle Seite der Krisenrhetorik spürbar, die erklärt, wa- rum Krisenzeiten immer auch die Stunde der Populisten sind. „Gerade an den Rändern des politischen Spektrums gab es die Tendenz, ver- Hungerkrise in schiedene Krisen zu einer Gesamtdeutung zu- Biafra, wilder Müll in New York: „Der sammenzufügen – zu einer einzigen Diskurs wurde in den 1970er Jahren fatalistischer und pessimistischer.“ Foto: picture alliance / Leemage MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 13
1973: ÖLKRISE Vor allem durch die „autofreien fundamentalen Krise“, erklärt Graf. „Je radi- Foto: picture alliance/dpa Sonntage“ ist der Herbst 1973 im kaler das politische Programm, desto dramati- kollektiven Gedächtnis geblieben. scher muss die Krisendiagnose sein, um es zu Nach dem Ausbruch des Jom-Kip rechtfertigen.“ pur-Krieges zwischen Israel und arabischen Staaten unter Führung Beim DGB in Berlin gibt es eine eigene Ab- Ägyptens trifft ein Ölpreisschock teilung, die aktuellen Trends nachspürt und Im- die deutsche Wirtschaft. Nachdem pulse für die innergewerkschaftliche Debatte die arabischen Ölstaaten ihre Fördermenge drastisch reduzieren, ver liefern soll: die Abteilung Grundsatzfragen. Ihr vierfacht sich der Ölpreis. Es kommt zu Produktionseinbrüchen, Kurz Leiter Thomas Fischer weiß, dass viele Menschen, arbeit und Entlassungen. Preise und Löhne katapultieren sich gegen seitig auf immer höhere Umlaufbahnen. auch in den Gewerkschaften, die Zeiten als kri- senhaft empfinden. Und er weiß, dass man mit dem Wort mobilisieren und Politik machen kann. Doch Fischer, der auch im Vorstand der Hans- 1990: NACHWENDEKRISE Böckler-Stiftung ist, hält das Wort für vorbelastet. Es ist eine Schocktherapie mit Foto: picture alliance/zb erwartbarem Ausgang: Mit der Krisenrhetorik höhlt die Demokratie aus Wirtschafts- und Währungs Vorbelastet ist es nicht nur wegen der Prise Fata- union im Sommer 1990 wird lismus, die seit den 1970er Jahren mitschwingt. die rückständige und nicht Sondern auch wegen Weimar: weil die Krisen- wettbewerbsfähige Industrie rhetorik der Nationalsozialisten und der Kom- der DDR der globalen Konkur renz ausgesetzt. Zwei Jahre munisten dem Zweck diente, die Demokratie zu später liegt die ostdeutsche In destabilisieren und eine diktatorische Gesell- dustrieproduktion bei nur noch schaft zu befördern. Es ist ein Punkt, auf den auch einem Viertel des Niveaus von Graf hinweist. Fischer redet deswegen aber lieber 1989. Mit der Demokratie von „Wandel“, von „Wende“ oder „Transforma- kommt statt „blühender Land schaften“ erst Arbeitslosigkeit. tion“. Worte, die eher vermitteln, dass Verände- rung bewältigt und gestaltet werden kann. Damit will er vermeiden, dass die Verände- rungen den Menschen mehr Angst als Hoffnung 2000: DOTCOM-BLASE machen. Nur den Krieg in der Ukraine nennt er eine Krise, die die Hoffnung auf eine friedliche Wer in den 1990er Zusammenarbeit der Völker erschüttert und Foto: Reuters Jahren Millionen von stark an gewerkschaftlichen Grundüberzeugun- Investoren einsam gen rüttelt. Die Lehre „Nie wieder Krieg“ wird meln will, benötigt durch einen Aggressor infrage gestellt. oft weder Kunden noch eine Geschäfts Der flehende Appell „Die Waffen nieder!“ idee. Hauptsache, wird nicht mehr von allen Mitgliedern der Staa- irgendwas mit Inter tengemeinschaft geteilt. Der Krieg und die Sank- net. Der Siegeszug tionen des Westens haben dramatische Auswir- des World Wide kungen auf die Wirtschaft. Und sie kommen Web nährt die Aus sicht auf fantasti plötzlich, nicht vorhersehbar wie der digitale sche Gewinne. Wandel oder der Klimawandel. Dagegen schaut Spekulationen auf die Zukunftsaussichten frischer Börsenkandidaten der Historiker Rüdiger Graf eher mit sprachkri- werden ein Volkssport, dem auch viele Kleinanleger verfallen. Als sich tischer Distanz auf das Phänomen des Krieges. Er abzeichnet, dass viele Unternehmen die Erwartungen nicht erfüllen können, kommt es zum Kurssturz an den Börsen. Internetunterneh sieht im Krieg einen Zustand jenseits der Krise. men stürzen reihenweise in die Pleite. Eine Krise werde „eher im Vorfeld eines heißen 14 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen Foto: AP Photo / Bernat Armangue Begräbnis eines Kriegstoten in der Ukraine: „Der Krieg ist ein Zustand jenseits der Krise – ihre fatale Lösung.“ Konflikts diagnostiziert“. Der Krieg sei dann „ihre kraten – eine Stärkung der Massenkaufkraft und, negative Lösung“. Wobei Lösung komisch klingt. noch Anfang 1933 im SPD-Blatt „Vorwärts“ , eine Auch Graf rechnet damit, dass der Krieg noch „großzügige öffentliche Arbeitsbeschaffung“. Dass Das Wort Krise weitere Krisendiagnosen humanitärer Art nach diese Arbeitsbeschaffung bald unter ganz ande- sich zieht: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir ren Vorzeichen Realität wurde, hatte damit zu ist attraktiv für bald von Hungerkrisen in Afrika reden werden.“ tun, dass die Nationalsozialisten die politischen Politiker. Es kann Die Gewerkschaften waren immer dafür da, Profiteure der Krise waren. die Menschen vor den Schockwirkungen großer Der Krisendiskurs der 1970er Jahre fand un- eine komplexe Krisen zu schützen. Und schon immer nahmen ter anderen Vorzeichen statt. Er war bestimmt sie dabei den Staat in die Pflicht. Während der von Publikationen wie dem Bericht „Die Gren- Lage auf eine Weltwirtschaftskrise argumentierten sie, wie zen des Wachstums“ des Club of Rome, der eine Entweder-oder- 1932 in der Gewerkschaftszeitschrift „Die Arbeit“, Selbstbeschränkung des wirtschaftlichen Wachs- dass die Kapitalisten versuchten, die Produktion tums forderte. Im Jahr 1972 etwa lud die IG Me- Antwort bringen.“ über das gebotene Maß hinaus auszubauen, aber tall in Oberhausen zu einer visionären Tagung höhere Löhne und mehr Konsum zu verhindern. mit dem Slogan „Aufgabe Zukunft: Qualität des RÜDIGER GRAF, Historiker Sie forderten – gemeinsam mit den Sozialdemo- Lebens“ ein, auf der Fragen nach der Um- MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 15
2008: FINANZKRISE welt- und Lebensqualität diskutiert wurden. Der damalige DGB-Chef Heinz Oskar Vetter Die schwerste Verwer Foto: David Shankbone fung seit 1929 ist die forderte: „Wir haben keine andere Wahl, wir Folge eines überhitzten müssen radikal brechen mit den bislang unsere Immobilienmarktes in Wirtschaft und Gesellschaft beherrschenden den USA. Als Millionen Prinzipien des privaten Gewinns und des unkri- Amerikaner ihre Raten für tisch gesehenen Wachstums.“ Bis diese Gedanken Hypothekendarlehen nicht mehr bezahlen gewerkschaftliches Allgemeingut wurden, dau- können, löst das eine erte es allerdings noch seine Zeit. Kettenreaktion aus. Im September meldet die Es gibt keine einfache Lösung Großbank Lehman Ein halbes Jahrhundert ist seit der Konferenz in Brothers Insolvenz an, was weltweit Panik Oberhausen vergangen, und die Weltbevölke- schürt. In etlichen Staa rung hat sich verdoppelt. Nach Ansicht von ten kommt es zu einer DGB-Vordenker Fischer haben sich seit den Kri- Rezession und zu Ent sendiskursen der 1970er Jahre zwei Interpretati- lassungen. In Deutsch onsmuster herausgebildet: „Die einen haben sehr land, wo die Regierung einen teuren Banken- stark auf den Markt gesetzt. Hier liegen die Wur- Rettungsschirm auf den zeln eines neoliberalen Globalisierungsprozesses. Weg bringt und das Kurz Die anderen haben ihren Glauben an den tech- arbeitergeld ausweitet, nischen Fortschritt und an das kapitalistische steigt die Arbeitslosen Wirtschaftsmodell aufgegeben.“ Doch beide quote nur moderat. Wege, die Marktgläubigkeit genauso wie Ideen von Postwachstumsökonomie und Deindustria- lisierung, könnten die heutigen Probleme nicht 2010: EURO-SCHULDENKRISE lösen: „Wir sehen, wie wichtig ein Staat ist, der auch handlungs- und steuerungsfähig ist.“ Eben- Die Finanzkrise ist noch nicht ganz verdaut, da trifft es die Staaten so brauche es moderne Technik, die im Sinne Südosteuropas, allen voran Griechenland. Sie haben sich in den gesellschaftlicher Modernisierung eingesetzt Jahren zuvor hoch verschuldet – auch um die Finanzkrise abzufedern. werden kann. Nun wachsen die Zweifel an der Kreditwürdigkeit Griechenlands. Das Wort „Krise“ stammt urprünglich aus Geld bekommen die Griechen nur noch zu immer höheren Zinsen. der Sprache der Medizin, wo es die Enschei- Das Land kann nur mithilfe der anderen Staaten vor dem Bankrott bewahrt werden. Die EU gewährt mehr als 300 Milliarden Euro an dungsphase zwischen der Genesung als „guter Krediten, verord Lösung“„ und dem Tod als „fataler Lösung“ mar- net allerdings ein kierte. Wäre es da nicht ein schöner Traum, wenn Foto: Reuters /A. Konstantinidis drastisches Spar alle Akteure im politischen Diskurs sich auf Ab- programm, das rüstung verständigten, mit weniger apokalypti- eine tiefe soziale Krise auslöst, die schen Metaphern, mehr Dialog und Kompro- Arbeitslosigkeit miss? Aber Politik, zumal öffentliche Politik, auf 27 Prozent an funktioniert oft anders. steigen lässt und Während der Coronapandemie hat der His- Millionen Men schen in Existenz toriker Rüdiger Graf beobachtet, wie „die Rhe- not stürzt. torik der Krise mit aller Macht zurückkehrte“. Aufmerksam registriert er auch, wie Klimaakti- visten von der „Klimakrise“ sprechen statt vom „Klimawandel“, um die Dringlichkeit ihrer For- 16 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen Foto: Reuters / Aly Song Corona-Lockdown in Shanghai: „In der Pandemie kehrte die Krisenrethorik mit aller Macht zurück.“ derungen zu betonen, und wie radikale Gruppen aller Couleur neue existenzielle Krisen ausrufen. Graf erinnert daran, dass Krisennarrative „in den allermeisten Fällen mit politischen Intenti- onen formuliert worden sind.“ Die Rolle der Öf- Der Begriff Krise ist vorbelastet. fentlichkeit sieht er darin, die Krisenrhetorik der politischen Akteure zu hinterfragen und Lö- Die Nazis und die Kommunisten kämpften sungsvorschläge auf ihre Tauglichkeit hin über- damit gegen die Demokratie.” prüfen. Das heißt nicht, vor großen Problemen die Augen zu verschließen. Aber es heißt, nicht jedem Schreihals hinterherzulaufen. Die radikals- THOMAS FISCHER, DGB-Grundsatzabteilung te Lösung ist in einer Demokratie nun einmal selten die beste. MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 17
Foto: Volkswagen AG „Die Realität toppt gerade frühere Krisen“ AUTOINDUSTRIE Daniela Cavallo, die Vorsitzende des VW-Gesamt- und -Konzernbetriebsrats, über einen Konzern in der Dauerkrise, den Umbau auf Elektromobilität und das schwierige Verhältnis zu China. Das Gespräch führten FABIENNE MELZER und KAY MEINERS Frau Cavallo, der VW-Konzern liefert aktuell Wie gehen Sie persönlich mit der Situation um? 40 Prozent weniger Fahrzeuge aus als vor einem Ich habe 1994 als Auszubildende bei VW ange- Jahr. Ein dramatischer Einbruch! Haben die fangen. Schon damals wurde die Arbeitszeit re- Beschäftigten Angst um den Arbeitsplatz? duziert, um Entlassungen zu verhindern. 2015 Es gibt schon Ängste, weil wir von einer Krise in kam Dieselgate, auch das war schlimm für uns. die nächste kommen. Die Pandemie hat viele Aber jetzt kommt es ziemlich dicke. Die Krise Beschäftigte mürbe gemacht. Dann kam die dauert schon lange, und das gerade zu einer Zeit, Halbleiterkrise, jetzt der Krieg in der Ukraine. in der VW die Weichen stellen muss, um die Alle fragen sich: Wie kommen wir da wieder he- große Transformation zur E-Mobilität zu stem- raus, und was kommt vielleicht als Nächstes? men. Parallel die Krise zu meistern und sich Ge- Aber neben der Angst gibt es zugleich ein hohes danken zu machen, wie wir in die Zukunft gehen, Vertrauen in das Unternehmen, in unsere Arbeit das ist sehr anstrengend. Es kommt viel zusam- als Betriebsrat und in unsere Gewerkschaft. Wir men. haben eine Beschäftigungssicherung bis 2029. Wir meistern auch diese Krise so, dass die Beschäf- Die Abhängigkeit von bestimmten Zulieferern hat tigten ihre Jobs nicht verlieren. sich als fatal erwiesen, jetzt, wo die Lieferketten gestört sind. Denkt VW da um? Sie verlieren trotz Dauerkrise nicht den Opti- Wir werden weiter global einkaufen. Aber es geht mismus? darum, sich weniger abhängig zu machen, Risi- Ich habe gedacht, so leicht kann mich nichts ken zu verringern. Wir erwarten, dass die Ein- mehr umhauen. Aber die Realität toppt gerade kaufsstrategie sich verändert und dass nicht nur frühere Krisen. Trotzdem gilt: Wir haben über auf die Kosten gesehen wird, sondern auch auf die Jahre Instrumente entwickelt, um mit so et- die geopolitischen Risiken. Dafür setzen wir uns was umzugehen, und es gibt eine große Solidari- auch im Aufsichtsrat ein. Nicht nur die Abhän- tät, auch zwischen den Standorten. In Wolfsburg gigkeit von einem Lieferanten kann zum Pro haben wir gerade einen Personalüberhang, an- blem werden, auch die Abhängigkeit von einer derswo zu wenig Personal. Wir bieten Beschäf- Region, wie wir jetzt sehen. Das gilt für die Ka- tigten an, freiwillig dorthin zu gehen, wo Leute belbäume aus der Ukraine oder auch für die fehlen. Halbleiter aus Asien. 18 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen Welche Maßnahmen werden jetzt ergriffen? Kaum ein Produkt steht derzeit so im gesell- Im Fall der Ukraine geht es darum, Lieferanten schaftlichen Fokus wie das Auto. Wie wird das zu finden, die Ausfälle kompensieren, aber zu- bei den Beschäftigten diskutiert? gleich die Solidarität mit den ukrainischen Liefe- Es gibt viele Sorgen. Ist der Weg in die Elektro- ranten sicherzustellen. Bei den Halbleitern, die mobilität der richtige? Gelingt es uns dauerhaft, wir lange als leicht verfügbares Schüttgut angese- die Arbeitsplätze zu sichern? Welchen Stellen- hen haben, brauchen wir langfristige Verträge wert hat individuelle Mobilität künftig? Diese und direkte Partnerschaften mit den Herstellern. Fragen stellen uns viele, gerade an den Standor- Halbleiter und Software werden immer wichtiger, ten, die stark am Verbrenner hängen. Nehmen wenn man eine hohe Fertigungstiefe erreichen wir die Motorenfertigung in Salzgitter, Chemnitz will. Da geht es nicht nur um die Frage, wo kaufen oder im polnischen Polkowice. Wie können wir wir das ein, sondern wie designen wir Chips und die Menschen mitnehmen, die wir haben, sie Halbleiter, dass wir damit auch Partnerschaften qualifizieren, statt zu sagen: Wir brauchen euch mit Lieferanten eingehen. Unser Center of Excel- nicht mehr. Dabei geht es nicht nur um die Be- lence in Salzgitter macht das bereits bei Batterie- schäftigten in der Produktion. Auch wer als Aka- zellen und bündelt unser Know-how. Dort folgt demiker oder Akademikerin in der technischen nun die Gigafabrik für unsere eigenen Zellen. Entwicklung arbeitet, muss sich verändern. MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 19
Aktuell konzentriert sich VW auf PS- und margenstarke Fahrzeuge. Das Konzernergebnis von 15 Milliarden Euro ist bei den niedrigen Stückzahlen anders nicht zu erklären. Das ist eine große Diskussion auf Arbeitnehmer- seite im Aufsichtsrat. Wegen der Halbleiterkrise Die Transformation ist wurden tatsächlich die margenstarken Fahrzeuge bevorzugt, um ein gutes Konzernergebnis zu er- längst Realität und nicht zielen. Das können wir ein Stück weit nachvoll- ziehen. Aber den Beschäftigten ist das nicht ein- mehr nur eine Vision.“ fach zu vermitteln. An den Markenergebnissen hängen auch die Ergebnisbeteiligungen und Boni der Beschäftigten. Kolleginnen und Kolle- gen der Kernmarke VW mit den kleineren Fahr- zeugen müssen öfter in Kurzarbeit gehen als andere. Da haben wir uns für einen ergebnisun- Die Transformation ist längst Realität und abhängigen Zuschlag eingesetzt, was sehr gut in nicht mehr nur eine Vision. der Belegschaft angekommen ist. Welche Steine mussten da aus dem Weg Die Autokonzerne sind dafür kritisiert worden, geräumt werden? dass sie Dividenden ausschütten, gleichzeitig Um beim Beispiel Salzgitter zu bleiben: Hier aber Kurzarbeitergeld beantragen. Saniert sich entsteht eine der sechs Batteriezellfabriken, die VW über die Sozialkassen? DIE STRATEGIN in Europa gebaut werden. Es war nicht selbstver- Ich verstehe, dass das auf den ersten Blick schlecht Daniela Cavallo, die Tochter eines ständlich, dass VW eine eigene Batteriezellpro- zusammenpasst. Trotzdem ist die Kritik oberfläch- italienischen VW-Arbeiters, hat duktion aufbaut. Wir als Betriebsrat haben das lich und in der Sache nicht gerechtfertigt. Kurzar- ihre gesamte Karriere bei VW schon 2010 erstmals gefordert und mussten das beitergeld ist kein Steuergeld; es kommt aus der verbracht. Sie begann 1994 nach dem Abitur eine Ausbildung als Management erst mühsam überzeugen, uns hier Arbeitslosenversicherung, in die Beschäftigte und Bürokauffrau und wurde 2002 in nicht von Lieferanten abhängig zu machen. Un- Arbeitgeber über Jahrzehnte eingezahlt haben. den Betriebsrat der VW-Tochter ser Job ist es, dafür zu sorgen, dass an allen Stand- Problematischer war das Gerechtigkeitsproblem „Auto 5000“ gewählt. Sie wurde orten investiert wird. Wir prüfen immer genau, im Konzern. Wir wurden gefragt, warum die einen 2019 Stellvertreterin ihres Vor was VW selbst machen kann, bevor es herausge- Kurzarbeit machen und die anderen in Vollzeit gängers Bernd Osterloh und über- nahm 2021 dessen Amt. Bei den geben wird. arbeiten dürfen. Daher haben wir eine Aufzahlung Wahlen 2022 wurde sie bestätigt. vereinbart. Statt den gesetzlichen rund zwei Drit- Dabei musste sie sich mit sieben Mischt sich der Betriebsrat auch in die Modell- teln vom Nettoentgelt gibt es bei uns 100 Prozent. weiteren Wahllisten auseinander- politik ein? Wir versuchen, vieles mit betrieblichen Regeln setzen. Cavallos Vorgänger Oster- Bei strategischen Fragen sicherlich. Wir haben abzufedern. loh hat einmal über sie gesagt: „Sie ist führungsstark, empathisch uns massiv für kleinere Elektrofahrzeuge als Ein- und so strategisch d enkend, dass stiegsmodelle eingesetzt. Volkswagen muss auch VW ist abhängig von China, und einer der sich viele wundern werden.“ weiterhin für Massenmobilität stehen. Seat hat größten Anteilseigner ist Katar, eine absolute im Konzern den Hut auf bei der Entwicklung Monarchie. Wie gehen Sie damit um, dass Sie von Einsteigermodellen, die ab Mitte des Jahr- auf Menschen treffen, für die Demokratie und zehnts kommen. Sie sollen ähnlich viel kosten Mitbestimmung nicht selbstverständlich sind? wie heutzutage ein VW Polo, der bei rund Wir sind uns sehr bewusst, dass das Unternehmen 20.000 Euro startet. Ich persönlich habe mich in vielen Ländern produziert, in denen es keine dafür eingesetzt, dass der etwas teurere ID.3 auch Demokratie gibt. Aber es wäre aus unserer Sicht in Wolfsburg gefertigt wird, nicht nur die elek keine Option, sich zurückzuziehen. Wir wollen trische Limousine Trinity, die hier ab 2026 ge- mit unserem Wertekompass erreichen, dass die baut werden soll. Wir haben das im Aufsichtsrat Menschen dort so vernünftig behandelt werden, gegen anfängliche Widerstände durchgesetzt. wie wir das hier kennen. Volkswagen hat in Süd- 20 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen afrika schon während des Apartheid-Regimes Indem wir die Diskussion wieder ein Stück investiert und ist hart kritisiert worden. Aber der versachlicht haben. Weder die Belegschaften Betriebsrat stand dahinter und unterstützte die noch die Öffentlichkeit wollen, dass so ein Kon- Gewerkschaften. Irgendwann war das Regime flikt ewig wabert. Als es in der Presse die Runde überwunden, und viele Menschen dort sind uns machte, dass Herr Diess 30.000 VW-Arbeits heute noch dankbar, dass wir uns nicht abgewen- plätze zur Disposition stellt, haben wir ein det haben. Machtwort gesprochen. Und darauf gepocht, die Krisen und die Transformation mit den Verab- Wie sieht das Engagement für die VW-Beschäf- redungen zu meistern, die wir schon getroffen tigten in China aus? haben. Da haben wir uns durchgesetzt, und das Unabhängige Gewerkschaften sind in China ver- war der ausschlaggebende Punkt. Wir wollen boten. Was wir aber tun: Wir laden chinesische den Wandel. Und wenn irgendwo Arbeitsplätze Kolleginnen und Kollegen als Gäste zu bestimm- wegfallen, können wir die Augen davor nicht ten Runden ein. Wir haben einen Koordinations- verschließen. Aber auf keinen Fall in dieser und Verbindungsausschuss gegründet, in dem Höhe und nicht durch Spekulationen getrieben. wir uns austauschen. Wir halten den Dialog für Denn an anderer Stelle entstehen ja neue Ar- wichtig, und das ist ein Weg, der den Belegschaf- beitsplätze. Wir kämpfen dafür, dass sie auch in ten zugutekommt. Über die Jahre bekommt das den Regionen entstehen. eine andere Qualität als manche hochoffiziellen Delegationen. Wir erreichen dort viel, aber es Wann kommt der elektrische Käfer? braucht Zeit. Den gibt es schon. Klassik-Fans können über Volkswagen ein E-Kit erwerben, mit dem sich ein China ist auch ökonomisch eine Herausforderung. alter Käfer auf Elektroantrieb umrüsten lässt. Das Sehen Sie im Konzern eine Gefahr für die Beschäf- ist allerdings nicht ganz billig. Für das Geld be- Mit Konzernchef Herbert Diess tigung in Deutschland oder für die Tarifverträge? kommt man auch locker einen neuen ID.3 und trug der Betriebsrat kürzlich einen öffentlichen Konflikt aus. Der Druck auf die Tarifverträge ist da. Immer hat dann deutlich mehr Komfort. wieder gibt es die Debatte, ob im Konzern auch aus China nach Europa geliefert werden soll, oder unsere Arbeitskosten werden mit denen in Mittel- und Osteuropa verglichen. Es ist auch bei VW nicht selbstverständlich, dass neue Werkeunter den Haustarif fallen. Das Manage- Foto: piture alliance / dpa / dpa-Zentralbild ment ist da mitunter sehr kreativ. Wir sind sehr froh, dass es uns gelungen ist, für die Soft- waretochter Cariad einen eigenen IG-Metall- Haustarif durchzusetzen. Das war keine Selbst- verständlichkeit. Auch in der Batteriezellfabrik in Salzgitter wird unser VW-Haustarif gelten. Unseren Haustarif müssen wir jedes Mal neu verhandeln. Das ist kein Selbstläufer. Aber es gelingt uns immer wieder, jetzt auch für unsere mehr als 12.000 Kolleginnen und Kollegen bei Volkswagen Sachsen. Sie kommen bis 2027 über einen Stufenplan zur VW AG und werden damit Teil unseres Haustarifs. Im letzten Herbst gab es eine öffentlich ausgetra- gene Auseinandersetzung zwischen Ihnen und dem Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess. Wie wurde der Konflikt beigelegt? MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 21
titelthema: krisen Foto: Benjamin Jenak „Es ging mal nicht um Gewinn, es ging darum, gut da durchzukommen.“ Jan Gündel, Altenpfleger aus Neustadt in Sachsen Corona hat Jan Gündel die Augen geöffnet. Die Augen geöffnet für manche Dinge im Pflegealltag, über die er vorher hinwegge- schaut hat. Mit Anfang 40 schulte Gündel zum Altenpfleger um – aus Überzeugung. Er sah darüber hinweg, dass die Bewohner beim Essen oft keinen Nachschlag bekamen, dass alle morgens um 8.30 Uhr gewaschen und angezogen sein mussten. Selbst als die Kasse die Zahl der Windeln pro Tag begrenzte, versuchte er, so gut wie möglich die Menschen in seiner Einrichtung zu versorgen. Einige kannte er seit seiner Kindheit. Dann kam die Pandemie. Viele Pflegekräfte infizierten sich, viele Bewohner starben. „In der ersten Welle hat die Geschäftsfüh- rung noch gut reagiert“, erzählt der 50-Jährige. „Es ging mal nicht um Gewinn, es ging darum, gut da durchzukommen.“ Doch in der zweiten Welle ließ das nach. Pflegekräfte schoben Doppelschichten. Die Schutzkleidung erschwerte die Arbeit. Kein Drücken, kein Handhalten, kaum ein Gespräch mit den Bewohnern war mehr möglich. Gleichzeitig sollte alles angesichts der Infektionsgefahr perfekt laufen. „Aber dafür stimmten die Bedingungen schon vor Corona nicht“, sagt Gündel. Die Pandemie war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlau- fen brachte. Gündel kündigte. Er konnte die Arbeit nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren: „Wenn eine Pflegefachkraft teilweise für 50 Bewohner auf vier Etagen zuständig ist, ist das eine Katastrophe. In Sachsen gibt es keinen festen Personalschlüssel, und die Berechnung allein nach den Pflegegraden ist würdelos gegenüber den älteren Menschen.“ Hier müsse die Politik einen bundesweit einheitlichen und menschenwürdigen Pflegeschlüssel einführen. Aber Pflegekräfte müssten sich auch stärker gewerk- schaftlich organisieren. „Diese Krise hat die Menschen doppelt so schnell altern lassen“, sagt Gündel. Er spürt es selbst. Früher hat er seinen Garten an ei- nem Nachmittag in Ordnung gebracht. Heute ist er schon nach kurzer Zeit müde. „Und ich hatte kein Corona“, sagt Gündel. 22 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen Jeder erlebt es anders AUS DEM LEBEN Nach zwei Jahren Pandemie hatten die Menschen kaum aufgeatmet, da verschlug der Krieg in der Ukraine ihnen erneut den Atem. Sechs Frauen und Männer erzählen, wie die Krisen ihr Leben geändert haben. Von Fabienne Melzer Kübra und Spiro Dinas, Qualitätsprüferin und Vorarbeiter im Motorenwerk bei Ford in Köln Sorgen machen sich Kübra und Spiro dort demnächst nicht mehr gebraucht inas nicht. Es ist eher diese Ungewissheit, D werden“, sagt Spiro Dinas, Vorarbeiter in die über allen schwebt, die das junge Paar der Produktion. Die beiden vertrauen auf bedrückt. „Wir arbeiten beide bei Ford im die Zusage, dass jeder von ihnen auch in Motorenwerk, und es ist ganz klar, dass wir Zukunft bei Ford arbeiten wird. Doch was heißt das, fragt sich Spiro Dinas: „Arbeite ich weiter als Vorarbeiter, oder muss ich zurück ans Band? Wie wird die Arbeit sein, die ich dann habe?“ Der Vertrauensmann der IG Metall hört diese Fragen auch von Kollegen, die sich mit ihren Befürchtun- gen an ihn wenden. „Die Stimmung hat sich verändert“, sagt Spiro Dinas. „Viele suchen sich etwas anderes und verlassen Ford.“ Finanzielle Sorgen plagen die beiden nicht, auch wenn sie schon wieder seit drei Wochen in Kurzarbeit sind. Zwar spüren sie die steigenden Preise in der Haushalts- kasse, aber mit kleineren Einschränkungen können sie leben. „Früher sind wir mindes- tens einmal in der Woche essen gegangen“, Foto: Stephen Petrat erzählt Kübra Dinas, „das machen wir in- zwischen viel seltener.“ Freunde laden sie öfter nach Hause ein. Beim Einkauf schaut Kübra mehr auf Angebote. MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 23
Foto: Cordula Kropke titelthema: krisen „Wir werden auch mit den Menschen in Russland wieder zusammenarbeiten.“ Mareike Kühne, Studentin aus Göttingen Als Mareike Kühne die Nachricht über das Entlastungs- paket der Bundesregierung las, stieg die Wut langsam in ihr hoch. Sie dachte: „Ok, Studierende gehören also nicht zu den einkommensschwachen Haushalten.“ Doch ihr Ärger flaute schnell wieder ab: „Was soll’s? Ich muss mein Foto: Uwe Zucchi Studium auf die Reihe kriegen.“ So kannte sie sich selbst nicht. Vor zwei Jahren hätte die 26-jährige Lehramtsstu- dentin gemeinsam mit anderen etwas dazu geschrieben, Protest organisiert. Zwei Jahre Pandemie haben an ihren Kräften gezehrt. Sie fand Onlinevorlesungen anstrengend, schaltete schneller ab als im Hörsaal. Suchte die Schuld bei sich selbst. Ihr Studium hat sich verzögert, auch die Arbeit in den Hochschulgruppen litt. „Vielen fehlte die Kraft, sich auch noch dafür in eine Videokonferenz zu setzen“, sagt Mareike Kühne. „In dieser Zeit lief in der Studierendenvertretung weniger als vor der Pandemie.“ „Vielen fehlte die Zwar kehrte an den Hochschulen Kraft für noch eine inzwischen der Alltag zurück, doch die Strukturen müssen sich erst wieder auf- Videositzung.“ bauen – vorausgesetzt, die Aktiven sind noch da. Eine Gruppe, in der Mareike Kühne mit anderen bei Konzerten Pfand gesammelt hatte, gibt es nicht mehr. An- dererseits spürt sie auch, wie groß das Bedürfnis ist, wie- der unter Menschen zu sein. Als eine ihrer Gruppen zum ersten Mal wieder zum interkulturellen Kochen einlud, hatten sich mehr angemeldet als kommen konnten. „Das gab es noch nie“, sagt die Studentin. 24 MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
Foto: Karsten Schöne Thomas Mendrzik, Aufsichtsrat bei der Hamburger Hafenlogistik (HHLA) Es herrscht Krieg auf den Plätzen, an denen Thomas Mendrzik vor ein paar Monaten noch saß. „Plötzlich liegt da alles in Schutt und Asche. Was für ein Wahn- sinn!“ Der 62-Jährige ist Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des Hamburger Hafenlogistikers HHLA, der im Hafen von Odessa den größten Containertermi- nal betreibt. Mendrizk besuchte die Ukraine oft, zuletzt im vergangenen Oktober. Und nun: Krieg. Der Containerterminal geschlossen. Der Hafen vermint. Den wirtschaftlichen Schaden für die HHLA hält Mendrzik für überschaubar. Die viel wichtigere Frage lautet für ihn: Wann hört dieser Krieg Yvonne Siegel, derzeit auf Arbeitssuche auf? Wann hört das Sterben auf beiden Seiten auf? Rund 450 Menschen beschäftigte der Logistiker im Hafen von Spargel ist ein Luxusgut, das Yvonne Siegel nie kaufen Odessa. „Mit dem Vorstand hat unser Arbeitsdirektor würde. Es war ein Fest, als es neulich drei Pfund davon die Angehörigen unserer ukrainischen Kollegen in bei der Tafel für kleines Geld gab. Zweimal im Monat Deutschland und Rumänien in Sicherheit gebracht“, geht sie dorthin, versorgt sich mit Obst, Gemüse, Mol- erzählt der Aufsichtsrat. Vier von ihnen hat Mendrzik kereiprodukten und Brot, „richtig gutem Bäckereibrot“, selbst aufgenommen. auch Käse und Wurst. Der ganze Einkauf kostet hier nur Der Krieg hat nicht nur Plätze zerstört, er hat auch 1,50 Euro. Seit auch viele Ukrainer zur Tafel kommen, Handelsbrücken abgerissen. „Ein Großteil der Waren ist der Andrang groß. Man braucht eine niedrige Los- der in Odessa umgeschlagenen Container versorgte nummer, damit das Sortiment nicht schon eingeschränkt den Großraum Kiew und ging auch nach Russland. ist. „Wenn ich die Nachrichten sehe, Krieg und Inflation, Auf den Schiffen unserer Reeder arbeiteten Russen und habe ich Angst“, sagt Yvonne Siegel. „Ich weiß nicht, wo Ukrainer. Wenn sie ausfallen, bricht der Welthandel das alles hinführt.“ Sieben Jahre hat sie in einer Wäsche- zusammen“, sagt der Gewerkschafter. rei gearbeitet. Als wegen Corona die Hotels schließen Dabei stapeln sich im Hamburger Hafen schon seit mussten, gab es erst Kurzar- Monaten die Container. „Ein Containerhafen ist ein beit, dann war der Job weg. Umschlagplatz“, sagt Mendrzik, „doch inzwischen sieht Mittlerweile ist das ALG I es eher nach einem Parkplatz aus.“ Die Ursache dafür ausgelaufen. „Die Tafel hilft sieht er nicht nur in den Krisen, sondern auch in der mir sehr, klarzukommen“, „Wenn ich die Politik der Europäischen Kommission, die den Wett- sagt sie. Auch sonst spart sie, Nachrichten sehe, bewerb auf hoher See aufgehoben hat. „Die großen wo es geht: „Duschen statt Reedereien nehmen keine Rücksicht auf Lieferketten“, Badewanne“ ist für sie Nor- habe ich Angst.“ sagt Mendrzik, „sie nehmen zuerst die Waren, die am malität. Sie versucht immer, meisten Geld bringen.“ Rücklagen zu haben – damit Dennoch will er die Globalisierung nicht zurück- Geld da ist, falls das Telefon drehen: „Das wäre egoistisch. Sie hat vielen Entwick- kaputtgeht, oder eine spontane Reise nach Warnemünde lung und Wohlstand gebracht.“ Um die nächste Krise möglich ist. Die fünf Euro monatlich, die die Verdi- besser zu überstehen, brauche es eine koordinierte Mitgliedschaft kostet, stehen für sie nicht zur Diskussion, europäische Verkehrs- und Sozialpolitik. Denn Häfen weil ihr die Gewerkschaft schon mehrmals sehr geholfen und Handel wird es immer geben. „Wir werden auch hat. In eine Wäscherei will Yvonne Siegel nicht mehr, wieder mit den Menschen in Russland zusammen aber sie hat einen Traum: „Hauswirtschafterin in einem arbeiten“, sagt Mendrzik, „wenn dieser Krieg hoffent- Kindergarten, das würde mir einen Riesenspaß machen. lich bald vorbei ist.“ Der Lehrgang dafür ist schon geplant.“ MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022 25
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