Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam

 
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Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
www.magazin-mitbestimmung.de | Nr. 3 | Juni 2022

Wir haben nur
eine Erde
Wie Krisen uns mobilisieren können

Zeit für eine Frau                   Reiseziel Paris
Yasmin Fahimi führt den              So geht Mitbestimmung
Deutschen Gewerkschaftsbund          beim Dienstleister Spie
Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
BOECKLER.DE/HANS

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editorial

                                                 LIEBE
                                                 LESERINNEN,
                                                 LIEBE LESER,                            Mein Lesetipp:
                                                                                        „Nach der letzten Schicht“ von
                                                                                         Andreas Molitor, S. 30 ff., weil

                                                 LIEBE
Foto: Jan Rathke

                                                                                         der Beitrag zeigt, wie wichtig
                                                                                         und wie viel nachhaltiger es

                                                 INTERESSIERTE
                                                                                         ist, den Menschen in den
                                                                                         Mittelpunkt zu stellen.

       D
                           as WSI der Hans-Böckler-Stiftung befragt seit April 2020
                          ­Erwerbstätige und Arbeitssuchende zu ihrer Lage. Anders
                           als zunächst gedacht, mussten wir nicht nur einmal fragen.
                   Jetzt liegen die Daten der achten Befragung vor, weil die Krise
                   kein Ende nimmt. Die Sorge um soziale Ungleichheit ist größer
                   als in den bisherigen Erhebungen: Zwei Drittel aller Befragten
                   fürchten, dass die Gesellschaft „Gefahr läuft, zu zerbrechen“.
                       Zu Hause singt meine Fünfjährige: „El pueblo unido jamás
                    será vencido!“ Was aber heißt „vereint“, wenn die einen lieber
                   weiter im Homeoffice arbeiten, während die anderen die Maschi-
                   nen nicht von zu Hause bedienen und die Kranken nicht von zu
                   Hause pflegen können? Wie organisiert man da Zusammenhalt?
                       Seit mehr als 150 Jahren haben Gewerkschaften Antworten
                   ­darauf gefunden. Wenn Reiner Hoffmann seiner Nachfolgerin,
                    der Chemikerin Yasmin Fahimi, die chemische Formel von Kleb-
                    stoff schenkt, dann weil die Fliehkräfte angesichts der Krisen
                    enorm sind. Es sind die Menschen in den Betrieben, die für mich
                    den Klebstoff bilden und von denen einige in diesem Heft ihre
                   Geschichten erzählen. Eine interessante Lektüre wünscht

                   Claudia Bogedan,
                   Geschäftsführerin

                   claudia-bogedan@boeckler.de

                                                                                            MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   3
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IN DIESER AUSGABE …

                                             TITELTHEMA: KRISE

                                             10 Auf Messers Schneide
                                             	Die Rückkehr der Krisenrhetorik in der Politik.
                                               Von Kay Meiners

                                             18 „Die Realität toppt gerade frühere Krisen“
                                                   Daniela Cavallo über Mitbestimmung im VW-Konzern

                                             22 „Doppelt so schnell gealtert“
                                                   Corona, Inflation, Krieg – Menschen erzählen, was das für sie bedeutet

                                             26 Das wird teuer
                                                   Die Inflationsrate ist so hoch wie vor 40 Jahren. Von Stefan Scheytt

                                             28 Die Krise als Nagelprobe
                                                   Betriebsräte werden gegründet, wenn es rumort. Von Andreas Schulte

          10                                 30 Nach der letzten Schicht
                                                   Die krisengebeutelte Lausitz soll Vorbild werden. Von Andreas Molitor

                                             ARBEIT UND MITBESTIMMUNG

                                             33 Praxistipp
                                                   Konzepte von „New Work“ richtig regulieren

                                             34 Wir bestimmen mit
                                             	Michael Kessler, Arbeitnehmervertreter bei Spie. Von Kevin Galant

                                 34          36 Comeback im Solar Valley
                                             	Eine Schweizer Firma hat zwei ostdeutsche Solarfabriken wiederbelebt.
                                               Von Andreas Molitor

                                             POLITIK UND GESELLSCHAFT

                                             39 Den Nerv voll getroffen
                                                   Wie ein Betriebsrat zum Gewinner des IG-Metall-Contest wurde.
                                                   Von Martin Kaluza

                                             42 	Zeit für eine Frau
                                                   Bericht vom DGB-Kongress. Von Fabienne Melzer

                                        42   46 In Abneigung vereint
                                             	Gewerkschaften in der Ukraine. Von Stefan Scholl

4   MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
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IMMER IM HEFT …
                                                                                             WAS
                                                                                          SONST NOCH
                                                                                           GESCHAH

KOMPAKT

                                                                                                                                    Foto: Alfred Yaghobzadeh/ABACAPRESS.com
6 NACHRICHTEN
8 CHECK Die Zahlen hinter der Zahl
9 PRO & CONTRA Ein Thema, zwei Experten

AUS DER STIFTUNG

48 RADAR Böckler-Institute, Böckler-Projekte, Meldungen
50 WIR — DIE STIFTUNG Branchen

                                                                   In der Grauzone
                                                                     Für die Veröffentlichung seines Textes
                                                                     hat ein Autor uns eine besondere Bedin­
    52                                                              gung gestellt. Sein Text, schrieb er, dürfe
                                                                     nicht das Wort „Krieg“ für die russische
                                                                     Militäraktion gegen die Ukraine enthal­
                                                                     ten. Hintergrund ist die Angst vor straf­
   Porträt                                                           rechtlicher Verfolgung in Russland,­­seiner
   UTE KLAMMER wurde als junge Wissenschaftlerin geför-              Wahlheimat. Auch Begriffe wie „Inva­
   dert. Heute ist sie eine gefragte Expertin für Sozialpolitik.    sion“ und „Angriff“ dürfen dort nicht
                                                                     mehr verwendet werden; Präsident Putin
                                                                     hat sie verboten. Wer sie dennoch ver­
                                                                     wendet, riskiert strafrechtliche Konse­
54 EVENTS Termine, die sich lohnen                                  quenzen. Aber auch Menschen, die die

55 ZUR SACHE Ernesto Klengel: EuGH-Urteil zur Leiharbeit            Gesetze formal nicht verletzen, werden
                                                                    drangsaliert. Zensur und Repression
                                                                    ­setzen auf Unsicherheit, auf eine Grau­
                                                                    zone, die zur umfassenden Selbstzensur
MEDIEN
                                                                     führt. Darf man schreiben, dass russi­
                                                                     sche Panzer seit Monaten durch die
56 BUCH Rezensionen, Tipps & Debatten                                Ukraine rollen? Dass russische Soldaten
                                                                     Städte an­greifen? Dass sie Zivilisten
59 DAS POLITISCHE LIED Elvis Costello: „Shipbuilding“               töten, ganze Stadtviertel in Schutt und
60 DIGITAL Links, Apps & Blogs                                      Asche legen? Putin lebt in seiner eigenen
                                                                     Welt. Der Welt der „Spezialoperation“.
                                                                     Ich habe die Fantasie, dass er eines
                                                                   ­Tages ver­sehentlich eines der verbotenen
                                                                     Wörter benutzt. Ob dann wohl auch die
                                                                    Justiz einschreitet?
                                     RUBRIKEN

                                     3 EDITORIAL
                                     62 FUNDSTÜCK
                                                                   Foto: Karsten Schöne

                                     64 LESERFORUM
    66                               65 IMPRESSUM/VORSCHAU                                          KAY MEINERS ist
                                                                                                    Redakteur des Magazins
                                     66 MEIN ARBEITSPLATZ                                           Mitbestimmung.

                                                                                                MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022                                             5
Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
Foto: © Vincenzo Circosta/ZUMA Press Wire

                                                                                                                                                                                                                 Foto: Benjamin Jenak
                                                Der Krieg und das Getreide
                                                In einem Getreidefeld nahe der ukrainischen Stadt Mykolayiv steckt                     liegen Millionen Tonnen Getreide fest, die Preise steigen. Gleichzeitig
                                                der Transportbehälter einer Artillerierakete. Russland und die Ukra-                   erlebt Ostafrika die schwerste Dürre seit Jahrzehnten. Laut Oxfam
                                                ine gehören für Länder in Afrika und Nahost zu den wichtigsten                         verhungert dort alle 48 Sekunden ein Mensch. Experten befürchten,
                                                Getreidelieferanten. Der Krieg in der Ukraine werde die Ärmsten der                    dass die gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise weltweit bis zu
                                                Welt treffen, warnen Hilfsorganisationen. In den Schwarzmeerhäfen                      40 Millionen Menschen mehr in die Armut treiben werden.

                                                STREIK                                                                                        BETRIEBSRATSGRÜNDUNG

                                                Zurück auf Normalniveau                                                                       Aldi schießt ein Eigentor
                                                Anzahl der Arbeitskämpfe in Deutschland 2015 bis 2021                                         Verdi rechnet in Zukunft mit mehr Mitbestimmung bei Aldi-
                                                                                                                                              Süd. „Wir hoffen jetzt auf mehr Initiativen zu Betriebsratsgrün-
                                                  238                                                       227                               dungen“, sagt Robert Puleski, Sekretär der Gewerkschaft in
                                                                                             216                                221
                                                                201            197                                                            Düsseldorf. Unfreiwillig hatte Aldi-Süd im April darauf auf-
                                                                                                                                              merksam gemacht, dass in fast allen Regionalgesellschaften des
                                                 133                                                                     157
                                                                               109                           113                              Discounters Betriebsräte fehlen. Laut der Organisation „Aktion
                                                                108
                                                                                              101
                                                                                                                                88            Arbeitsunrecht“ hatten Filialleiter ein Treffen zur Bestellung
                                                                                                                          86
                                                                                                                                              eines Wahlvorstands im April in Köln mit Zwischenrufen und
                                                                                                                                              Falschbehauptungen gestört. Mehrere Personen sollen die Büh-
                                                2015          2016           2017           2018           2019          2020   2021          ne gestürmt haben, es kam zu Gerangel und Beleidigungen.
                                                    Anzahl der Arbeitskämpfe                                                                  Sogar die Polizei rückte an. Die Initiatoren mussten die Ver-
                                                    Arbeitskämpfe Dienstleitungssektor (inkl. Druck und Verlage)                              sammlung auflösen. Die Kölner Tageszeitung „Express“ sprach
                                                Quelle: WSI-Arbeitskampfbilanz 2021; Böckler Report Nr. 74, April 2022                        von einem Eklat.

                                            6   MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
kompakt

                                                                  56,1 %
HARTZ IV                                                                                                EINE FRAGE, HERR BURKERT

Sanktionen ausgesetzt

                                                                                                                                               Foto: evg-online
Die Ampelkoalition hat einige Sanktionen für Hartz-IV-Emp-          der Betriebs- und
fänger bis Mitte kommenden Jahres gestrichen. Im Koaliti-             Personalräte
onsvertrag hatten die drei Parteien vereinbart, dass es bis zur
                                                                      berichten von einer
gesetzlichen Neuregelung der Strafen ein einjähriges Morato-        ­zunehmenden Belas­
rium für die Sanktionen geben soll. Ausgesetzt wird die Mög-         tung bei ihrer Arbeit
lichkeit, das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung      durch die Coronakrise
um 30 Prozent zu mindern. Bei Meldeversäumnissen muss               – so das Ergebnis der
                                                                         ­Betriebs- und
man ferner für ein Jahr erst im Wiederholungsfall Sanktionen
                                                                   Personalräte­befragung
in Höhe von maximal zehn Prozent des Regelbedarfs fürchten.          des Wirtschafts- und
Die Gewerkschaft Verdi hatte die Pläne als unzureichend kri-          Sozialwissenschaft­
tisiert und ein echtes Moratorium gefordert. Ihr Vorsitzender         lichen Instituts der              Ist das Neun-
Frank Werneke bezeichnete den Gesetzentwurf im Vorfeld             Hans-Böckler-Stiftung.
                                                                        Nur fünf Prozent                Euro-Ticket
als „Bruch des Versprechens, das im Koalitionsvertrag gegeben
wurde“. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren müsste nun die
                                                                   fanden, ihre Belastung               eine gute Idee?
                                                                  sei gesunken. Häufigste
Bundesregierung zu ihrem Wort stehen. Soziale Sicherheit sei        Themen der Betriebs-
derzeit für den Zusammenhalt in der Gesellschaft von zen­          und Personalratsarbeit               Das Ticket ist ein wichtiges Si-
traler Bedeutung. Rund 80 Prozent der Hartz-IV-Sanktionen         während der Pandemie                  gnal für mehr ÖPNV. Gleich-
                                                                   waren Corona und die
gehen auf Meldeversäumnisse zurück.                                                                     zeitig sind die drei Monate eine
                                                                  Folgen für den Betriebs­
                                                                      ablauf, für Arbeits­              riesige Herausforderung und
                                                                  schutz und Gesundheit                 ein teurer politischer Schnell-
                                                                     sowie mobile Arbeit                schuss. Die Beschäftigten wer-
                                                                        oder Heimarbeit.                den alles ihnen Mögliche zum
                                                                                                        Gelingen des Feldversuchs tun.
                                                                              Quelle:
AUFSICHTSRAT                                                         WSI Report Nr. 75, Mai 2022        Angesichts des zu erwartenden
                                                                                                        Ansturms bräuchte es jedoch
EuGH-Gutachter stützt                                                                                   mehr Personal und Angebot.
                                                                                                        Natürlich muss der ÖPNV
Gewerkschaftsposition                                                                                   auch preislich attraktiv sein.
                                                                                                        Aber mit dem Neun-Euro-­
                                                                  WISSEN SIE …
Im Streit um die Wahl in den Aufsichtsrat hat der Generalan-                                            Ticket wird der zweite Schritt
walt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Position der                                              vor dem ersten gemacht. Ärger
                                                                  … dass rund ein Zehntel
Gewerkschaften gestützt. Nach Ansicht des Gutachters müssen                                             und Frust der Fahrgäste über
                                                                  der Erwerbstätigen
Gewerkschaftsvertreter auch nach der Umwandlung in eine           Work­aholics sind?                    Verspätungen, überfüllte Züge
Europäische Aktiengesellschaft (SE) in einem eigenen Wahl-        „Suchthaftes Arbeiten“,               oder Räumung von Bahnstei-
gang bestimmt werden. Beim Softwareunternehmen SAP                so eine von der Hans-                 gen könnten an den Beschäftig-
besteht der Aufsichtsrat seit Umwandlung in eine SE aus 18        Böckler-Stiftung geför­               ten hängen bleiben. Deshalb ist
                                                                  derte Studie, ist mit
Personen. Allerdings ermöglicht die SE-Beteiligungsvereinba-                                            es wichtig, auch dauerhaft
                                                                  12,4 Prozent vor allem
rung, den Aufsichtsrat zu verkleinern. Die Gewerkschaften         unter Führungskräften                 mehr Geld für den gesamten
könnten in diesem Fall zwar weiter Kandidaten vorschlagen,        verbreitet. In mitbe­                 ÖPNV bereitzustellen. Nur so
einen eigenen Wahlgang sollte es aber nicht mehr geben. Ge-       stimmten Betrieben                    wird man langfristig die not-
gen diese Option hatten IG Metall und Verdi geklagt. Sebas-       kommt suchthaftes
                                                                                                        wendigen Kapazitäten errei-
                                                                  ­Arbeiten mit 8,7 Prozent
tian Sick, Mitbestimmungsexperte der Hans-Böckler-Stiftung,                                             chen können.
                                                                   deutlich seltener vor.
stimmt der Schlussantrag optimistisch: „Das ist eine gute
Ausgangslage. Der EuGH folgt häufig den Empfehlungen des
                                                                                                        MARTIN BURKERT ist stellvertre­
Generalanwalts.“ Die Wahl der Gewerkschaftsvertreter sei                                                tender Vorsitzender der Eisen­
                                                                  Quelle: Beatrice von Berk/Christian
wichtig. „Sie sind in besonderem Maße unabhängig und stär-        Ebner/Daniela Rohrbach-Schmidt:       bahn- und Verkehrsgewerk­
                                                                  Wer hat nie richtig Feierabend? In:
ken die Kontrolle des Aufsichtsrats“, sagt Sick.                  Zeitschrift Arbeit 3/2022             schaft (EVG).

                                                                                                           MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022                      7
Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
kompakt

     CHECK DIE ZAHLEN HINTER DER ZAHL

     Industrie bleibt Basis des Wohlstands
     WIRTSCHAFTSSTRUKTUR In Deutschland bleibt die Industrie auch im Zeitalter der Dienstleistungen
     Basis des wirtschaftlichen Wohlstands. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Institut für Mitbestimmung
     und Unternehmensführung (I.M.U.) geförderte Studie.
     Von Fabienne Melzer

     Langsamer gewachsen                                                                                     International
     Zwischen 1991 und 2020 veränderte                                                                       im Mittelfeld
     sich der Produktionswert
     der Industrie um ...................................
                                                                          81 %                               Anteil der industriellen
                                                                                                             Bruttowertschöpfung am

     des Dienstleistungssektors um.............
                                                                                                   160 %     Bruttoinlandsprodukt:

                                                                                   121 %
                                                                                                                                 37,8 %
     der Gesamtwirtschaft um .....................

                                                                                                                                 China

     Wichtigster Lieferant für den eigenen Sektor
     Aus diesen Sektoren bezieht die
     Industrie ihre Vorleistungen:
                                                                                   Industrie
                                                                                                                                  29,1 %
                                                                                                                                 Japan

                                                            Dienst-
                    Forst- und Land-                        leistungen
                                                                                                                                  26,2 %
                                                                                        66 %
                    wirtschaft

                                                            30 %
                                                                                                                                 Deutschland

                 3%
                                                                                                                                 18,2 %
                                                                                                                                 USA
     Bei Investitionen vorne
     Entwicklung der Bruttoinvestitionen
     zwischen 1991 und 2020:

                                                                     Industrie
                                                                                        531                                      17,7 %
                                                                                                                                 Brasilien

                                                            298                                                                  16,9 %
                                    207                                                                                          Großbritannien
               Dienst-
          leistungen

      43                                                                                                     Quelle: Oliver Emons/Henrik Steinhaus/
                                                                                                             Stephan Kraft: Volkswirtschaftliche
             1991          2020                                          1991    2020          in Mrd. EUR   Bedeutung des industriellen Sektors in
                                                                                                             Deutschland. Mitbestimmungsreport Nr. 73,
                                                                                                             April 2022

8    MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
kompakt

                                                           PRO & CONTRA EIN THEMA, ZWEI EXPERTEN

                     Sollte die Mehrwertsteuer auf
                     Lebensmittel gesenkt werden?
                                  Foto: G. Baumbach/vzbv

                                                                                                               Foto: Peter Himsel
                   Weniger Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse                                                     Lebensmittel wurden zuletzt massiv

 JA.               und Hülsenfrüchte – neu ist die Idee nicht. Der
                   Wissenschaftliche Beirat beim Ernährungsmi-
                                                                                    NEIN.                      teurer. Familien und Menschen mit
                                                                                                               geringen Einkommen setzt der Preis-
nisterium sprach sich schon 2020 dafür aus, die Zukunftskom-                       anstieg immer mehr unter Druck. Doch eine geringere Mehr-
mission Landwirtschaft 2021. In den letzten Wochen hat die                         wertsteuer für bestimmte oder alle Nahrungsmittel, wie sie zu-
Diskussion angesichts der hohen Inflationsraten Fahrt aufge-                       letzt in der öffentlichen Debatte gefordert wurde, wäre
nommen. Ziel einer solchen Mehrwertsteuersenkung wäre es,                          gesamtgesellschaftlich keine gute Lösung. Zunächst entlastet
den Anreiz für eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu                           eine Mehrwertsteuersenkung sozial nicht besonders zielgenau.
erhöhen, indem Obst und Gemüse billiger werden, gerade im                          Denn alle Haushalte würden weniger zahlen, auch jene, die dank
Vergleich zu tierischen Lebensmitteln wie Fleisch.                                 hoher Einkommen keine Geldsorgen haben.
    Bei stark gestiegenen Lebensmittelpreisen könnte eine Mehr-                        Zweitens dürfte eine allgemeine Steuersenkung reiche Haus-
wertsteuerbefreiung außerdem Menschen entlasten, wenn auch                         halte sogar stärker entlasten als jene mit geringen Einkommen.
nur geringfügig. Es ist davon auszugehen, dass der Lebensmit-                      Der französische Käse aus dem Delikatessenladen für 5,99 Euro
telhandel die Steuerbefreiung tatsächlich weitergibt. Zumindest                    pro 100 Gramm würde um rund 40 Cent billiger, der abgepack-
bei der letzten temporären Mehrwertsteuersenkung 2020 war                          te Gouda für 60 Cent pro 100 Gramm gerade einmal um 4 Cent.
das der Fall.                                                                          Drittens kostet eine Mehrwertsteuersenkung den Staat viel
    Die Mehrwertsteuerbefreiung von Obst und Gemüse kostet                         Geld, das in den kommenden Jahren für Aufgaben wie Infra-
den Staat nicht nur etwas, sondern fördert eine gesunde Ernäh-                     struktur, Bildung und Dekarbonisierung benötigt wird. Das
rung und spart langfristig auch Kosten, beispielsweise im Ge-                      wiegt umso schwerer, als diese Einnahmeausfälle bei einer
sundheitssystem. Klar ist aber auch: Gerade für Geringverdiener                    Steuer­senkung wohl dauerhaft wären.
reicht eine Mehrwertsteuersenkung natürlich nicht, um die stark                        Sinnvoller, als an der Mehrwertsteuerschraube zu drehen, ist
gestiegenen Lebenshaltungskosten auszugleichen. Der Staat                          es deshalb, besonders belasteten Haushalten und Familien mit
muss dringend die ernährungsbezogenen Regelsätze in der                            einmaligen Zahlungen zu helfen und insbesondere im unteren
Grundsicherung anheben und einkommensschwache Haushal-                             Einkommensbereich für ordentliche Lohn- und Gehaltssteige-
te gezielt entlasten.                                                              rungen zu sorgen.

                                                                                   SEBASTIAN DULLIEN ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts
ANNE MARKWARDT leitet das Team Lebensmittel bei der Verbrau­                       für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-
cherzentrale Bundesverband e.V.                                                    Böckler-Stiftung.

     Und Ihre Meinung? Was halten Sie davon? Schreiben Sie an redaktion@boeckler.de

                                                                                                                                    MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022    9
Wir haben nur eine Erde - Zeit für eine Frau Yasmin Fahimi führt den Deutschen Gewerkschaftsbund - ZZF Potsdam
Foto: Don Arnold/Getty Images

                                10   MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen

Klima-Streik von Schülern im
australischen Sydney (2019):
Dem Planeten Erde geht es
schlecht.

                               AUF
                               MESSERS
                               SCHNEIDE
                               POLITIK Die Krisenrhetorik ist zurück auf
                               dem politischen Parkett. Das Wort Krise kann
                               Menschen für den Fortschritt mobilisieren.
                               Aber es kann auch selbst zur Gefahr werden.
                               Von Kay Meiners

                               B
                                          ill Anders, einer der Astronauten an Bord
                                          von Apollo 8, handelt am Heiligen
                                         Abend des Jahres 1968 gegen das Proto-
                                          koll, als er zur Kamera greift. Auf dem
                                Raumflug, der die Mondlandung im kommen-
                                den Jahr vorbereiten soll, sieht er die Erde über
                                der grauen Mondoberfläche aufgehen – und ist
                                überwältigt. Vor dem schwarzen All sieht die
                                Erde aus wie ein wertvoller, funkelnder Opal.
                                Anders macht ein Foto, das zum ersten Mal die
                                Erde als Ganzes zeigt. Unter dem Namen „Earth­
                                rise“, auf Deutsch „Erdaufgang“, wird es zur Ikone.
                                Es ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem
                                globalen Bewusstsein. Der Planet Erde ist eine
                                Solidargemeinschaft. Und es geht ihm schlecht.
                               „Alle Krisen, die die 1970er Jahre in Westeuropa
                                und in den USA zu einem krisenhaften Jahrzehnt
                                machten, wurden als globale Krisen diskutiert:
                                die Öl- und Energiekrisen, die Wirtschafts- und
                                Währungskrise, die Umwelt-, die Überbevölke-
                                rungs- und die Welternährungskrise“, so Rüdiger
                                Graf, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeit-
                                historische Forschung in Potsdam.

                                                                MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   11
KRISEN DER NEUZEIT
                            1857: BANKENPANIK
                                                                                                                                                           Graf hat den Begriff der Krise, seine Kon-
                                                     Während des Krimkrieges hat                                                                       junkturen und semantischen Verschiebungen im

                                                                                                                                         Foto: Alamy
                                                     Europa auf billigen russischen                                                                    Lauf der Zeit analysiert und zwei Epochen näher
                                                     Weizen verzichtet und teurer in                                                                   untersucht, in denen die Rhetorik der Krise ihre
                                                     den USA gekauft. Jetzt ist der                                                                    Höhepunkte hatte: die 1920er und die 1970er
                                                     Krieg zu Ende, die Preise sinken,
                                                                                                                                                       Jahre. Krise ist für Graf ein Schlüsselbegriff der
                                                     US-Farmer bleiben auf der Ware
                                                     sitzen. Sie können ihre Kredite                                                                   Moderne. Der Historiker sagt: „Wer von Krise
                                                     nicht zurückzahlen. Bald muss                                                                     spricht, glaubt daran, dass die Zukunft von der
                                                     die erste Bank ihre Zahlungen                                                                     eigenen Aktivität abhängt. Eine Krise ist eine
                                                     einstellen. Die Krise breitet sich                                                                Herausforderung, die man meistern kann.“
                                                     rasch um die Welt aus. Viele
                                                     Menschen begreifen zu ersten
                                                     Mal, wie vernetzt die Wirtschaft ist.                                                             Die Welt am Scheideweg?
                                                                                                                                                       An solchen Herausforderungen besteht kein
                                                                                                                                                       Mangel. Deutschland hat die Coronakrise noch
                                                                                                                                                       nicht verdaut, die EU ist geschwächt, China ist
                            1873: GRÜNDERKRISE                                                                                                         auf dem Weg zur ökonomischen Supermacht –
                                                                                                                                                       und dem Planeten geht es auch nicht gut. Die
                                                                                        Die Reichsgründung von 1871 und der Fall
                                                                            Foto: AKG

                                                                                        der Zollgrenzen sind Dünger für die deutsche                   Welt stehe an einem „Scheideweg“, heißt es im
                                                                                        Wirtschaft. Überall wird investiert. Doch die                  Bericht „Gemeinsame Sicherheit 2022“ des Inter-
                                                                                        Wirtschaft ist überhitzt. Es kommt zum Bör­                    nationalen Friedensbüros, der gemeinsam mit
                                                                                        sencrash. Für die Industrialisierung ist die                   internationalen Gewerkschaftsbünden entstan-
                                                                                        Gründerkrise allerdings nur eine Atempause.
                                                                                                                                                       den ist: „Wir sind Zeugen einer globalen Krise,
                                                                                        Interessengruppen organisieren sich verstärkt.
                                                                                        In Gotha schließen sich 1875 zwei Arbeiter­                    die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist,
                                                                                        parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei                    den Klimawandel zu stoppen, ein lückenhaftes
                                                                                        Deutschlands zusammen, der heutigen SPD.                       und ungleiches globales Vorgehen gegen die
                                                                                                                                                       Covid-19-Pandemie und eine lange Liste von
                                                                                                                                                       Konflikten, bei denen die internationale Gemein-
                                                                                                                                                       schaft versagt hat.“
                            1929: WELTWIRTSCHAFTSKRISE                                                                                                     Der Begriff Krise kann, so Rüdiger Graf, „eine
                                                                                                                                                       komplexe Gemengelage auf eine Entweder-oder-
 Foto: Deutsches Historisches Museum / Walter Ballhause

                                                                                                         Die USA sind die führende
                                                                                                                                                       Antwort bringen – mit einer positiven Lösung
                                                                                                         Wirtschaftsnation der Welt.
                                                                                                         Viele Länder, auch Deutsch­                   auf der einen Seite und einer negativen Drohung
                                                                                                         land, sind nach dem Welt­                     auf der anderen Seite“. Für Politiker sei das ver-
                                                                                                         krieg hoch verschuldet.                       führerisch. Das gelte auch dann, wenn am Ende
                                                                                                        Als 1929 eine Spekulations­                    ein Kompromiss erzielt werden muss, der ver-
                                                                                                         blase an der New Yorker
                                                                                                                                                       schiedene Interessen unter einen Hut bringt.
                                                                                                         Börse platzt, kommt es zur
                                                                                                         Kernschmelze. US-Banken                           Krise und Hoffnung waren lange ein frucht-
                                                                                                         ziehen Geld aus dem Aus­                      bares Paar. In den 1920er Jahren und selbst nach
                                                                                                         land ab, die Industriepro­                    1929, als Deutschland in den Strudel einer dra-
                                                                                                         duktion bricht ein. Die                       matischen Weltwirtschaftskrise geriet, wurde der
                                                                                                        ­Arbeitslosigkeit explodiert.
                                                                                                                                                       Diskurs noch überwiegend im nationalen Rah-
                                                                                                         Die Menschen sind ver­
                                                                                                         zweifelt. Z
                                                                                                                   ­ wischen 1925                      men geführt, aber dafür mit der Hoffnung auf
                                                                                                         und 1933 nimmt die Zahl                       eine dauerhafte Überwindung der Krise.
                                                                                                         der Beschäftigten im Reich                        Dagegen war der Grundton der 1970er Jahre,
                                                                                                         um 30,3 Prozent ab. Löhne
                                                                                                                                                       als die internationale Zusammenarbeit viel stär-
                                                                                                         und Renten werden gekürzt.
                                                                                                                                                       ker eingefordert wurde, wesentlich fatalistischer

12                                                        MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen

                                                                                                                                           Foto: national arhives and records
                          und pessimistischer. Die Gleichzeitigkeit von
                          wirtschaftlicher und ökologischer Krise, so Graf,
                         „zerstörte für viele Zeitgenossen die Idee, dass der
                          Mensch den Fortschritt gestalten kann“.
                              Krisen als Wendepunkte zum Guten zu ver-
                          stehen, diesem Gedanken hatte sich im 19. Jahr-
                          hundert auch die Arbeiterbewegung verschrie-
                          ben. In der Marx’schen Lehre waren Krisen dazu
                          da, Revolutionen zu verursachen, die dann zu
                          fortschrittlicheren Gesellschaften führten. Doch
                          spätestens in Weimar wurde auch eine dunkle
                          Seite der Krisenrhetorik spürbar, die erklärt, wa-
                          rum Krisenzeiten immer auch die Stunde der
                          Populisten sind. „Gerade an den Rändern des
                          politischen Spektrums gab es die Tendenz, ver-        Hungerkrise in
                          schiedene Krisen zu einer Gesamtdeutung zu-           Bia­fra, wilder Müll
                                                                                in New York: „Der
                          sammenzufügen – zu einer einzigen
                                                                                Diskurs wurde in
                                                                                den 1970er Jahren
                                                                                fatalistischer und
                                                                                pessimistischer.“
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                                                                                                       MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022                                        13
1973: ÖLKRISE
                                                                Vor allem durch die „autofreien              fundamentalen Krise“, erklärt Graf. „Je radi-
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                                                                Sonntage“ ist der Herbst 1973 im        kaler das politische Programm, desto dramati-
                                                                kollektiven Gedächtnis geblieben.       scher muss die Krisendiagnose sein, um es zu
                                                                Nach dem Ausbruch des Jom-Kip­
                                                                                                        rechtfertigen.“
                                                                pur-Krieges zwischen Israel und
                                                                arabischen Staaten unter Führung             Beim DGB in Berlin gibt es eine eigene Ab-
                                                                Ägyptens trifft ein Ölpreisschock       teilung, die aktuellen Trends nachspürt und Im-
                                                                die deutsche Wirtschaft. Nachdem        pulse für die innergewerkschaftliche Debatte
                             die arabischen Ölstaaten ihre Fördermenge drastisch reduzieren, ver­       liefern soll: die Abteilung Grundsatzfragen. Ihr
                             vierfacht sich der Ölpreis. Es kommt zu Produktionseinbrüchen, Kurz­
                                                                                                        Leiter Thomas Fischer weiß, dass viele Menschen,
                             arbeit und Entlassungen. Preise und Löhne katapultieren sich gegen­
                             seitig auf immer höhere Umlaufbahnen.                                      auch in den Gewerkschaften, die Zeiten als kri-
                                                                                                        senhaft empfinden. Und er weiß, dass man mit
                                                                                                        dem Wort mobilisieren und Politik machen kann.
                                                                                                        Doch Fischer, der auch im Vorstand der Hans-
                     1990: NACHWENDEKRISE                                                               Böckler-Stiftung ist, hält das Wort für vorbelastet.

                                                                     Es ist eine Schocktherapie mit
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                                                                     erwartbarem Ausgang: Mit der       Krisenrhetorik höhlt die Demokratie aus
                                                                     Wirtschafts- und Währungs­         Vorbelastet ist es nicht nur wegen der Prise Fata-
                                                                     union im Sommer 1990 wird          lismus, die seit den 1970er Jahren mitschwingt.
                                                                     die rückständige und nicht         Sondern auch wegen Weimar: weil die Krisen-
                                                                     wettbewerbsfähige Industrie
                                                                                                        rhetorik der Nationalsozialisten und der Kom-
                                                                     der DDR der globalen Konkur­
                                                                     renz ausgesetzt. Zwei Jahre        munisten dem Zweck diente, die Demokratie zu
                                                                     später liegt die ostdeutsche In­   destabilisieren und eine diktatorische Gesell-
                                                                     dustrieproduktion bei nur noch     schaft zu befördern. Es ist ein Punkt, auf den auch
                                                                     einem Viertel des Niveaus von      Graf hinweist. Fischer redet deswegen aber lieber
                                                                     1989. Mit der Demokratie
                                                                                                        von „Wandel“, von „Wende“ oder „Transforma-
                                                                     kommt statt „blühender Land­
                                                                     schaften“ erst Arbeitslosigkeit.   tion“. Worte, die eher vermitteln, dass Verände-
                                                                                                        rung bewältigt und gestaltet werden kann.
                                                                                                            Damit will er vermeiden, dass die Verände-
                                                                                                        rungen den Menschen mehr Angst als Hoffnung
                             2000: DOTCOM-BLASE                                                         machen. Nur den Krieg in der Ukraine nennt er
                                                                                                        eine Krise, die die Hoffnung auf eine friedliche
                                                                              Wer in den 1990er         Zusammenarbeit der Völker erschüttert und
Foto: Reuters

                                                                              Jahren Millionen von      stark an gewerkschaftlichen Grundüberzeugun-
                                                                              Investoren einsam­        gen rüttelt. Die Lehre „Nie wieder Krieg“ wird
                                                                              meln will, benötigt
                                                                                                        durch einen Aggressor infrage gestellt.
                                                                              oft weder Kunden
                                                                              noch eine Geschäfts­          Der flehende Appell „Die Waffen nieder!“
                                                                              idee. Hauptsache,         wird nicht mehr von allen Mitgliedern der Staa-
                                                                              ­irgendwas mit Inter­     tengemeinschaft geteilt. Der Krieg und die Sank-
                                                                              net. Der Siegeszug
                                                                                                        tionen des Westens haben dramatische Auswir-
                                                                              des World Wide
                                                                                                        kungen auf die Wirtschaft. Und sie kommen
                                                                              Web nährt die Aus­
                                                                              sicht auf fantasti­       plötzlich, nicht vorhersehbar wie der digitale
                                                                              sche Gewinne.             Wandel oder der Klimawandel. Dagegen schaut
                             ­Spekulationen auf die Zukunftsaussichten frischer Börsenkandidaten        der Historiker Rüdiger Graf eher mit sprachkri-
                              werden ein Volkssport, dem auch viele Kleinanleger verfallen. Als sich
                                                                                                        tischer Distanz auf das Phänomen des Krieges. Er
                             abzeichnet, dass viele Unternehmen die Erwartungen nicht erfüllen
                              können, kommt es zum Kurssturz an den Börsen. Internetunterneh­
                                                                                                        sieht im Krieg einen Zustand jenseits der Krise.
                             men stürzen reihenweise in die Pleite.                                     Eine Krise werde „eher im Vorfeld eines heißen

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titelthema: krisen

Foto: AP Photo / Bernat Armangue

                                   Begräbnis eines Kriegstoten in der Ukraine: „Der Krieg ist ein Zustand jenseits der Krise – ihre fatale Lösung.“

                                                                                   Konflikts dia­gnostiziert“. Der Krieg sei dann „ihre kraten – eine Stärkung der Massenkaufkraft und,
                                                                                   negative Lösung“. Wobei Lösung komisch klingt. noch Anfang 1933 im SPD-Blatt „Vorwärts“ , eine
                                                                                   Auch Graf rechnet damit, dass der Krieg noch „großzügige öffentliche Arbeitsbeschaffung“. Dass
                                   Das Wort Krise                                  weitere Krisendiagnosen humanitärer Art nach         diese Arbeitsbeschaffung bald unter ganz ande-
                                                                                   sich zieht: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir ren Vorzeichen Realität wurde, hatte damit zu
                                   ist attraktiv für                               bald von Hungerkrisen in Afrika reden werden.“ tun, dass die Nationalsozialisten die politischen

                                   Politiker. Es kann                                  Die Gewerkschaften waren immer dafür da, Profiteure der Krise waren.
                                                                                   die Menschen vor den Schockwirkungen großer              Der Krisendiskurs der 1970er Jahre fand un-
                                   eine komplexe                                   Krisen zu schützen. Und schon immer nahmen           ter anderen Vorzeichen statt. Er war bestimmt
                                                                                   sie dabei den Staat in die Pflicht. Während der von Publikationen wie dem Bericht „Die Gren-
                                   Lage auf eine
                                                                                   Weltwirtschaftskrise argumentierten sie, wie         zen des Wachstums“ des Club of Rome, der eine
                                   Entweder-oder-                                  1932 in der Gewerkschaftszeitschrift „Die Arbeit“, Selbstbeschränkung des wirtschaftlichen Wachs-
                                                                                   dass die Kapitalisten versuchten, die Produktion     tums forderte. Im Jahr 1972 etwa lud die IG Me-
                                   Antwort bringen.“                               über das gebotene Maß hinaus auszubauen, aber tall in Oberhausen zu einer visionären Tagung
                                                                                   höhere Löhne und mehr Konsum zu verhindern. mit dem Slogan „Aufgabe Zukunft: Qualität des
                                   RÜDIGER GRAF, Historiker                        Sie forderten – gemeinsam mit den Sozialdemo- Lebens“ ein, auf der Fragen nach der Um-

                                                                                                                                                          MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   15
2008: FINANZKRISE
                                                                                                                                         welt- und Lebensqualität diskutiert wurden.
                                                                                                                                    Der damalige DGB-Chef Heinz Oskar Vetter
                                                                    Die schwerste Verwer­
Foto: David Shankbone

                                                                    fung seit 1929 ist die                                          forderte: „Wir haben keine andere Wahl, wir
                                                                    ­Folge eines überhitzten                                        müssen radikal brechen mit den bislang unsere
                                                                    Immobilienmarktes in                                            Wirtschaft und Gesellschaft beherrschenden
                                                                    den USA. Als Millionen                                          Prinzipien des privaten Gewinns und des unkri-
                                                                    Amerikaner ihre Raten für
                                                                                                                                    tisch gesehenen Wachstums.“ Bis diese Gedanken
                                                                     Hypo­thekendarlehen
                                                                    nicht mehr bezahlen                                             gewerkschaftliches Allgemeingut wurden, dau-
                                                                      ­können, löst das eine                                        erte es allerdings noch seine Zeit.
                                                                     Kettenreaktion aus. Im
                                                                    September meldet die                                            Es gibt keine einfache Lösung
                                                                    Großbank Lehman
                                                                                                                                     Ein halbes Jahrhundert ist seit der Konferenz in
                                                                     ­Brothers Insolvenz an,
                                                                    was weltweit Panik                                               Oberhausen vergangen, und die Weltbevölke-
                                                                    schürt. In etlichen Staa­                                        rung hat sich verdoppelt. Nach Ansicht von
                                                                    ten kommt es zu ­einer                                           DGB-Vordenker Fischer haben sich seit den Kri-
                                                                      Rezession und zu Ent­                                          sendiskursen der 1970er Jahre zwei Interpretati-
                                                                      lassungen. In Deutsch­
                                                                                                                                     onsmuster herausgebildet: „Die einen haben sehr
                                                                      land, wo die ­Regierung
                                                                    einen teuren Banken-                                             stark auf den Markt gesetzt. Hier liegen die Wur-
                                                                      Rettungsschirm auf den                                         zeln eines neoliberalen Globalisierungsprozesses.
                                                                    Weg bringt und das Kurz­                                         Die anderen haben ihren Glauben an den tech-
                                                                    arbeitergeld ausweitet,                                          nischen Fortschritt und an das kapitalistische
                                                                    steigt die Arbeitslosen­
                                                                                                                                     Wirtschaftsmodell aufgegeben.“ Doch beide
                                                                    quote nur moderat.
                                                                                                                                     Wege, die Marktgläubigkeit genauso wie Ideen
                                                                                                                                     von Postwachstums­ökonomie und Deindustria-
                                                                                                                                     lisierung, könnten die heutigen Probleme nicht
                    2010: EURO-SCHULDENKRISE                                                                                         lösen: „Wir sehen, wie wichtig ein Staat ist, der
                                                                                                                                     auch handlungs- und steuerungsfähig ist.“ Eben-
                         Die Finanzkrise ist noch nicht ganz verdaut, da trifft es die Staaten                                       so brauche es moderne Technik, die im Sinne
                         Südosteuropas, allen voran Griechenland. Sie haben sich in den                                              gesellschaftlicher Modernisierung eingesetzt
                        ­Jahren zuvor hoch verschuldet – auch um die Finanzkrise abzufedern.                                         werden kann.
                         Nun wachsen die Zweifel an der Kreditwürdigkeit Griechenlands.                                                   Das Wort „Krise“ stammt urprünglich aus
                         Geld bekommen die Griechen nur noch zu immer höheren Zinsen.
                                                                                                                                     der Sprache der Medizin, wo es die Enschei-
                         Das Land kann nur mithilfe der anderen Staaten vor dem Bankrott
                         ­bewahrt werden. Die EU gewährt mehr als 300 Milliarden Euro an                                             dungsphase zwischen der Genesung als „guter
                         Krediten, verord­                                                                                           Lösung“„ und dem Tod als „fataler Lösung“ mar-
                         net allerdings ein                                                                                          kierte. Wäre es da nicht ein schöner Traum, wenn
                                                                                                 Foto: Reuters /A. Konstantinidis

                         drastisches Spar­
                                                                                                                                     alle Akteure im politischen Diskurs sich auf Ab-
                         programm, das
                                                                                                                                     rüstung verständigten, mit weniger apokalypti-
                         eine tiefe soziale
                         Krise auslöst, die                                                                                          schen Metaphern, mehr Dialog und Kompro-
                         Arbeitslosigkeit                                                                                            miss? Aber Politik, zumal öffentliche Politik,
                         auf 27 Prozent an­                                                                                          funktioniert oft anders.
                         steigen lässt und
                                                                                                                                          Während der Coronapandemie hat der His-
                         Millionen Men­
                         schen in Existenz­
                                                                                                                                     toriker Rüdiger Graf beobachtet, wie „die Rhe-
                         not stürzt.                                                                                                 torik der Krise mit aller Macht zurückkehrte“.
                                                                                                                                     Aufmerksam registriert er auch, wie Klimaakti-
                                                                                                                                     visten von der „Klimakrise“ sprechen statt vom
                                                                                                                                    „Klimawandel“, um die Dringlichkeit ihrer For-

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titelthema: krisen

Foto: Reuters / Aly Song

                           Corona-Lockdown in Shanghai: „In der Pandemie kehrte die Krisenrethorik mit aller Macht zurück.“

                           derungen zu betonen, und wie radikale Gruppen
                           aller Couleur neue existenzielle Krisen ausrufen.
                               Graf erinnert daran, dass Krisennarrative „in
                           den allermeisten Fällen mit politischen Intenti-
                           onen formuliert worden sind.“ Die Rolle der Öf-                             Der Begriff Krise ist vorbelastet.
                           fentlichkeit sieht er darin, die Krisenrhetorik der
                           politischen Akteure zu hinterfragen und Lö-                            Die Nazis und die Kommunisten kämpften
                           sungsvorschläge auf ihre Tauglichkeit hin über-                              damit gegen die Demokratie.”
                           prüfen. Das heißt nicht, vor großen Problemen
                           die Augen zu verschließen. Aber es heißt, nicht
                           jedem Schreihals hinterherzulaufen. Die radikals-                                       THOMAS FISCHER, DGB-Grundsatzabteilung
                           te Lösung ist in einer Demokratie nun einmal
                           selten die beste.

                                                                                                                                                      MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   17
Foto: Volkswagen AG
                   „Die Realität toppt
                    gerade frühere Krisen“
                      AUTOINDUSTRIE Daniela Cavallo, die Vorsitzende des VW-Gesamt- und
                     -Konzernbetriebsrats, über einen Konzern in der Dauerkrise, den Umbau auf
                      Elektromobilität und das schwierige Verhältnis zu China.
                      Das Gespräch führten FABIENNE MELZER und KAY MEINERS

                     Frau Cavallo, der VW-Konzern liefert aktuell          Wie gehen Sie persönlich mit der Situation um?
                     40 Prozent weniger Fahrzeuge aus als vor einem        Ich habe 1994 als Auszubildende bei VW ange-
                     Jahr. Ein dramatischer Einbruch! Haben die            fangen. Schon damals wurde die Arbeitszeit re-
                     Beschäftigten Angst um den Arbeitsplatz?              duziert, um Entlassungen zu verhindern. 2015
                     Es gibt schon Ängste, weil wir von einer Krise in     kam Dieselgate, auch das war schlimm für uns.
                     die nächste kommen. Die Pandemie hat viele            Aber jetzt kommt es ziemlich dicke. Die Krise
                     Beschäftigte mürbe gemacht. Dann kam die              dauert schon lange, und das gerade zu einer Zeit,
                     Halbleiterkrise, jetzt der Krieg in der Ukraine.      in der VW die Weichen stellen muss, um die
                     Alle fragen sich: Wie kommen wir da wieder he-        große Transformation zur E-Mobilität zu stem-
                     raus, und was kommt vielleicht als Nächstes?          men. Parallel die Krise zu meistern und sich Ge-
                     Aber neben der Angst gibt es zugleich ein hohes       danken zu machen, wie wir in die Zukunft gehen,
                     Vertrauen in das Unternehmen, in unsere Arbeit        das ist sehr anstrengend. Es kommt viel zusam-
                     als Betriebsrat und in unsere Gewerkschaft. Wir       men.
                     haben eine Beschäftigungssicherung bis 2029.
                     Wir meistern auch diese Krise so, dass die Beschäf-   Die Abhängigkeit von bestimmten Zulieferern hat
                     tigten ihre Jobs nicht verlieren.                     sich als fatal erwiesen, jetzt, wo die Lieferketten
                                                                           gestört sind. Denkt VW da um?
                     Sie verlieren trotz Dauerkrise nicht den Opti-        Wir werden weiter global einkaufen. Aber es geht
                     mismus?                                               darum, sich weniger abhängig zu machen, Risi-
                     Ich habe gedacht, so leicht kann mich nichts          ken zu verringern. Wir erwarten, dass die Ein-
                     mehr umhauen. Aber die Realität toppt gerade          kaufsstrategie sich verändert und dass nicht nur
                     frühere Krisen. Trotzdem gilt: Wir haben über         auf die Kosten gesehen wird, sondern auch auf
                     die Jahre Instrumente entwickelt, um mit so et-       die geopolitischen Risiken. Dafür setzen wir uns
                     was umzugehen, und es gibt eine große Solidari-       auch im Aufsichtsrat ein. Nicht nur die Abhän-
                     tät, auch zwischen den Standorten. In Wolfsburg       gigkeit von einem Lieferanten kann zum Pro­
                     haben wir gerade einen Personalüberhang, an-          blem werden, auch die Abhängigkeit von einer
                     derswo zu wenig Personal. Wir bieten Beschäf-         Region, wie wir jetzt sehen. Das gilt für die Ka-
                     tigten an, freiwillig dorthin zu gehen, wo Leute      belbäume aus der Ukraine oder auch für die
                     fehlen.                                               Halbleiter aus Asien.

18   MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen

Welche Maßnahmen werden jetzt ergriffen?              Kaum ein Produkt steht derzeit so im gesell-
Im Fall der Ukraine geht es darum, Lieferanten        schaftlichen Fokus wie das Auto. Wie wird das
zu finden, die Ausfälle kompensieren, aber zu-        bei den Beschäftigten diskutiert?
gleich die Solidarität mit den ukrainischen Liefe-    Es gibt viele Sorgen. Ist der Weg in die Elektro-
ranten sicherzustellen. Bei den Halbleitern, die      mobilität der richtige? Gelingt es uns dauerhaft,
wir lange als leicht verfügbares Schüttgut angese-    die Arbeitsplätze zu sichern? Welchen Stellen-
hen haben, brauchen wir langfristige Verträge         wert hat individuelle Mobilität künftig? Diese
und direkte Partnerschaften mit den Herstellern.      Fragen stellen uns viele, gerade an den Standor-
Halbleiter und Software werden immer wichtiger,       ten, die stark am Verbrenner hängen. Nehmen
wenn man eine hohe Fertigungstiefe erreichen          wir die Motorenfertigung in Salzgitter, Chemnitz
will. Da geht es nicht nur um die Frage, wo kaufen    oder im polnischen Polkowice. Wie können wir
wir das ein, sondern wie designen wir Chips und       die Menschen mitnehmen, die wir haben, sie
Halbleiter, dass wir damit auch Partnerschaften       qualifizieren, statt zu sagen: Wir brauchen euch
mit Lieferanten eingehen. Unser Center of Excel-      nicht mehr. Dabei geht es nicht nur um die Be-
lence in Salzgitter macht das bereits bei Batterie-   schäftigten in der Produktion. Auch wer als Aka-
zellen und bündelt unser Know-how. Dort folgt         demiker oder Akademikerin in der technischen
nun die Gigafabrik für unsere eigenen Zellen.         Entwicklung arbeitet, muss sich verändern.

                                                                                                          MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   19
Aktuell konzentriert sich VW auf PS- und
                                                                                                   margenstarke Fahrzeuge. Das Konzernergebnis
                                                                                                   von 15 Milliarden Euro ist bei den niedrigen
                                                                                                   Stückzahlen anders nicht zu erklären.
                                                                                                   Das ist eine große Diskussion auf Arbeitnehmer-
                                                                                                   seite im Aufsichtsrat. Wegen der Halbleiterkrise
                     Die Transformation ist                                                        wurden tatsächlich die margenstarken Fahrzeuge
                                                                                                   bevorzugt, um ein gutes Konzernergebnis zu er-

                  längst Realität und nicht                                                        zielen. Das können wir ein Stück weit nachvoll-
                                                                                                   ziehen. Aber den Beschäftigten ist das nicht ein-

                     mehr nur eine Vision.“                                                        fach zu vermitteln. An den Markenergebnissen
                                                                                                   hängen auch die Ergebnisbeteiligungen und
                                                                                                   Boni der Beschäftigten. Kolleginnen und Kolle-
                                                                                                   gen der Kernmarke VW mit den kleineren Fahr-
                                                                                                   zeugen müssen öfter in Kurzarbeit gehen als
                                                                                                   andere. Da haben wir uns für einen ergebnisun-
                                               Die Transformation ist längst Realität und          abhängigen Zuschlag eingesetzt, was sehr gut in
                                           nicht mehr nur eine Vision.                             der Belegschaft angekommen ist.

                                           Welche Steine mussten da aus dem Weg                    Die Autokonzerne sind dafür kritisiert worden,
                                           geräumt werden?                                         dass sie Dividenden ausschütten, gleichzeitig
                                           Um beim Beispiel Salzgitter zu bleiben: Hier            aber Kurzarbeitergeld beantragen. Saniert sich
                                           entsteht eine der sechs Batteriezellfabriken, die       VW über die Sozialkassen?
      DIE STRATEGIN                        in Europa gebaut werden. Es war nicht selbstver-        Ich verstehe, dass das auf den ersten Blick schlecht
      Daniela Cavallo, die Tochter eines   ständlich, dass VW eine eigene Batteriezellpro-         zusammenpasst. Trotzdem ist die Kritik oberfläch-
        italienischen VW-Arbeiters, hat    duktion aufbaut. Wir als Betriebsrat haben das          lich und in der Sache nicht gerechtfertigt. Kurzar-
        ihre gesamte Karriere bei VW
                                           schon 2010 erstmals gefordert und mussten das           beitergeld ist kein Steuergeld; es kommt aus der
       ­verbracht. Sie begann 1994 nach
      dem Abitur eine Ausbildung als       Management erst mühsam überzeugen, uns hier             Arbeitslosenversicherung, in die Beschäftigte und
      ­Bürokauffrau und wurde 2002 in      nicht von Lieferanten abhängig zu machen. Un-           Arbeitgeber über Jahrzehnte eingezahlt haben.
      den ­Betriebsrat der VW-Tochter      ser Job ist es, dafür zu sorgen, dass an allen Stand-   Problematischer war das Gerechtigkeitsproblem
     „Auto 5000“ gewählt. Sie wurde        orten investiert wird. Wir prüfen immer genau,          im Konzern. Wir wurden gefragt, warum die einen
      2019 Stellvertreterin ihres Vor­
                                           was VW selbst machen kann, bevor es herausge-           Kurzarbeit machen und die anderen in Vollzeit
      gängers Bernd Osterloh und über-
        nahm 2021 dessen Amt. Bei den      geben wird.                                             arbeiten dürfen. Daher haben wir eine Aufzahlung
      Wahlen 2022 wurde sie bestätigt.                                                             vereinbart. Statt den gesetzlichen rund zwei Drit-
       Dabei musste sie sich mit sieben    Mischt sich der Betriebsrat auch in die Modell-         teln vom Nettoentgelt gibt es bei uns 100 Prozent.
      weiteren Wahllisten auseinander-     politik ein?                                            Wir versuchen, vieles mit betrieblichen Regeln
      setzen. Cavallos Vorgänger Oster-
                                           Bei strategischen Fragen sicherlich. Wir haben          abzufedern.
        loh hat einmal über sie gesagt:
     „Sie ist führungsstark, empathisch    uns massiv für kleinere Elektrofahrzeuge als Ein-
      und so strategisch d­ enkend, dass   stiegsmodelle eingesetzt. Volkswagen muss auch          VW ist abhängig von China, und einer der
      sich viele wundern werden.“          weiterhin für Massenmobilität stehen. Seat hat          größten Anteilseigner ist Katar, eine absolute
                                           im Konzern den Hut auf bei der Entwicklung              Monarchie. Wie gehen Sie damit um, dass Sie
                                           von Einsteigermodellen, die ab Mitte des Jahr-          auf Menschen treffen, für die Demokratie und
                                           zehnts kommen. Sie sollen ähnlich viel kosten           Mitbestimmung nicht selbstverständlich sind?
                                           wie heutzutage ein VW Polo, der bei rund                Wir sind uns sehr bewusst, dass das Unternehmen
                                           20.000 Euro startet. Ich persönlich habe mich           in vielen Ländern produziert, in denen es keine
                                           dafür eingesetzt, dass der etwas teurere ID.3 auch      Demokratie gibt. Aber es wäre aus unserer Sicht
                                           in Wolfsburg gefertigt wird, nicht nur die elek­        keine Option, sich zurückzuziehen. Wir wollen
                                           trische Limousine Trinity, die hier ab 2026 ge-         mit unserem Wertekompass erreichen, dass die
                                           baut werden soll. Wir haben das im Aufsichtsrat         Menschen dort so vernünftig behandelt werden,
                                           gegen anfängliche Widerstände durchgesetzt.             wie wir das hier kennen. Volkswagen hat in Süd-

20   MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen

afrika schon während des Apartheid-Regimes            Indem wir die Diskussion wieder ein Stück
investiert und ist hart kritisiert worden. Aber der   ­versachlicht haben. Weder die Belegschaften
Betriebsrat stand dahinter und unterstützte die         noch die Öffentlichkeit wollen, dass so ein Kon-
Gewerkschaften. Irgendwann war das Regime             flikt ewig wabert. Als es in der Presse die Runde
überwunden, und viele Menschen dort sind uns            machte, dass Herr Diess 30.000 VW-Arbeits­
heute noch dankbar, dass wir uns nicht abgewen-       plätze zur Disposition stellt, haben wir ein
det haben.                                            Machtwort gesprochen. Und darauf gepocht, die
                                                       ­Krisen und die Transformation mit den Verab-
Wie sieht das Engagement für die VW-Beschäf-          redungen zu meistern, die wir schon getroffen
tigten in China aus?                                    haben. Da haben wir uns durchgesetzt, und das
Unabhängige Gewerkschaften sind in China ver-          war der ausschlaggebende Punkt. Wir wollen
boten. Was wir aber tun: Wir laden chinesische        den Wandel. Und wenn irgendwo Arbeitsplätze
Kolleginnen und Kollegen als Gäste zu bestimm-         wegfallen, können wir die Augen davor nicht
ten Runden ein. Wir haben einen Koordinations-         verschließen. Aber auf keinen Fall in dieser
und Verbindungsausschuss gegründet, in dem              Höhe und nicht durch Spekulationen getrieben.
wir uns austauschen. Wir halten den Dialog für          Denn an anderer Stelle entstehen ja neue Ar-
wichtig, und das ist ein Weg, der den Belegschaf-       beitsplätze. Wir kämpfen dafür, dass sie auch in
ten zugutekommt. Über die Jahre bekommt das           den Regionen entstehen.
eine andere Qualität als manche hochoffiziellen
Delegationen. Wir erreichen dort viel, aber es        Wann kommt der elektrische Käfer?
braucht Zeit.                                         Den gibt es schon. Klassik-Fans können über
                                                      Volkswagen ein E-Kit erwerben, mit dem sich ein
China ist auch ökonomisch eine Herausforderung.       alter Käfer auf Elektroantrieb umrüsten lässt. Das
Sehen Sie im Konzern eine Gefahr für die Beschäf-     ist allerdings nicht ganz billig. Für das Geld be-         Mit Konzernchef Herbert Diess
tigung in Deutschland oder für die Tarifverträge?     kommt man auch locker einen neuen ID.3 und                 trug der Betriebsrat kürzlich
                                                                                                                ­einen öffentlichen Konflikt aus.
Der Druck auf die Tarifverträge ist da. Immer         hat dann deutlich mehr Komfort.
wieder gibt es die Debatte, ob im Konzern auch
aus China nach Europa geliefert werden soll,
oder unsere Arbeitskosten werden mit denen in
Mittel- und Osteuropa verglichen. Es ist auch
bei VW nicht selbstverständlich, dass neue
Werke­unter den Haustarif fallen. Das Manage-
                                                                Foto: piture alliance / dpa / dpa-Zentralbild

ment ist da mitunter sehr kreativ. Wir sind sehr
froh, dass es uns gelungen ist, für die Soft-
waretochter Cariad einen eigenen IG-Metall-
Haustarif durchzusetzen. Das war keine Selbst-
verständlichkeit. Auch in der Batteriezellfabrik
in Salzgitter wird unser VW-Haustarif gelten.
Unseren Haustarif müssen wir jedes Mal neu
verhandeln. Das ist kein Selbstläufer. Aber es
gelingt uns immer wieder, jetzt auch für unsere
mehr als 12.000 Kolleginnen und Kollegen bei
Volkswagen Sachsen. Sie kommen bis 2027 über
einen Stufenplan zur VW AG und werden damit
Teil unseres Haustarifs.

Im letzten Herbst gab es eine öffentlich ausgetra-
gene Auseinandersetzung zwischen Ihnen und
dem Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess. Wie
wurde der Konflikt beigelegt?

                                                                                                                MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   21
titelthema: krisen
Foto: Benjamin Jenak

                                                            „Es ging mal nicht um
                                                           Gewinn, es ging darum,
                                                           gut da durchzukommen.“

                                                           Jan Gündel, Altenpfleger aus Neustadt in Sachsen

                                                           Corona hat Jan Gündel die Augen geöffnet. Die Augen geöffnet
                                                           für manche Dinge im Pflegealltag, über die er vorher hinwegge-
                                                           schaut hat. Mit Anfang 40 schulte Gündel zum Altenpfleger um –
                                                           aus Überzeugung. Er sah darüber hinweg, dass die Bewohner beim
                                                           Essen oft keinen Nachschlag bekamen, dass alle morgens um
                                                           8.30 Uhr gewaschen und angezogen sein mussten. Selbst als die
                                                           Kasse die Zahl der Windeln pro Tag begrenzte, versuchte er, so gut
                                                           wie möglich die Menschen in seiner Einrichtung zu versorgen.
                                                           Einige kannte er seit seiner Kindheit.
                                                               Dann kam die Pandemie. Viele Pflegekräfte infizierten sich,
                                                           viele Bewohner starben. „In der ersten Welle hat die Geschäftsfüh-
                                                           rung noch gut reagiert“, erzählt der 50-Jährige. „Es ging mal nicht
                                                           um Gewinn, es ging darum, gut da durchzukommen.“ Doch in der
                                                           zweiten Welle ließ das nach. Pflegekräfte schoben Doppelschichten.
                                                           Die Schutzkleidung erschwerte die Arbeit. Kein Drücken, kein
                                                           Handhalten, kaum ein Gespräch mit den Bewohnern war mehr
                                                           möglich. Gleichzeitig sollte alles angesichts der Infektionsgefahr
                                                           perfekt laufen. „Aber dafür stimmten die Bedingungen schon vor
                                                           Corona nicht“, sagt Gündel.
                                                               Die Pandemie war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlau-
                                                           fen brachte. Gündel kündigte. Er konnte die Arbeit nicht mehr
                                                           mit seinem Gewissen vereinbaren: „Wenn eine Pflegefachkraft
                                                           teilweise für 50 Bewohner auf vier Etagen zuständig ist, ist das eine
                                                           Katastrophe. In Sachsen gibt es keinen festen Personalschlüssel,
                                                           und die Berechnung allein nach den Pflegegraden ist würdelos
                                                           gegenüber den älteren Menschen.“ Hier müsse die Politik einen
                                                           bundesweit einheitlichen und menschenwürdigen Pflegeschlüssel
                                                           einführen. Aber Pflegekräfte müssten sich auch stärker gewerk-
                                                           schaftlich organisieren.
                                                               „Diese Krise hat die Menschen doppelt so schnell altern lassen“,
                                                           sagt Gündel. Er spürt es selbst. Früher hat er seinen Garten an ei-
                                                           nem Nachmittag in Ordnung gebracht. Heute ist er schon nach
                                                           kurzer Zeit müde. „Und ich hatte kein Corona“, sagt Gündel.

22                     MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
titelthema: krisen

Jeder erlebt es anders
AUS DEM LEBEN Nach zwei Jahren Pandemie hatten die Menschen kaum aufge­atmet,
da verschlug der Krieg in der Ukraine ihnen erneut den Atem. Sechs Frauen und Männer
erzählen, wie die Krisen ihr Leben geändert haben.
Von Fabienne Melzer

                               Kübra und Spiro Dinas, Qualitätsprüferin und Vorarbeiter
                               im Motorenwerk bei Ford in Köln

                              Sorgen machen sich Kübra und Spiro                          dort demnächst nicht mehr gebraucht
                              ­ inas nicht. Es ist eher diese Ungewissheit,
                              D                                                           werden“, sagt Spiro Dinas, Vorarbeiter in
                              die über allen schwebt, die das junge Paar                  der Produktion. Die beiden vertrauen auf
                              bedrückt. „Wir arbeiten beide bei Ford im                   die Zusage, dass jeder von ihnen auch in
                              Motorenwerk, und es ist ganz klar, dass wir                 Zukunft bei Ford arbeiten wird. Doch was
                                                                                          heißt das, fragt sich Spiro Dinas: „Arbeite
                                                                                          ich weiter als Vorarbeiter, oder muss ich
                                                                                          zurück ans Band? Wie wird die Arbeit sein,
                                                                                          die ich dann habe?“ Der Vertrauensmann
                                                                                          der IG Metall hört diese Fragen auch von
                                                                                          Kollegen, die sich mit ihren Befürchtun-
                                                                                          gen an ihn wenden. „Die Stimmung hat
                                                                                          sich verändert“, sagt Spiro Dinas. „Viele
                                                                                          suchen sich etwas anderes und verlassen
                                                                                          Ford.“
                                                                                              Finanzielle Sorgen plagen die beiden
                                                                                          nicht, auch wenn sie schon wieder seit drei
                                                                                          Wochen in Kurzarbeit sind. Zwar spüren
                                                                                          sie die steigenden Preise in der Haushalts-
                                                                                          kasse, aber mit kleineren Einschränkungen
                                                                                          können sie leben. „Früher sind wir mindes-
                                                                                          tens einmal in der Woche essen gegangen“,
                                                                   Foto: Stephen Petrat

                                                                                          erzählt Kübra Dinas, „das machen wir in-
                                                                                          zwischen viel seltener.“ Freunde laden sie
                                                                                          öfter nach Hause ein. Beim Einkauf schaut
                                                                                          Kübra mehr auf Angebote.

                                                                                                      MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   23
Foto: Cordula Kropke
                   titelthema: krisen

                                                „Wir werden auch
                                               mit den Menschen
                                               in Russland wieder
                                              zusammenarbeiten.“

                                                                                                     Mareike Kühne, Studentin aus Göttingen
                                                                                                     Als Mareike Kühne die Nachricht über das Entlastungs-
                                                                                                     paket der Bundesregierung las, stieg die Wut langsam in
                                                                                                     ihr hoch. Sie dachte: „Ok, Studierende gehören also nicht
                                                                                                     zu den einkommensschwachen Haushalten.“ Doch ihr
                                                                                                     Ärger flaute schnell wieder ab: „Was soll’s? Ich muss mein
Foto: Uwe Zucchi

                                                                                                     Studium auf die Reihe kriegen.“ So kannte sie sich selbst
                                                                                                     nicht. Vor zwei Jahren hätte die 26-jährige Lehramtsstu-
                                                                                                     dentin gemeinsam mit anderen etwas dazu geschrieben,
                                                                                                     Protest organisiert.
                                                                                                         Zwei Jahre Pandemie haben an ihren Kräften gezehrt.
                                                                                                     Sie fand Onlinevorlesungen anstrengend, schaltete
                                                                                                     schneller ab als im Hörsaal. Suchte die Schuld bei sich
                                                                                                     selbst. Ihr Studium hat sich verzögert, auch die Arbeit
                                                                                                     in den Hochschulgruppen litt. „Vielen fehlte die Kraft,
                                                                                                     sich auch noch dafür in eine Videokonferenz zu setzen“,
                                                                                                                     sagt Mareike Kühne. „In dieser Zeit lief
                                                                                                                     in der Studierendenvertretung weniger
                                                                                                                     als vor der Pandemie.“
                                                                                     „Vielen fehlte die                   Zwar kehrte an den Hochschulen
                                                                                    Kraft für noch eine              inzwischen der Alltag zurück, doch die
                                                                                                                     Strukturen müssen sich erst wieder auf-
                                                                                      Video­sitzung.“                bauen – vorausgesetzt, die Aktiven sind
                                                                                                                     noch da. Eine Gruppe, in der Mareike
                                                                                                                     Kühne mit anderen bei Konzerten Pfand
                                                                                                                     gesammelt hatte, gibt es nicht mehr. An-
                                                                                                     dererseits spürt sie auch, wie groß das Bedürfnis ist, wie-
                                                                                                     der unter Menschen zu sein. Als eine ihrer Gruppen zum
                                                                                                     ersten Mal wieder zum interkulturellen Kochen einlud,
                                                                                                     hatten sich mehr angemeldet als kommen konnten. „Das
                                                                                                     gab es noch nie“, sagt die Studentin.

                   24    MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022
Foto: Karsten Schöne
Thomas Mendrzik, Aufsichtsrat bei der
Hamburger Hafenlogistik (HHLA)
Es herrscht Krieg auf den Plätzen, an denen Thomas
Mendrzik vor ein paar Monaten noch saß. „Plötzlich
liegt da alles in Schutt und Asche. Was für ein Wahn-
sinn!“ Der 62-Jährige ist Arbeitnehmervertreter im
Aufsichtsrat des Hamburger Hafenlogistikers HHLA,
der im Hafen von Odessa den größten Containertermi-
nal betreibt. Mendrizk besuchte die Ukraine oft, zuletzt
im vergangenen Oktober.
    Und nun: Krieg. Der Containerterminal geschlossen.
Der Hafen vermint. Den wirtschaftlichen Schaden für
die HHLA hält Mendrzik für überschaubar. Die viel
wichtigere Frage lautet für ihn: Wann hört dieser Krieg
                                                                                  Yvonne Siegel, derzeit auf Arbeitssuche
auf? Wann hört das Sterben auf beiden Seiten auf? Rund
450 Menschen beschäftigte der Logistiker im Hafen von                             Spargel ist ein Luxusgut, das Yvonne Siegel nie kaufen
Odessa. „Mit dem Vorstand hat unser Arbeitsdirektor                               würde. Es war ein Fest, als es neulich drei Pfund davon
die Angehörigen unserer ukrainischen Kollegen in                                  bei der Tafel für kleines Geld gab. Zweimal im Monat
Deutschland und Rumänien in Sicherheit gebracht“,                                 geht sie dorthin, versorgt sich mit Obst, Gemüse, Mol-
erzählt der Aufsichtsrat. Vier von ihnen hat Mendrzik                             kereiprodukten und Brot, „richtig gutem Bäckereibrot“,
selbst aufgenommen.                                                               auch Käse und Wurst. Der ganze Einkauf kostet hier nur
    Der Krieg hat nicht nur Plätze zerstört, er hat auch                          1,50 Euro. Seit auch viele Ukrainer zur Tafel kommen,
Handelsbrücken abgerissen. „Ein Großteil der Waren                                ist der Andrang groß. Man braucht eine niedrige Los-
der in Odessa umgeschlagenen Container versorgte                                  nummer, damit das Sortiment nicht schon eingeschränkt
den Großraum Kiew und ging auch nach Russland.                                    ist. „Wenn ich die Nachrichten sehe, Krieg und Inflation,
Auf den Schiffen unserer Reeder arbeiteten Russen und                             habe ich Angst“, sagt Yvonne Siegel. „Ich weiß nicht, wo
Ukrainer. Wenn sie ausfallen, bricht der Welthandel                               das alles hinführt.“ Sieben Jahre hat sie in einer Wäsche-
zusammen“, sagt der Gewerkschafter.                                               rei gearbeitet. Als wegen Corona die Hotels schließen
    Dabei stapeln sich im Hamburger Hafen schon seit                              mussten, gab es erst Kurzar-
Monaten die Container. „Ein Containerhafen ist ein                                beit, dann war der Job weg.
Umschlagplatz“, sagt Mendrzik, „doch inzwischen sieht                             Mittlerweile ist das ALG I
es eher nach einem Parkplatz aus.“ Die Ursache dafür                              ausgelaufen. „Die Tafel hilft
sieht er nicht nur in den Krisen, sondern auch in der                             mir sehr, klarzukommen“,                 „Wenn ich die
Politik der Europäischen Kommission, die den Wett-                                sagt sie. Auch sonst spart sie,        Nachrichten sehe,
bewerb auf hoher See aufgehoben hat. „Die großen                                  wo es geht: „Duschen statt
Reedereien nehmen keine Rücksicht auf Lieferketten“,                              Badewanne“ ist für sie Nor-             habe ich Angst.“
sagt Mendrzik, „sie nehmen zuerst die Waren, die am                               malität. Sie versucht immer,
meisten Geld bringen.“                                                            Rücklagen zu haben – damit
    Dennoch will er die Globalisierung nicht zurück-                              Geld da ist, falls das Telefon
drehen: „Das wäre egoistisch. Sie hat vielen Entwick-                             kaputtgeht, oder eine spontane Reise nach Warnemünde
lung und Wohlstand gebracht.“ Um die nächste Krise                                möglich ist. Die fünf Euro monatlich, die die Verdi-
besser zu überstehen, brauche es eine koordinierte                                Mitgliedschaft kostet, stehen für sie nicht zur Diskussion,
europäische Verkehrs- und Sozialpolitik. Denn Häfen                               weil ihr die Gewerkschaft schon mehrmals sehr geholfen
und Handel wird es immer geben. „Wir werden auch                                  hat. In eine Wäscherei will Yvonne Siegel nicht mehr,
wieder mit den Menschen in Russland zusammen­                                     aber sie hat einen Traum: „Hauswirtschafterin in einem
arbeiten“, sagt Mendrzik, „wenn dieser Krieg hoffent-                             Kindergarten, das würde mir einen Riesenspaß machen.
lich bald vorbei ist.“                                                            Der Lehrgang dafür ist schon geplant.“

                                                                                                                             MITBESTIMMUNG | Nr. 3 | Juni 2022   25
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