AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Parlamentarismus - Bundeszentrale für ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Parlamentarismus - Bundeszentrale für ...
70. Jahrgang, 38/2020, 14. September 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Parlamentarismus
      Claudia C. Gatzka                           Joachim Behnke
    DAS PARLAMENT ALS                          BUNDESTAG:
     UMSTRITTENER ORT                     ENDE DES WACHSTUMS?
      DER DEUTSCHEN                        PERSPEKTIVEN FÜR DIE
  DEMOKRATIEGESCHICHTE                     WAHLRECHTSREFORM
       Stefan Marschall                          Benjamin Höhne
       DER DEUTSCHE                         FRAUEN IN PARTEIEN
 PARLAMENTARISMUS UND                       UND PARLAMENTEN
  DIE CORONA-PANDEMIE
                                                   Frank Decker
    Suzanne S. Schüttemeyer                  REGIERUNGSWAHL
    DER 19. BUNDESTAG:                       ALS GEHEIMSACHE?
 SCHWIERIGE LERNPROZESSE

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
Parlamentarismus
                                    APuZ 38/2020
CLAUDIA C. GATZKA                                   JOACHIM BEHNKE
DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT                  BUNDESTAG: ENDE DES WACHSTUMS?
DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE                  VORSCHLÄGE UND PERSPEKTIVEN FÜR DIE
Die deutsche Demokratiegeschichte kann das          WAHLRECHTSREFORM
Parlament nur als umstrittene, aber durchaus        Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems
lernfähige Institution thematisieren. An den        hat dazu geführt, dass der Bundestag durch
Parlamentarismus als Errungenschaft zu erin-        Überhang- und Ausgleichsmandate stark
nern, heißt zudem, an Offenheit für Pluralität      gewachsen ist. Sämtliche Wahlrechtsreformvor-
und politische Farbenwechsel zu erinnern.           schläge sind bisher gescheitert. Auch der jüngste
Seite 04–10                                         Anlauf verspricht keine Besserung.
                                                    Seite 24–31
STEFAN MARSCHALL
PARLAMENTE IN DER KRISE?                            BENJAMIN HÖHNE
DER DEUTSCHE PARLAMENTARISMUS                       FRAUEN IN PARTEIEN UND PARLAMENTEN.
UND DIE CORONA-PANDEMIE                             INNERPARTEILICHE HÜRDEN UND ANSÄTZE
In der Frühphase der Corona-Krise war oft           FÜR GLEICHSTELLUNGSPOLITIK
von einer „Stunde der Exekutive“ die Rede.          Frauen sind im Deutschen Bundestag chronisch
Tatsächlich ist die Pandemie für Parlamente ein     unterrepräsentiert. Die Gründe dafür liegen
erheblicher Stresstest. Es zeigen sich aber nicht   vor allem in den Selektionsmechanismen der
nur Probleme, sondern auch Lösungsansätze, die      einzelnen Parteien. Dementsprechend reicht es
über die Zeit der Pandemie hinausweisen.            nicht aus, mit Paritätsgesetzen nur Symptome
Seite 11–17                                         zu behandeln.
                                                    Seite 32–40
SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER
DER 19. DEUTSCHE BUNDESTAG:                         FRANK DECKER
SCHWIERIGE LERNPROZESSE ZUR                         REGIERUNGSWAHL ALS GEHEIMSACHE?
SICHERUNG PARLAMENTARISCHER                         ZUR AKTUALITÄT EINER ALTEN DEBATTE
ARBEITSFÄHIGKEIT                                    Dramen wie jenes um die Ministerpräsidenten-
Für das Funktionieren parlamentarischer             wahl in Thüringen im Februar 2020 ließen sich
Verfahren braucht es einen Grundkonsens aller       vermeiden, wenn Regierungschefs in deutschen
Fraktionen über Prozesse und Gepflogenheiten.       Parlamenten nicht geheim, sondern offen gewählt
Dieser ist in der laufenden Wahlperiode jedoch      würden. Über eine Änderung diskutierten
unter Druck geraten – insbesondere durch die        Politologen schon in den 1970er Jahren.
erstmals im Bundestag vertretene AfD.               Seite 41–46
Seite 18–23
EDITORIAL
Parlamente sind die Herzstücke unserer Demokratie. Ihre Funktionsfähigkeit
lebt vom offenen Austausch der politischen Meinungen, von gründlichen
fachlichen Beratungen sowie von geordneten und transparenten Verfahren zur
demokratischen Entscheidungsfindung. Zugleich sind sie darauf angewiesen,
dass es unter den Abgeordneten bei allen Unterschieden in der politischen
Ausrichtung eine grundsätzliche Bereitschaft zur konstruktiven parlamenta-
rischen Zusammenarbeit gibt. Die aktuelle Wahlperiode des Deutschen Bun-
destages zeigt indes, dass all dies keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern
vielmehr Idealbedingungen.
   So hat die erstmalige Präsenz der AfD nicht nur merklichen Einfluss auf die
parlamentarische Debattenkultur, sondern sie begrenzt auch die Möglichkeiten
zur interfraktionellen Kooperation. Seit Mitte März 2020 erschwert zudem die
Corona-Pandemie die parlamentarische Arbeit. Zum einen müssen die Abgeord-
neten Abstand voneinander halten, was Plenardebatten, Ausschusssitzungen und
informelle Zusammenkünfte beeinträchtigt. Zum anderen schlug insbesondere zu
Beginn der Pandemie die „Stunde der Exekutive“: Die Regierung wurde durch eine
Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit umfassenden Kompetenzen ausgestat-
tet, und das gesundheitspolitische Erfordernis, rasch zu handeln, zwang die Abge-
ordneten, binnen kürzester Zeit über weitreichende Maßnahmen zu entscheiden,
ohne ausführlich über Für und Wider debattiert zu haben.
   Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Parlamente hängen nicht zuletzt von
den Regeln ab, nach denen sie gewählt werden. Nach rapiden Wachstumsschü-
ben des Bundestages durch den Anstieg von Überhang- und Ausgleichsmanda-
ten, ohne dass sich die Parteien auf eine grundlegende Wahlrechtsreform einigen
konnten, geht die Debatte darüber nun in eine weitere Runde. Zwar haben sich
die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD Ende August 2020 für die nächste
Bundestagswahl 2021 auf eine Übergangslösung verständigt. Ob sich damit aber
tatsächlich eine weitere Vergrößerung des Parlaments verhindern lässt, liegt
allein in der Hand der Wählerinnen und Wähler.

                                                  Johannes Piepenbrink

                                                                               03
APuZ 38/2020

                                                  ESSAY

            DAS PARLAMENT ALS
      UMSTRITTENER ORT DER DEUTSCHEN
          DEMOKRATIEGESCHICHTE
                                        Claudia C. Gatzka

Die Debatte um einen Wandel bundesrepubli-             publik zusammenzudenken. Nationale Symbolik
kanischer Gedächtniskultur ist in vollem Gange,        blieb in der Weimarer Republik als Gegensym-
und es war der Bundespräsident, der sie mit ei-        bolik zur Demokratie vital und abrufbar, häufig
nem Plädoyer für die Pflege demokratischer Er-         verbunden mit starken Emotionen jener, die sich
innerungsorte ins Rollen brachte. Mehr als ein         „national“ nannten und dabei eben meist keine
Jahr vor den Denkmalstürzen von 2020 wunder-           Demokraten sein wollten. Diese wiederum rekla-
te sich Frank-Walter Steinmeier in der „Zeit“,         mierten eher ein rationalistisches, nüchternes Po-
dass der Bund dem Hamburger Bismarck-Denk-             litikverständnis für sich, das wenig Platz für Pa-
mal mehrere Millionen Euro Unterstützung an-           thos ließ, auch nicht im Namen der Freiheit. Die
gedeihen lasse, der Frankfurter Paulskirche als        Weimarer Republik beging zwar am 11. August
historischem Ort des ersten gesamtdeutschen            den Verfassungstag, doch sie produzierte keine
Parlaments hingegen keinen Cent. Dabei könn-           schillernde Erinnerungskultur, die die demokrati-
ten, so der Bundespräsident, gerade die Revolu-        schen Traditionen Deutschlands ins 19. Jahrhun-
tion von 1848/49 oder der „Weimarer Aufbruch“          dert zurückverfolgt hätte. Auch für viele Demo-
von 1918/19 ebenso wie die Jahre 1949 und 1989         kraten war die schwarz-rot-goldene Reichsflagge
Demokratinnen und Demokraten Mut und An-               der jungen Republik nicht mehr als ein Stück
sporn vermitteln. Die Freiheitskämpfe und Er-          Stoff, ganz im Gegensatz zur sakralen Qualität,
rungenschaften, Heldinnen und Helden sowie             die Schwarz-Weiß-Rot für die Weimarer Rech-
die zahlreichen kleineren und größeren Orte der        ten behielt.02 Der Schatten der Niederlage und
Demokratiegeschichte gelte es künftig sehr viel        einer durch Krieg und Revolution gespaltenen
stärker in der offiziellen Gedächtnispolitik zu        Arbeiterbewegung ließ keine republikanische
verankern. Bei aller notwendigen Erinnerung an         Aufbruchstimmung aufkommen.
Diktatur und Verfolgung, Krieg und Vernich-                 Nach 1945 änderte sich das nicht. Die junge
tung – auch die Demokratie sei deutsch, und wo-        Bundesrepublik hatte zwar einige Vernunftre-
rauf Steinmeier damit letztlich abzielt, ist die De-   publikanerinnen und -republikaner mehr, aber
mokratie zum Telos der Nationalgeschichte zu           keine positiv besetzten Erinnerungsorte der
erheben.01                                             Demokratie, galt Weimar doch, und mit ihm
    Vorstöße wie diese haben insofern ihre Be-         Schwarz-Rot-Gold, als Schreckbild einer über-
rechtigung, als gerade die deutschen Großstäd-         forderten und ungeliebten Republik. Prägend
te tatsächlich nicht zu Leuchttürmen demokrati-        wurde für das Bonner Selbstverständnis gerade,
scher Erinnerungslandschaften aufgestiegen sind,       sich von der ersten deutschen Demokratie abzu-
obwohl gerade dort deutsche Demokratiege-              grenzen.03 Der Entfaltungsspielraum für eine na-
schichte gemacht wurde. Überhaupt hat sich die         tionale demokratische Symbolik war durch die
liberale Demokratie in Deutschland mit nationa-        deutsche Teilung zusätzlich begrenzt. Im Grun-
ler Symbolpolitik schon immer vergleichswei-           de kann erst 1990 für die Symbiose von demo-
se zurückgehalten. Anders als es die demokrati-        kratischem und nationalem Selbstverständnis
schen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts         stehen – allerdings mit der Einschränkung, dass
nahelegen, war es in der deutschen Geschichte          dem ostdeutschen Teil der vereinten Nation im-
des 20. Jahrhunderts nie leicht, Nation und Re-        mer wieder ein eklatantes Demokratiedefizit at-

04
Parlamentarismus APuZ

testiert wird. Was 30 Jahre nach der Vereinigung                  schen Antiparlamentarismus oder parlamentari-
für gemeinsame, nationale demokratische Erinne-                   schen Funktionsdefiziten. Vielmehr handelt es
rungsorte taugt, ist noch immer eine offene Frage.                sich bei Antiparlamentarismus und Parlamenta-
Ein Weg wäre, die gemeinsamen Demokratieer-                       rismuskritik um Phänomene, die so alt sind wie
fahrungen vor 1949 ins Gedächtnis zu rufen, die                   der Parlamentarismus selbst und namentlich in
auch die getrennten Wege im Kalten Krieg ideen-                   Frankreich mit seiner stolzen republikanischen
geschichtlich grundierten.                                        Tradition tief verwurzelt sind. Allerdings exis-
    Zur Erörterung einer demokratischen Ge-                       tieren national spezifische Kulturen der Parla-
dächtnispolitik gehört die Frage, wie diese libe-                 mentskritik wie des Parlamentarismus selbst,
ral-demokratisch ausgestaltet werden kann. In                     die hier in ihrer deutschen Spielart zur Sprache
letzter Konsequenz bedeutete dies, nicht nur he-                  kommen.06
roische Befreiungs- und Erfolgsgeschichten zu                         Die Relevanz des Parlaments für die Demo-
erzählen, sondern das wiederkehrend Problema-                     kratiegeschichte ergibt sich aus dem Siegeszug,
tische und Fragile, ja das Umstrittene an der De-                 den das Modell der repräsentativen Demokratie
mokratie selbst zum Teil der Erinnerung zu ma-                    im ausgehenden 18. Jahrhundert antrat, obwohl
chen.04 Nur so kann die liberale Demokratie auch                  es sich gegen monarchistische und konservati-
offensiv auf die vermehrte Kritik reagieren, die                  ve Kräfte zu behaupten hatte, die Staatsautori-
ihr von rechts wie von links begegnet, und die                    tät über Volkssouveränität stellten. Doch worin
Enttäuschungen verstehen, die sie immer wieder                    genau besteht sein demokratisches Prinzip? Der
produziert. Wohl keine Institution macht diese                    Parlamentarismus beruht auf der Idee, dass der
Probleme sichtbarer als das Parlament und seine                   Souverän durch ein gewähltes Organ, das eini-
umstrittene Geschichte.                                           ge Hundert Deputierte zählt, vertreten werden
    Im Folgenden werde ich diskutieren, welche                    könne. Maßgeblich für seine Legitimität wur-
Herausforderungen sich mit dem Parlament als                      de die Fiktion der „virtuellen“ oder „abstrakten
Erinnerungsort der deutschen Demokratie verbin-                   Repräsentation“, wonach die Abgeordneten im
den. Dazu richtet sich der Blick nicht so sehr auf                Parlament für das gesamte Staatsvolk sprechen
seine Funktionsweisen und seine Stellung im poli-                 können, nicht bloß für ihren Wahlkreis oder ihre
tischen System,05 sondern auf die Zuschreibungen                  soziale Klientel. Ihr Mandat ist formal also per-
und Bedeutungen, die mit dem Parlamentarismus                     sonell ungebunden, verantwortlich sind sie in der
in der deutschen Geschichte verbunden waren.                      Regel dem Gemeinwohl, der Nation oder ledig-
                                                                  lich ihrem Gewissen.
       PARLAMENT UND DEMOKRATIE –                                     Es wäre nun aber historisch verfehlt, den Par-
            EINE NOTWENDIGE                                       lamentarismus für die Demokratie schlechthin
            UNTERSCHEIDUNG                                        zu halten, auch wenn selbst Historikerinnen und
                                                                  Historiker mittlerweile „Demokratie“ und „par-
Wenn die deutsche Erinnerungskultur bislang kein                  lamentarische Demokratie“ häufig synonym ver-
Hort parlamentarischer Sternstunden ist, liegt                    wenden. Zwar kam keine Demokratietheorie seit
das nicht etwa an einem ausgewiesenen deut-                       der Etablierung des britischen Parlamentarismus
                                                                  im 17. Jahrhundert an einer Positionierung ge-
01 Vgl. Frank-Walter Steinmeier, Deutsch und frei, 13. 3. 2019,
                                                                  genüber dem Prinzip der Repräsentation (anstatt
www.zeit.de/2019/12/demokratie-nationalismus-tradition-ge-        der unmittelbaren Artikulation) des Volkswillens
denktage-geschichtsunterricht. Für geschichtswissenschaftliche    vorbei. Doch aus der Abgrenzung gegen den Par-
Wortmeldungen zur aktuellen Debatte siehe APuZ 33–34/2020.        lamentarismus wuchsen alternative Demokra-
02 Vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weima-
                                                                  tiemodelle, die für Zeitgenossinnen und Zeitge-
rer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und
Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, S. 63 f.
                                                                  nossen im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder
03 Vgl. Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern
der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der     06 Vgl. Remieg Aerts, An Unrewarding Task. Criticism of
frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009.                  Parliament and Anti-Parliamentarianism: A Historical Review, in:
04 In diesem Sinne jüngst Ute Daniel, Postheroische Demokra-      Marie-Luise Recker/Andreas Schulz (Hrsg.), Parlamentarismus-
tiegeschichte, Hamburg 2020.                                      kritik und Antiparlamentarismus in Europa, Düsseldorf 2018,
05 Vgl. Marie-Luise Recker (Hrsg.), Parlamentarismus in           S. 25–41; Jean Garrigues, Criticism on Parliamentarianism and
Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich,         Anti-Parliamentarianism in Europe 19th–21st Century, in: ebd.,
München 2004.                                                     S. 43–57.

                                                                                                                                05
APuZ 38/2020

denkbare Optionen waren. Die beiden idealtypi-       sowie Soldaten gab es 1918 gute Gründe, nach
schen Alternativen, die seit der Amerikanischen      über vier Jahren eines zerstörerischen Krieges,
und der Französischen Revolution im Raum             dessen Finanzierung der Reichstag auch mit den
standen, waren zum einen die direkte Demokra-        Stimmen der Sozialdemokratie fortwährend bil-
tie, in der sich der Rousseausche Volkswille be-     ligte, in den Räten größere – soziale wie politi-
ständig oder spontan, in jedem Falle unmittelbar     sche – Teilhabechancen zu erblicken. In der ge-
artikuliert, ohne durch Repräsentativorgane „ver-    spaltenen Arbeiterbewegung war 1918 mit Blick
fälscht“ und aufgespalten zu werden. Zum ande-       auf das Agieren führender Sozialdemokraten die
ren ließ sich mit Rekurs auf Napoleon eine plebis-   Rede von der „parlamentarischen Komödie“,
zitäre Demokratie entwerfen, die auf eine starke,    vom „höfisch gewordenen Regierungssozialis-
zentrale Exekutive oder Einheitspartei und auf       mus“ und vom „Ausschluß des Volkes“ im Par-
mehr oder minder regelmäßige Akklamationen           lament.07 Bedenkt man noch, dass die Parlamen-
des Volkes setzte.                                   tarisierung des Kaiserreichs keine Errungenschaft
     Während plebiszitäre Demokratieansätze vor      der Revolution, sondern zuvor von oben einge-
allem, aber nicht nur auf der politischen Rech-      leitet worden war, so kann der November 1918 in
ten Anhänger fanden, neigte die politische Lin-      Deutschland nur bedingt als Erinnerungsort der
ke zu radikaldemokratischen Ansätzen. Das            parlamentarischen Demokratie herhalten – eher
bereits von den kleinbürgerlichen Sansculot-         handelte es sich um einen Aufstand der Kriegs-
ten während der Französischen Revolution ar-         müden, die unterschiedliche demokratische Zu-
tikulierte Misstrauen gegenüber dem Parlament        künfte für denkbar hielten.08
als Institution der Bourgeoisie wurde von Karl           Das Schreckbild der bolschewikischen Revo-
Marx und Friedrich Engels aufgegriffen, blieb        lution und die Drohung des Bürgerkriegs, aber
aber kein deutsches Spezifikum. Ihre Beobach-        auch ein unhinterfragter Parlamentarismus ver-
tungen Frankreichs und Englands um die Mitte         anlassten die führenden Vertreter der Mehrheits-
des 19. Jahrhunderts führten sie zu dem Schluss,     sozialdemokratie, die Geschicke der Revolution
dass der Parlamentarismus lediglich Instrument       aus den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte
der Klassenherrschaft sei und proletarische In-      in die Hände der Nationalversammlung zu legen.
teressen dort keine Vertretung fänden. Ein idea-     In der Hoffnung, das Mehrheitsprinzip werde
les Gegenmodell sah Marx in der Räteverfassung       die Revolution zur Vollendung führen, optier-
der Pariser Kommune von 1871. Auch hier wur-         ten auch weite Teile der von der SPD abgespal-
de gewählt, allerdings in sehr viel direkterer und   tenen USPD (Unabhängige Sozialdemokratische
spontanerer Weise: Das Volk in den Pariser Be-       Partei) dafür; nur eine kleine Fraktion um Rosa
zirken bestimmte Stadträte, die mehrheitlich aus     Luxemburg und Karl Liebknecht sah im Arbei-
Arbeitern oder Arbeitervertretern bestanden, die     terparlament das einzig logische politische Organ
in ihrer legislativen wie exekutiven Tätigkeit an    einer proletarischen Revolution und im Bürger-
die Instruktionen der Wähler gebunden und je-        krieg nach bolschewikischem Muster das ultima-
derzeit absetzbar waren.                             tive Mittel des Klassenkampfs.
                                                         Der Parlamentarismus der Sozialdemokra-
              AUSSÖHNUNG                             tie war Produkt einer über Jahrzehnte gewachse-
         MIT DEM REPRÄSENTATIVEN                     nen Aussöhnung mit dem repräsentativen Prin-
                  PRINZIP                            zip. Bereits im Norddeutschen Bund hatte das
                                                     allgemeine Wahlrecht seit 1867 eloquenten Ar-
Die mit der Kommune verbundene Rätedemo-             beiterführern wie August Bebel und Wilhelm
kratie mit ihrem Akzent auf subnationale po-         Liebknecht erlaubt, das Parlament als Agitations-
litische Handlungsebenen, aktive Partizipation       mittel zu nutzen, obwohl Liebknecht den Reichs-
der Vielen an Legislative wie Exekutive und un-
mittelbare Feedbackschleifen zwischen Reprä-
sentierenden und Repräsentierten blieb in der        07 Das alte Spiel, der alte Jammer, in: Mitteilungs-Blatt des
                                                     Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und
politischen Linken und namentlich unter west-
                                                     Umgegend, 14. 7. 1918.
europäischen Kommunisten des 20. Jahrhunderts        08 Vgl. Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche
vital – auch in der deutschen Novemberrevolu-        Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik,
tion. Denn für viele Arbeiterinnen und Arbeiter      Berlin 2017.

06
Parlamentarismus APuZ

tag als bloße „Komödie“ bezeichnete.09 Gerade                  aber auch zum Rücktritt der Regierung Bernhard
für die internationale Ausrichtung der Arbeiter-               von Bülows führte. All dies zeugt von der am-
bewegung war das parlamentarische Sprechen                     bivalenten Machtposition des Parlaments in der
jedoch von großem Nutzen, konnte die Bühne                     konstitutionellen Monarchie.
eines überregionalen Parlaments doch weitaus
breiter ausstrahlen als die kleinteilige Propagan-                             INTEGRATION UND
da in Versammlungen und Presse. Die Agitation                                   DELEGITIMIERUNG
im Parlament wurde im 1871 gegründeten Kaiser-
reich mit seinem allgemeinen Männerwahlrecht                   Wie das Beispiel der Sozialdemokratie zeigt, wa-
und erst recht zur Zeit des Sozialistengesetzes                ren Parlamente Inklusionsmaschinerien. So ist
(1878–1890) zur wichtigsten Propagandapraxis                   es für ihre Geschichte charakteristisch, dass ihre
der Sozialdemokratie, die sich in Wählerstimmen                Gegner in aller Regel mit im Hause saßen. Das
auszahlte. In Verbindung mit der Entfaltung des                galt für die Monarchisten in der Frankfurter Nati-
Sozialstaats gelang es ihr, durch die Reichstagsde-            onalversammlung, für die Nationalkonservativen
batten ihre sozialpolitische Agenda zum nationa-               im Kaiserreich und für die DNVP (Deutschnatio-
len Gesprächsthema zu machen.                                  nale Volkspartei), Teile der nationalliberalen DVP
    Im Gegensatz zur älteren historischen For-                 (Deutsche Volkspartei) sowie KPD und NSDAP
schung, die die schwache Position des Reichs-                  in der Weimarer Republik. Die Parlamentsarbeit
tags im konstitutionellen Gefüge des Kaiserreichs              verwandelte sie nicht immer in glühende Anhän-
unterstrich, wird in neueren Studien unter Be-                 gerinnen und Anhänger des Parlamentarismus,
rücksichtigung des Öffentlichkeitsaspekts parla-               doch sie führte ihre Fundamentalablehnung ad
mentarischer Arbeit nicht nur die wachsende Be-                absurdum. Denn wer antiparlamentarisch sprach
deutung des Reichstags betont, sondern auch die                und parlamentarisch handelte, verfing sich min-
These eines weithin geteilten Antiparlamentaris-               destens in einem performativen Widerspruch.
mus im Kaiserreich widerlegt. Die Entstehung                       Die ältere Forschung hat den Antiparlamen-
der kommerzialisierten Massenpresse und das                    tarismus im Reichstag häufig als Faktor seiner
dualistische Gepräge der konstitutionellen Mon-                Schwäche und seines Unvermögens zu rationa-
archie waren wichtige Faktoren der wachsenden                  ler Kompromissfindung gedeutet; in Abgren-
Popularität des Reichstags: Da er Gesetzen und                 zung dazu betont die neuere Forschung die Inte-
Haushalt zustimmen musste, die Regierung ihm                   grations- und Kohäsionskraft parlamentarischer
jedoch nicht verantwortlich war, konnte er sich                Regeln, Verfahren und Umgangsweisen, denen
mit seinen beiden stärksten Fraktionen, dem Zen-               sich auch antiparlamentarische Kräfte kaum ent-
trum und der Sozialdemokratie, als Gesetzgeber,                ziehen konnten: Wer die Geschäftsordnung be-
aber auch als Regierungsopposition in Szene set-               achtete und die Redezeiten einhielt, wer in Aus-
zen, was die Massenpresse dankbar aufnahm und                  schüssen mit Kollegen zusammenarbeitete und
verstärkte.10 Welche Debatten in den Augen des                 sich an Abstimmungen beteiligte, konnte schlecht
Publikums als „Sternstunden“ taugten, variierte                behaupten, nicht zum Funktionieren des Parla-
freilich je nach politischer Haltung. Aufsehener-              mentarismus beizutragen, und die Öffentlichkeit
regend waren etwa die Reichstagsdebatten um die                beobachtete dies aufmerksam.11 Die Fundamen-
Kolonialskandale und der Streit um das Budget                  talopposition der wachsenden NSDAP-Frakti-
für die militärischen Interventionen in den Kolo-              on äußerte sich dann auch in demonstrativen Re-
nien 1906/07, der zur Auflösung des Reichstags,                gelbrüchen und einer Sprache, die vor allem der
                                                               außerparlamentarischen Öffentlichkeit bedeuten
                                                               sollten, dass man vorhatte, das parlamentarische
09 Zit. nach Theo Jung, Der Feind im eigenen Hause. Anti-
parlamentarismus im Reichstag 1867–1918, in: Recker/Schulz
                                                               System von innen heraus zu zerstören.12
(Anm. 6), S. 129–149, hier S. 131.                                 Als radikaldemokratische Alternative zum
10 Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichs-   Parlamentarismus oder als Aufmarschfeld „des
tag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“, 1871–1890, Düs-   Volkes“ gegen das Parlament galt die Straße. Dort
seldorf 2009; Frank Bösch, Parlamente und Medien. Deutsch-
                                                               sollte nach ursprünglichem Dafürhalten der So-
land und Großbritannien seit dem späten 19. Jahrhundert, in:
Andreas Schulz/Andreas Wirsching (Hrsg.), Parlamentarische
Kulturen in Europa – das Parlament als Kommunikationsraum,     11 Vgl. Mergel (Anm. 2), S 313–331; Jung (Anm. 9).
Düsseldorf 2012, S. 371–388.                                   12 Vgl. Mergel (Anm. 2), S. 428–465.

                                                                                                                      07
APuZ 38/2020

zialisten der eigentliche Kampf des Proletariats                           PARLAMENT UND NATION –
stattfinden; und dort sollte in Weimar ein neu-                           EIN SCHWIERIGES VERHÄLTNIS
er Politikstil Fuß fassen: eine Politik der Tat, der
Emotion und des unbedingten Willens, die sich                     Parlamente waren als Institutionen von einer
scharf gegen die rationale Rede, die teils langwie-               Spannung getragen, die mit der Erweiterung des
rige Kompromissfindung und das vermeintliche                      Wahlrechts immer größer wurde: Sie sollten die
Taktieren im Parlament abgrenzte.13 Vor allem die                 unterschiedlichen Interessen, ja zunehmend auch
äußerste Linke und die äußerste Rechte bedien-                    die sozialen Unterschiede innerhalb der Gesell-
ten sich in der Weimarer Republik der Straße als                  schaft abbilden und zugleich die gemeinsamen
einer Gegenarena zum Parlament, und sie griffen                   Interessen des Staatsvolks vertreten. Als Symbo-
häufiger zu den plebiszitären Mitteln des Volks-                  le der Nation konnten nationale Parlamente unter
begehrens und des Volksentscheids, die die Wei-                   besonderen Erwartungsdruck geraten, wenn die
marer Reichsverfassung einräumte.                                 sakralisierte Nation sich durch Einigkeit auszeich-
    Die Auseinandersetzung mit dem Weimarer                       nen sollte, nicht durch widerstreitende Positio-
Reichstag ließ klassische Muster der Parlaments-                  nen, die das Parlament zum Ausdruck brachte.16
kritik aufleben. Besondere Missbilligung erfuhren                 Dieser Imperativ war in Deutschland besonders
das Mehrheitsprinzip, die Logik des Kompromis-                    ausgeprägt, seitdem das Paulskirchenparlament
ses, die elitäre Abschließung der Parlamentarierin-               1848/49 mit dem Auftrag zusammengetreten war,
nen und Parlamentarier nach innen, ihre angeb-                    die Einheit der Nation herzustellen und die ers-
liche Verwicklung in Korruptionsfälle, vor allem                  te gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden.17
aber der übermäßige Einfluss der Parteien und ih-                 Noch in der Nachkriegszeit ein Jahrhundert spä-
rer Funktionäre, was im Vorwurf der Mittelmä-                     ter war diese Bedeutung überaus präsent: Die Be-
ßigkeit und Spießbürgerlichkeit des Parlaments                    mühungen um den raschen Wiederaufbau der
mündete und weite Kreise der Weimarer Öffent-                     Frankfurter Paulskirche zum Jubiläumsjahr 1948
lichkeit zur Sehnsucht nach einer genialen Füh-                   gingen primär auf ihren Symbolwert als Ort der
rerpersönlichkeit motivierte.14 Zur Geschichte der                nationalen Einheit zurück. Entsprechend sollte
ersten deutschen parlamentarischen Demokratie                     das Gebäude fortan nicht mehr für parteipoliti-
gehört diese öffentlich artikulierte Unzufrieden-                 sche Veranstaltungen genutzt werden.18
heit mit dem Parlamentarismus, ja die gezielte De-                    Zum Problem wurde, dass Parlamente in ih-
legitimierung des Reichstags unauflöslich dazu.                   rer Praxis eher die Gespaltenheit der Nation vor-
Als Erinnerungsort der Demokratiegeschichte ist                   führten als deren Einigkeit. Schon 1848/49 war die
die Weimarer Republik nur in dieser Ambivalenz                    Ernüchterung groß gewesen, als das Paulskirchen-
zu verstehen, und es sollte der Legitimität der jun-              parlament offenkundig werden ließ, dass sich Li-
gen Bundesrepublik nicht förderlich sein, dass sie                berale, Demokraten und Monarchisten in vielen
formal und personell in vielerlei Hinsicht an den                 Punkten nicht einigen konnten. Die Nationalver-
Weimarer Parlamentarismus anschloss.15                            sammlungen von 1848/49, ob in Frankfurt oder in
                                                                  den Landtagen, stehen in der deutschen Geschichte
                                                                  vor allem für die Entstehung von Fraktionen. Zeit-
13 Vgl. Daniel Siemens, Gegen den „gesinnungsschwachen
                                                                  gleich artikulierten Parlamentarier selbst das Ideal,
Stimmzettelträger“: Emotion und Praxis im Wahlkampf der spä-
ten Weimarer Republik, in: Hedwig Richter/Hubertus Buchstein
                                                                  gerade in außenpolitischen Fragen zur Einigkeit zu
(Hrsg.), Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der        finden. Anlässlich der anstehenden Abstimmung
modernen Demokratie, Wiesbaden 2017, S. 215–236; Tobias           über den Vertrag von Malmö, den Waffenstillstand
Kaiser, Die Erfindung der „Bannmeile“ in der Weimarer Republik.   zwischen Preußen und Dänemark im Schleswig-
Polizeilicher und symbolischer Schutzraum mit widersprüchli-
                                                                  Holsteinischen Krieg, mahnte der linke Abgeord-
cher Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
5–6/2020, S. 262–279.
                                                                  nete Wilhelm Zimmermann 1848: „Meine Herren,
14 Vgl. Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschi-
ne. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik
und im Nationalsozialismus 1918–1936, in: Wolfgang Hardtwig       16 Vgl. Aerts (Anm. 6), S. 31, S. 33.
(Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit       17 Vgl. Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die
1918–1939, Göttingen 2005, 91–127.                               Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998.
15 Vgl. Marie-Luise Recker, Das Parlament in der westdeut-        18 Vgl. Shelley Rose, Place and Politics at the Frankfurt
schen Kanzlerdemokratie, in: dies. (Anm. 5), S. 161–178, hier     Paulskirche after 1945, in: Journal of Urban History 42/2016,
S. 162 f.; Ullrich (Anm. 3).                                      S. 145–161, hier S. 147–150.

08
Parlamentarismus APuZ

wir haben uns oft in diesem Saale von dem Stand-                    politik als solche, sondern lediglich die erzwun-
punkte der Parteien bekämpft. Wenn es aber einer                    gene Führungsrolle der SED darin führte in den
Sache des Vaterlandes (…) gilt, wenn es sich um                     Landesparlamenten der SBZ/DDR zu Missmut,
eine deutsche Angelegenheit, nicht um eine Partei-                  bevor sie 1952 schließlich aufgelöst wurden.21
und Meinungssache handelt, da muß der Kampf                             In Westdeutschland indes musste man lernen,
der Parteiungen und auch die Rücksicht darauf auf-                  mit dem unumgänglichen Konfliktgeschehen in
hören. Lassen Sie uns daher bei der Abstimmung                      der parlamentarischen Demokratie umzugehen.
über diese Frage keine Rücksicht auf unsere Par-                    Die Resonanz der Presse auf die ersten Bundes-
teistellung, sondern einzig Rücksicht auf die Sache                 tagswahlkämpfe verdeutlicht, als wie ehrrührig
nehmen.“19 Ähnlich sollte auch Wilhelm II. nach                     der Parteienstreit empfunden wurde. Zänkische
Beginn des Ersten Weltkriegs die Fraktionsvor-                      Parlamentarier schienen das Volk herabzuwür-
stände der Reichstagsparteien zur Einheit aufrufen.                 digen, das sie vertreten wollten, und es war der
Keine Parteien mehr zu kennen, sondern nur noch                     Rekurs auf die „Würde der Nation“, der dieses
Deutsche – dieser berühmte Ausspruch des Kaisers                    parlamentskritische Ressentiment – neben vielen
zum Zwecke der inneren Kriegsmobilisierung ver-                     anderen altbekannten – auch in der Bundesrepu-
deutlicht, wie stark die politische Artikulation in-                blik hervorbrachte.22
nergesellschaftlicher Unterschiede – und damit das                      Wie sehr der Bundestag unter den Bedingun-
parlamentarische Sprechen – als Hemmschuh der                       gen der deutschen Teilung, des Kalten Kriegs und
deutschen Nation galt. Vom Symbol der Nation                        der Furcht vor einem dritten Weltkrieg zum Sym-
zum Symbol ihrer Spaltung – dies war in der Ge-                     bol der Nation erhoben wurde, das über wichti-
schichte der deutschen Parlamentsvorstellungen                      ge nationale Fragen möglichst nicht streiten soll-
ein schmaler Grat, und namentlich der Weimarer                      te, zeigte sich in den wichtigen außenpolitischen
Reichstag litt unter dem Urteil, kein würdevolles                   Debatten der 1950er Jahre, die die Historikerin
Abbild der „Volksgemeinschaft“ zu sein.                             Marie-Luise Recker als Höhepunkte der Bonner
    Nach der Machtübergabe an Hitler brannte                        Parlamentsgeschichte bezeichnet hat. Wenn aller-
dann der Reichstag – und wurde in ein Einpar-                       dings die Fraktionsführer und aufstrebende Rede-
teienparlament verwandelt, das primär die Regie-                    talente der Parteien Anlässe wie die Westverträge,
rungserklärungen des „Führers“ entgegennahm.                        den Wehrbeitrag, den Souveränitätsgewinn oder
Wenn ausgerechnet im „Dritten Reich“ die Di-                        die deutsch-französische Aussöhnung dazu nutz-
rektübertragung der (wenigen) Reichstagssitzun-                     ten, sich hitzige Redeschlachten zu liefern, war das
gen im Radio einsetzte, so diente dies vor allem                    für viele Wählerinnen und Wähler nur schwer zu
der Demonstration, dass der Nationalsozialismus                     ertragen, zumal die ungewohnten Fernsehbilder
„endlich“ Einmütigkeit im Reichstag hergestellt                     seit 1953 den emotionalen Stress noch erhöhten,
hatte.20 Den konfliktbetonten Parlamentarismus                      indem sie den Bundestagsstreit quasi ins Wohn-
mit seinen kontroversen Debatten, Zwischen-                         zimmer brachten. Da zu befürchten stand, dass
und Ordnungsrufen, ja Tumulten, vermissten                          das Ansehen des Parlaments so noch weiter leiden
nach Ende der NS-Diktatur nur wenige. In der                        könnte, entschieden Bundestagspräsident Eugen
westdeutschen Presse und Publizistik sowie un-                      Gerstenmaier und der Ältestenrat des Bundestags
ter Politikerinnen und Politikern in Ost wie West                   1957, das Fernsehen gänzlich aus dem Plenarsaal
bestand weitgehend Konsens, eine Rückkehr                           des Bundeshauses zu verbannen.23
zum Weimarer „Parteiengezänk“ unbedingt ver-
meiden zu wollen. Nicht die sogenannte Block-                       21 Vgl. Michael C. Bienert, Der Sozialismus als „Krönung der
                                                                    Demokratie“. Die SED, die so­wje­tische Besatzungsmacht und
                                                                    der Antiparlamentarismus in den Landtagen der SBZ/DDR, in:
19 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der              Recker/Schulz (Anm. 6), S. 71–95, hier S. 80–83, S. 86 ff.
deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt         22 Vgl. Claudia C. Gatzka, Des Wahlvolks großer Auftritt.
a. M., Bd. 3, hrsg. v. Franz Wigard, Leipzig 1848, 72. Sitzung in   Wahlritual und demokratische Kultur in Italien und West-
der Paulskirche, 5. 9. 1848, S. 1887.                               deutschland nach 1945, in: Comparativ 1/2013, S. 64–88, hier
20 Vgl. Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte       S. 68–72; Benedikt Wintgens, Treibhaus Bonn. Die politische
der Pseudo-Volksvertretung 1933–1945, Düsseldorf 1992,              Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf 2019.
S. 230; Benedikt Wintgens, Turn Your Radio on. Abgeordnete          23 Vgl. Recker (Anm. 15), S. 171 ff.; Vor 65 Jahren: Erste Live-​
und Medien in der Bundesrepublik Deutschland nach 1949, in:         Übertragung einer Bundestagssitzung, 28. 9. 2018, w​ ww.bundes­
Adéla Gjuričová et al. (Hrsg.), Lebenswelten von Abgeordneten in    tag.de/​dokumente/​textarchiv/​2018/​k w39-​kalenderblatt-​fernseh­
Europa 1860–1990, Düsseldorf 2014, S. 295–310, hier S. 305.         liveuebertragung-​570368.

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    Erst ab 1966 waren TV-Übertragungen von                            Ein Ausnahmeereignis deutscher Par­la­ments­
Arbeitssitzungen wieder zugelassen, und zu je-                    öf­fent­lich­keit jährte sich dieses Jahr zum 30. Mal:
ner Zeit zeichnete sich auch langsam ab, dass sich                die Live-Übertragungen aller 38 Plenarsitzun-
die Westdeutschen an die Konflikthaftigkeit ge-                   gen der 10. Volkskammer, des ersten frei gewähl-
wöhnten, die die parlamentarische Demokratie                      ten und zugleich letzten Parlaments der DDR. Die
mit sich brachte. Es war die paradox anmuten-                     Abgeordneten wollten die Ostdeutschen im Fern-
de Folge der Außerparlamentarischen Opposi-                       sehen mit den Regeln des Parlamentarismus ver-
tion, dass die 1970er Jahre in vielerlei Hinsicht                 traut machen, Transparenz demonstrieren und ver-
eine Blütezeit der repräsentativen Demokratie                     lässliche Informationen liefern. Die Resonanz war
markierten. Diese Nähe zwischen Parlament und                     groß, doch die Enttäuschung auch: Die unmittelba-
Wählerinnen und Wählern lebte bezeichnender-                      re Konfrontation mit ungeübten Parlamentariern,
weise von der Integration direktdemokratischer                    langwierigen Abstimmungen und leeren Stuhlrei-
Ansätze in die politische Kommunikationsarbeit                    hen, wie sie in Arbeitsparlamenten unumgänglich
an der Basis, in den Wahlkreisen, wo dann auch                    sind, war keine gute Werbung für die repräsentati-
die Polarisierung abgefedert werden konnte, die                   ve Demokratie.28 Letztlich gehört zu den langlebi-
dieses Jahrzehnt kennzeichnete.24                                 gen Herausforderungen des Parlamentarismus die
    Die Aufwertung des Bundestags spiegelte sich                  Erwartung, Sternstunden hervorzubringen.
in einer gesteigerten massenmedialen Aufmerk-
samkeit und Sichtbarkeit.25 Doch Antiparlamen-                                         SCHLUSS
tarismus blieb Begleiterscheinung der Demokra-
tie und bündelte sich in den sozialen Bewegungen.                 Für die deutsche Demokratiegeschichte folgt aus
Wenn der antiparlamentarische Furor der Grünen                    diesen Beobachtungen, dass sie das Parlament nur
in den 1980er Jahren rasch verloren ging, bewies                  als umstrittene, aber durchaus langlebige und lern-
dies einmal mehr die Integrationskraft parlamenta-                fähige Institution thematisieren kann. Parlamen-
rischer Verfahren. Dass die repräsentative Demo-                  tarismus als den Telos und den Wert der liberalen
kratie imstande ist, gesellschaftliche Politisierungs-            Demokratie anzusehen, griffe dabei zu kurz. Zu
prozesse und soziokulturellen Wandel absorbieren                  den Erinnerungsorten der deutschen Demokra-
zu können, zeigt die Geschichte der Bonner Repu-                  tiegeschichte gehören auch außerparlamentarische
blik durchaus. In der Berliner Republik dominiert                 Bewegungen und direktdemokratische Praktiken –
erneut die Kritik am Funktionsverlust des Bun-                    der Graswurzelgedanke der Pariser Kommune hat
destags als Kontrollorgan der Regierung und vor                   die parlamentarische Demokratie immer wieder
allem als Ort der rationalen Debatte. Die ausdif-                 ergänzt und ihr neue Impulse gegeben.
ferenzierte Medienöffentlichkeit von heute kann                       An den Parlamentarismus als Errungenschaft
jedoch nur bedingt als Ursache für einen vermeint-                zu erinnern, heißt zudem, an die Heterogenität mo-
lichen Formenwandel hin zum „Schaufensterpar-                     derner Gesellschaften und die Möglichkeit alter-
lament“ gelten.26 Der Vorwurf der Fensterrede                     nierender Regierungsmehrheiten zu erinnern. Das
und des Schaukampfs gehört von Anbeginn zum                       Mehrheitsprinzip, das die Gegner des Parlamen-
modernen Parlamentarismus dazu, der ohne Öf-                      tarismus ablehnten, brachte immer auch Verlierer
fentlichkeit nicht zu denken ist.27                               und Unterlegene hervor, die allerdings nie dauer-
                                                                  haft in der Minderheit bleiben mussten. Es ist diese
24 Vgl. Claudia C. Gatzka, Die Demokratie der Wähler.             Offenheit für Pluralität und für politische Farben-
Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und     wechsel, die es Parlamenten erlaubt, immer wieder
der Bundesrepublik, Düsseldorf 2019, S. 461–491.                  auf den dynamischen Wandel moderner Gesell-
25 Vgl. Bösch (Anm. 10), S. 384 f.
                                                                  schaften zu reagieren. Darin liegen ihre Stärke und
26 Armin Burkhardt, Debattieren im Schaufenster. Zu Ge-
brauch und Pervertierung einiger parlamentarischer Sprachfor-
                                                                  ihre Resilienz, gerade auch in Zeiten der Krise.
men im Deutschen Bundestag, in: Schulz/Wirsching (Anm. 10),
S. 301–331, hier S. 302 f.                                        CLAUDIA C. GATZKA
27 Vgl. Andreas Schulz, Vom Volksredner zum Berufsagitator.       ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche
Rednerideal und parlamentarische Redepraxis im 19. Jahrhun-
                                                                  Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste
dert, in: ders./Wirsching (Anm. 10), S. 247–266.
28 Vgl. Bettina Tüffers, Die Volkskammer im Fernsehen. Strate-
                                                                  Geschichte Westeuropas an der Albert-Ludwigs-
gien der Selbstinszenierung in der 10. Volkskammer der DDR, in:   Universität Freiburg.
Gjuričová et al. (Anm. 20), S. 312–315.                           claudia.gatzka@geschichte.uni-freiburg.de

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Parlamentarismus APuZ

                  PARLAMENTE IN DER KRISE?
                           Der deutsche Parlamentarismus
                             und die Corona-Pandemie
                                            Stefan Marschall

Eine Krise rückt die Regierungen ins Zentrum des         verloren haben.02 Für die Bundesrepublik werden
politischen Geschehens – diese unterstellte Gesetz-      der Exekutivföderalismus und die Privilegierung
mäßigkeit ist in der Zeit der Corona-Pandemie von        der Exekutiven im Mehrebenensystem für diese
jedem Beobachter und jeder Beobachterin mindes-          Entwicklung verantwortlich gemacht. Denn die
tens einmal vermerkt worden. Da ist oft von der          Regierungen, nicht die Parlamente, sind auf den
„Stunde der Exekutive“ oder der „Zeit der Exe-           unterschiedlichen Ebenen in den entscheiden-
kutive“ die Rede gewesen. Wenn man von einem             den Organen vertreten (zum Beispiel im Bundes-
Nullsummenspiel politischer Entscheidungsmacht           rat oder im Ministerrat der Europäischen Union)
ausgeht, bedeutet die Krisendominanz der Exeku-          und können über die Ebenen hinweg agieren.
tive, dass es auch mindestens einen Verlierer ge-            Darüber hinaus gibt es schon seit Jahrzehn-
ben muss, der in einem solchen Zeitraum entspre-         ten Entparlamentarisierungsdiskurse, festgemacht
chend weniger Einfluss und Gestaltungspotenzial          am Informationsungleichgewicht zwischen Exe-
hat als sonst. In erster Linie sind es – so die gängi-   kutive und Legislative. Generell drehen sich diese
ge Einschätzung – die Legislativen, die Parlamen-        Debatten darum, dass sich die „Auftragnehmer“,
te, die unter dem krisenbedingten Machtzuwachs           die Regierungen, gegenüber ihren „Auftragge-
der Regierungen leiden. Gleichwohl gehört es zum         bern“, den Parlamenten, zunehmend verselbst-
Gesamtbild, dass auch die dritte, rechtsprechen-         ständigt hätten – nicht zuletzt aufgrund eines In-
de Gewalt – die Judikative – in Krisensituationen        formationsvorsprungs seitens der Regierungen,
an Macht verlieren kann. Und tatsächlich zeigt die       durch den Parlamente strukturell ins Hintertref-
Corona-Zeit, wie Gerichte über eine längere Stre-        fen gerieten. Darüber hinaus ist kritisiert worden,
cke hinweg zum einen nur bedingt arbeitsfähig und        dass Regierungen zunehmend über Verordnungen
zum anderen tendenziell zurückhaltend waren,             Recht setzen würden.03
was ihre Einsprüche gegen die drastischen Regie-             Ende der 1990er Jahre kulminierten diese
rungsmaßnahmen anging.                                   Entparlamentarisierungsdiskurse in der Wissen-
    Wenn die Parlamente in Zeiten der Pandemie           schaft, aber auch in der politischen Öffentlichkeit
in ihrer Bedeutung gefährdet werden, dann hat            im Begriff des „post-parlamentarischen Zeital-
dies eine besondere Note. Denn der Parlamenta-           ters“04 – also einem Zeitalter, in dem Parlamen-
rismus litt einigen Diagnosen zufolge bereits vor        te keine zentrale Rolle mehr zu spielen scheinen.
der Covid-19-Krise an „Vorerkrankungen“. Die             Diese These hat sich bis heute gehalten. In dieser
These von einer Schwächung der Parlamente, ei-           Lesart stieß die Corona-Krise auf einen bereits
ner Entparlamentarisierung, ist deutlich älter als       vorgeschwächten Parlamentarismus – sowie auf
die aktuelle Pandemie.01 Dies gilt auch für den          die generelle Vermutung, dass Parlamente nur be-
bundesdeutschen Parlamentarismus. Hier sind              dingt krisenfest seien. Hat der Parlamentarismus
bereits seit Langem Entwicklungen in der Dis-            in Deutschland unter der Krise gelitten?
kussion, die zu einem parlamentarischen Funk-
tions- und Machtverlust geführt haben sollen –                       ZUR KRISENFESTIGKEIT
etwa die Europäisierung der deutschen Politik.                        VON PARLAMENTEN
In der Entparlamentarisierungsdebatte hat auch
stets eine Rolle gespielt, dass Parlamente im Lau-       Tatsächlich spricht zunächst einiges dafür, dass
fe der Zeit zugunsten der Exekutiven an Macht            Regierungen üblicherweise zu den Krisengewin-

                                                                                                          11
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nern und Parlamente zu den Verlierern zählen.                    spielsweise in Absprache zwischen Regierungs-
Eine Krise, gekennzeichnet durch ihr spontanes                   chefs und einzelnen Ressortverantwortlichen. In
Auftreten, ihre Vehemenz und Dynamik, erfor-                     den Ministerien sind überdies „Krisenstabsszena-
dert zügiges Handeln und schnelle Entschei-                      rien“ üblich. Die Routinen sehen Verfahren vor,
dungen. Für eine unmittelbare Krisenreaktion                     die zwar nach geregelten Abläufen vonstattenge-
erscheinen parlamentarische Verfahren auf den                    hen, aber auch Zügigkeit erlauben. Zum Beispiel
ersten Blick zu behäbig. Parlamente benötigen,                   spricht die Gemeinsame Geschäftsordnung der
so die Wahrnehmung, für ihre Willensbildung                      Bundesministerien ausdrücklich die Behandlung
und Beschlussfassung Zeit – mehr Zeit, als in ei-                von „besonders dringlichen Sachen“ an.05
ner akuten Bedrohungslage gegeben ist. Denn                          In Sachen „Exekutivvorteil“ in einer Krise
zum parlamentarischen Entscheidungsverfahren                     liegt die Analogie zum Verteidigungsfall auf der
gehören üblicherweise auch Phasen der intensi-                   Hand. Auch in der Situation eines militärischen
ven Beratung, Verhandlung und Diskussion – vor                   Angriffs auf das Bundesgebiet wäre eine schnel-
allem im Plenum und in den Fachausschüssen.                      le Reaktion erforderlich. Nicht zufällig gehört
Gerade ihre deliberative Qualität vor, aber auch                 der Bereich der militärischen Sicherheitspolitik
hinter verschlossenen Türen kennzeichnet Par-                    deswegen zum traditionellen Vorrecht der Exe-
lamente und grenzt sie von der Arbeitsweise der                  kutive, wenngleich Parlamente nicht unbeteiligt
Regierungen ab.                                                  sind.06 Aber auch hier gilt, dass für eine rasche
    Zudem ist in parlamentarischen Verfahren typi-               und effektive Reaktion die Regierung – und we-
scherweise eine große Zahl an Akteuren einzubin-                 niger das Parlament – infrage kommt.
den: Wenngleich die parlamentarische Praxis – bei-                   Gleichwohl, dies zeigen insbesondere die Vor-
spielsweise des Bundestages – auch oligarchische                 kehrungen für den Verteidigungsfall in Deutsch-
Strukturen etabliert hat (zum Beispiel die Privi-                land, haben Parlamente Mechanismen entwickelt,
legierung bestimmter Funktionsträger wie Frak-                   um in einem Ausnahmezustand, wenn die Lage
tionsvorsitzende oder Mitglieder im Ältestenrat                  ein Zusammentreten des Bundestages nicht er-
und Präsidium), bleibt letzten Endes jede und je-                laubt, handlungs- und entscheidungsfähig zu
der Abgeordnete gleichermaßen wichtig und darf                   bleiben. So sieht das Grundgesetz für den Fall
nicht ausgeschlossen werden. Im Falle des Bun-                   des militärischen Angriffs auf das Bundesgebiet
destages handelt es sich um mehrere hundert Per-                 die Einberufung des Gemeinsamen Ausschus-
sonen. Damit die Abgeordneten beschließen kön-                   ses vor, falls der Bundestag nicht zusammentre-
nen, müssen sie einberufen werden; üblicherweise                 ten kann. Jener besteht aus 48 Mitgliedern (zwei
reisen sie hierfür aus den Wahlkreisen an, die über              Drittel Bundestagsabgeordnete und ein Drittel
das gesamte Bundesgebiet verteilt sind.                          Mitglieder des Bundesrates), wobei die Zusam-
    Demgegenüber wirken Regierungen deutlich                     mensetzung die Stärkeverhältnisse der Fraktio-
agiler – zumindest, wenn man die Regierungsspit-                 nen berücksichtigt und über die Bundesratsmit-
ze in den Blick nimmt – und das schon aufgrund                   glieder alle 16 Länder vertreten sind. Gemäß der
ihrer geringeren Personenzahl sowie ihrer stärker                Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschus-
hierarchischen Strukturen. In kleineren Kreisen                  ses haben die Mitglieder eine Präsenzpflicht und
lassen sich Entscheidungen schneller treffen, bei-               müssen jederzeit für den Bundestagspräsidenten
                                                                 erreichbar sein.07 Der Gemeinsame Ausschuss
01 Vgl. Paul Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie?,   kann anstelle des gesamten Bundestages den Ver-
in: André Kaiser/Thomas Zittel (Hrsg.), Demokratietheorie und    teidigungsfall ausrufen. In Kriegszeiten ist die
Demokratieentwicklung, Wiesbaden 2004, S. 359–376.               Bundesregierung diesem „Notparlament“ gegen-
02 Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarismus. Eine Einführung,
                                                                 über rechenschaftspflichtig.
Baden-Baden 20183, S. 195 ff.
03 Vgl. Everhard Holtmann/Werner J. Patzelt (Hrsg.), Kampf
der Gewalten? Parlamentarische Regierungskontrolle – gouver-     05 Vgl. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien
nementale Parlamentskontrolle, Theorie und Empirie, Wiesbaden    (GGO), Anlage 1 zu § 13 Absatz 2 GGO, I. 3, II. 3.
2004.                                                            06 Vgl. Patrick A. Mello/Dirk Peters (Hrsg.), Parliaments in Se-
04 Vgl. Svein Andersen/Tom Burns, The European Union and         curity Policy: Involvement, Politicisation, and Influence, in: British
the Erosion of Parliamentary Democracy: A Study of Post-         Journal of Politics and International Relations 1/2018, S. 3–18.
Parliamentary Governance, in: Svein Andersen/Kjell Eliassen      07 Vgl. Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss,
(Hrsg.),The European Union: How Democratic Is It?, London        Bundesgesetzblatt (BGBl.) Jg. 1969 Teil I Nr. 74, 13. 8. 1969, zuletzt
1996, S. 227–252.                                                geändert am 20. 7. 1993, BGBl. Jg. 1993 Teil I Nr. 45, 19. 8. 1993.

12
Parlamentarismus APuZ

    Aber auch im täglichen Geschäft erlaubt das                                ENTSCHEIDUNGSMACHT
Parlamentsrecht die Beschleunigung von Verfah-                                     DER EXEKUTIVE
ren unter bestimmten Bedingungen. Bei Eilbe-
dürftigkeit können Phasen des Beratungsprozes-                    Wie hat sich der Parlamentarismus in der Covid-
ses faktisch übersprungen werden. Das Parlament                   19-Krise bewährt? Hierüber ein endgültiges Ur-
ist Herr seiner Geschäftsordnung und kann die-                    teil zu fällen, ist sicher noch zu früh. Dennoch
se gegebenenfalls außer Kraft setzen.08 Ein wei-                  zeichnen sich erste Befunde und Lehren ab. Zu-
teres Modell zur Einbindung von Parlamenten                       nächst zu den Entscheidungsprozessen am An-
bei dringlichen Entscheidungen findet sich in den                 fang der Krise, also in der „Stunde der Exeku-
Bestimmungen für die Entsendung von Soldatin-                     tive“: Als Grundlage für die Maßnahmen zur
nen und Soldaten in militärische Einsätze, die im                 Bekämpfung der Pandemie kam ein Gesetz ins
sogenannten Parlamentsbeteiligungsgesetz fest-                    Spiel, das 2001 in Kraft getreten war und seitdem
gelegt sind. Wenn Gefahr im Verzug ist, kann die                  nicht viel Aufmerksamkeit erhalten hatte: das In-
Regierung Truppen entsenden, muss den Bun-                        fektionsschutzgesetz (IfSG).10 Neben der Melde-
destag jedoch schnellstmöglich um nachträgliche                   pflichtigkeit von Krankheiten wird in dem Ge-
Billigung bitten.09 Dieser kann die Truppenent-                   setz die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten
sendung wieder rückgängig machen.                                 geregelt – inklusive der Schutzmaßnahmen, die
    Über die reglementierten Verfahren hinaus                     ergriffen werden können, um die Ausbreitung
können Parlamente auf informelle Einflussmög-                     von Infektionskrankheiten einzudämmen.
lichkeiten und Kommunikationskanäle zurück-                           Tatsächlich gibt dieses Gesetz der Bundesre-
greifen. Denn ein großer Teil parlamentarischer                   gierung umfassende Möglichkeiten an die Hand,
Arbeit läuft in der engen – und mitunter jenseits                 im Falle einer Pandemie Verordnungen zu er-
der ausdrücklich geregelten Prozeduren stattfin-                  lassen; relevant ist dabei insbesondere der Para-
denden – Zusammenarbeit insbesondere von Re-                      graf 28, der eventuelle drastische Maßnahmen
gierung und Regierungsmehrheit ab.                                aufführt. Das IfSG weist den „zuständigen Be-
    Insofern sind Krisen für Parlamente zwar                      hörden“ das Recht und die Kompetenz zu, tätig
substanzielle Herausforderungen und potenzi-                      zu werden. Der Vollzug des Bundesgesetzes ob-
ell mit dem Verlust von Teilen ihrer Funktions-                   liegt den Ländern und hier explizit den Landesre-
tüchtigkeit verbunden. Hier ist jedoch ein dif-                   gierungen, die gemäß Paragraf 54 durch Rechts-
ferenzierter Blick erforderlich, denn bestimmte                   verordnungen bestimmen, welche ihrer Behörden
parlamentarische Grundfunktionen können auch                      zuständig sind.
in Krisenzeiten weiterhin gewährleistet werden.                       Frühzeitig in der Krise wurde die Verord-
Zudem können Parlamente – vielleicht nochmals                     nungsermächtigung des IfSG reformiert: In der
besonders in Ausnahmezeiten – auf informelle                      Novellierung Ende März 2020 wurde in Para-
Ressourcen zurückgreifen, die einen Einflussver-                  graf 5 festgelegt, dass der Deutsche Bundestag
lust teilweise kompensieren könnten. Gleichwohl                   das Recht habe, „eine epidemische Lage von na-
bleibt eine Krise ein Stresstest für die parlamen-                tionaler Tragweite“ festzustellen. Gleichermaßen
tarische Demokratie. Dabei ist jede Krise anders:                 habe er das Recht, diese Lage aufzuheben, wenn
Ein Verteidigungsfall unterscheidet sich von einer                die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht
Naturkatastrophe, eine Pandemie von einem Ter-                    mehr gegeben seien.11 Insofern liegt zwar die
roranschlag. Die spezifischen Krisenmerkmale                      grundlegende Entscheidung, die Feststellung des
haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie                     pandemischen Ausnahmezustands, beim Parla-
das Parlament herausgefordert wird – und ob und                   ment. Wenn es jedoch um konkrete Maßnahmen
wie es auf die Krise reagieren kann.                              geht, übernehmen die Regierungen auf Bundes-
                                                                  und Landesebene. Hierbei werden weitreichen-
08 Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarische Verfahren/Ge-          de Kompetenzen insbesondere auf den Bundes-
schäftsordnung, in: Uwe Andersen et al. (Hrsg.), Handwörter-
buch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland,
Wiesbaden 20208, i. E.                                            10 Vgl. Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infek-
09 Vgl. Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der      tionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz),
Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Aus-    BGBl. Jg. 2000 Teil I Nr. 33, 25. 7. 2000, zuletzt geändert am
land (Parlamentsbeteiligungsgesetz), § 5, BGBl. Jg. 2005 Teil I   19. 6. 2020, BGBl. Jg. 2020 Teil I Nr. 30, 29. 6. 2020.
Nr. 17, 23. 3. 2020.                                              11 BGBl. Jg. 2020 Teil I Nr. 14, 27. 3. 2020.

                                                                                                                                   13
APuZ 38/2020

gesundheitsminister übertragen – und dies nur                 tions- und Forumsfunktion, hat zu Beginn der
auf der Grundlage eines einfachen Gesetzes,                   Pandemie deutlich gelitten – ebenso die öffent-
nicht durch Bestimmungen im Grundgesetz. In-                  liche Kontrollfunktion.13 So stellte sich frühzei-
sofern hat die Änderung des IfSG nicht zu einer               tig heraus, dass parlamentarische Sitzungen und
Parlamentarisierung, sondern vielmehr zu einer                Versammlungen in der ersten Krisenphase nicht
Schwächung der parlamentarischen Beteiligung                  mehr wie gewohnt stattfinden konnten. Insbe-
geführt.12                                                    sondere öffentliche Ausschusssitzungen des Bun-
    Die Krisenreaktion beschränkte sich freilich              destages mussten in den ersten Pandemiewochen
nicht allein auf die epidemiologischen Maßnah-                abgesagt werden, desgleichen wurde die Befra-
men wie die Einschränkung von Kontakten, wel-                 gung der Bundeskanzlerin durch die Abgeord-
che mit massiven Grundrechtseingriffen verbun-                neten von der Tagesordnung genommen. Die Be-
den waren. Ein weiteres Maßnahmenpaket betraf                 handlung diverser Themen wurde verschoben,
die Frage, wie die Folgen der Krise zu bewältigen             Plenarsitzungen wurden verkürzt – und damit
sind. Bei der Verabschiedung der großen Hilfspa-              auch die parlamentarische Debatte und die Rede-
kete zur Stabilisierung der Wirtschaft, aber auch             zeit von Abgeordneten.14
bei der Anpassung des Kurzarbeitergeldes, war                     Der Bundestag hat jedoch auf die Schwierig-
das Parlament regulär eingebunden – betrafen ei-              keit, aus Gründen des Infektionsschutzes nicht
nige dieser Entscheidungen doch mit dem Bud-                  alle Abgeordneten in einem Raum versammeln
getrecht eine Kernkompetenz des Parlaments.                   zu können, unmittelbar reagiert – durch eine Än-
Gleichwohl fanden die Verhandlungen bereits                   derung der Geschäftsordnung zur „besonderen
unter veränderten Rahmenbedingungen parla-                    Anwendung (…) aufgrund der allgemeinen Be-
mentarischer Arbeit und unter einem Zeitdruck                 einträchtigung durch Covid-19“. So wurde am
statt, der eine eingehende Beratung unmöglich                 25. März ein neuer Paragraf 126a eingefügt.15
machte: Das montags vom Kabinett beschlosse-                  Diese Regelung wurde zunächst bis zum 30. Sep-
ne Hilfspaket wurde bis zum folgenden Freitag                 tember 2020 befristet. Demnach wurde das Parla-
durch das parlamentarische Verfahren plus Ab-                 ment auch dann als beschlussfähig erklärt, wenn
stimmung im Bundesrat gebracht. Üblicherwei-                  nur mehr als ein Viertel der Mitglieder des Bun-
se nimmt ein solcher Prozess mehrere Wochen,                  destages anwesend ist. In „normalen“ Zeiten
wenn nicht sogar Monate in Anspruch.                          muss mindestens die Hälfte zusammenkommen.
                                                              Für Ausschusssitzungen wurde ein analoges An-
           PARLAMENT AUF ABSTAND                              wesenheitsquorum festgelegt. Ein ausdrückliches
                                                              Verbot der Teilnahme von Mitgliedern des Bun-
Mit Blick auf die Krisenreaktion lässt sich zu-               destages an Sitzungen war damit gleichwohl nicht
nächst festhalten: Grundlegende, „wesentliche“                verbunden, allerdings konnten bereits aufgrund
Entscheidungen wurden von den Parlamenten                     der Abstandsregeln nicht alle Abgeordneten im
(mit-)getroffen. Von einer generellen Umgehung                Plenarsaal sein.
parlamentarischer Körperschaften kann keine                       Darüber hinaus wurde die Möglichkeit der re-
Rede sein. Dennoch haben Parlamente, ihre Rolle               gulären Teilnahme an den Beratungen der Aus-
und mit ihnen bestimmte Prinzipien parlamenta-                schüsse über elektronische Kommunikationsmittel
rischer Demokratie unter der Krise gelitten. Die              eingeräumt, sodass rein virtuelle Ausschusssitzun-
pandemische Situation hat insbesondere die Kri-               gen möglich wurden. Für Abstimmungen und Be-
senanfälligkeit regulärer parlamentarischer All-              schlussfassungen durften ebenso elektronische
tagsarbeit vor Augen geführt. Das, was parlamen-              Kommunikationsmittel genutzt werden. Schließ-
tarische Arbeit in weiten Bereichen ausmacht, war
nicht mehr ohne Weiteres möglich. Parlamente                  13 Vgl. Daniel Hildebrand, Aushöhlung des Parlamentaris-
haben sich in einigen ihrer zentralen Arbeitswei-             mus durch die Corona-Pandemie? Ein Zwischenruf zur Lage in
sen als verletzlich erwiesen.                                 Deutschland und Großbritannien, in: Zeitschrift für Parlaments-
    Insbesondere die Idee des diskutierenden und              fragen 2/2020, S. 474–482.
                                                              14 Vgl. Robert Roßmann, Parlament der leeren Sitze,
abwägenden Parlaments, also die Kommunika-
                                                              20. 3. 2020, www.sueddeutsche.de/1.4852388.
                                                              15 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
12 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz/Florian Meinel, Unbegrenzte   Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Bundestags-
Ermächtigung?, 26. 3. 2020, www.faz.net/-16696509.            drucksache 19/18126, 25. 3. 2020.

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