AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Parlamentarismus - Bundeszentrale für ...
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70. Jahrgang, 38/2020, 14. September 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Parlamentarismus Claudia C. Gatzka Joachim Behnke DAS PARLAMENT ALS BUNDESTAG: UMSTRITTENER ORT ENDE DES WACHSTUMS? DER DEUTSCHEN PERSPEKTIVEN FÜR DIE DEMOKRATIEGESCHICHTE WAHLRECHTSREFORM Stefan Marschall Benjamin Höhne DER DEUTSCHE FRAUEN IN PARTEIEN PARLAMENTARISMUS UND UND PARLAMENTEN DIE CORONA-PANDEMIE Frank Decker Suzanne S. Schüttemeyer REGIERUNGSWAHL DER 19. BUNDESTAG: ALS GEHEIMSACHE? SCHWIERIGE LERNPROZESSE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Parlamentarismus APuZ 38/2020 CLAUDIA C. GATZKA JOACHIM BEHNKE DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT BUNDESTAG: ENDE DES WACHSTUMS? DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE VORSCHLÄGE UND PERSPEKTIVEN FÜR DIE Die deutsche Demokratiegeschichte kann das WAHLRECHTSREFORM Parlament nur als umstrittene, aber durchaus Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems lernfähige Institution thematisieren. An den hat dazu geführt, dass der Bundestag durch Parlamentarismus als Errungenschaft zu erin- Überhang- und Ausgleichsmandate stark nern, heißt zudem, an Offenheit für Pluralität gewachsen ist. Sämtliche Wahlrechtsreformvor- und politische Farbenwechsel zu erinnern. schläge sind bisher gescheitert. Auch der jüngste Seite 04–10 Anlauf verspricht keine Besserung. Seite 24–31 STEFAN MARSCHALL PARLAMENTE IN DER KRISE? BENJAMIN HÖHNE DER DEUTSCHE PARLAMENTARISMUS FRAUEN IN PARTEIEN UND PARLAMENTEN. UND DIE CORONA-PANDEMIE INNERPARTEILICHE HÜRDEN UND ANSÄTZE In der Frühphase der Corona-Krise war oft FÜR GLEICHSTELLUNGSPOLITIK von einer „Stunde der Exekutive“ die Rede. Frauen sind im Deutschen Bundestag chronisch Tatsächlich ist die Pandemie für Parlamente ein unterrepräsentiert. Die Gründe dafür liegen erheblicher Stresstest. Es zeigen sich aber nicht vor allem in den Selektionsmechanismen der nur Probleme, sondern auch Lösungsansätze, die einzelnen Parteien. Dementsprechend reicht es über die Zeit der Pandemie hinausweisen. nicht aus, mit Paritätsgesetzen nur Symptome Seite 11–17 zu behandeln. Seite 32–40 SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER DER 19. DEUTSCHE BUNDESTAG: FRANK DECKER SCHWIERIGE LERNPROZESSE ZUR REGIERUNGSWAHL ALS GEHEIMSACHE? SICHERUNG PARLAMENTARISCHER ZUR AKTUALITÄT EINER ALTEN DEBATTE ARBEITSFÄHIGKEIT Dramen wie jenes um die Ministerpräsidenten- Für das Funktionieren parlamentarischer wahl in Thüringen im Februar 2020 ließen sich Verfahren braucht es einen Grundkonsens aller vermeiden, wenn Regierungschefs in deutschen Fraktionen über Prozesse und Gepflogenheiten. Parlamenten nicht geheim, sondern offen gewählt Dieser ist in der laufenden Wahlperiode jedoch würden. Über eine Änderung diskutierten unter Druck geraten – insbesondere durch die Politologen schon in den 1970er Jahren. erstmals im Bundestag vertretene AfD. Seite 41–46 Seite 18–23
EDITORIAL Parlamente sind die Herzstücke unserer Demokratie. Ihre Funktionsfähigkeit lebt vom offenen Austausch der politischen Meinungen, von gründlichen fachlichen Beratungen sowie von geordneten und transparenten Verfahren zur demokratischen Entscheidungsfindung. Zugleich sind sie darauf angewiesen, dass es unter den Abgeordneten bei allen Unterschieden in der politischen Ausrichtung eine grundsätzliche Bereitschaft zur konstruktiven parlamenta- rischen Zusammenarbeit gibt. Die aktuelle Wahlperiode des Deutschen Bun- destages zeigt indes, dass all dies keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern vielmehr Idealbedingungen. So hat die erstmalige Präsenz der AfD nicht nur merklichen Einfluss auf die parlamentarische Debattenkultur, sondern sie begrenzt auch die Möglichkeiten zur interfraktionellen Kooperation. Seit Mitte März 2020 erschwert zudem die Corona-Pandemie die parlamentarische Arbeit. Zum einen müssen die Abgeord- neten Abstand voneinander halten, was Plenardebatten, Ausschusssitzungen und informelle Zusammenkünfte beeinträchtigt. Zum anderen schlug insbesondere zu Beginn der Pandemie die „Stunde der Exekutive“: Die Regierung wurde durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit umfassenden Kompetenzen ausgestat- tet, und das gesundheitspolitische Erfordernis, rasch zu handeln, zwang die Abge- ordneten, binnen kürzester Zeit über weitreichende Maßnahmen zu entscheiden, ohne ausführlich über Für und Wider debattiert zu haben. Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Parlamente hängen nicht zuletzt von den Regeln ab, nach denen sie gewählt werden. Nach rapiden Wachstumsschü- ben des Bundestages durch den Anstieg von Überhang- und Ausgleichsmanda- ten, ohne dass sich die Parteien auf eine grundlegende Wahlrechtsreform einigen konnten, geht die Debatte darüber nun in eine weitere Runde. Zwar haben sich die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD Ende August 2020 für die nächste Bundestagswahl 2021 auf eine Übergangslösung verständigt. Ob sich damit aber tatsächlich eine weitere Vergrößerung des Parlaments verhindern lässt, liegt allein in der Hand der Wählerinnen und Wähler. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 38/2020 ESSAY DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE Claudia C. Gatzka Die Debatte um einen Wandel bundesrepubli- publik zusammenzudenken. Nationale Symbolik kanischer Gedächtniskultur ist in vollem Gange, blieb in der Weimarer Republik als Gegensym- und es war der Bundespräsident, der sie mit ei- bolik zur Demokratie vital und abrufbar, häufig nem Plädoyer für die Pflege demokratischer Er- verbunden mit starken Emotionen jener, die sich innerungsorte ins Rollen brachte. Mehr als ein „national“ nannten und dabei eben meist keine Jahr vor den Denkmalstürzen von 2020 wunder- Demokraten sein wollten. Diese wiederum rekla- te sich Frank-Walter Steinmeier in der „Zeit“, mierten eher ein rationalistisches, nüchternes Po- dass der Bund dem Hamburger Bismarck-Denk- litikverständnis für sich, das wenig Platz für Pa- mal mehrere Millionen Euro Unterstützung an- thos ließ, auch nicht im Namen der Freiheit. Die gedeihen lasse, der Frankfurter Paulskirche als Weimarer Republik beging zwar am 11. August historischem Ort des ersten gesamtdeutschen den Verfassungstag, doch sie produzierte keine Parlaments hingegen keinen Cent. Dabei könn- schillernde Erinnerungskultur, die die demokrati- ten, so der Bundespräsident, gerade die Revolu- schen Traditionen Deutschlands ins 19. Jahrhun- tion von 1848/49 oder der „Weimarer Aufbruch“ dert zurückverfolgt hätte. Auch für viele Demo- von 1918/19 ebenso wie die Jahre 1949 und 1989 kraten war die schwarz-rot-goldene Reichsflagge Demokratinnen und Demokraten Mut und An- der jungen Republik nicht mehr als ein Stück sporn vermitteln. Die Freiheitskämpfe und Er- Stoff, ganz im Gegensatz zur sakralen Qualität, rungenschaften, Heldinnen und Helden sowie die Schwarz-Weiß-Rot für die Weimarer Rech- die zahlreichen kleineren und größeren Orte der ten behielt.02 Der Schatten der Niederlage und Demokratiegeschichte gelte es künftig sehr viel einer durch Krieg und Revolution gespaltenen stärker in der offiziellen Gedächtnispolitik zu Arbeiterbewegung ließ keine republikanische verankern. Bei aller notwendigen Erinnerung an Aufbruchstimmung aufkommen. Diktatur und Verfolgung, Krieg und Vernich- Nach 1945 änderte sich das nicht. Die junge tung – auch die Demokratie sei deutsch, und wo- Bundesrepublik hatte zwar einige Vernunftre- rauf Steinmeier damit letztlich abzielt, ist die De- publikanerinnen und -republikaner mehr, aber mokratie zum Telos der Nationalgeschichte zu keine positiv besetzten Erinnerungsorte der erheben.01 Demokratie, galt Weimar doch, und mit ihm Vorstöße wie diese haben insofern ihre Be- Schwarz-Rot-Gold, als Schreckbild einer über- rechtigung, als gerade die deutschen Großstäd- forderten und ungeliebten Republik. Prägend te tatsächlich nicht zu Leuchttürmen demokrati- wurde für das Bonner Selbstverständnis gerade, scher Erinnerungslandschaften aufgestiegen sind, sich von der ersten deutschen Demokratie abzu- obwohl gerade dort deutsche Demokratiege- grenzen.03 Der Entfaltungsspielraum für eine na- schichte gemacht wurde. Überhaupt hat sich die tionale demokratische Symbolik war durch die liberale Demokratie in Deutschland mit nationa- deutsche Teilung zusätzlich begrenzt. Im Grun- ler Symbolpolitik schon immer vergleichswei- de kann erst 1990 für die Symbiose von demo- se zurückgehalten. Anders als es die demokrati- kratischem und nationalem Selbstverständnis schen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts stehen – allerdings mit der Einschränkung, dass nahelegen, war es in der deutschen Geschichte dem ostdeutschen Teil der vereinten Nation im- des 20. Jahrhunderts nie leicht, Nation und Re- mer wieder ein eklatantes Demokratiedefizit at- 04
Parlamentarismus APuZ testiert wird. Was 30 Jahre nach der Vereinigung schen Antiparlamentarismus oder parlamentari- für gemeinsame, nationale demokratische Erinne- schen Funktionsdefiziten. Vielmehr handelt es rungsorte taugt, ist noch immer eine offene Frage. sich bei Antiparlamentarismus und Parlamenta- Ein Weg wäre, die gemeinsamen Demokratieer- rismuskritik um Phänomene, die so alt sind wie fahrungen vor 1949 ins Gedächtnis zu rufen, die der Parlamentarismus selbst und namentlich in auch die getrennten Wege im Kalten Krieg ideen- Frankreich mit seiner stolzen republikanischen geschichtlich grundierten. Tradition tief verwurzelt sind. Allerdings exis- Zur Erörterung einer demokratischen Ge- tieren national spezifische Kulturen der Parla- dächtnispolitik gehört die Frage, wie diese libe- mentskritik wie des Parlamentarismus selbst, ral-demokratisch ausgestaltet werden kann. In die hier in ihrer deutschen Spielart zur Sprache letzter Konsequenz bedeutete dies, nicht nur he- kommen.06 roische Befreiungs- und Erfolgsgeschichten zu Die Relevanz des Parlaments für die Demo- erzählen, sondern das wiederkehrend Problema- kratiegeschichte ergibt sich aus dem Siegeszug, tische und Fragile, ja das Umstrittene an der De- den das Modell der repräsentativen Demokratie mokratie selbst zum Teil der Erinnerung zu ma- im ausgehenden 18. Jahrhundert antrat, obwohl chen.04 Nur so kann die liberale Demokratie auch es sich gegen monarchistische und konservati- offensiv auf die vermehrte Kritik reagieren, die ve Kräfte zu behaupten hatte, die Staatsautori- ihr von rechts wie von links begegnet, und die tät über Volkssouveränität stellten. Doch worin Enttäuschungen verstehen, die sie immer wieder genau besteht sein demokratisches Prinzip? Der produziert. Wohl keine Institution macht diese Parlamentarismus beruht auf der Idee, dass der Probleme sichtbarer als das Parlament und seine Souverän durch ein gewähltes Organ, das eini- umstrittene Geschichte. ge Hundert Deputierte zählt, vertreten werden Im Folgenden werde ich diskutieren, welche könne. Maßgeblich für seine Legitimität wur- Herausforderungen sich mit dem Parlament als de die Fiktion der „virtuellen“ oder „abstrakten Erinnerungsort der deutschen Demokratie verbin- Repräsentation“, wonach die Abgeordneten im den. Dazu richtet sich der Blick nicht so sehr auf Parlament für das gesamte Staatsvolk sprechen seine Funktionsweisen und seine Stellung im poli- können, nicht bloß für ihren Wahlkreis oder ihre tischen System,05 sondern auf die Zuschreibungen soziale Klientel. Ihr Mandat ist formal also per- und Bedeutungen, die mit dem Parlamentarismus sonell ungebunden, verantwortlich sind sie in der in der deutschen Geschichte verbunden waren. Regel dem Gemeinwohl, der Nation oder ledig- lich ihrem Gewissen. PARLAMENT UND DEMOKRATIE – Es wäre nun aber historisch verfehlt, den Par- EINE NOTWENDIGE lamentarismus für die Demokratie schlechthin UNTERSCHEIDUNG zu halten, auch wenn selbst Historikerinnen und Historiker mittlerweile „Demokratie“ und „par- Wenn die deutsche Erinnerungskultur bislang kein lamentarische Demokratie“ häufig synonym ver- Hort parlamentarischer Sternstunden ist, liegt wenden. Zwar kam keine Demokratietheorie seit das nicht etwa an einem ausgewiesenen deut- der Etablierung des britischen Parlamentarismus im 17. Jahrhundert an einer Positionierung ge- 01 Vgl. Frank-Walter Steinmeier, Deutsch und frei, 13. 3. 2019, genüber dem Prinzip der Repräsentation (anstatt www.zeit.de/2019/12/demokratie-nationalismus-tradition-ge- der unmittelbaren Artikulation) des Volkswillens denktage-geschichtsunterricht. Für geschichtswissenschaftliche vorbei. Doch aus der Abgrenzung gegen den Par- Wortmeldungen zur aktuellen Debatte siehe APuZ 33–34/2020. lamentarismus wuchsen alternative Demokra- 02 Vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weima- tiemodelle, die für Zeitgenossinnen und Zeitge- rer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, S. 63 f. nossen im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder 03 Vgl. Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der 06 Vgl. Remieg Aerts, An Unrewarding Task. Criticism of frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009. Parliament and Anti-Parliamentarianism: A Historical Review, in: 04 In diesem Sinne jüngst Ute Daniel, Postheroische Demokra- Marie-Luise Recker/Andreas Schulz (Hrsg.), Parlamentarismus- tiegeschichte, Hamburg 2020. kritik und Antiparlamentarismus in Europa, Düsseldorf 2018, 05 Vgl. Marie-Luise Recker (Hrsg.), Parlamentarismus in S. 25–41; Jean Garrigues, Criticism on Parliamentarianism and Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, Anti-Parliamentarianism in Europe 19th–21st Century, in: ebd., München 2004. S. 43–57. 05
APuZ 38/2020 denkbare Optionen waren. Die beiden idealtypi- sowie Soldaten gab es 1918 gute Gründe, nach schen Alternativen, die seit der Amerikanischen über vier Jahren eines zerstörerischen Krieges, und der Französischen Revolution im Raum dessen Finanzierung der Reichstag auch mit den standen, waren zum einen die direkte Demokra- Stimmen der Sozialdemokratie fortwährend bil- tie, in der sich der Rousseausche Volkswille be- ligte, in den Räten größere – soziale wie politi- ständig oder spontan, in jedem Falle unmittelbar sche – Teilhabechancen zu erblicken. In der ge- artikuliert, ohne durch Repräsentativorgane „ver- spaltenen Arbeiterbewegung war 1918 mit Blick fälscht“ und aufgespalten zu werden. Zum ande- auf das Agieren führender Sozialdemokraten die ren ließ sich mit Rekurs auf Napoleon eine plebis- Rede von der „parlamentarischen Komödie“, zitäre Demokratie entwerfen, die auf eine starke, vom „höfisch gewordenen Regierungssozialis- zentrale Exekutive oder Einheitspartei und auf mus“ und vom „Ausschluß des Volkes“ im Par- mehr oder minder regelmäßige Akklamationen lament.07 Bedenkt man noch, dass die Parlamen- des Volkes setzte. tarisierung des Kaiserreichs keine Errungenschaft Während plebiszitäre Demokratieansätze vor der Revolution, sondern zuvor von oben einge- allem, aber nicht nur auf der politischen Rech- leitet worden war, so kann der November 1918 in ten Anhänger fanden, neigte die politische Lin- Deutschland nur bedingt als Erinnerungsort der ke zu radikaldemokratischen Ansätzen. Das parlamentarischen Demokratie herhalten – eher bereits von den kleinbürgerlichen Sansculot- handelte es sich um einen Aufstand der Kriegs- ten während der Französischen Revolution ar- müden, die unterschiedliche demokratische Zu- tikulierte Misstrauen gegenüber dem Parlament künfte für denkbar hielten.08 als Institution der Bourgeoisie wurde von Karl Das Schreckbild der bolschewikischen Revo- Marx und Friedrich Engels aufgegriffen, blieb lution und die Drohung des Bürgerkriegs, aber aber kein deutsches Spezifikum. Ihre Beobach- auch ein unhinterfragter Parlamentarismus ver- tungen Frankreichs und Englands um die Mitte anlassten die führenden Vertreter der Mehrheits- des 19. Jahrhunderts führten sie zu dem Schluss, sozialdemokratie, die Geschicke der Revolution dass der Parlamentarismus lediglich Instrument aus den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der Klassenherrschaft sei und proletarische In- in die Hände der Nationalversammlung zu legen. teressen dort keine Vertretung fänden. Ein idea- In der Hoffnung, das Mehrheitsprinzip werde les Gegenmodell sah Marx in der Räteverfassung die Revolution zur Vollendung führen, optier- der Pariser Kommune von 1871. Auch hier wur- ten auch weite Teile der von der SPD abgespal- de gewählt, allerdings in sehr viel direkterer und tenen USPD (Unabhängige Sozialdemokratische spontanerer Weise: Das Volk in den Pariser Be- Partei) dafür; nur eine kleine Fraktion um Rosa zirken bestimmte Stadträte, die mehrheitlich aus Luxemburg und Karl Liebknecht sah im Arbei- Arbeitern oder Arbeitervertretern bestanden, die terparlament das einzig logische politische Organ in ihrer legislativen wie exekutiven Tätigkeit an einer proletarischen Revolution und im Bürger- die Instruktionen der Wähler gebunden und je- krieg nach bolschewikischem Muster das ultima- derzeit absetzbar waren. tive Mittel des Klassenkampfs. Der Parlamentarismus der Sozialdemokra- AUSSÖHNUNG tie war Produkt einer über Jahrzehnte gewachse- MIT DEM REPRÄSENTATIVEN nen Aussöhnung mit dem repräsentativen Prin- PRINZIP zip. Bereits im Norddeutschen Bund hatte das allgemeine Wahlrecht seit 1867 eloquenten Ar- Die mit der Kommune verbundene Rätedemo- beiterführern wie August Bebel und Wilhelm kratie mit ihrem Akzent auf subnationale po- Liebknecht erlaubt, das Parlament als Agitations- litische Handlungsebenen, aktive Partizipation mittel zu nutzen, obwohl Liebknecht den Reichs- der Vielen an Legislative wie Exekutive und un- mittelbare Feedbackschleifen zwischen Reprä- sentierenden und Repräsentierten blieb in der 07 Das alte Spiel, der alte Jammer, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und politischen Linken und namentlich unter west- Umgegend, 14. 7. 1918. europäischen Kommunisten des 20. Jahrhunderts 08 Vgl. Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche vital – auch in der deutschen Novemberrevolu- Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, tion. Denn für viele Arbeiterinnen und Arbeiter Berlin 2017. 06
Parlamentarismus APuZ tag als bloße „Komödie“ bezeichnete.09 Gerade aber auch zum Rücktritt der Regierung Bernhard für die internationale Ausrichtung der Arbeiter- von Bülows führte. All dies zeugt von der am- bewegung war das parlamentarische Sprechen bivalenten Machtposition des Parlaments in der jedoch von großem Nutzen, konnte die Bühne konstitutionellen Monarchie. eines überregionalen Parlaments doch weitaus breiter ausstrahlen als die kleinteilige Propagan- INTEGRATION UND da in Versammlungen und Presse. Die Agitation DELEGITIMIERUNG im Parlament wurde im 1871 gegründeten Kaiser- reich mit seinem allgemeinen Männerwahlrecht Wie das Beispiel der Sozialdemokratie zeigt, wa- und erst recht zur Zeit des Sozialistengesetzes ren Parlamente Inklusionsmaschinerien. So ist (1878–1890) zur wichtigsten Propagandapraxis es für ihre Geschichte charakteristisch, dass ihre der Sozialdemokratie, die sich in Wählerstimmen Gegner in aller Regel mit im Hause saßen. Das auszahlte. In Verbindung mit der Entfaltung des galt für die Monarchisten in der Frankfurter Nati- Sozialstaats gelang es ihr, durch die Reichstagsde- onalversammlung, für die Nationalkonservativen batten ihre sozialpolitische Agenda zum nationa- im Kaiserreich und für die DNVP (Deutschnatio- len Gesprächsthema zu machen. nale Volkspartei), Teile der nationalliberalen DVP Im Gegensatz zur älteren historischen For- (Deutsche Volkspartei) sowie KPD und NSDAP schung, die die schwache Position des Reichs- in der Weimarer Republik. Die Parlamentsarbeit tags im konstitutionellen Gefüge des Kaiserreichs verwandelte sie nicht immer in glühende Anhän- unterstrich, wird in neueren Studien unter Be- gerinnen und Anhänger des Parlamentarismus, rücksichtigung des Öffentlichkeitsaspekts parla- doch sie führte ihre Fundamentalablehnung ad mentarischer Arbeit nicht nur die wachsende Be- absurdum. Denn wer antiparlamentarisch sprach deutung des Reichstags betont, sondern auch die und parlamentarisch handelte, verfing sich min- These eines weithin geteilten Antiparlamentaris- destens in einem performativen Widerspruch. mus im Kaiserreich widerlegt. Die Entstehung Die ältere Forschung hat den Antiparlamen- der kommerzialisierten Massenpresse und das tarismus im Reichstag häufig als Faktor seiner dualistische Gepräge der konstitutionellen Mon- Schwäche und seines Unvermögens zu rationa- archie waren wichtige Faktoren der wachsenden ler Kompromissfindung gedeutet; in Abgren- Popularität des Reichstags: Da er Gesetzen und zung dazu betont die neuere Forschung die Inte- Haushalt zustimmen musste, die Regierung ihm grations- und Kohäsionskraft parlamentarischer jedoch nicht verantwortlich war, konnte er sich Regeln, Verfahren und Umgangsweisen, denen mit seinen beiden stärksten Fraktionen, dem Zen- sich auch antiparlamentarische Kräfte kaum ent- trum und der Sozialdemokratie, als Gesetzgeber, ziehen konnten: Wer die Geschäftsordnung be- aber auch als Regierungsopposition in Szene set- achtete und die Redezeiten einhielt, wer in Aus- zen, was die Massenpresse dankbar aufnahm und schüssen mit Kollegen zusammenarbeitete und verstärkte.10 Welche Debatten in den Augen des sich an Abstimmungen beteiligte, konnte schlecht Publikums als „Sternstunden“ taugten, variierte behaupten, nicht zum Funktionieren des Parla- freilich je nach politischer Haltung. Aufsehener- mentarismus beizutragen, und die Öffentlichkeit regend waren etwa die Reichstagsdebatten um die beobachtete dies aufmerksam.11 Die Fundamen- Kolonialskandale und der Streit um das Budget talopposition der wachsenden NSDAP-Frakti- für die militärischen Interventionen in den Kolo- on äußerte sich dann auch in demonstrativen Re- nien 1906/07, der zur Auflösung des Reichstags, gelbrüchen und einer Sprache, die vor allem der außerparlamentarischen Öffentlichkeit bedeuten sollten, dass man vorhatte, das parlamentarische 09 Zit. nach Theo Jung, Der Feind im eigenen Hause. Anti- parlamentarismus im Reichstag 1867–1918, in: Recker/Schulz System von innen heraus zu zerstören.12 (Anm. 6), S. 129–149, hier S. 131. Als radikaldemokratische Alternative zum 10 Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichs- Parlamentarismus oder als Aufmarschfeld „des tag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“, 1871–1890, Düs- Volkes“ gegen das Parlament galt die Straße. Dort seldorf 2009; Frank Bösch, Parlamente und Medien. Deutsch- sollte nach ursprünglichem Dafürhalten der So- land und Großbritannien seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Andreas Schulz/Andreas Wirsching (Hrsg.), Parlamentarische Kulturen in Europa – das Parlament als Kommunikationsraum, 11 Vgl. Mergel (Anm. 2), S 313–331; Jung (Anm. 9). Düsseldorf 2012, S. 371–388. 12 Vgl. Mergel (Anm. 2), S. 428–465. 07
APuZ 38/2020 zialisten der eigentliche Kampf des Proletariats PARLAMENT UND NATION – stattfinden; und dort sollte in Weimar ein neu- EIN SCHWIERIGES VERHÄLTNIS er Politikstil Fuß fassen: eine Politik der Tat, der Emotion und des unbedingten Willens, die sich Parlamente waren als Institutionen von einer scharf gegen die rationale Rede, die teils langwie- Spannung getragen, die mit der Erweiterung des rige Kompromissfindung und das vermeintliche Wahlrechts immer größer wurde: Sie sollten die Taktieren im Parlament abgrenzte.13 Vor allem die unterschiedlichen Interessen, ja zunehmend auch äußerste Linke und die äußerste Rechte bedien- die sozialen Unterschiede innerhalb der Gesell- ten sich in der Weimarer Republik der Straße als schaft abbilden und zugleich die gemeinsamen einer Gegenarena zum Parlament, und sie griffen Interessen des Staatsvolks vertreten. Als Symbo- häufiger zu den plebiszitären Mitteln des Volks- le der Nation konnten nationale Parlamente unter begehrens und des Volksentscheids, die die Wei- besonderen Erwartungsdruck geraten, wenn die marer Reichsverfassung einräumte. sakralisierte Nation sich durch Einigkeit auszeich- Die Auseinandersetzung mit dem Weimarer nen sollte, nicht durch widerstreitende Positio- Reichstag ließ klassische Muster der Parlaments- nen, die das Parlament zum Ausdruck brachte.16 kritik aufleben. Besondere Missbilligung erfuhren Dieser Imperativ war in Deutschland besonders das Mehrheitsprinzip, die Logik des Kompromis- ausgeprägt, seitdem das Paulskirchenparlament ses, die elitäre Abschließung der Parlamentarierin- 1848/49 mit dem Auftrag zusammengetreten war, nen und Parlamentarier nach innen, ihre angeb- die Einheit der Nation herzustellen und die ers- liche Verwicklung in Korruptionsfälle, vor allem te gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden.17 aber der übermäßige Einfluss der Parteien und ih- Noch in der Nachkriegszeit ein Jahrhundert spä- rer Funktionäre, was im Vorwurf der Mittelmä- ter war diese Bedeutung überaus präsent: Die Be- ßigkeit und Spießbürgerlichkeit des Parlaments mühungen um den raschen Wiederaufbau der mündete und weite Kreise der Weimarer Öffent- Frankfurter Paulskirche zum Jubiläumsjahr 1948 lichkeit zur Sehnsucht nach einer genialen Füh- gingen primär auf ihren Symbolwert als Ort der rerpersönlichkeit motivierte.14 Zur Geschichte der nationalen Einheit zurück. Entsprechend sollte ersten deutschen parlamentarischen Demokratie das Gebäude fortan nicht mehr für parteipoliti- gehört diese öffentlich artikulierte Unzufrieden- sche Veranstaltungen genutzt werden.18 heit mit dem Parlamentarismus, ja die gezielte De- Zum Problem wurde, dass Parlamente in ih- legitimierung des Reichstags unauflöslich dazu. rer Praxis eher die Gespaltenheit der Nation vor- Als Erinnerungsort der Demokratiegeschichte ist führten als deren Einigkeit. Schon 1848/49 war die die Weimarer Republik nur in dieser Ambivalenz Ernüchterung groß gewesen, als das Paulskirchen- zu verstehen, und es sollte der Legitimität der jun- parlament offenkundig werden ließ, dass sich Li- gen Bundesrepublik nicht förderlich sein, dass sie berale, Demokraten und Monarchisten in vielen formal und personell in vielerlei Hinsicht an den Punkten nicht einigen konnten. Die Nationalver- Weimarer Parlamentarismus anschloss.15 sammlungen von 1848/49, ob in Frankfurt oder in den Landtagen, stehen in der deutschen Geschichte vor allem für die Entstehung von Fraktionen. Zeit- 13 Vgl. Daniel Siemens, Gegen den „gesinnungsschwachen gleich artikulierten Parlamentarier selbst das Ideal, Stimmzettelträger“: Emotion und Praxis im Wahlkampf der spä- ten Weimarer Republik, in: Hedwig Richter/Hubertus Buchstein gerade in außenpolitischen Fragen zur Einigkeit zu (Hrsg.), Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der finden. Anlässlich der anstehenden Abstimmung modernen Demokratie, Wiesbaden 2017, S. 215–236; Tobias über den Vertrag von Malmö, den Waffenstillstand Kaiser, Die Erfindung der „Bannmeile“ in der Weimarer Republik. zwischen Preußen und Dänemark im Schleswig- Polizeilicher und symbolischer Schutzraum mit widersprüchli- Holsteinischen Krieg, mahnte der linke Abgeord- cher Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5–6/2020, S. 262–279. nete Wilhelm Zimmermann 1848: „Meine Herren, 14 Vgl. Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschi- ne. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1918–1936, in: Wolfgang Hardtwig 16 Vgl. Aerts (Anm. 6), S. 31, S. 33. (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 17 Vgl. Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die 1918–1939, Göttingen 2005, 91–127. Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998. 15 Vgl. Marie-Luise Recker, Das Parlament in der westdeut- 18 Vgl. Shelley Rose, Place and Politics at the Frankfurt schen Kanzlerdemokratie, in: dies. (Anm. 5), S. 161–178, hier Paulskirche after 1945, in: Journal of Urban History 42/2016, S. 162 f.; Ullrich (Anm. 3). S. 145–161, hier S. 147–150. 08
Parlamentarismus APuZ wir haben uns oft in diesem Saale von dem Stand- politik als solche, sondern lediglich die erzwun- punkte der Parteien bekämpft. Wenn es aber einer gene Führungsrolle der SED darin führte in den Sache des Vaterlandes (…) gilt, wenn es sich um Landesparlamenten der SBZ/DDR zu Missmut, eine deutsche Angelegenheit, nicht um eine Partei- bevor sie 1952 schließlich aufgelöst wurden.21 und Meinungssache handelt, da muß der Kampf In Westdeutschland indes musste man lernen, der Parteiungen und auch die Rücksicht darauf auf- mit dem unumgänglichen Konfliktgeschehen in hören. Lassen Sie uns daher bei der Abstimmung der parlamentarischen Demokratie umzugehen. über diese Frage keine Rücksicht auf unsere Par- Die Resonanz der Presse auf die ersten Bundes- teistellung, sondern einzig Rücksicht auf die Sache tagswahlkämpfe verdeutlicht, als wie ehrrührig nehmen.“19 Ähnlich sollte auch Wilhelm II. nach der Parteienstreit empfunden wurde. Zänkische Beginn des Ersten Weltkriegs die Fraktionsvor- Parlamentarier schienen das Volk herabzuwür- stände der Reichstagsparteien zur Einheit aufrufen. digen, das sie vertreten wollten, und es war der Keine Parteien mehr zu kennen, sondern nur noch Rekurs auf die „Würde der Nation“, der dieses Deutsche – dieser berühmte Ausspruch des Kaisers parlamentskritische Ressentiment – neben vielen zum Zwecke der inneren Kriegsmobilisierung ver- anderen altbekannten – auch in der Bundesrepu- deutlicht, wie stark die politische Artikulation in- blik hervorbrachte.22 nergesellschaftlicher Unterschiede – und damit das Wie sehr der Bundestag unter den Bedingun- parlamentarische Sprechen – als Hemmschuh der gen der deutschen Teilung, des Kalten Kriegs und deutschen Nation galt. Vom Symbol der Nation der Furcht vor einem dritten Weltkrieg zum Sym- zum Symbol ihrer Spaltung – dies war in der Ge- bol der Nation erhoben wurde, das über wichti- schichte der deutschen Parlamentsvorstellungen ge nationale Fragen möglichst nicht streiten soll- ein schmaler Grat, und namentlich der Weimarer te, zeigte sich in den wichtigen außenpolitischen Reichstag litt unter dem Urteil, kein würdevolles Debatten der 1950er Jahre, die die Historikerin Abbild der „Volksgemeinschaft“ zu sein. Marie-Luise Recker als Höhepunkte der Bonner Nach der Machtübergabe an Hitler brannte Parlamentsgeschichte bezeichnet hat. Wenn aller- dann der Reichstag – und wurde in ein Einpar- dings die Fraktionsführer und aufstrebende Rede- teienparlament verwandelt, das primär die Regie- talente der Parteien Anlässe wie die Westverträge, rungserklärungen des „Führers“ entgegennahm. den Wehrbeitrag, den Souveränitätsgewinn oder Wenn ausgerechnet im „Dritten Reich“ die Di- die deutsch-französische Aussöhnung dazu nutz- rektübertragung der (wenigen) Reichstagssitzun- ten, sich hitzige Redeschlachten zu liefern, war das gen im Radio einsetzte, so diente dies vor allem für viele Wählerinnen und Wähler nur schwer zu der Demonstration, dass der Nationalsozialismus ertragen, zumal die ungewohnten Fernsehbilder „endlich“ Einmütigkeit im Reichstag hergestellt seit 1953 den emotionalen Stress noch erhöhten, hatte.20 Den konfliktbetonten Parlamentarismus indem sie den Bundestagsstreit quasi ins Wohn- mit seinen kontroversen Debatten, Zwischen- zimmer brachten. Da zu befürchten stand, dass und Ordnungsrufen, ja Tumulten, vermissten das Ansehen des Parlaments so noch weiter leiden nach Ende der NS-Diktatur nur wenige. In der könnte, entschieden Bundestagspräsident Eugen westdeutschen Presse und Publizistik sowie un- Gerstenmaier und der Ältestenrat des Bundestags ter Politikerinnen und Politikern in Ost wie West 1957, das Fernsehen gänzlich aus dem Plenarsaal bestand weitgehend Konsens, eine Rückkehr des Bundeshauses zu verbannen.23 zum Weimarer „Parteiengezänk“ unbedingt ver- meiden zu wollen. Nicht die sogenannte Block- 21 Vgl. Michael C. Bienert, Der Sozialismus als „Krönung der Demokratie“. Die SED, die sowjetische Besatzungsmacht und der Antiparlamentarismus in den Landtagen der SBZ/DDR, in: 19 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Recker/Schulz (Anm. 6), S. 71–95, hier S. 80–83, S. 86 ff. deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt 22 Vgl. Claudia C. Gatzka, Des Wahlvolks großer Auftritt. a. M., Bd. 3, hrsg. v. Franz Wigard, Leipzig 1848, 72. Sitzung in Wahlritual und demokratische Kultur in Italien und West- der Paulskirche, 5. 9. 1848, S. 1887. deutschland nach 1945, in: Comparativ 1/2013, S. 64–88, hier 20 Vgl. Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte S. 68–72; Benedikt Wintgens, Treibhaus Bonn. Die politische der Pseudo-Volksvertretung 1933–1945, Düsseldorf 1992, Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf 2019. S. 230; Benedikt Wintgens, Turn Your Radio on. Abgeordnete 23 Vgl. Recker (Anm. 15), S. 171 ff.; Vor 65 Jahren: Erste Live- und Medien in der Bundesrepublik Deutschland nach 1949, in: Übertragung einer Bundestagssitzung, 28. 9. 2018, w ww.bundes Adéla Gjuričová et al. (Hrsg.), Lebenswelten von Abgeordneten in tag.de/dokumente/textarchiv/2018/k w39-kalenderblatt-fernseh Europa 1860–1990, Düsseldorf 2014, S. 295–310, hier S. 305. liveuebertragung-570368. 09
APuZ 38/2020 Erst ab 1966 waren TV-Übertragungen von Ein Ausnahmeereignis deutscher Parlaments Arbeitssitzungen wieder zugelassen, und zu je- öffentlichkeit jährte sich dieses Jahr zum 30. Mal: ner Zeit zeichnete sich auch langsam ab, dass sich die Live-Übertragungen aller 38 Plenarsitzun- die Westdeutschen an die Konflikthaftigkeit ge- gen der 10. Volkskammer, des ersten frei gewähl- wöhnten, die die parlamentarische Demokratie ten und zugleich letzten Parlaments der DDR. Die mit sich brachte. Es war die paradox anmuten- Abgeordneten wollten die Ostdeutschen im Fern- de Folge der Außerparlamentarischen Opposi- sehen mit den Regeln des Parlamentarismus ver- tion, dass die 1970er Jahre in vielerlei Hinsicht traut machen, Transparenz demonstrieren und ver- eine Blütezeit der repräsentativen Demokratie lässliche Informationen liefern. Die Resonanz war markierten. Diese Nähe zwischen Parlament und groß, doch die Enttäuschung auch: Die unmittelba- Wählerinnen und Wählern lebte bezeichnender- re Konfrontation mit ungeübten Parlamentariern, weise von der Integration direktdemokratischer langwierigen Abstimmungen und leeren Stuhlrei- Ansätze in die politische Kommunikationsarbeit hen, wie sie in Arbeitsparlamenten unumgänglich an der Basis, in den Wahlkreisen, wo dann auch sind, war keine gute Werbung für die repräsentati- die Polarisierung abgefedert werden konnte, die ve Demokratie.28 Letztlich gehört zu den langlebi- dieses Jahrzehnt kennzeichnete.24 gen Herausforderungen des Parlamentarismus die Die Aufwertung des Bundestags spiegelte sich Erwartung, Sternstunden hervorzubringen. in einer gesteigerten massenmedialen Aufmerk- samkeit und Sichtbarkeit.25 Doch Antiparlamen- SCHLUSS tarismus blieb Begleiterscheinung der Demokra- tie und bündelte sich in den sozialen Bewegungen. Für die deutsche Demokratiegeschichte folgt aus Wenn der antiparlamentarische Furor der Grünen diesen Beobachtungen, dass sie das Parlament nur in den 1980er Jahren rasch verloren ging, bewies als umstrittene, aber durchaus langlebige und lern- dies einmal mehr die Integrationskraft parlamenta- fähige Institution thematisieren kann. Parlamen- rischer Verfahren. Dass die repräsentative Demo- tarismus als den Telos und den Wert der liberalen kratie imstande ist, gesellschaftliche Politisierungs- Demokratie anzusehen, griffe dabei zu kurz. Zu prozesse und soziokulturellen Wandel absorbieren den Erinnerungsorten der deutschen Demokra- zu können, zeigt die Geschichte der Bonner Repu- tiegeschichte gehören auch außerparlamentarische blik durchaus. In der Berliner Republik dominiert Bewegungen und direktdemokratische Praktiken – erneut die Kritik am Funktionsverlust des Bun- der Graswurzelgedanke der Pariser Kommune hat destags als Kontrollorgan der Regierung und vor die parlamentarische Demokratie immer wieder allem als Ort der rationalen Debatte. Die ausdif- ergänzt und ihr neue Impulse gegeben. ferenzierte Medienöffentlichkeit von heute kann An den Parlamentarismus als Errungenschaft jedoch nur bedingt als Ursache für einen vermeint- zu erinnern, heißt zudem, an die Heterogenität mo- lichen Formenwandel hin zum „Schaufensterpar- derner Gesellschaften und die Möglichkeit alter- lament“ gelten.26 Der Vorwurf der Fensterrede nierender Regierungsmehrheiten zu erinnern. Das und des Schaukampfs gehört von Anbeginn zum Mehrheitsprinzip, das die Gegner des Parlamen- modernen Parlamentarismus dazu, der ohne Öf- tarismus ablehnten, brachte immer auch Verlierer fentlichkeit nicht zu denken ist.27 und Unterlegene hervor, die allerdings nie dauer- haft in der Minderheit bleiben mussten. Es ist diese 24 Vgl. Claudia C. Gatzka, Die Demokratie der Wähler. Offenheit für Pluralität und für politische Farben- Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und wechsel, die es Parlamenten erlaubt, immer wieder der Bundesrepublik, Düsseldorf 2019, S. 461–491. auf den dynamischen Wandel moderner Gesell- 25 Vgl. Bösch (Anm. 10), S. 384 f. schaften zu reagieren. Darin liegen ihre Stärke und 26 Armin Burkhardt, Debattieren im Schaufenster. Zu Ge- brauch und Pervertierung einiger parlamentarischer Sprachfor- ihre Resilienz, gerade auch in Zeiten der Krise. men im Deutschen Bundestag, in: Schulz/Wirsching (Anm. 10), S. 301–331, hier S. 302 f. CLAUDIA C. GATZKA 27 Vgl. Andreas Schulz, Vom Volksredner zum Berufsagitator. ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Rednerideal und parlamentarische Redepraxis im 19. Jahrhun- Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste dert, in: ders./Wirsching (Anm. 10), S. 247–266. 28 Vgl. Bettina Tüffers, Die Volkskammer im Fernsehen. Strate- Geschichte Westeuropas an der Albert-Ludwigs- gien der Selbstinszenierung in der 10. Volkskammer der DDR, in: Universität Freiburg. Gjuričová et al. (Anm. 20), S. 312–315. claudia.gatzka@geschichte.uni-freiburg.de 10
Parlamentarismus APuZ PARLAMENTE IN DER KRISE? Der deutsche Parlamentarismus und die Corona-Pandemie Stefan Marschall Eine Krise rückt die Regierungen ins Zentrum des verloren haben.02 Für die Bundesrepublik werden politischen Geschehens – diese unterstellte Gesetz- der Exekutivföderalismus und die Privilegierung mäßigkeit ist in der Zeit der Corona-Pandemie von der Exekutiven im Mehrebenensystem für diese jedem Beobachter und jeder Beobachterin mindes- Entwicklung verantwortlich gemacht. Denn die tens einmal vermerkt worden. Da ist oft von der Regierungen, nicht die Parlamente, sind auf den „Stunde der Exekutive“ oder der „Zeit der Exe- unterschiedlichen Ebenen in den entscheiden- kutive“ die Rede gewesen. Wenn man von einem den Organen vertreten (zum Beispiel im Bundes- Nullsummenspiel politischer Entscheidungsmacht rat oder im Ministerrat der Europäischen Union) ausgeht, bedeutet die Krisendominanz der Exeku- und können über die Ebenen hinweg agieren. tive, dass es auch mindestens einen Verlierer ge- Darüber hinaus gibt es schon seit Jahrzehn- ben muss, der in einem solchen Zeitraum entspre- ten Entparlamentarisierungsdiskurse, festgemacht chend weniger Einfluss und Gestaltungspotenzial am Informationsungleichgewicht zwischen Exe- hat als sonst. In erster Linie sind es – so die gängi- kutive und Legislative. Generell drehen sich diese ge Einschätzung – die Legislativen, die Parlamen- Debatten darum, dass sich die „Auftragnehmer“, te, die unter dem krisenbedingten Machtzuwachs die Regierungen, gegenüber ihren „Auftragge- der Regierungen leiden. Gleichwohl gehört es zum bern“, den Parlamenten, zunehmend verselbst- Gesamtbild, dass auch die dritte, rechtsprechen- ständigt hätten – nicht zuletzt aufgrund eines In- de Gewalt – die Judikative – in Krisensituationen formationsvorsprungs seitens der Regierungen, an Macht verlieren kann. Und tatsächlich zeigt die durch den Parlamente strukturell ins Hintertref- Corona-Zeit, wie Gerichte über eine längere Stre- fen gerieten. Darüber hinaus ist kritisiert worden, cke hinweg zum einen nur bedingt arbeitsfähig und dass Regierungen zunehmend über Verordnungen zum anderen tendenziell zurückhaltend waren, Recht setzen würden.03 was ihre Einsprüche gegen die drastischen Regie- Ende der 1990er Jahre kulminierten diese rungsmaßnahmen anging. Entparlamentarisierungsdiskurse in der Wissen- Wenn die Parlamente in Zeiten der Pandemie schaft, aber auch in der politischen Öffentlichkeit in ihrer Bedeutung gefährdet werden, dann hat im Begriff des „post-parlamentarischen Zeital- dies eine besondere Note. Denn der Parlamenta- ters“04 – also einem Zeitalter, in dem Parlamen- rismus litt einigen Diagnosen zufolge bereits vor te keine zentrale Rolle mehr zu spielen scheinen. der Covid-19-Krise an „Vorerkrankungen“. Die Diese These hat sich bis heute gehalten. In dieser These von einer Schwächung der Parlamente, ei- Lesart stieß die Corona-Krise auf einen bereits ner Entparlamentarisierung, ist deutlich älter als vorgeschwächten Parlamentarismus – sowie auf die aktuelle Pandemie.01 Dies gilt auch für den die generelle Vermutung, dass Parlamente nur be- bundesdeutschen Parlamentarismus. Hier sind dingt krisenfest seien. Hat der Parlamentarismus bereits seit Langem Entwicklungen in der Dis- in Deutschland unter der Krise gelitten? kussion, die zu einem parlamentarischen Funk- tions- und Machtverlust geführt haben sollen – ZUR KRISENFESTIGKEIT etwa die Europäisierung der deutschen Politik. VON PARLAMENTEN In der Entparlamentarisierungsdebatte hat auch stets eine Rolle gespielt, dass Parlamente im Lau- Tatsächlich spricht zunächst einiges dafür, dass fe der Zeit zugunsten der Exekutiven an Macht Regierungen üblicherweise zu den Krisengewin- 11
APuZ 38/2020 nern und Parlamente zu den Verlierern zählen. spielsweise in Absprache zwischen Regierungs- Eine Krise, gekennzeichnet durch ihr spontanes chefs und einzelnen Ressortverantwortlichen. In Auftreten, ihre Vehemenz und Dynamik, erfor- den Ministerien sind überdies „Krisenstabsszena- dert zügiges Handeln und schnelle Entschei- rien“ üblich. Die Routinen sehen Verfahren vor, dungen. Für eine unmittelbare Krisenreaktion die zwar nach geregelten Abläufen vonstattenge- erscheinen parlamentarische Verfahren auf den hen, aber auch Zügigkeit erlauben. Zum Beispiel ersten Blick zu behäbig. Parlamente benötigen, spricht die Gemeinsame Geschäftsordnung der so die Wahrnehmung, für ihre Willensbildung Bundesministerien ausdrücklich die Behandlung und Beschlussfassung Zeit – mehr Zeit, als in ei- von „besonders dringlichen Sachen“ an.05 ner akuten Bedrohungslage gegeben ist. Denn In Sachen „Exekutivvorteil“ in einer Krise zum parlamentarischen Entscheidungsverfahren liegt die Analogie zum Verteidigungsfall auf der gehören üblicherweise auch Phasen der intensi- Hand. Auch in der Situation eines militärischen ven Beratung, Verhandlung und Diskussion – vor Angriffs auf das Bundesgebiet wäre eine schnel- allem im Plenum und in den Fachausschüssen. le Reaktion erforderlich. Nicht zufällig gehört Gerade ihre deliberative Qualität vor, aber auch der Bereich der militärischen Sicherheitspolitik hinter verschlossenen Türen kennzeichnet Par- deswegen zum traditionellen Vorrecht der Exe- lamente und grenzt sie von der Arbeitsweise der kutive, wenngleich Parlamente nicht unbeteiligt Regierungen ab. sind.06 Aber auch hier gilt, dass für eine rasche Zudem ist in parlamentarischen Verfahren typi- und effektive Reaktion die Regierung – und we- scherweise eine große Zahl an Akteuren einzubin- niger das Parlament – infrage kommt. den: Wenngleich die parlamentarische Praxis – bei- Gleichwohl, dies zeigen insbesondere die Vor- spielsweise des Bundestages – auch oligarchische kehrungen für den Verteidigungsfall in Deutsch- Strukturen etabliert hat (zum Beispiel die Privi- land, haben Parlamente Mechanismen entwickelt, legierung bestimmter Funktionsträger wie Frak- um in einem Ausnahmezustand, wenn die Lage tionsvorsitzende oder Mitglieder im Ältestenrat ein Zusammentreten des Bundestages nicht er- und Präsidium), bleibt letzten Endes jede und je- laubt, handlungs- und entscheidungsfähig zu der Abgeordnete gleichermaßen wichtig und darf bleiben. So sieht das Grundgesetz für den Fall nicht ausgeschlossen werden. Im Falle des Bun- des militärischen Angriffs auf das Bundesgebiet destages handelt es sich um mehrere hundert Per- die Einberufung des Gemeinsamen Ausschus- sonen. Damit die Abgeordneten beschließen kön- ses vor, falls der Bundestag nicht zusammentre- nen, müssen sie einberufen werden; üblicherweise ten kann. Jener besteht aus 48 Mitgliedern (zwei reisen sie hierfür aus den Wahlkreisen an, die über Drittel Bundestagsabgeordnete und ein Drittel das gesamte Bundesgebiet verteilt sind. Mitglieder des Bundesrates), wobei die Zusam- Demgegenüber wirken Regierungen deutlich mensetzung die Stärkeverhältnisse der Fraktio- agiler – zumindest, wenn man die Regierungsspit- nen berücksichtigt und über die Bundesratsmit- ze in den Blick nimmt – und das schon aufgrund glieder alle 16 Länder vertreten sind. Gemäß der ihrer geringeren Personenzahl sowie ihrer stärker Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschus- hierarchischen Strukturen. In kleineren Kreisen ses haben die Mitglieder eine Präsenzpflicht und lassen sich Entscheidungen schneller treffen, bei- müssen jederzeit für den Bundestagspräsidenten erreichbar sein.07 Der Gemeinsame Ausschuss 01 Vgl. Paul Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie?, kann anstelle des gesamten Bundestages den Ver- in: André Kaiser/Thomas Zittel (Hrsg.), Demokratietheorie und teidigungsfall ausrufen. In Kriegszeiten ist die Demokratieentwicklung, Wiesbaden 2004, S. 359–376. Bundesregierung diesem „Notparlament“ gegen- 02 Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarismus. Eine Einführung, über rechenschaftspflichtig. Baden-Baden 20183, S. 195 ff. 03 Vgl. Everhard Holtmann/Werner J. Patzelt (Hrsg.), Kampf der Gewalten? Parlamentarische Regierungskontrolle – gouver- 05 Vgl. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien nementale Parlamentskontrolle, Theorie und Empirie, Wiesbaden (GGO), Anlage 1 zu § 13 Absatz 2 GGO, I. 3, II. 3. 2004. 06 Vgl. Patrick A. Mello/Dirk Peters (Hrsg.), Parliaments in Se- 04 Vgl. Svein Andersen/Tom Burns, The European Union and curity Policy: Involvement, Politicisation, and Influence, in: British the Erosion of Parliamentary Democracy: A Study of Post- Journal of Politics and International Relations 1/2018, S. 3–18. Parliamentary Governance, in: Svein Andersen/Kjell Eliassen 07 Vgl. Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss, (Hrsg.),The European Union: How Democratic Is It?, London Bundesgesetzblatt (BGBl.) Jg. 1969 Teil I Nr. 74, 13. 8. 1969, zuletzt 1996, S. 227–252. geändert am 20. 7. 1993, BGBl. Jg. 1993 Teil I Nr. 45, 19. 8. 1993. 12
Parlamentarismus APuZ Aber auch im täglichen Geschäft erlaubt das ENTSCHEIDUNGSMACHT Parlamentsrecht die Beschleunigung von Verfah- DER EXEKUTIVE ren unter bestimmten Bedingungen. Bei Eilbe- dürftigkeit können Phasen des Beratungsprozes- Wie hat sich der Parlamentarismus in der Covid- ses faktisch übersprungen werden. Das Parlament 19-Krise bewährt? Hierüber ein endgültiges Ur- ist Herr seiner Geschäftsordnung und kann die- teil zu fällen, ist sicher noch zu früh. Dennoch se gegebenenfalls außer Kraft setzen.08 Ein wei- zeichnen sich erste Befunde und Lehren ab. Zu- teres Modell zur Einbindung von Parlamenten nächst zu den Entscheidungsprozessen am An- bei dringlichen Entscheidungen findet sich in den fang der Krise, also in der „Stunde der Exeku- Bestimmungen für die Entsendung von Soldatin- tive“: Als Grundlage für die Maßnahmen zur nen und Soldaten in militärische Einsätze, die im Bekämpfung der Pandemie kam ein Gesetz ins sogenannten Parlamentsbeteiligungsgesetz fest- Spiel, das 2001 in Kraft getreten war und seitdem gelegt sind. Wenn Gefahr im Verzug ist, kann die nicht viel Aufmerksamkeit erhalten hatte: das In- Regierung Truppen entsenden, muss den Bun- fektionsschutzgesetz (IfSG).10 Neben der Melde- destag jedoch schnellstmöglich um nachträgliche pflichtigkeit von Krankheiten wird in dem Ge- Billigung bitten.09 Dieser kann die Truppenent- setz die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten sendung wieder rückgängig machen. geregelt – inklusive der Schutzmaßnahmen, die Über die reglementierten Verfahren hinaus ergriffen werden können, um die Ausbreitung können Parlamente auf informelle Einflussmög- von Infektionskrankheiten einzudämmen. lichkeiten und Kommunikationskanäle zurück- Tatsächlich gibt dieses Gesetz der Bundesre- greifen. Denn ein großer Teil parlamentarischer gierung umfassende Möglichkeiten an die Hand, Arbeit läuft in der engen – und mitunter jenseits im Falle einer Pandemie Verordnungen zu er- der ausdrücklich geregelten Prozeduren stattfin- lassen; relevant ist dabei insbesondere der Para- denden – Zusammenarbeit insbesondere von Re- graf 28, der eventuelle drastische Maßnahmen gierung und Regierungsmehrheit ab. aufführt. Das IfSG weist den „zuständigen Be- Insofern sind Krisen für Parlamente zwar hörden“ das Recht und die Kompetenz zu, tätig substanzielle Herausforderungen und potenzi- zu werden. Der Vollzug des Bundesgesetzes ob- ell mit dem Verlust von Teilen ihrer Funktions- liegt den Ländern und hier explizit den Landesre- tüchtigkeit verbunden. Hier ist jedoch ein dif- gierungen, die gemäß Paragraf 54 durch Rechts- ferenzierter Blick erforderlich, denn bestimmte verordnungen bestimmen, welche ihrer Behörden parlamentarische Grundfunktionen können auch zuständig sind. in Krisenzeiten weiterhin gewährleistet werden. Frühzeitig in der Krise wurde die Verord- Zudem können Parlamente – vielleicht nochmals nungsermächtigung des IfSG reformiert: In der besonders in Ausnahmezeiten – auf informelle Novellierung Ende März 2020 wurde in Para- Ressourcen zurückgreifen, die einen Einflussver- graf 5 festgelegt, dass der Deutsche Bundestag lust teilweise kompensieren könnten. Gleichwohl das Recht habe, „eine epidemische Lage von na- bleibt eine Krise ein Stresstest für die parlamen- tionaler Tragweite“ festzustellen. Gleichermaßen tarische Demokratie. Dabei ist jede Krise anders: habe er das Recht, diese Lage aufzuheben, wenn Ein Verteidigungsfall unterscheidet sich von einer die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht Naturkatastrophe, eine Pandemie von einem Ter- mehr gegeben seien.11 Insofern liegt zwar die roranschlag. Die spezifischen Krisenmerkmale grundlegende Entscheidung, die Feststellung des haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie pandemischen Ausnahmezustands, beim Parla- das Parlament herausgefordert wird – und ob und ment. Wenn es jedoch um konkrete Maßnahmen wie es auf die Krise reagieren kann. geht, übernehmen die Regierungen auf Bundes- und Landesebene. Hierbei werden weitreichen- 08 Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarische Verfahren/Ge- de Kompetenzen insbesondere auf den Bundes- schäftsordnung, in: Uwe Andersen et al. (Hrsg.), Handwörter- buch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 20208, i. E. 10 Vgl. Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infek- 09 Vgl. Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der tionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz), Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Aus- BGBl. Jg. 2000 Teil I Nr. 33, 25. 7. 2000, zuletzt geändert am land (Parlamentsbeteiligungsgesetz), § 5, BGBl. Jg. 2005 Teil I 19. 6. 2020, BGBl. Jg. 2020 Teil I Nr. 30, 29. 6. 2020. Nr. 17, 23. 3. 2020. 11 BGBl. Jg. 2020 Teil I Nr. 14, 27. 3. 2020. 13
APuZ 38/2020 gesundheitsminister übertragen – und dies nur tions- und Forumsfunktion, hat zu Beginn der auf der Grundlage eines einfachen Gesetzes, Pandemie deutlich gelitten – ebenso die öffent- nicht durch Bestimmungen im Grundgesetz. In- liche Kontrollfunktion.13 So stellte sich frühzei- sofern hat die Änderung des IfSG nicht zu einer tig heraus, dass parlamentarische Sitzungen und Parlamentarisierung, sondern vielmehr zu einer Versammlungen in der ersten Krisenphase nicht Schwächung der parlamentarischen Beteiligung mehr wie gewohnt stattfinden konnten. Insbe- geführt.12 sondere öffentliche Ausschusssitzungen des Bun- Die Krisenreaktion beschränkte sich freilich destages mussten in den ersten Pandemiewochen nicht allein auf die epidemiologischen Maßnah- abgesagt werden, desgleichen wurde die Befra- men wie die Einschränkung von Kontakten, wel- gung der Bundeskanzlerin durch die Abgeord- che mit massiven Grundrechtseingriffen verbun- neten von der Tagesordnung genommen. Die Be- den waren. Ein weiteres Maßnahmenpaket betraf handlung diverser Themen wurde verschoben, die Frage, wie die Folgen der Krise zu bewältigen Plenarsitzungen wurden verkürzt – und damit sind. Bei der Verabschiedung der großen Hilfspa- auch die parlamentarische Debatte und die Rede- kete zur Stabilisierung der Wirtschaft, aber auch zeit von Abgeordneten.14 bei der Anpassung des Kurzarbeitergeldes, war Der Bundestag hat jedoch auf die Schwierig- das Parlament regulär eingebunden – betrafen ei- keit, aus Gründen des Infektionsschutzes nicht nige dieser Entscheidungen doch mit dem Bud- alle Abgeordneten in einem Raum versammeln getrecht eine Kernkompetenz des Parlaments. zu können, unmittelbar reagiert – durch eine Än- Gleichwohl fanden die Verhandlungen bereits derung der Geschäftsordnung zur „besonderen unter veränderten Rahmenbedingungen parla- Anwendung (…) aufgrund der allgemeinen Be- mentarischer Arbeit und unter einem Zeitdruck einträchtigung durch Covid-19“. So wurde am statt, der eine eingehende Beratung unmöglich 25. März ein neuer Paragraf 126a eingefügt.15 machte: Das montags vom Kabinett beschlosse- Diese Regelung wurde zunächst bis zum 30. Sep- ne Hilfspaket wurde bis zum folgenden Freitag tember 2020 befristet. Demnach wurde das Parla- durch das parlamentarische Verfahren plus Ab- ment auch dann als beschlussfähig erklärt, wenn stimmung im Bundesrat gebracht. Üblicherwei- nur mehr als ein Viertel der Mitglieder des Bun- se nimmt ein solcher Prozess mehrere Wochen, destages anwesend ist. In „normalen“ Zeiten wenn nicht sogar Monate in Anspruch. muss mindestens die Hälfte zusammenkommen. Für Ausschusssitzungen wurde ein analoges An- PARLAMENT AUF ABSTAND wesenheitsquorum festgelegt. Ein ausdrückliches Verbot der Teilnahme von Mitgliedern des Bun- Mit Blick auf die Krisenreaktion lässt sich zu- destages an Sitzungen war damit gleichwohl nicht nächst festhalten: Grundlegende, „wesentliche“ verbunden, allerdings konnten bereits aufgrund Entscheidungen wurden von den Parlamenten der Abstandsregeln nicht alle Abgeordneten im (mit-)getroffen. Von einer generellen Umgehung Plenarsaal sein. parlamentarischer Körperschaften kann keine Darüber hinaus wurde die Möglichkeit der re- Rede sein. Dennoch haben Parlamente, ihre Rolle gulären Teilnahme an den Beratungen der Aus- und mit ihnen bestimmte Prinzipien parlamenta- schüsse über elektronische Kommunikationsmittel rischer Demokratie unter der Krise gelitten. Die eingeräumt, sodass rein virtuelle Ausschusssitzun- pandemische Situation hat insbesondere die Kri- gen möglich wurden. Für Abstimmungen und Be- senanfälligkeit regulärer parlamentarischer All- schlussfassungen durften ebenso elektronische tagsarbeit vor Augen geführt. Das, was parlamen- Kommunikationsmittel genutzt werden. Schließ- tarische Arbeit in weiten Bereichen ausmacht, war nicht mehr ohne Weiteres möglich. Parlamente 13 Vgl. Daniel Hildebrand, Aushöhlung des Parlamentaris- haben sich in einigen ihrer zentralen Arbeitswei- mus durch die Corona-Pandemie? Ein Zwischenruf zur Lage in sen als verletzlich erwiesen. Deutschland und Großbritannien, in: Zeitschrift für Parlaments- Insbesondere die Idee des diskutierenden und fragen 2/2020, S. 474–482. 14 Vgl. Robert Roßmann, Parlament der leeren Sitze, abwägenden Parlaments, also die Kommunika- 20. 3. 2020, www.sueddeutsche.de/1.4852388. 15 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für 12 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz/Florian Meinel, Unbegrenzte Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Bundestags- Ermächtigung?, 26. 3. 2020, www.faz.net/-16696509. drucksache 19/18126, 25. 3. 2020. 14
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