SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT - DIE ZUKUNFT DER AUTOR: JAN BERGER DIE STUDIE ENTSTAND UNTER DER SCHIRMHERRSCHAFT VON MDB DR. THOMAS SATTELBERGER
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2b AHEAD Zukunftsstudie DIE ZUKUNFT DER SOZIALEN Mai 2021 MARKTWIRTSCHAFT Autor: Jan Berger Die Studie entstand unter der Schirmherrschaft von MdB Dr. Thomas Sattelberger
Vorwort Jan Berger 3 Management Summary 5 Wirtschaftliche Treiber für Veränderung 6 INHALTSANGABE Die Zukunft von Arbeit und die Arbeit der Zukunft 8 Zivilgesellschaft 9 Szenarien gesellschaftlicher Entwicklung 10 Fazit 12 Ergebnisse 13 Warum der Ansatz der Zukunftsforschung? 14 Leitplanken der „Sozialen Marktwirtschaft“ seit 1945 15 Die wesentlichen Zukunftsentwicklungen 17 USA vs. China: Ein neuer Kalter Krieg 18 Treiber einer zukünftigen Wirtschaft 21 Postwachstumsökonomie 25 Die Zukunft von Arbeit 28 Zukünftige Tätigkeiten 28 Neue Organisationsmodelle 29 SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT „Caring Companies“ und die Gig Economy 31 „New Work“ 32 Exkurse in die Zivilgesellschaft 33 Diversität, Chancengleichheit und Diskriminierung 35 Szenarien 37 Szenario 1: Soziale Marktwirtschaft 1.0 40 Ausgangssituation 41 Wirtschaft 2035 41 Arbeit 2035 44 Zivilgesellschaft 2035 45 Szenario 2: Humane Marktwirtschaft 47 Ausgangssituation 48 Wirtschaft 2035 48 Arbeit 2035 50 Zivilgesellschaft 2035 52 Szenario 3: Postwachstums-Gemeinwohlökonomie 54 Ausgangssituation 55 Wirtschaft 2035 55 Arbeit 2035 58 Zivilgesellschaft 2035 58 Nachwort 60 Experten 61 Impressum 70 2
Vorwort Jan Berger malität“ akzeptiert wurde – führten wir ein Jahr später diese Umfrage mit den identischen Fragen Liebe Leserin, lieber Leser, noch einmal durch. An ihr nahmen 260 Akteure VORWORT aus der Wirtschaft im DACH-Raum teil. Auch Die vorliegende Studie zur Zukunft der sozialen diese Ergebnisse flossen in die Studie ein. Marktwirtschaft ist das Ergebnis von nahezu 18 Monaten Arbeit. Nach der Veröffentlichung unse- rer Zukunftsstudie „Human-Digitale Teams“1 im Jahr 2019 erhielten wir viele Nachfragen, wie sich neue Technologien, veränderte Geschäftsmodelle und neue Arbeitsmodelle langfristig auf unsere Gesellschaft auswirken würden. Ende 2019 traf ich mich mit Dr. Thomas Sattelberger in seinem Berliner Bundestagsabgeordnetenbüro, und ihm brannten die gleichen Fragen unter den Nägeln. Wir waren uns schnell einig, dass die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft ein hervorragendes Thema für eine Zukunftsstudie wäre. Thomas bat mir an, die Schirmherrschaft über dieses Projekt zu übernehmen – und über ein Jahr tauschten wir uns eng, intensiv und leidenschaftlich über die Er- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT gebnisse unserer Forschung, Methoden und Sze- narien aus. Während das FORESIGHT-Team von 2b AHE- AD im Januar und Februar 2020 das Forschungs- design erarbeitete, erste Workshops abhielt und Vorinterviews führte, mischte sich das Corona-Vi- rus erst allmählich und dann mit voller Wucht in unsere Gesellschaft. Und alle Fragen zur Zukunft von Wirtschaft, Arbeit und Zivilgesellschaft, die unter der Oberfläche schlummerten, traten macht- voll hervor und stellen bis heute unsere Konzepte zukünftigen Zusammenlebens auf den Prüfstand. Zwischen Frühjahr und Herbst führten wir 26 qualitative Tiefeninterviews mit Akteuren aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft, mit Wissen- Im September letzten Jahres führten wir eine schaftlern, Aktivisten, Managern, Militärs, Poli- zweitägige Session unseres ThinkTanks „A World tikern, Beamten und Philosophen – überwiegend Beyond HR“ in Berlin durch, auf der wir, Dr. Sat- in Deutschland, aber auch in Österreich, den USA telberger und sechs Experten, die uns für die Stu- und China. Die Auswertung ihrer Aussagen präg- die Tiefeninterviews gaben, zusammen mit einem te die Studie maßgeblich. Im April 2020 befragten weiteren Dutzend Teilnehmern erste Ergebnisse wir 570 Wirtschaftslenker aus Deutschland Öster- der Studie besprachen, an Zukunftsszenarien ar- reich und der Schweiz zu ihrer Einschätzung der beiteten und Thesen zur Zukunft von Wirtschaft, Chancen und Risiken, die die Corona-Krise mit Arbeit und Zivilgesellschaft entwarfen. Die Er- sich bringt. Die Ergebnisse dieser Befragung ver- gebnisse dieser Session haben stark die finalen öffentlichten wir als Analyse „Womit unsere Ge- Ausarbeitung dieser Studie geprägt. sellschaften ringen“2 . Da die Aussagen unter der enormen Wucht des ersten Lockdowns entstanden – ein Ereignis, das für alle damals nicht als „Nor- ________________________________________________________________________________________________ 1 Julia Lampert: Zukunftsstudie: Human-Digitale Teams, https://www.thinktank-universe.com/down- loads/studien/studie-human-digitale-teams/ 2 Jan Berger, Sophia Blochowitz, Carina Stöttner: Trendanalyse: Womit unsere Gesellschaften ringen, https://www.thinktank-universe.com/downloads/zukunftsanalysen/trendanalyse-womit-unsere-gesell- schaften-ringen/ 3
Allen Mitwirkenden an der Studie, den 26 Mit- sie jetzt vorliegt, nicht entstanden wäre. Die Zu- gliedern des Expert Panels, die uns unentgeltlich sammenarbeit mit ihm war mir persönlich eine ihre Zeit und ihr Wissen gaben, den 570 und 260 Freude. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft im VORWORT Teilnehmern unserer Umfragen und den Teilneh- intensiven Austausch bleiben werden. mern der zweitägigen ThinkTank-Session gilt unser Dank und unsere Anerkennung für die Be- Ein letztes Wort zur Sprachwahl: Als wir im 2b reicherung dieses Vorhabens. AHEAD FORESIGHT-Team im letzten Jahr dazu übergingen, unsere Studien und Analysen zu gen- Auch wenn ich die Autorenschaft dieser Studie dern, stieß dies auf Widerspruch und Zustimmung übernommen habe, ist sie das Ergebnis einer in unserer Leserschaft. Über die Sinnhaftigkeit Team-Anstrengung. Ich möchte mich herzlich be- des Genderns von Sprache kann man endlos de- danken bei meinen Kolleginnen und Kollegen aus battieren. Persönlich erachte ich es in vielen Fäl- dem FORESIGHT-Team von 2b AHEAD: Rüdi- len als sinnvoll. Aber weil nicht das Gendern oder ger Pfeiffer für das Führen der ersten Interviews Nicht-Gendern im Mittelpunkt der Diskussionen und die Geduld, am Design der Studie festzuhal- über diese Studie stehen soll, sondern deren Inhal- ten, als es schien, dass Corona alles durcheinan- te über Zukünfte, in die unsere Gesellschaft gehen derwirbeln würde. Julia Lampert für das Führen kann, habe ich im Text darauf verzichtet und be- der zweiten Hälfte der Interviews, die inhaltliche nutze das traditionelle Maskulinum. Wo der an- Bereicherung zur Postwachstums- und Gemein- scheinend gegenderte Begriff „Mitarbeitende“ im wohlökonomie und die kollegialen und produk- Text auftaucht, bezieht er sich nicht auf die Diver- tiven Streitgespräche zur Ausgestaltung der Sze- sität der Geschlechter, sondern die Diversität der SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT narien. Carina Stöttner und Sophia Blochowitz, Verhältnisse der Menschen in der Gig Economy die auch Interviews führten, vor allem aber bei zu Unternehmen (festangestellte Mitarbeiter, frei- der Auswertung der ersten Umfrage unter Wirt- beruflich tätige Menschen, Click- und Crowdwor- schaftslenkern halfen, die sich oft selbst wider- ker). sprechenden Aussagen der Teilnehmer einzuord- nen. Jan David Ott, der Ordnung ins Chaos der Nun wünsche ich Ihnen aber viel Spaß bei der Gedanken und Aussagen brachte und ein Reali- Lektüre! tätsanker war, wenn meine Appetite den Umfang der Studie zu sprengen drohten. Katharina Fi- scher, die die zweite Umfrage unter Wirtschafts- lenkern im Frühjahr dieses Jahres auswertete und mit den Ergebnissen des letzten Jahres verglich. Ihr Und James Jeremy Beckers, der das ganze Projekt Jan Berger als Grafiker und Producer begleitete und nie die Nerven verlor, wenn Dinge nicht nach Plan liefen (viel zu oft!). Ich möchte mich besonders bei den Experten be- danken, die vor und nach den Befragungen immer wieder zur Verfügung für Nachfragen zu Metho- den und Inhalten bereitstanden, Zwischenergeb- nisse kommentierten und manchmal noch spät- abends ans Telefon gingen, wenn ich ein Sparring benötigte: Ewald Böhlke, Martin Hartmann und Prof. Lothar Abicht. Ein ganz besonderer Dank gilt unserem Schirm- herren Dr. Thomas Sattelberger, ohne dessen En- gagement und Leidenschaft diese Studie, so wie 4
Die vorliegende Studie „Die Zukunft der sozia- Ziel dieser Studie ist es, einen Beitrag zu wirt- len Marktwirtschaft“ entstand von Frühjahr 2020 schafts- und gesellschaftspolitischen Debatten bis Frühjahr 2021 unter der Schirmherrschaft von über die langfristige Ausrichtung der Bundesrepu- MANAGEMENT SUMMERY MdB Dr. Thomas Sattelberger. Sie untersucht blik und der Europäischen Union zu leisten und in Treiber für Veränderungen in dem Gemeinwesen, Erwägung zu ziehen, ob, und wenn ja, wie, auch das wir in Deutschland seit Jahrzehnten die „So- in Zukunft eine Verbindung zwischen Markt- ziale Marktwirtschaft“ nennen. Und sie zeichnet freiheit und sozialem Ausgleich gesellschaftlich mögliche Entwicklungsszenarien, die aus dem möglich, erstrebenswert und gestaltbar ist. heutigen Gemeinwesen bis zum Jahr 2035 entste- hen können. Für diese Studie befragten wir ein Panel von 26 Experten aus Wirtschaft, Politik, Forschung und Zivilgesellschaft aus Deutschland, Österreich, China und den USA in qualitativen Tiefeninter- views. Im Weiteren erhoben wir in zwei qualita- tiven Befragungen im April 2020 und März 2021 Aussagen zu Treibern für Veränderung, die aus der Corona-Pandemie hervorgingen und an der jeweils 567 und 253 Akteure aus der Wirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz teilnah- men. Im September 2020 trafen sich ausgewählte Experten mit 2b AHEAD und Dr. Sattelberger in SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Berlin, um Thesen und Szenarien einer kommen- den sozialen Marktwirtschaft zu erörtern. Wirtschaftliche Treiber für Ver- änderung Stand- wie Spielbein der deutschen Wirtschaft fußten jahrzehntelang darauf, dass ihre ingeni- eursgetriebenen Schlüsselindustrien wie Automo- bilproduktion, Maschinen- und Anlagenbau, Stahl und Chemie Technologien hervorbrachte, die ihre Abnehmer in einer technologischen und Service- Abhängigkeit hielten. Nicht nur global agierende Großunternehmen zählten zu den Gewinnern die- ses Systems, sondern auch die weltweit einzig- Die Studie verwendet den Begriff der sozialen artige Dichte typischerweise familiengeführter Marktwirtschaft, wie er von Alfred Müller-Arm- „Hidden Champions“ in Deutschland. ack geprägt wurde, als ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild, dessen Sinn es ist, Doch der internationale Siegeszug der Software- „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem Konzerne seit der Mitte der 90er-Jahre führte zu des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Dieses einem Paradigmenwechsel. Der Wert physischer Leitbild erfuhr im Laufe seiner Existenz eine Rei- Güter und Produkte wurde und wird auf absehbare he von Anpassungen geprägt durch globale wie Zeit nachrangig zum Wert der auf Daten fußenden innenpolitische Veränderungen (Wirtschaftswun- Dienstleistungen dastehen. Das Geschäftsmodell der, Globalisierung, Deutsche Einheit, Agenda der Schwergewichte der deutschen Wirtschaft – 2010), die ausreichend in anderen Quellen doku- die Produktion und der Verkauf von Stückzahlen mentiert sind. (Exportweltmeister bei Automobilen, Maschinen, Anlagen usw.) – gerät ins Hintertreffen gegenüber der Bereitstellung und Monetarisierung von Kon- 6
zepten wie Mobilität, Kommunikation, Gesund- digitalen Services – cyberphysische Systeme –, heit usw. In zunehmendem Maße steht die deut- oder Biotech den nächsten Innovationsschub und sche Wirtschaft auf einem wackeligen Standbein damit auch nachhaltiges globales Wirtschafts- MANAGEMENT SUMMERY und läuft Gefahr, kein eigenes Spielbein zu entwi- wachstum auslöst. Die Vorzeichen dafür sind gut. ckeln. Klassische Industrien werden gezwungen, Das derzeit größte Menschheitsproblem – der Kli- im Eiltempo eigene zukunftsfähige Dienstleis- mawandel – benötigt Lösungen insbesondere im tungskonzepte und wirtschaftliche Ökosysteme Bereich klassischer Industrien. Die Industriepro- zu entwickeln, um weiterhin global in Spitzenrei- duktion ist weltweit für 31% der Treibhausgas- terpositionen agieren zu können. Defensiver Ver- ausstöße verantwortlich im Vergleich zur Ener- teidigungskampf und späte Aufholjagd werden gieerzeugung (27%), Landwirtschaft (19%) und diese Industrien prägen. Transportwesen (16%). Für Energieerzeugung und Transportwesen gibt es heute schon global Allerdings stößt auch das System „Software Eats skalierbare industrielle klimaneutrale Verfahren, the World“ an seine Grenzen, was wiederum gro- deren Preise mit zunehmender Massenfertigung ße Chancen für neue, heranwachsende, aber auch sinken werden. Vergleichbare Ansätze in der In- alte europäische Industrien bergen kann. Pay- dustrieproduktion und Landwirtschaft existieren Pal-Gründer und Venture Capitalist Peter Thiel noch nicht. Aber der politische Wille, den Durch- brachte in einem vielbeachteten Interview mit der bruch solcher Technologien zu forcieren, exis- Neuen Zürcher Zeitung zum Ausdruck, „dass die tiert. Das eröffnet Spielräume für die deutsche wirklich guten, wirklich disruptiven Ideen [in der Wirtschaft auch und gerade in Greentech und Software-Industrie] weitgehend ausgeschöpft“ Cleantech. SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT sind3 . Die große Frage ist also, ob „Hardtech“, also die Kombination von physischen Gütern und Der Wunsch nach einem langen und gesunden Die Wirtschaft in Deutschland und der EU hat Leben befeuert die Anwendung von Lebenswis- gute Voraussetzungen, diese Wachstumsfelder senschaften, deren exemplarische Vertreter in der und die darum entstehenden globalen Ökosyste- deutschen Wirtschaft BioNtech und Curevac sind. me langfristig und nachhaltig zu prägen. Und Technologien wie Quantencomputing und Distributed Ledgers (Blockchain) haben das Po- Wirtschaftspolitisch erfährt jedoch ein zweiter tenzial, Geburtshelfer für neue globale Handels- Aspekt zunehmend an Bedeutung – das System und Wirtschaftssysteme zu sein. einer aufs Gemeinwohl ausgerichteten „Post- Wachstums-Ökonomie“. Dieses System stellt das Paradigma eines fortwährenden Wachstums ________________________________________________________________________________________________ 3 https://www.nzz.ch/feuilleton/peter-thiel-donald-trump-handelt-fuer-mich-zu-wenig-disruptiv- ld.1471818 7
grundsätzlich in Frage und setzt ihm ein System entgegen, das auf fünf Säulen setzt: Suffizienz (möglichst geringer Ressourcenverbrauch), Sub- MANAGEMENT SUMMERY sistenz (Selbsterhalt), Regionalwirtschaft, mate- rielle Nullsummenspiele als Produktionsmodus (neue Dinge sollen aus alten Dingen entstehen) und institutionelle Innovation (Regelwerk, das den Übergang in dieses System flankiert). Wenn vor einem Jahrzehnt diese Gedankenspiele noch leicht als „Ökosozialismus“ abgetan werden konnten, zeigen unsere Erhebungen, dass Ele- mente dieses Wirtschaftsprogramms unter dem ersten Schock der Corona-Pandemie bis zu 60% Zustimmung in Wirtschaftskreisen erfuhren. Ein Jahr später stabilisierten sich diese Werte zwi- schen 15 und 25% unter Managern der Wirtschaft im DACH-Raum. Die Szenarien dieser Studie erörtern die Konsequenzen einer regionalen Per- spektive auf die Wirtschaft im Gegensatz zu einer globalen in den Wachstumsszenarien. SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Die Zukunft von Arbeit und die Arbeit der Zukunft Die Organisation von Arbeit folgt den dominie- renden Produktionsmodellen. Die Industriepro- duktion wurde über ein Jahrhundert lang auf den Grundlagen des von Frederick Winslow Taylors beschriebenen „wissenschaftlichen Manage- ments“ betrieben. Als Organisationsprinzip durch- drang es erfolgreich in vielfältigen Ausprägungen alle Bereiche der Wirtschaft, aber auch gesell- schaftliche Bereiche wie das Gesundheitswesen, die Bildung und sogar die Politik. Als Taylor seine Prinzipien niederlegte, war jedoch das Fließband der Taktgeber wirtschaftlichen Fortschritts. Die Zukunft der Arbeit wird jedoch geprägt sein von digitaler Automatisierung der Produktions- prozesse und fortwährender Entwicklung von Dienstleistungen, die auf der algorithmischen Auswertung von Daten fußen. Schon heute kom- munizieren Maschinen und Bots mehr miteinan- der als dies Menschen miteinander tun. Während in der Industriegesellschaft Planung und Optimie- rung im Mittelpunkt von Führungsaufgaben stan- den, dann ist die Beherrschung und Reaktion auf unbekannte Einflussfaktoren ein Wesenselement der Ausrichtung der zukünftigen Arbeit. Manage- ment von Prozessen wird durch Agilität ersetzt. 8
Das Erfolgskriterium heißt nicht mehr Effizienz, von Kompetenzen. Die Existenz von freiberuf- sondern Agilität, die Führung entscheidet nicht lichen Tätigkeiten ist eine Voraussetzung für die mehr über Aufgaben und Personen, sondern über Deckung des Bedarfs an neuen Kompetenzen. Ob MANAGEMENT SUMMERY Form und Kontext der Aufgaben. Der Mitarbeiter jedoch ausreichend freiberuflich tätige Arbeits- der früher gar nicht entschied, trifft morgen Ent- kräfte vorhanden sind, hängt maßgeblich davon scheidungen über Aufgaben und das Soll-Verhal- ab, ob es gelingt, hochqualifizierten Freischaffen- ten in Unternehmen, das gestern noch Complian- den ausreichend Freiheiten und Anreize zu bieten ce hieß, wird morgen Engagement heißen. Diese und niedrigqualifizierten ein vergleichbares Maß Transformation von starren pyramiden- und silo- an sozialer Absicherung wie sozialversicherungs- artigen Strukturen hin zu netzwerkartigen oder pflichtigen Festangestellten. gar „holokratischen“ Organisationen erfordert die Die klassische Interessensvertretung von Arbeit- Delegation von Entscheidungsgewalt bis in die nehmern in der deutschen Wirtschaft – Gewerk- niedrigsten Ebenen von Unternehmen. Oder gar schaften und Betriebsräte – wird sich unter der neue Eigentümerstrukturen und materielle wie Agilisierung von Arbeit qualitativ verändern müs- immaterielle Beteiligungsformen der Mitarbei- sen. Eine reformierte Betriebsverfassung wird tenden. neue digitalbasierte Beschäftigungssegmente be- rücksichtigen müssen, genauso wie klassische In- Diese neuen Arbeitsparadigmen haben zwei be- teressensvertretungen tariflich Beschäftigter sich schäftigungsstrukturelle Entwicklungen zur Fol- für Zielgruppen von Digitalarbeitern öffnen müs- ge – das Entstehen eines digitalen Prekariats von sen. Oder es entstehen neue Organisationsformen sogenannten Crowd- und Clickworkern (z.B. heu- zum sozialen und Machtausgleich. SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT tige Lieferdienste und Bürojobs im Netz), die bei geringen Einkommen Gefahr laufen, dauerhaft Zivilgesellschaft geringe Qualifizierung erfordernde Tätigkeiten (z.B. heutige Lieferdienste) auszuüben, und das Die Studie konzentrierte sich bei der Betrachtung Wachstum einer breiteren Schicht exzellent aus- zivilgesellschaftlicher Entwicklungen in erster gebildeter Fachkräfte, die in Abhängigkeit von Linie und nur exkursiv auf die Gewährleistung Kompetenzen, die mit neuen Technologien ent- von Chancengleichheit, Diversität und Inklusion stehen, bei Bedarf von Unternehmen angeheuert im breiten Sinne. werden, um projektweise den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens zu ermöglichen. Für Diversität wurde im Lissaboner Vertrag als Leit- die eine Gruppe bestehen derzeit kein ausreichen- bild der Europäischen Union verankert. Jedoch der Schutz und für die andere keine ausreichen- wird deren Gewährleistung häufig als gesell- den Anreizmechanismen. Die Notwendigkeit des schaftlicher Kostenblock verstanden. Wenn Di- Skillshifts für Millionen abhängige Beschäftigte versität unter dem Blickwinkel betrachtet wird, kommt hinzu. ob sich unsere Gesellschaft das „leisten“ kann, dann springen wir zu kurz. Sozialer Ausgleich Der demografische Wandel, der auf absehbare und die damit einhergehende Gewährleistung Zeit dazu führt, dass mehr Menschen den Arbeits- von Chancengleichheit ist nicht einfach ein ge- markt verlassen, als dass sie ihm beitreten, führt sellschaftlicher Overhead. Wenn das Modell einer dazu, dass Unternehmen gekonnt als sogenannte sozialen Marktwirtschaft eine Zukunft haben will „Caring Companies“ Fachkräfte langfristig an in einer Positionierung zwischen einem Kapitalis- sich binden oder flexibel als „fluide Unterneh- mus amerikanischer Prägung oder einem Staats- men“ immer wieder aufs Neue Projektarbeiter an kapitalismus chinesischer Prägung, dann sind die sich binden werden. Unternehmen, die sich dafür Gewährleistung von Diversität, Chancengleich- entscheiden, langfristig Mitarbeiter ans Unter- heit und Inklusion wesentliche Planken einer ge- nehmen zu binden, werden Sorge dafür tragen, sellschaftlichen Alternative im globalen Maßstab. dass sie Mitarbeiter nicht auf der Grundlage von Sie sind Voraussetzungen für innovative gesell- Abschlüssen (Zertifizierung von Wissen und Fer- schaftliche Spielräume, die Erneuerung der Bil- tigkeiten) einstellen, sondern auf der Grundlage dungslandschaft und Ausstattung von Bildungs- 9
einrichtungen mit moderner Technologie und die langfristige Bindung hochqualifizierter Mitar- Bildungskonzepten, die auf Teilnahme und Teil- beiter an Unternehmen, deren Familien hochwer- habe fußen, den Umbau des Gesundheitswesens tige Bildung, medizinische Versorgung und auch MANAGEMENT SUMMERY auf präventive Logiken zur langfristigen Gesund- zivilgesellschaftliche und soziale Teilhabe im erhaltung der Bevölkerung und der Gewährleis- Rahmen der Interessen von Unternehmen gewährt tung der Grundversorgung der Bevölkerung mit wird. In solchen Kommunen werden eigene Ge- zeitgemäßen Kommunikations- und Transport- setze geschrieben. Außerhalb solcher privilegier- konzepten. ten Schichten wird jedoch eine wachsende Schicht der Bevölkerung durch Crowdwork, Clickwork Technologische Innovationen im Wirtschaftsle- und verlängerte realwirtschaftliche Werkbänke in ben stehen in einer Wechselbeziehung zu gesell- prekäre Verhältnisse getrieben und pauperisiert. schaftlichen und sozialen Innovationen. Das Maß der Umgestaltung der deutschen Wirtschaft wird sich auswirken auf Erneuerungen im gesellschaft- lichen Leben. Gelingt es der deutschen Wirtschaft im Weltmaßstab an der Spitze technologischer Innovationen mitzuspielen, dann werden neue Modelle von Teilnahme und Teilhabe das System Arbeit prägen. Gelingt das nicht, dann bleiben solche Modelle rudimentär oder unausgeschöpft. Erhält sich das gegenwärtige System einer exzes- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT siven repräsentativen Demokratie, dann wird es wenig Spielraum für Formen direkter Demokratie in kommunalen, regionalen oder auch nationalen Belangen geben. Das notwendige Tempo für die Veränderung der Bildungslandschaft, einschließ- lich der Gewährleistung eines lebenslangen Ler- nens würde beispielsweise nicht aufgenommen. Szenarien gesellschaftlicher Entwicklung Die Studie übernahm die Ergebnisse der Exper- tenbefragungen und übertrug sie in ein Span- nungsfeld, an dessen Außenpolen jeweils ein Sze- nario eines digitalen Sozialdarwinismus libertärer Prägung und das eines digitalen Staatskapitalis- mus sozialistischer Prägung standen. Zwischen diese Extrempole stellen wir die drei Szenarien „Soziale Marktwirtschaft 1.0“, „Humane Markt- wirtschaft“ und „Postwachstums-Gemeinwohl- ökonomie. Das Szenario des digitalen Sozialdarwinismus modellierten wir auf der Grundlage digitaler Monopole, wie wir sie im heutigen Silicon Valley vorfinden. Teilhabe ist in einem solchen Szenario Das Szenario des digitalen Staatskapitalismus ori- möglich, wenn sie an den wirtschaftlichen Er- entiert sich stark am heutigen politischen System folg von Digitalmonopolen geknüpft ist. Digitale Chinas, in dem die Führungsriege der Kommu- Company Towns und Communities ermöglichen nistischen Partei Langfristziele auf dirigistische 10
Weise vorgibt. Dieses System fußt auf einem un- schnittsgerechte weiterführende Bildung getätigt. ausgesprochenen Vertrag mit der Bevölkerung, Die Aushöhlung der Chancengleichheit wird zu dass, so lange Prosperität für die große Mehrheit Polarisierungen in der Gesellschaft führen: zwi- MANAGEMENT SUMMERY der Bevölkerung gewährleistet bleibt, auch politi- schen kosmopolitisch denkenden und handelnden sche Stabilität im Land herrscht. In Abwesenheit Eliten und einer (oft in regionalen Zusammenhän- eines rechtsstaatlichen Systems wird das Vertrau- gen verfangenen) großen Schicht von Abgehäng- en in Beziehungen zwischen Staat, Unternehmen ten, die nicht im gleichen Maße am gesellschaft- und Menschen digital durch ein Scoring-System lichen Leben partizipieren können. abgebildet. Im Szenario der humanen Marktwirtschaft ge- Im Szenario der „Sozialen Marktwirtschaft 1.0“ lingt es Deutschland und einem großen Teil der arbeiten die gesellschaftlichen Kräfte an einem EU, sich geschickt zwischen den USA und China Erhalt des heutigen Status Quo. Die deutsche Handlungsoptionen zu erarbeiten. Nach der Über- Wirtschaft verliert bis 2035 global an Bedeutung, windung der Folgen der Coronakrise erfährt die weil sie aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingun- deutsche Wirtschaft einen kolossalen Aufschwung gen und eigener Transformationsversäumnisse in einem Klima, das für Geschäftsmodellinnova- nicht in der Lage sein wird, rechtzeitig Ressour- tion bei Konzernen und Hidden Champions sorgt. cen für notwendige Technologiesprünge im Com- Der Großteil des deutschen Mittelstands überlebt, puting und für Klima-, Gesundheits- und Kom- indem er seine Produktion auf diese neuen Tech- munikationskonzepte zu mobilisieren und dabei nologien anpasst und einen digitalen Servicekranz globale Marktdurchdringung zu erreichen. Klassi- um seine Produkte schafft. Neugründungen in der SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT sche Großunternehmen in der Industrie verlieren Digitalwirtschaft, in Biotechnologien, Space, Anschluss an die Weltspitze und werden teilweise Greentech und Cleantech legen die Basis für ei- zu verlängerten Werkbänken globaler Tech-Mo- nen neuen Mittelstand und neue Hidden Champi- nopole. Transformationsträge Hidden Champions ons, die technologisch und geschäftsmodellseitig ereilt ein ähnliches Schicksal. Viele mittelständi- weltweit in der globalen Spitze mitspielen. sche Unternehmen ereilt die Insolvenz. Und Neu- gründungen werden erschwert durch Überregulie- Arbeit 2035 wird in diesem Szenario durch an- rung technologischer Innovation. haltenden Wandel von Fertigkeiten und einem Portfolio von Fähigkeiten bestimmt sein, von fle- Arbeit 2035 wird in diesem Szenario durch ein xiblen Arbeitsmodellen, die sowohl andauernde Umfeld von Konsolidierung, Prozessautomatisie- Projektarbeit ermöglichen als auch den langfristi- rung und wenig Innovation geprägt sein. Tayloris- gen Verbleib in Unternehmen und Organisations- mus wird in den meisten Unternehmen das domi- modellen, in denen exekutive Entscheidungsvoll- nante Organisationsmodell bleiben und sich sogar macht weitgehend in kleine autonom arbeitende wieder entfalten. Neue Arbeitsmodelle können Teams delegiert wird. nur kaum entstehen und werden nur Wenigen vor- behalten sein, weil sie überwiegend in alte sozial- Soziale Sicherungsmaßnahmen für digitale Ar- partnerschaftliche Strukturen gepresst werden. beit werden eingeführt, eine Bildungsreform, die Digitale Arbeit produziert wenige Gewinner und Kompetenzen fördert und Ungleichheiten im Zu- viele Verlierer. gang zu Bildung auch im Berufsleben korrigiert, wird umgesetzt und gesetzliche Barrieren in der Der Staat wird dem deklarierten Ziel einer Chan- Forschung, die zum Abwandern von Talent füh- cengleichheit nicht gerecht werden können. Eine ren, werden eingerissen. abschlussorientierte Kultur im Beschäftigungs- markt zementiert das heutige dreistufige Bil- Repräsentative Demokratie auf Bundes-, Länder, dungssystem, in dem Herkunft aus einem aka- regionaler und kommunaler Ebene wird durch demischen Umfeld hohe Chancen persönlicher Formen direkter Demokratie ergänzt und erwei- Verwirklichung garantiert. Neben schulischer tert, gesellschaftliche Initiativen werden nicht als Bildung werden kaum Investitionen in lebensab- Bedrohung verstanden, sondern nur wenn erfor- 11
derlich im Nachhinein reguliert. Der Stellenwert Das System Arbeit folgt sehr eng den „New von Ideologien wird in einer unternehmerischen Work“ Prinzipien Frithjof Bergmanns, die auf Gesellschaft an Zugkraft gegenüber pragmati- einem Dreiklang aus Selbständigkeit, Freiheit MANAGEMENT SUMMERY schen kurz- und langfristigen Lösungsansätzen an und Teilhabe an der Gemeinschaft und „smart Bedeutung verlieren. Neben einer breiten Partei- consumption“ und Selbstversorgung fußen. Ein enlandschaft werden Wahlbündnisse rund um the- Grundeinkommen wird eingeführt. menspezifische Fragen an Bedeutung gewinnen Zivilgesellschaftlich lehnt sich dieses Szenario können. Die Soziale Marktwirtschaft 2.0 ist nicht an eine unternehmerische Gesellschaft an, jedoch mehr „ein Luxus, den wir uns leisten,“ sondern nicht im Dienst wirtschaftlichen Wachstums, son- ein attraktives alternatives Gesellschaftsmodell dern zum Zweck der Subsistenz regionaler Öko- zu den in China und den USA gelebten Modellen systeme. Innerhalb regionaler Zusammenhänge werden die Leitbilder von Chancengleichheit und Das Szenario einer Postwachstums-Gemein- Diversität stark ausgelebt. Jedoch führen starke wohlökonomie basiert weniger auf schon vor- regionale Unterschiede auch zu Ungleichheiten handenen erfolgreichen Experimenten und mehr zwischen den Regionen. Der Zentralstaat bleibt auf den Vorstellungen der Vertreter eines solchen zwar weiterhin stark, um diese Unterschiede aus- Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. In diesem zugleichen. Zentrale Bedürfnisse wie Verteidi- Szenario findet eine gesteuerte Abkehr von glo- gung (Bündnisverpflichtungen) oder Infrastruk- baler Industrieproduktion statt, was den Verkauf tur werden weiterhin staatlich gesteuert, aber die und die allmähliche Auflösung großer Industrie- Ressourcen sind deutlich limitierter. unternehmen und der Hidden Champions zur Fol- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT ge hat. Gleichzeitig durchlebt Deutschland einen Fazit Gründerboom auf dem Prinzip von Sinnstiftung für eine Region und regionaler Subsistenzwirt- Diese Szenarien sind Idealwelten, die es in dieser schaft. Genossenschaften erleben eine Renais- Form mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geben sance. Reparaturwerkstätten, Werkstätten zur wird. Doch Elemente und Kombinationen aus al- Neukombination gebrauchter Teile, nachhaltige len Szenarien werden wir in den nächsten Jahren landwirtschaftliche Kooperativen, Bildungswerk- und Jahrzehnten beobachten. In welche Zukunft stätten, die handwerkliche Techniken vermitteln, Deutschland letztendlich steuern wird, liegt in der schießen wie Pilze aus dem Boden. Hand aller gesellschaftlichen Akteure in der Wirt- schaft, Politik und Zivilgesellschaft. 12
ERGEBNISSE
Die soziale Marktwirtschaft diente für Jahrzehnte dabei, dass im Betrachtungszeitraum der Studie, als gesellschaftliches Leitbild der Bundesrepublik also den nächsten 15 Jahren, keine der angerisse- Deutschland. Nicht nur das, im Jahr 2007 wur- nen Entwicklungen abgeschlossen sein kann. ERGEBNISSE de sie auch als eines der Ziele in den Lissabon- ner Vertrag der EU-Mitgliedsstaaten verankert. Ist dieses Gesellschaftsmodell, dessen Ziel es in den Worten seines Erfinders Alfred Müller-Arm- ack ist, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die wirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“4 , nun am Ende seines Lebenszyklus? Und wenn ja, was sind die gesell- schaftlichen Perspektiven, die uns im 21. Jahr- hundert noch begegnen werden? Oder ist der Kern dieses Modells – „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbin- den“5 – entwicklungsfähig und anpassbar an eine Wirtschaft und gesellschaftliche Ideale, die sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich verändert haben? Diese Studie soll einige Antworten auf diese Fragen liefern. SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Warum der Ansatz der Zukunfts- forschung? Es gibt viele Wege, sich der Frage der Zukunft der sozialen Marktwirtschaft oder alternativer Gesellschaftsentwürfe zu nähern. Wir könnten uns von Wunschbildern leiten lassen, die mehr oder weniger stark ideologisch geprägt sind, und dabei unsere Augen vor Tatsachen verschließen, die nicht in unser Weltbild passen. Wir könnten Trends, die wir heute beobachten, losgelöst von anderen Entwicklungen in die Zukunft projizie- ren. Wir Zukunftsforscher verstehen unser Hand- werk als „die wissenschaftliche Befassung mit möglichen, wünschbaren und wahrscheinlichen Zukunftsentwick¬lungen und Gestaltungsoptio- nen sowie deren Voraussetzungen in Vergangen- heit und Gegenwart.“6 Für die Studie haben wir unsere Forschung vor- rangig auf langfristige Entwicklungen in den The- menfeldern Wirtschaft und Arbeit gelegt. Einige Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft sind an- gerissen, vor allem bezüglich der Gewährleistung von Chancengleichheit. Und wir haben auf der Grundlage dieser Ergebnisse Szenarien entwi- ckelt, die mögliche Zukünfte näher beschreiben. Die Beschreibung der Szenarien berücksichtigt ________________________________________________________________________________________________ 4 Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Bern 1976, S. 245. 5 ebenda 6 R. Kreibich: Zukunftsforschung. Arbeitsbericht Nr. 23/2006, IZT, Berlin 2006, S. 3. 14
tierung geprägt ist und auch einem gewissen Ein- Leitplanken der „Sozialen Markt- greifen des Staats in die wirtschaftlichen Aktivi- wirtschaft“ seit 1945 täten im Sinne dieses Gemeinwohls.“ ERGEBNISSE Der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ ist Der Begriff wurde Ende der 40er- und Anfang offen für vielfältige Interpretationen. Er entstand der 50er-Jahre von der CDU besetzt, auch wenn in einem Kontext, als das infolge des Siegs der er umstritten war. Der Arbeitnehmerflügel der Alliierten im zweiten Weltkrieg geteilte Deutsch- CDU kritisierte den Begriff als Euphemismus und land zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme propagandistisches Schlagwort. Unternehmer be- entwickelte. fürchteten, dass das Attribut „sozial“ Erwartungen wecke, die der deutschen Wettbewerbsfähigkeit „Der Begriff riecht ja förmlich nach Block- hinderlich seien.89 Die Sozialdemokratie vermied auseinandersetzung und dem Versuch, diesen Begriff sogar bis Anfang der 90er-Jahre10 das westdeutsche System positiv zu be- und setzte bis zu ihrem Godesberger Programm setzen gegenüber dem ostdeutschen. Der 1959 der sozialen Marktwirtschaft den „demokra- Begriff versucht Marktwirtschaft gegen tischen Sozialismus“ entgegen. Planwirtschaft zu stellen. Und gleichzeitig durch das Attribut ‚sozial‘ deutlich zu ma- Dennoch setzte sich spätestens mit der deutschen chen, dass Marktwirtschaft soziale Erträge Wiedervereinigung 1990 der Begriff der sozialen produziert, wohingegen die Planwirtschaft Marktwirtschaft als Leitbild für das Gemeinwesen unsozial ist, wie die CDU damals geschrie- der Bundesrepublik Deutschland lagerübergrei- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT ben hat. Das Ganze ist also von zwei Sa- fend durch. Die Möglichkeit, im Zuge der Wie- chen geprägt: Erstens versuchte man mit dervereinigung ein neues gemeinsames gesell- dem Begriff der sozialen Marktwirtschaft schafts-politisches Leitbild zu entwerfen, wurde einen Gegenentwurf zur Planwirtschaft verpasst und mit Ausnahme der Nachfolgepartei- aufzustellen, die man plötzlich vor der Tür en der herrschenden ostdeutschen SED auch nicht hatte. Und gleichzeitig versuchte man aber eingefordert. Der Sieg über den Kommunismus auch, mit dem Begriff einen anderen Be- im Ostblock verklärte den Blick darauf, dass die- griff zu umgehen, nämlich den des Kapita- ser nicht unausweichlich war. Francis Fukuyama lismus, der negativ konnotiert war. Und die ging in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ deutsche Variante, die wir haben, ist sehr sogar so weit zu behaupten, dass die liberale De- stark von der christlichen Soziallehre ge- mokratie das Ergebnis einer gesetzmäßigen und prägt. Und beinhaltet die Idee eines dritten zielgerichteten geschichtlichen Evolution sei.11 Weges zwischen Marktradikalität, also or- Aber genauso wenig, wie der Kommunismus ein doliberale und neoliberale Marktradikalität zwangsläufiges Ergebnis gesellschaftlicher Ent- auf der einen Seite und Planwirtschaft auf wicklungen ist, ist es die liberale Demokratie der anderen Seite. Dadurch erhält diese fußend auf einem System des freien Markts. Ge- Konstruktion immer die Idee einer starken sellschaftssysteme entwickeln sich nicht determi- Wertorientierung auf soziale Wohlfahrt, nistisch, sondern chaotisch. auf Ausgleich, letztendlich auch auf eine Idee, Arbeit im Kapitalismus so zu gestal- Wenn auch in Zukunft freier Markt, sozialer Aus- ten, dass Freiheit ermöglicht ist und eine gleich und demokratische Prinzipien Bestand lebenswerte Zukunft.“7 haben sollen, dann müssen diese aktiv gestaltet – Dr. Andreas Boes werden. Und wir müssen verstehen, worauf der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft fußte. Es ist in der Meinung von Dr. Boes akkurater von einem „Rheinischen Kapitalismus zu sprechen, Deutsche Großunternehmen im Maschinenbau, also einer spezifischen Spielart des Kapitalismus, der Automobil-, chemischen und Stahlindust- die von Vorstellungen des Bargainings, also des rie waren über ein Jahrhundert das Rückgrat der sozialen Ausgleichs, und einer Gemeinwohlorien- deutschen Wirtschaft. Diese Unternehmen agier- ________________________________________________________________________________________________ 7 Interview mit Prof. Dr. Andreas Boes 8 Karin Böke, Frank Liedtke, Martin Wengeler: Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära 9 Georg Stötzel, Martin Wengeler, Karin Böke: Kontroverse Begriffe: Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland 10 Martin Nonhoff: Hegemonieanalyse: Theorie, Methode und Forschungspraxis. In: Reiner Keller 11(Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse 2: Forschungspraxis. Band 2, 3 11 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte 15
ten weltweit, und es gelang ihnen, insbesondere Wirtschaft. Es wird geschätzt, dass in Deutsch- Entwicklungsländer in eine Abhängigkeit von ih- land zwischen 1.100 und 1.600 solcher Unter- ren Technologien zu bringen. Zu Beginn der 70er- nehmen existieren. In keinem anderen Land ist ERGEBNISSE Jahre wurden weltweit nur 6% der 3,5 Millionen die Dichte dieser Nischenweltmarktführer so groß existierenden Patente in Entwicklungsländern wie in Deutschland. vergeben. Von denen gehörte lediglich ein Sechs- tel Staatsbürgern dieser Länder.12 1970 lag das Die Abhängigkeit vieler Nationen von deutscher Verhältnis von Ingenieuren und Wissenschaftlern Technologie drückt sich deutlich in den Außen- auf dem afrikanischen Kontinent bei 6 zu 10.000. handelszahlen Deutschlands aus. Lag der Waren- In Asien lag der Wert bei 22, in den entwickel- wert der deutschen Exporte 1970 noch deutlich ten marktwirtschaftlichen Ländern bei 122.13 Der unter umgerechnet 100 Milliarden Euro, so er- Export der Technologien in Entwicklungsländer reichte Deutschland 2015 Exporte von 1,2 Billio- wurde begleitet von einem ganzen System von nen Euro. Der Handelsbilanzüberschuss stieg von weiteren Dienstleistungen: Finanzierung durch nahezu Null auf knapp 245 Milliarden Euro an. Er global agierende Banken, Organisationsfähigkei- war jahrzehntelang das Erfolgsrezept für die Fi- ten, Zwischenwaren, Handelskanäle usw. Heute nanzierung des Wohlstands in Deutschland und ist würde man von Ökosystemen sprechen. gleichzeitig heute dessen Achillessehne. Dieses Ökosystem globalen Handels auf der Der soziale Ausgleich in Deutschland wird weit- Grundlage von Technologieabhängigkeit schuf gehend über Sozialleistungen gesteuert. Auch beste Voraussetzungen für einen starken deut- hier gehört Deutschland zu Weltspitze, laut einer SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT schen Mittelstand, der als Zulieferer für die Groß- OECD-Statistik von 2016 auf Platz 9. Ein Viertel industrie positioniert war. In technologischen des Bruttoinlandsprodukts wird auf Sozialleistun- Spezialnischen gelang es mittelständischen Fami- gen wie Rente, Gesundheit, Bildung, Familienzu- lienunternehmen, sich zum Status eines „Hidden wendungen und Arbeitslosenversicherung aufge- Champions“ emporzuschwingen. Diese Hidden wendet. Im Vergleich liegen Länder wie Mexiko, Champions sind eine Besonderheit der deutschen Südkorea oder die Türkei bei 7,5—13% des BIP.14 ________________________________________________________________________________________________ 12 UNCTAD Secretariat: Technological Dependence : Its Nature, Consequences and Policy Implications 13 ebenda 14 OECD: Social Expenditure Update 2016 16
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des sozia- len Ausgleichs ist die in Deutschland sehr stark geregelte Sozialpartnerschaft in Formen von Ta- ERGEBNISSE rifverträgen, Betriebsverfassungsgesetz und Mit- bestimmungsgesetz, das Arbeitnehmern und ihren Vertretern bis zu einem Drittel der Mandate in Kontrollorganen von Kapitalgesellschaften zusi- chert. Wirtschaftsethiker begründen Mitbestim- mung mit Selbstbestimmung, Menschenwürde, Kontrolle wirtschaftlicher Macht und Demokra- tieprinzipien. Kritiker dieses Systems berufen sich auf Effizienzverluste, doch Untersuchungen zeigen, dass Reibungsverluste durch betriebliche Konflikte, Fluktuationen und innere Kündigungen höher sein können als Effizienzeinbußen bei Ein- räumung weitgehender Mitbestimmungsrechte.15 Der Übergang vom Industriezeitalter ins Informa- Die vorherrschende Meinung wurde 2010 unter tionszeitalter ist komplett vollzogen worden. Der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen auf den amerikanische Soziologe Daniel Bell sah in sei- Punkt gebracht: „Die Mitbestimmung hat sich in nem Buch von 1973 „The Coming of the Post-In- Deutschland bewährt und ist ein Pfeiler unseres dustrial Society“ voraus, dass die postindustrielle sozialen Friedens. Auch und gerade in der Wirt- Welt sich durch drei Merkmale auszeichnen wür- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT schaftskrise.“16 de: Bei aller notwendigen Anerkennung für eine heu- • Eine Verschiebung von Industrieproduk- te funktionierende Sozialpartnerschaft müssen tion zu Dienstleistungen, wir uns dennoch die Frage stellen, wie Prinzipien • Die zentrale Bedeutung neuer wissen- von Mitbestimmung auch in Zukunft gelebt wer- schaftsbasierter Industrien, den können, wenn sich Arbeit in zunehmendem • Den Aufstieg neuer technischer Eliten Maße nicht mehr an klassischen Prinzipien einer und das Entstehen neuer gesellschaftli- Massenproduktion von Industriegütern ausrich- cher Schichten.17 tet, sondern am agilen Zusammenspiel von Men- schen, Robotern und Algorithmen. Alle drei Punkte haben sich 50 Jahre später be- wahrheitet. Die wertvollsten Unternehmen heute Die wesentlichen Zukunftsent- sind nicht mehr Konzerne, deren Geschäft in der wicklungen Gewinnung von Rohstoffen oder der Produktion materieller Güter besteht. Es sind Technologie- Die Welt zu Beginn der 20er Jahre hat nur noch Unternehmen, die Dienstleistungen bereitstellen wenig gemein mit der Welt Anfang der 1990er, und monetarisieren. als der Fall der Berliner Mauer und der Zusam- menbruch der Sowjetunion zu einem gigantischen Diese Umwälzungen ziehen eine Veränderung Systemwechsel führte, dem Westen neue Märkte des Systems Arbeit nach sich. Das wesentliche im Osten eröffnete und der schon in den 80er-Jah- Organisationsprinzip der Industrieproduktion, das ren einsetzenden Globalisierung radikal die Bahn (tayloristische) Management von Prozessen wird brach. Wurden in den 90er-Jahren noch Diskus- durch Agilität ersetzt. Die Anforderungen von sionen über eine unipolare oder multipolare Welt Unternehmen an Arbeitskräfte verschieben sich nach dem Ende des Kalten Kriegs geführt, steu- vom Einsatz von Muskelkraft auf Wissenskraft. ern wir seit einigen Jahren zunehmend in eine Der Stellenwert von Abschlüssen und Zertifikaten neue Blockkonfrontation zwischen den USA und weicht einem gestiegenen Bedarf an Kompeten- China. zen. ________________________________________________________________________________________________ 16 BMAS (Hrsg.): Mitbestimmung - eine gute Sache 17 Daniel Bell: The Coming of the Post-Industrial Society: A Venture in Social Forecasting 17
Gesellschaftlich haben sich die Unterschiede zwi- geht der größte Hype in Chinas Internet- schen Schichten und Klassen verschoben. Als die industrie, nicht darum, besser zu sein als soziale Markwirtschaft ersonnen wurde, differen- die globalen Technologie-Giganten durch ERGEBNISSE zierte sich die Gesellschaft entlang des Konflikts eine bessere Anpassung der bestehenden zwischen Kapital und Arbeit. Das Prinzip des so- Geschäftsmodelle auf dem chinesischen zialen Ausgleichs setzte an dieser Stelle an und Markt. Sondern es geht um ein Kopf-an- schuf eine zahlenmäßig sehr starke Mittelklasse. Kopf-Rennen mit den USA…‘ Die heutige Welt ist komplizierter. Wir beobach- ten eine stark wachsende Unterklasse, deren Ein- Die Führung bei der Entwicklung Künst- kommen an prekären Beschäftigungen hängen licher Intelligenz China, Russland und (Boten, Lagerarbeiter, Uber-Fahrer, usw.) und anderen ausländischen Regierungen zu eine Mittelklasse, die sich auseinander bewegt. überlassen, würden die USA nicht nur be- Ein Teil dieser Mittelklasse übt aufgrund ihrer gu- nachteiligen, sondern das hätte Auswir- ten bis hohen Qualifizierung Teilhabe am Wandel kungen auf die nationale Sicherheit. Wir von der Industriegesellschaft zur Wissensgesell- stehen in der Morgenröte der Künstlichen schaft aus. Ein anderer Teil, der in klassischen Intelligenz, und es obliegt dem Kongress Tätigkeiten einer Beschäftigung nachgeht, erfährt und diesem Unterkomitee, anzufangen, die Entwertung seiner Arbeit. Der Soziologe And- die riesigen Auswirkungen dieser entste- reas Reckwitz spricht von einer kulturellen Klas- henden Technologie zu begreifen, um si- sengesellschaft18. Auch hier werden in Zukunft cherzustellen, dass die Vereinigten Staa- soziale Ausgleichmechanismen ansetzen müssen. ten im gesamten 21. Jahrhundert globale SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Führungsmacht bleiben.“20 USA vs. China: Nachdem die Vereinigten Staaten also jahrzehnte- Ein neuer Kalter Krieg lang China in der Abhängigkeit ihrer Technologien hielten, wachte deren politische Klasse zu Beginn „Wir haben einen Wirtschaftskrieg um der Trump-Administration auf und erkannte, dass Technologie. Einen im wahrsten Sinne des China sich aus dieser technologischen Abhängig- Wortes.“19 keit befreit hatte und sich selbst anschickt, zum – Ewald Böhlke globalen Technologieführer zu werden. Der Han- delskrieg zwischen den USA und China, den Do- Die Entwicklung von Wirtschaft, Arbeit und Zi- nald Trump 2018 vom Zaun brach, ist in seinem vilgesellschaft in Deutschland kann nicht losge- Wesen eine Konfrontation, die die Rolle der Ver- löst betrachtet werden von den gegenseitigen Ab- einigten Staaten als Wirtschaftsmacht Nr. 1 in der hängigkeiten zwischen der Bundesrepublik und Welt verteidigen soll. der Europäischen Union. Und die Entwicklung der EU ist wiederum in starkem Maße abhängig Die Administration des neuen US-Präsidenten von der Entwicklung der Beziehungen zwischen Joseph Biden unterscheidet sich außenpolitisch den USA und China und der Gesellschaften in von der Trump-Administration nicht in der lang- beiden Ländern. fristigen strategischen Zielsetzung, China in die Schranken zu weisen, sondern in der Art und Wei- Im November 2016 fand die erste Anhörung des se, wie diese Konfrontation weitergeführt werden US-Kongresses zur Künstlichen Intelligenz statt. soll. Biden versucht, langjährige Bündnispartner Der republikanische Senator Ted Cruz leitete die- wie die EU-Staaten oder Japan und Südkorea auf se Anhörung mit folgenden Worten ein: den Seiten der USA in diese Konfrontation einzu- binden. Ob ihm das gelingt, hängt maßgeblich da- „Heute sind die Vereinigten Staaten der von ab, ob er das unter Trump gelittene Ansehen herausragende Führer in der Entwicklung der USA in diesen Ländern reparieren kann. Künstlicher Intelligenz. Aber das kann sich bald ändern. Laut Wall Street Journal‚ Innenpolitisch stehen die USA seit dem Ende des ________________________________________________________________________________________________ 18 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne 19 Interview mit Ewald Böhlke 20 https://www.cruz.senate.gov/?p=press_release&id=2902 18
Kalten Kriegs fragiler da denn je. Die politischen zielt auf den Ausbau interkontinentaler Handels- Lager zwischen Republikanern und Demokraten und Infrastrukturnetze mit 60 Ländern ab und ist sind verfeindet wie noch nie, was im Falle des weltwirtschaftlich ein enormer Wachstumsmotor. ERGEBNISSE Verlusts der demokratischen Mehrheiten im Senat China ist im letzten Jahrzehnt in die technologi- oder Kongress zu politischer Handlungsunfähig- sche Weltspitze aufgestiegen – insbesondere in keit führen kann. Silicon Valleys Tech-Konzerne, den Bereichen der Datenkommunikation (Hua- die maßgeblich verantwortlich sind für die globa- wei), Künstlicher Intelligenz, Blockchain (BSN), le Technologieführerschaft der Vereinigten Staa- soziale Medien (WeChat, TikTok) Healthtech, ten, stehen unter scharfer Beobachtung aufgrund Greentech, Space, Financial Services (Ant Group) ihres monopolistischen Missbrauchs ihrer Markt- und des autonomen Fahrens. Es ist gut positio- position. Die Zerstückelung dieser Konzerne wird niert, auf viele Jahre hinaus eine Vorreiterrolle von Politikern aus beiden Lagern gefordert. Sozi- in allen Zukunftstechnologien der Menschheit zu ale Unruhen über die Diskriminierung von People spielen. of Color ließen eine neue Bürgerrechtsbewegung entstehen. Und die sozialen Spannungen, die aus Jobverlust in der Old Economy und prekären Ar- beitsverhältnissen der New Economy entstanden, verschärften sich drastisch in der Corona-Krise. Vier Stimulus-Pakete der Trump- und Biden- Administrationen linderten diese Spannungen. Jedoch stellte diese Art von Regierungsinterven- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT tion eine Abkehr von tief verwurzelten libertären Werten der amerikanischen Gesellschaft dar. Die Langfristigkeit dieser Maßnahmen und damit neu entstehende Abhängigkeiten zwischen der Regie- rung und der Bevölkerung werfen die Frage auf, ob sich das politische System der Vereinigten Staaten langfristig dahinbewegt, sozialstaatliche Elemente zu verfestigen21 oder in einen libertären Sozialdarwinismus steuert. Nicht nur die Vereinigten Staaten sind mit gro- ßen innen- und außenpolitischen Hausaufgaben konfrontiert. Auch Chinas System wird von der herrschenden Kommunistischen Partei umgebaut und auf neue Grundlagen gestellt. Die derzeitige innenpolitische Ruhe Chinas beruht auf einem Tauschhandel zwischen Regierung und Bevölke- rung von Prosperität gegen Stabilität.22 Nach An- gaben der World Bank gelang es China in 35 Jah- ren 850 Millionen Menschen aus extremer Armut zu heben – fast doppelt so viele Menschen wie derzeit in der EU leben. Die Armutsrate fiel von 88 Prozent 1981 auf 0,7 Prozent in 2015.23 Gleichzeitig gelang es China zur zweitgrößten Wirtschafts- und Militärmacht aufzusteigen und Dieser Aufstieg und die Intensivierung politischer seinen politischen Einfluss global – nicht nur in und wirtschaftlicher Beziehungen mit dem Aus- Asien – auszuweiten. Chinas One Belt-One Road- land erfordern jedoch auch Mechanismen von Initiative, auch als „Neue Seidenstraße“ bekannt, Checks und Balances – in inneren wie in äußeren ________________________________________________________________________________________________ 21 Interview mit Sean Randolph 22 Interview mit Prof. Dr. Doris Fischer 23 https://www.worldbank.org/en/country/china/overview#3 19
ERGEBNISSE Beziehungen. Ein wesentliches Mittel dafür ist men, die in der westlichen Welt durch ordnungs- das Sozialkreditsystem, dessen Einführung 2014 politische und Rechtsstaatsprinzipien hergestellt beschlossen wurde und das in der europäischen werden, auf digitale Plattformen zu heben und so- SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Presse eher einseitig als diktatorisches Werkzeug mit auch auf Jahre hinaus die politische Macht der der Überwachung der chinesischen Zivilgesell- Kommunistischen Partei nicht zu gefährden, son- schaft diskutiert wird. dern zu verfestigen. Das politische System Chinas ist im Kern ein digitaler Staatskapitalismus. „In dem Moment, in dem China die Inter- nationalisierung vorantreibt, wollen Chi- Wie wird sich die EU in diesem Wechselspiel nesen ja nicht nur noch mit Chinesen positionieren? Business machen. Wenn man aber die Vertrauensbasis international immer erst Sie wird einerseits von der US-Regierung be- erarbeiten muss, kostet das. Da muss man drängt, sich den USA anzuschließen und den glo- unwahrscheinlich viel interagieren, reisen, balen Einfluss Chinas zurückzudrängen und sieht machen, tun. Das schafft das, was wir Öko- sich mit der Tatsache konfrontiert, dass China nomen Transaktionskosten nennen. Jetzt 2020 erstmals die USA als wichtigsten EU-Han- hat die chinesische Regierung aber nicht delspartner hinter sich gelassen hat. Das europä- die Möglichkeit und vielleicht auch nicht isch-chinesische Gesamthandelsvolumen betrug den Willen zu sagen ‚jetzt schaffen wir knapp 600 Milliarden Euro.25 Diese Auseinander- mal einen für alle verbindlichen Rechts- setzung hat das Potenzial, die EU zu zerreißen. staat‘. Das geht erstens nicht schnell und Die kürzliche Weigerung des ungarischen Pre- es könnte wahrscheinlich auch die Macht miers Orbán, sich einer EU-Resolution gegen die der Partei unterwandern. Und dann ist Wahlrechtsreform in China anzuschließen, ist nur dieses Sozialkreditsystem auf einmal ein der gegenwärtige Höhepunkt von Spannungen Proxy: ‚Wir verschaffen jetzt Vertrauen, unter den EU-Regierungschefs über die langfristi- durch eine Art von Transparenz. Indem wir ge Ausrichtung der EU. Menschen und Unternehmen ein Rating geben.‘“24 „Die Amerikaner wussten sich nur noch mit – Prof. Dr. Doris Fischer Huawei-Bashing zu helfen, weil sie tech- nologisch in vielen Schlüsselbereichen Mit anderen Worten scheint es der chinesischen schon gar nicht mehr up-to-date sind. Und Regierung zu gelingen, Transparenzmechanis- in der Konstellation bewegt sich die EU ________________________________________________________________________________________________ 24 Interview mit Prof. Dr. Fischer 25 Eurostat: news release 22/2021 20
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