KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)

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KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
Kay Senius
              Wolfgang Höffken
              (Hrsg.)

               KOHLEAUSSTIEG UND
               STRUKTURWANDEL
               IN SACHSEN-ANHALT

Landesbüro Sachsen-Anhalt
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
KOHLEAUSSTIEG UND
STRUKTURWANDEL
IN SACHSEN-ANHALT
Kay Senius
Wolfgang Höffken
(Hrsg.)
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

IMPRESSUM

© 2020 by
Friedrich-Ebert-Stiftung
Landesbüro Sachsen-Anhalt
Otto-von-Guericke-Str. 65
39104 Magdeburg

Lektorat
Robert Kreusch, Leipzig

Fotos Umschlag:
Titelfoto: dpa Picture Alliance; Si-Gal/iStockphoto.com
Umschlagillustration S. 2 und 3: drafter123/iStockphoto.com

Layout
Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn

Druck
Druckerei Brandt GmbH, Bonn

ISBN 978-3-96250-771-8

Eine gewerbliche Nutzung der von der FES
herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche
Zustimmung durch die FES nicht gestattet.
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

             Inhalt

             Grußwort
             Sebastian Hartmann                           4

             Vorwort
             Kay Senius
             Alexander Lengstorff Wendelken
             Wolfgang Höffken                             6

             Politische Visionen
             Prof. Dr. Armin Willingmann                 10
             Christiane Schönefeld und Katrin Labude     15
             Dr. Frank Danek                             19
             Felix Schultz                               22

             Demokratie, Arbeitsmarkt, Regionalpolitik
             Thomas Krüger                               27
             Dr. Per Kropp                               31
             PD Dr. Mirko Titze                          36

             Technische Voraussetzungen
             Achim Zerres                                45
             Jens Hobohm                                 52
             Prof. Dr.-Ing. Przemyslaw Komarnicki        58

             Regionale Auswirkungen
             Dr. Angelika Klein                          63
             Andreas Hensel                              67

             Wirtschaftliche Perspektive
             Dr. Markus Lorenz                           73

             Die Autorinnen und Autoren                  78
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

    Grußwort

                                                        Deutschland. Willy Brandt hat früh erkannt, dass
                                                        moderne Umweltpolitik und soziale Gerechtigkeit
                                                        zusammengehören. Das gilt noch immer. Auch
                                                        deshalb wird die ganze Welt nun auf Deutschland
                                                        schauen, ob uns die Energiewende gelingt. Denn
                                                        wir sind das erste Land, das gleichzeitig aus der
                                                        Atom- und der Kohleenergie aussteigt. Kein leich-
                                                        ter, sondern ein anspruchsvoller Weg. Wenn der
                                                        Weg gelingt, wird er weltweit als Vorbild dienen.
                                                        Daran arbeiten wir in NRW und in Sachsen-Anhalt
                                                        gemeinsam.
    Sebastian Hartmann
    Landesvorsitzender der NRW-SPD | © NRWSPD           Ich freue mich daher sehr, dass es der Kommission
                                                        „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
                                                        (KOM WSB) gelungen ist, einen politischen Kon-
    Liebe Leserin, lieber Leser,                        sens über den Ausstieg aus der Kohleverstromung
                                                        bis spätestens 2038 herzustellen. Umso mehr, weil
    wir in Nordrhein-Westfalen bezeichnen uns gerne     es die SPD war, die darauf gedrängt hatte, eine
    als Weltmeister des Strukturwandels. Wir wissen,    Kommission einzusetzen. Inzwischen hat der Bun-
    dass man Umbrüche nicht aufhalten kann, son-        destag das Kohleausstiegs- und Strukturstärkungs-
4   dern sie gestalten muss. Das war nicht immer so.    gesetz auf den Weg gebracht.
    Als Willy Brandt 1961 in einer Wahlkampfrede for-
    derte, der Himmel über dem Ruhrgebiet müsse         Es ist nicht selbstverständlich, einen Strukturwan-
    wieder blau werden, wurde er von nicht wenigen      del ganz ohne gesellschaftliche Verwerfungen hin-
    belächelt. Inzwischen ist das Ruhrgebiet Vorbild:   zubekommen. Überlagert wird diese Herausforde-
    Jährlich pilgern selbst chinesische Delegationen    rung nun zusätzlich durch die Corona-Pandemie,
    nach Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen, um         den fortschreitenden digitalen Wandel und – in
    zu lernen und zu verstehen, wie wir in NRW die      Sachsen-Anhalt – die Erinnerung an die harten Ein-
    Transformation einer von der Montanindustrie ge-    schnitte nach der Wiedervereinigung.
    prägten Region zu einer modernen Industrie- und
    Dienstleistungsgesellschaft geschafft haben – und   Ich bin überzeugt, dass wir nur dann alle Bürgerin-
    dennoch weiter mitten im Wandel stehen.             nen und Bürger auf diesem Weg mitnehmen kön-
                                                        nen, wenn wir auch allen eine gute Perspektive
    Der blaue Himmel über der Ruhr steht aber auch      bieten. Es wird deshalb darauf ankommen, indus­
    für den Beginn des umweltpolitischen Denkens in     trielle Strukturen nicht einfach abzubauen, son-
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

Zeche Zollverein in Essen | © justhavealook/iStockphoto.com

dern weiterzuentwickeln sowie gute und tariflich              und Zivilgesellschaft – begleitet und Ideen entwi-
abgesicherte Arbeitsplätze zu erhalten bezie-                 ckelt, den Strukturwandel zu einem erfolgreichen
hungsweise neue zu schaffen; dass wir solidarisch             Wandel für die Menschen zu machen.                   5
miteinander sind und die unterschiedlichen Regio-
nen und Teile der Gesellschaft zusammenhalten.                Unsere beiden Länder verbindet die Chance, un­
So schaffen wir Sicherheit im Wandel und Akzep-               sere Art zu arbeiten und zu wirtschaften neu zu
tanz in der Bevölkerung.                                      erfinden, indem wir Klima, Wirtschaft und soziale
                                                              Standards nicht weiter gegeneinander ausspielen,
Dank gilt der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sachsen-            sondern – ganz im Sinne Willy Brandts – zusam-
Anhalt, die den Transformationsprozess gemein-                mendenken.
sam mit Vertreterinnen und Vertretern aus ganz
unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen –              Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen! Ein
Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften             herzliches Glückauf!
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL - IN SACHSEN-ANHALT Kay Senius Wolfgang Höffken (Hrsg.)
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

    Vorwort

    Kay Senius                   Alexander Lengstorff Wendelken           Wolfgang Höffken
    Bundesagentur für Arbeit |   Geschäftsführung Personal Mibrag |       Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro
    © Bundesagentur für Arbeit   © MIBRAG                                 Sachsen-Anhalt | © raykweber.com

    Das „Impulspapier Strom 2030“ hatte einen un-      Die Energiegewinnung aus dem Rohstoff Kohle
    scheinbaren Namen, aber es hat im Jahr 2016        hat in Deutschland eine lange Tradition. Im Jahr
    den Grundstein für einen Transformationsprozess    1885 nahm in der Markgrafenstraße in Berlin das
    in Deutschland gelegt, der aufgrund seines Um-     erste öffentliche Wärmekraftwerk Deutschlands
    fangs und seiner Reichweite ganze Regionen in      seinen Dienst auf. Es bestand aus sechs Dampf-
    Deutschland tiefgreifend verändern wird. Nach      maschinen und versorgte zu Beginn die Reichs-
    dem fünf Jahre zuvor beschlossenen Ausstieg aus    bank und das Schauspielhaus mit elektrischem
6   der Atomenergie folgte damit die politische Ent-   Strom. Das erste öffentliche Kraftwerk auf Basis
    scheidung, in Deutschland ebenfalls die Energie-   von Braunkohle folgte 1892 in Frechen bei Köln.
    gewinnung aus Kohle zu beenden. Grund dafür        Der Energiebedarf während der Industrialisierung
    war und ist vor allem das Anliegen, die Klima-     in Deutschland stieg beinahe täglich. Daher wur-
    schutzziele zu erreichen und den CO2-Ausstoß       den auch die Anlagen immer größer – ebenso
    Deutschlands signifikant zu senken. Hinzu kommen   wie der Bedarf an Arbeitskräften, deren Arbeits-
    weitere Aspekte des Umwelt- und Naturschutzes,     bedingungen Ende des 19. Jahrhunderts in den
    die den Abbau von Braunkohle betreffen.            sich bildenden industriellen Zentren katastrophal
                                                       waren. Insofern steht die Geschichte der Arbei-
    Noch im Jahr 2015 betrug der Internationalen       tervereinigungen, der Gewerkschaften und letzt-
    Energieagentur IEA zufolge der Anteil der Kohle    lich auch die der SPD, die das Ziel hatten, die
    am weltweiten Strommix etwas mehr als 40 Pro-      Bedingungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter
    zent. Auch in Deutschland lag in jenem Jahr der    zu verbessern, in engem Zusammenhang mit
    Anteil des aus Braun- sowie Steinkohle gewonne-    dem Rohstoff Kohle und den damit zusammen-
    nen Stroms auf einem vergleichbaren Niveau.        hängenden Industrien.
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

Die Gewinnung von Strom aus Kohle, Unterneh-          der Öffentlichkeit große Anerkennung und Zu-
men, die diesen Strom nutzten, oder auch Hand-        stimmung. In großen Teilen folgte dann auch
werksbetriebe unterschiedlicher Größe, die sich       die Bundes- und Landespolitik den Vorschlägen
beispielsweise mit der Instandhaltung der Kraft-      der Expertinnen und Experten. Bis 2035 soll nun
werksanlagen befassten, bildeten die finanzielle      in Mitteldeutschland aus der Verstromung von
Grundlage vieler Arbeiterfamilien. Dies gilt bis      Kohle in Deutschland ausgestiegen werden. Da-
heute. Auch wenn aufgrund des technischen             für stellt der Bund bis zu 40 Milliarden Euro zur
Fortschritts und anderer Veränderungen in der         Verfügung, die zur Gestaltung des Strukturwan-
Arbeitswelt weniger Menschen am Abbau von             dels genutzt werden sollen. Auf das Bundesland
Braunkohle und der Energiegewinnung beteiligt         Sachsen-Anhalt entfallen davon etwa 4,8 Milliar-
sind, prägen Unternehmen wie die Mitteldeutsche       den Euro.
Braunkohlengesellschaft (MIBRAG) ganze Regionen
und individuelle (Familien-)Biografien.               Dr. Ringo Wagner vom Landesbüro Sachsen-An-
                                                      halt der Friedrich-Ebert-Stiftung hat diese Ent-
Der beschlossene Kohleausstieg hat also weitrei-      wicklung zum Anlass genommen, um einen Ar-
chende Folgen. Und wie auch schon in der Ver-         beitsprozess zu initiieren, der das Ziel verfolgt,
gangenheit ist es eine der zentralen Aufgaben         das Thema „Kohleausstieg und Strukturwandel“
sozialdemokratischer Politik, diese Veränderun-       öffentlich diskutieren zu können – und zwar so
gen zum Wohle der Allgemeinheit zu gestalten.         lange, wie es erforderlich ist. Mit der Bundes-
Die Entscheidung des Ausstiegs trifft dabei ver-      agentur für Arbeit und der Mibrag AG sind früh-
schiedene und wirtschaftlich ganz unterschiedlich     zeitig strategische Partner gefunden und einge-
aufgestellte Regionen. Mit Blick auf Sachsen-An-      bunden worden. Gemeinsam haben wir einen
halt sind es vor allem von Disparitäten gekenn-       Fachdialog konzipiert, mit Experten und Beteilig-
zeichnete Gebiete, die diesen Ausstieg strukturell    ten aus Politik, Verwaltung, Unternehmen und
weniger gut auffangen können.                         Zivilgesellschaft, der die aktuelle Situation in
                                                      Sachsen-Anhalt darstellte, Perspektiven aufzeigte
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und          und dabei stets die Möglichkeiten vor Ort im Fo-     7
Beschäftigung“, die wohl eher unter der Kurz-         kus hatte. Er fand am 4. März 2020 in Freyburg
form „Kohlekommission“ bekannt ist, beschäf-          statt – natürlich im mitteldeutschen Braunkohle-
tigte sich von Juni 2018 bis zur Vorlage ihres        revier. In dieser Runde wurde von den Teilneh-
Abschlussberichts im Januar 2019 daher auch in-       menden immer wieder hervorgehoben, dass eine
tensiv mit den zu erwartenden Folgen des Kohle-       Gestaltung des bevorstehenden Wandels die Be-
ausstiegs. Dass dabei versucht wurde, möglichst       teiligung der Bürgerinnen und Bürger schlicht-
alle Facetten zu berücksichtigen, zeigt die Zusam-    weg notwendig macht, um Vorschläge zu erar-
mensetzung dieses Gremiums: Ministerpräsiden-         beiten, die schließlich Akzeptanz sowie Anerken-
ten, Landräte, Vertreter und Vertreterinnen von       nung erfahren und letztlich auch eine Wirkung
kommunalen Verbänden, Bürgerinitiativen, der          vor Ort erzielen können. Gerade vor dem histori-
Gewerkschaft IGBCE, des Umweltverbands BUND           schen Hintergrund des letzten großen Struktur-
und von Greenpeace, außerdem Arbeitsmarktfor-         wandels in unserer Region, der Wiedervereini-
scherinnen und -forscher und viele weitere. Die       gung, die kaum mehr als eine Genera­tion zurück-
Empfehlungen der Kommission fanden dabei in           liegt, wird diese Notwendigkeit umso deutlicher.
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

    Die Menschen dürfen nicht den Eindruck bekom-         Die vorliegende Publikation möchte die Dialog-
    men, von einer so weitreichenden Entscheidung         beiträge ganz unterschiedlicher Professionen do-
    übermannt zu werden, und am Ende das Gefühl           kumentieren, diese der interessierten Öffentlich-
    haben, aus ihrer Sicht ein wei­teres Mal schlechter   keit zugänglich machen und Denkanstöße für die
    dazustehen als vorher. Es gilt zuzuhören, wenn        weitere Gestaltung dieses langfristigen Struktur-
    Betroffene ihre Sorgen und Befürchtungen zum          wandelprozesses geben. Dabei soll auch deutlich
    Ausdruck bringen, die auch immer mit den Ent-         werden, dass es neben den Problemen und
    wicklungen nach 1989/90 in Verbindung stehen.         Heraus­forderungen, die bis 2035 und darüber
    Die Potenziale und indivi­ duellen Biografien der     hinaus vor uns liegen, zahlreiche – aus den Regio­
    Menschen müssen Beachtung finden und dürfen           nen selbst stammende – Ideen gibt, die darauf
    nicht ungenutzt bleiben.                              abzielen, den Menschen glaubwürdige und nach-
                                                          haltige Perspektiven zu geben.

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KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

                                                     Politische
                                                     Visionen

                                                     © picture alliance/dpa | Peter Gercke; PureSolution/Shutterstock.de
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     Statement: „Energiewende und Klimaschutz –
     Ziele, Aufgaben, Perspektiven, Kritik“

                                                             auch in Wirtschaft und Gesellschaft. So führt die
                                                             Beendigung der energetischen Nutzung der Kohle
                                                             zu erheblichen Einschnitten in bestehende Wert-
                                                             schöpfungs- und Beschäftigungsstrukturen in den
                                                             betroffenen Kohlerevieren wie dem Mitteldeut-
                                                             schen Revier. Insbesondere in Ostdeutschland, wo
                                                             sich die wirtschaftlichen Verwerfungen nach der
                                                             Wiedervereinigung fest ins Gedächtnis der Men-
                                                             schen eingebrannt haben, ist die Verunsicherung
                                                             hinsichtlich solcher Eingriffe groß.

     Prof. Dr. Armin Willingmann                             Neben den mit einem Kohleausstieg verbundenen
     Landesminister für Wirtschaft, Wissenschaft und         strukturpolitischen Herausforderungen bleibt der
     Digitalisierung in Sachsen-Anhalt | © MW/Harald Krieg   Ausstieg aus der energetischen Nutzung der
                                                             Braunkohle gleichwohl eine große energiepoliti-
                                                             sche Herausforderung, denn Energie muss auch
     Mit dem Klimaschutzplan 2050 hat sich Deutsch-          zukünftig für Bürger und Bürgerinnen wie für Un-
     land auf den anspruchsvollen Weg gemacht, bis           ternehmen sicher und bezahlbar bleiben. Versor-
     Mitte des Jahrhunderts eine nahezu vollständige         gungssicherheit und Bezahlbarkeit sind essentiell
     Treibhausgasneutralität von Wirtschaft und Gesell-      für die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstand­
     schaft zu erreichen. Wichtiger und im Bundes­           ortes Deutschland. Auf Sachsen-Anhalt blickend ist
10
     klimaschutzgesetz 2019 verankerter Meilenstein          dabei insbesondere an die Unternehmen der ener-
     auf diesem Transformationspfad ist die Verringe-        gieintensiven Industrie zu denken, die sich rund um
     rung der Treibhausgasemissionen um mindestens           das Mitteldeutsche Revier angesiedelt haben.
     55 Prozent bis zum Jahr 2030 im Vergleich zum
     Jahr 1990. Für den Teilsektor der Energiewirtschaft     Eine gesellschaftlich tragfähige und sozialverträg­
     ergibt sich aus dem Klimaschutzplan für den sel-        liche Gestaltung des Ausstiegs aus der Kohlever-
     ben Vergleichszeitraum die Zielstellung einer Ver-      stromung in Deutschland ist mit Blick auf die his­
     ringerung der Emissionen um 61 bis 62 Prozent.          torische Dimension und die Folgenkomplexität des
                                                             Kohleausstiegs ein außerordentlicher politischer
     Dem schrittweisen Ausstieg aus der Kohleverstro-        Kraftakt. Dies haben die vergangenen Monate
     mung kommt mit Blick auf die Erreichung der             eindrucksvoll gezeigt.
     natio­nalen Klimaschutzziele eine Schlüsselrolle zu.
     Der damit einsetzende Transformationsprozess            Bereits Ende Januar 2019 hat die von der Bundes-
     führt allerdings nicht nur zu tiefgreifenden Verän-     regierung im Sommer 2018 eingesetzte Kommis­
     derungen in unserem Energiesystem, sondern              sion „Wachstum, Strukturwandel und Beschäfti-
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

gung“ einen gesamtgesellschaftlich tragfähigen        falen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Diese Ver-
Kompromiss zur schrittweisen Reduzierung und          handlungen drohten zwischenzeitlich in einen ech-
Beendigung der Kohleverstromung vorgelegt. In         ten Ost-West-Konflikt zu münden, an dessen Ende
ihrem Abschlussbericht empfiehlt die Kommission       womöglich der erzielte Kohlekompromiss auf dem
das Ende der Kohleverstromung in Deutschland bis      Spiel gestanden hätte. So bestanden im Vorfeld
spätestens 2038 und zeigt gleichzeitig auf, wie der   berechtigte Befürchtungen, dass das Braunkohle-
Strukturwandel in den betroffenen Regionen ge-        kraftwerk in Schkopau im sachsen-anhaltischen
lingen kann.                                          Teil des Mitteldeutschen Reviers bereits im Jahr
                                                      2026 als Kompensationsmaßnahme für das neue
Auf der Grundlage der Kommissionsempfehlun-           Steinkohlekraftwerk Datteln IV im Rheinischen Re-
gen hat das Bundeskabinett am 29. Januar 2020         vier stillgelegt werden sollte.
das Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung
der Kohleverstromung in Deutschland auf den           Am 15. Januar 2020 konnte schließlich im Rahmen
Weg gebracht. Mit dem sogenannten Kohleaus-           eines Spitzentreffens zwischen Vertretern der Bun-
stiegsgesetz wird die schrittweise, möglichst ste­    desregierung und der Braunkohleländer im Bun-
tige Reduzierung und schließlich die Beendigung       deskanzleramt in Berlin der entscheidende Durch-
der nationalen Kohleverstromung bis spätestens        bruch erzielt werden, der den verschiedenen In­
2038 verbindlich festgelegt. Damit steigt Deutsch-    teressen der Regionen in Ost- und Westdeutsch-
land in absehbarer Zeit als erstes Land weltweit      land gerecht wird und endlich die notwendige
nicht nur aus der Kernenergie, sondern auch aus       Klarheit und Planungssicherheit für die betroffe-
der Kohleenergie aus. Während die Stilllegung der     nen Unternehmen und Beschäftigten schafft. Für
Steinkohlekraftwerke vornehmlich über Ausschrei-      das Braunkohlekraftwerk in Schkopau sieht der
bungen erfolgen soll, sieht der Gesetzentwurf für     Kompromiss als Laufzeitende den 31. Dezember
die Braunkohlekraftwerke einen konkreten zeitli-      2034 vor. Dies ist ein großartiger Verhandlungs­
chen Abschaltplan sowie etwaige Entschädigungs-       erfolg für Sachsen-Anhalt, eröffnet er uns doch ein
zahlungen für die Kraftwerksbetreiber vor. Darüber    wichtiges Zeitfenster, die Strukturentwicklung in
hinaus enthält der Gesetzentwurf wichtige Begleit-    der Region voranzutreiben, in deren Mittelpunkt
                                                                                                            11
maßnahmen zur Abfederung der sozialen und             die nachhaltige Fortentwicklung bestehender
energiewirtschaftlichen Folgen des Kohleausstiegs.    Strukturen und der Aufbau neuer Strukturen ste-
Zu nennen sind hier unter anderem das Anpas-          hen muss. Die regionalökonomischen Auswirkun-
sungsgeld für ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-        gen einer frühzeiti­geren Abschaltung des Braun-
beitnehmer im Kohlesektor sowie Maßnahmen zur         kohlekraftwerks in Schkopau wären insbesondere
Kompensation eines zu erwartenden kohleaus-           mit Blick auf den ökonomischen Kraftwerk-Verbund
stiegsinduzierten Strompreisanstiegs. Mit Blick auf   mit dem Tagebau Profen in Sachsen-Anhalt verhee-
letztgenannte Maßnahmen fehlt es im Gesetzent-        rend gewesen.
wurf allerdings noch an der notwendigen Verbind-
lichkeit der Formulierungen.                          Der „Einstieg in den Ausstieg“ aus der Kohlever-
                                                      stromung sowie die strukturpolitische Flankierung
Dem Kabinettsbeschluss zum Kohleausstiegs­            des damit einhergehenden Strukturwandels müs-
gesetz vorausgegangen waren mühsame und zähe          sen Hand in Hand gehen. Mit dem Sofort-Pro-
Verhandlungen zwischen dem Bund und den               gramm sowie dem Gesetzentwurf zum Struktur-
Braunkohleländern Brandenburg, Nordrhein-West-        stärkungsgesetz hat die Bundesregierung die
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     Braunkohlekraftwerk in Schkopau, Laufzeitende den 31. Dezember 2034 | © dpa Picture Alliance

     zentralen Bausteine zur strukturpolitischen Unter-                     zung der vom Kohleausstieg betroffenen Regionen
     stützung der vom Kohleausstieg betroffenen Re-                         in Deutschland geschaffen und auf den Weg ins
     viere beziehungsweise Bundesländer auf den Weg                         parlamentarische Verfahren gebracht. Der Gesetz-
     gebracht und damit die entscheidenden Weichen                          entwurf sieht im Kern die Gewährung finanzieller
     für ein Gelingen des Strukturwandels gestellt.                         Hilfen für Investitionen und weitere Maßnahmen
12                                                                          für die Braunkohleländer durch den Bund von bis
     Mit dem Sofort-Programm stellt der Bund im Rah-                        zu 40 Milliarden Euro bis zum Jahr 2038 vor. Ziel ist
     men bestehender Bundesprogramme bis zu 240 Mil-                        es, den Kohleregionen im Zuge des schrittweisen
     lionen Euro an zusätzlichen Mitteln für kurzfristig                    Ausstiegs aus der Kohle neue Chancen für eine
     umzusetzende Projektvorschläge der Braunkohle-                         nachhaltige Wirtschaft mit hochwertiger Beschäf-
     länder zur Verfügung. Davon entfallen allein auf                       tigung zu eröffnen. Daran werden sich die Maß-
     Sachsen-Anhalt 28,8 Millionen Euro, mit denen                          nahmen in den betroffenen Braunkohleregionen
     erste konkrete Projekte wie das Digitalisierungs-                      vorrangig messen lassen müssen.
     zentrum Zeitz in Sachsen-Anhalt umgesetzt wer-
     den können.                                                            Konkret sieht der Gesetzentwurf für ein Struktur-
                                                                            stärkungsgesetz die Gewährung von Finanzhilfen
     Mit dem von ihr am 28. August 2019 verabschie-                         von bis zu 14 Milliarden Euro für besonders be-
     deten Gesetzentwurf für ein Strukturstärkungs­                         deutsame Investitionen in den Braunkohleländern
     gesetz hat die Bundesregierung den ersehnten                           vor, wovon 2,8 Millionen Euro auf das Mitteldeut-
     Rechtsrahmen zur strukturpolitischen Unterstüt-                        sche Revier und rund 1,7 Milliarden Euro auf Sach-
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

sen-Anhalt als Teil des Mitteldeutschen Reviers ent-   turwandels systematisch ausgebaut werden kann.
fallen. Damit können unter anderem Investitionen       Sowohl die chemische Industrie als auch die Er­
in wirtschaftsnahe Infrastruktur, den öffentlichen     neuerbare-Energien-Branche, die Bioökonomie,
Personennahverkehr, die Breitband- und Mobili-         die Medizintechnik und die Automobilindustrie
tätsinfrastruktur oder die Forschungs- und Wissen-     haben im Großraum Halle-Leipzig in den vergan-
schaftsinfrastruktur vorgenommen werden. Mit           genen Jahren eine hervorragende Entwicklung
weiteren bis zu 26 Milliarden Euro fördert der Bund    vollzogen.
in eigener Zuständigkeit die betroffenen Regionen
direkt. Dabei handelt es sich beispielsweise um die    Die jüngsten Ansiedlungserfolge im Süden des
Ansiedlung bzw. Stärkung von Forschungseinrich-        Landes sind bereits heute ein Beleg für die Attrak-
tungen sowie den Ausbau der Infrastruktur wie          tivität des Wirtschaftsstandortes Sachsen-Anhalt:
Schienen und Straßen. Zudem wird der Bund seine        Porsche baut mit der Schuler AG ein neues Karos-
Förderprogramme grundsätzlich erweitern und            seriewerk für 100 Millionen Euro in Halle. Der US-
Maßnahmen zur energiepolitischen Unterstützung         Batteriehersteller Farasis Energy investiert mehr als
ergreifen. Ferner sollen allein mit der Ansiedlung     600 Millionen Euro in ein Werk in Bitterfeld-Wol-
von Bundeseinrichtungen bis zum Jahr 2028 bis zu       fen. Und die Progroup baut in Sandersdorf-Brehna
5.000 Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen       für knapp 500 Millionen Euro eine der modernsten
werden.                                                Papierfabriken der Welt. Insofern entwickelt sich
                                                       Sachsen-Anhalt schon heute zu einem Land der
Auch wenn der Gesetzentwurf zum Strukturstär-          Zukunftstechnologien.
kungsgesetz einem gewaltigen finanzpolitischen
Kraftakt des Bundes gleicht, so darf dies jedoch       Darüber hinaus verfügt Sachsen-Anhalt bereits
nicht gänzlich darüber hinwegtäuschen, dass der        heute über eine exzellente Wissenschaftsland-
Gesetzentwurf in einigen Punkten hinter den Er-        schaft. Die sieben Hochschulen und insgesamt 29
wartungen und seinen Möglichkeiten zurückge-           forschenden Einrichtungen bergen ein enormes
blieben ist. Dies betrifft insbesondere die fehlende   Innovationspotenzial, das es im Sinne eines inno-
Implementierung von Anreizinstrumenten für pri-        vationsgetriebenen Strukturwandels zu nutzen
                                                                                                               13
vatwirtschaftliche Investitionen oder den unzu­        gilt. Bereits heute investieren Unternehmen vor
reichenden Innovationsfokus des Gesetzes. Hier         allem deshalb in Sachsen-Anhalt, weil sie hier die
bedarf es sicherlich Nachbesserungen.                  benötigten Fachkräfte akquirieren können und ih-
                                                       nen die Forschungseinrichtungen für Forschungs-
Dennoch: Der Gesetzentwurf zum Strukturstär-           und Entwicklungskooperationen offenstehen.
kungsgesetz eröffnet uns in Verbindung mit dem
bestehenden wirtschaftspolitischen Instrumenta­        Mit den im Rahmen des Strukturstärkungsgesetzes
rium die großartige Chance, Sachsen-Anhalt wei-        durch den Bund zur Verfügung gestellten Mitteln
terhin zu einem Land der Zukunftstechnologien          werden wir in den kommenden Jahren vor allem in
zu entwickeln. Die Ausgangsbedingungen hierfür         Infrastruktur, Forschung und Wissenschaft inves-
sind gut.                                              tieren. Im Bereich Infrastruktur geht es nicht allein
                                                       um Straßen und Schienen. Ganz oben auf der
Insbesondere rund um das Mitteldeutsche Revier         Agenda steht hierbei auch der Ausbau der digita-
ist bereits heute eine Wirtschafts- und Wissen-        len Infrastruktur, denn die Versorgung über Glas­
schaftsstruktur vorhanden, die im Zuge des Struk-      faser- und 5G-Mobilfunk-Netze wird im globalen
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     Standortwettbewerb weiter stark an Bedeutung            erreicht damit schon heute das im Koalitionsver-
     gewinnen. Dazu müssen allerdings die parlamenta-        trag auf Bundesebene ausgege­    bene Ziel von
     rischen Verfahren zum Kohleausstiegsgesetz sowie        65 Prozent für das Jahr 2030 und leistet damit
     zum Strukturstärkungsgesetz, deren In-Kraft-Tre-        einen bedeutenden Beitrag zur Energiewende.
     ten aneinandergekoppelt ist, endlich abgeschlos-
     sen werden. Ein Abschluss der Verfahren ist für Juli    Bereits im Jahr 2019 wurden zwei Reallabor-Pro-
     dieses Jahres geplant.                                  jektvorhaben aus Sachsen-Anhalt – „Green Hydro-
                                                             Chem“ sowie der „Energiepark Bad Lauchstädt“ –
     Um Unternehmensansiedlungen und Erweiterun-             im Rahmen des Ideenwettbewerbs „Reallabore der
     gen zu ermöglichen, müssen die Industrie- und           Energiewende“ des Bundesministeriums für Wirt-
     Gewerbegebiete im Süden des Landes weiter aus-          schaft und Energie (BMWi) ausgezeichnet. Diese
     gebaut werden. Hier bietet sich auch die Ertüch­        Reallabore sollen zukünftig durch das BMWi ge­
     tigung von Brachflächen an.                             fördert werden. Der mit EU- und Landesmitteln
                                                             geförderte Aufbau von zwei Pilotanlagen zur Er-
     Zudem wird Sachsen-Anhalt in Forschungsvor­haben        forschung der industriellen Herstellung von Was-
     wie die Erzeugung und Nutzung „grünen“ Wasser-          serstoff aus erneuerbarem Strom am Standort
     stoffs investieren mit dem Ziel, die Entwicklung Mit-   Leuna schafft die Grundlage für die Erzeugung
     teldeutschlands als Modellregion für „grünen“           und den Einsatz „grünen“ Wasserstoffs im indus­
     Wasserstoff voranzutreiben. Mit dem bundesweit          triellen Maßstab und bereitet den Weg in eine
     vergleichsweise hohen Ausbaustand der erneuer­          CO2-arme bzw. CO2-freie Chemieindustrie. Insbe-
     baren Energien in Sachsen-Anhalt stehen die Chan-       son­dere die Erzeugung und der Einsatz „grünen“
     cen hierfür gut. Bereits im Jahr 2017 lag in Sachsen-   Wasserstoffs im industriellen Maßstab bergen ein
     Anhalt der Anteil der erneuerbaren Energien am          erhebliches Wertschöpfungspotenzial, das es zu
     Bruttostromverbrauch bei gut 68 Prozent. Das Land       nutzen gilt.

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KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

Mit Qualifizierung erfolgreich durch den
Strukturwandel

Christiane Schönefeld                                 Katrin Labude
Bundesagentur für Arbeit, Mitglied in der             Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der
Kommission Wachstum, Strukturwandel und               Bundesagentur für Arbeit | © RD SAT
Beschäftigung | © Frauke Schumann

Der Strukturwandel hat viele Facetten und wirkt       wicklungen wird von den Energieerzeugern erwar-
sich auf Branchen und Regionen unterschiedlich        tet, klimafreundlichen Strom zu produzieren.
aus. Die Möglichkeiten der Digitalisierung verän-
dern die Anforderungen an Qualifikationen und         Aus diesem Grund richtete die Bundesregierung
                                                                                                           15
Kompetenzen der Beschäftigten beispielsweise in       am 6. Juni 2018 die Kommission „Wachstum,
der Chemieindustrie und der Logistik. Die künstli-    Strukturwandel und Beschäftigung“ ein. Reich-
che Intelligenz eröffnet ganz neue Möglichkeiten      lich sieben Monate später legte die Expertenkom-
der Diagnostik, des Handels oder der Zusammen-        mission ihre Vorschläge vor, mit denen der Aus-
arbeit zwischen Menschen und Maschinen in Pro-        stieg aus der Kohleverstromung in Deutschland
duktionsbetrieben. Das Institut für Arbeitsmarkt-     bis spätestens 2038 gelingen soll. Die Schaffung
und Berufsforschung attestiert bereits heute schon    konkreter Perspektiven für neue, zukunftssichere
einem Viertel der sozialversicherungspflichtig Be-    Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen steht
schäftigten, dass ihr Beruf in hohem Maße substitu-   dabei im Zentrum. Denn dies schaffe die Grund­
iert werden könnte. Die Automobilindustrie durch-     lage für einen breiten gesellschaftlichen Konsens
läuft ihre Transformation aufgrund geänderter Kun-    beim energie- und klimapolitisch begründeten
denerwartungen an eine emissionsarme Mobilität.       Strukturwandel.
Die Bereitschaft, in diesem Bereich zu investieren,
scheint in den letzten Jahren zugenommen zu ha-       Mit dem Strukturstärkungs- und dem Kohleaus-
ben. Angesichts der prognostizierten Klimaent-        stiegsgesetz greift die Bundesregierung diese Vor-
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     schläge auf und gestaltet den im Abschlussbe-         lichen Maßstäben. Denn mit den Beschäftigten in
     richt festgelegten inhaltlichen und finanziellen      den Tagebauen, Kraftwerken, aber auch bei den
     Rahmen aus. Der Ausstieg aus der Braunkohle­          Zulieferbetrieben, die keinen Anspruch auf Anpas­
     förderung und -Verstromung wird mit Vertrags-         sungsgeld haben, müssen gemeinsam neue Be-
     vereinbarungen geregelt. Die Betreiber der Stein-     schäftigungsperspektiven erarbeitet werden. Ge-
     kohlekraftwerke können ihre Meiler im Ausschrei-      meinsam mit den betroffenen Unternehmen wol-
     bungsverfahren zur Stilllegung anmelden. Für die-     len wir dazu beitragen, dass der Kohleausstieg
     sen Ausstieg erhalten die Tagebau- und Kraft-         aufgrund von Fachkräfteengpässen nicht früher
     werksbetreiber Entschädigungszahlungen vom            endet, als vom Gesetzgeber festgelegt. Wir sehen
     Bund. Für die Beschäftigten ab 58 Jahren wird die     es auch als unsere Aufgabe an, der Generation
     Möglichkeit eröffnet, über Anpassungsgeld in          nach der aktuellen Betroffenengeneration eine
     den vorgezogenen Ruhestand zu gehen. Die be-          Perspektive zu bieten. Daher unterstützen und
     troffenen Bundesländer erhalten bis 2038 Finanz-      begleiten wir die Unternehmen in den Revieren
     hilfen zur Bewältigung des Strukturwandels und        bei der Suche nach Auszubildenden und während
     der Sicherung der Beschäftigung im Umfang von         der Berufsausbildung.
     14 Milliarden Euro. Im Gegenzug müssen sie al-
     lerdings auch ihren im Grundgesetz vorgeschrie-       Dabei kommt uns zugute, dass wir unmittelbar
     benen Eigenanteil leisten. Die Bundesregierung        vor Ort sind. Zur Stärkung unserer Präsenz haben
     wird darauf achten, dass die Strukturhilfen un-       wir in jedem Braunkohlerevier eine Revieragentur
     mittelbar für das Ziel verwendet werden, neue         benannt. Im Rheinland ist dies die Agentur für Ar-
     Arbeitsplätze und neue Wertschöpfung in den           beit Brühl, in Mitteldeutschland die Arbeitsagen-
     Regionen zu schaffen.                                 tur Weißenfels und in der Lausitz die Cottbuser
                                                           Arbeitsagentur. Sie sollen unsere Aktivitäten und
     Um die Umsetzung der Maßnahmen zur Gestal-            Unterstützungsleistungen vor Ort koordinieren
     tung des Strukturwandels in den Braunkohle­           und den vom Kohleausstieg betroffenen Unter-
     revieren und den Projektfluss sicherzustellen, bil-   nehmen als Ansprechpartner zur Verfügung ste-
     den die Bundesregierung und die Regierungen           hen. Auf Landesebene haben wir in unseren Re­
16
     der Länder Brandenburg, Nordrhein-Westfalen,          gionaldirektionen ebenfalls Ansprechpartnerin-
     Sachsen und Sachsen-Anhalt ein gemeinsames            nen und Ansprechpartner benannt. In Sachsen-
     Koordinierungsgremium. Entsprechend den ent-          Anhalt ist dies Frau Katrin Labude.
     wickelten Leitbildern prüft dieses Gremium die
     Förderziele und Förderbereiche der vorgeschlage-      In den oben genannten Gremien sind unsere Mit-
     nen Maßnahmen. Auch auf Landes- und kommu-            arbeiterinnen und Mitarbeiter vertreten; sie sind
     naler Ebene werden Strukturen aufgebaut, die          Teil der Netzwerke, die sich auf Bundes-, Landes-
     Maßnahmen zur Gestaltung des Strukturwan-             und kommunaler Ebene um die Themen Struktur-
     dels, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und neu-      wandel und Kohleausstieg herum gebildet haben.
     er Wertschöpfung in den Regionen entwickeln,          Unsere Abgesandten bringen ihre Arbeitsmarkt-
     bewerten und dem Koordinierungsgremium von            expertise bei der Erarbeitung von Struktur- und
     Bund und Ländern zur Förderung vorschlagen.           Wirtschaftsprogrammen ein und beurteilen die
                                                           Beschäftigungswirkung von Maßnahmen, die zur
     Die Bundesagentur für Arbeit begleitet diesen         Förderung mittels Strukturhilfen des Bundes vor-
     Prozess revierübergreifend mit möglichst einheit-     geschlagen werden. Zu diesem Zweck haben wir
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

gemeinsam mit dem Institut für Arbeitsmarkt-           rativen Geschäft oftmals auch für alle adminis­
und Berufsforschung Kriterien entwickelt, um           trativen und organisatorischen Aufgaben allein
diese Wirkungen ebenenübergreifend nach ein-           verantwortlich. Nur selten sind sie auch strate-
heitlichen Maßstäben zu bewerten.                      gisch erfahrene Fachleute in Sachen Personal­
                                                       arbeit. Und so verwundert es nicht, dass Hand-
Wir haben diese Strukturen aufgebaut mit Blick         lungs- und damit verbundene Beratungsbedarfe
auf die hohen, aber auch berechtigten Erwartun-        bezüglich der Personalbedarfssicherung mitunter
gen von Politik und Gesellschaft in Sachsen-An-        nicht erkannt oder wegen anderer – vermeintlich
halt, dass Mitteldeutschland auch nach dem Koh-        dringenderer Probleme – immer wieder in den Hin-
leausstieg weiterhin über gute Arbeitsplätze und       tergrund gerückt werden. Die Arbeitsmarktbera-
eine hohe Wertschöpfung verfüge. Gleichwohl            tung unserer Arbeitgeber-Services unterstützt Un-
haben wir aber auch die anderen Herausforde-           ternehmen u. a. dabei, sich mit den Folgen des
rungen, vor denen wir in Sachsen-Anhalt stehen,        Strukturwandels und den daraus resultierenden
im Blick.                                              betrieblichen Auswirkungen zu beschäftigen. Das
                                                       Ziel der Arbeitsmarktberatung ist klar: die Iden­
Neben der Bergbauindustrie durchlaufen auch die        tifizierung betrieblicher Handlungsfelder und das
chemische, die lebensmittelverarbeitende und die       Aufzeigen möglicher Lösungsansätze zur De-
Automobil-Zulieferindustrie Transformationspro-        ckung des Personalbedarfs in den Unternehmen.
zesse, die aktuell etwas weniger mediale Beach-
tung finden. Diese Prozesse bieten neben den Ri-       Zahlreiche Erwerbstätige werden sich infolge der
siken auch Chancen: So können sich durch die           Transformationsprozesse auf eine oder teilweise
Digitalisierung neue Jobperspektiven eröffnen.         auch mehrere berufliche Neu- oder Umorientie-
Unternehmen bauen ihre Produktion, ihre Logis-         rungen einstellen müssen. Das fällt nicht immer
tik und ihr Dienstleistungsangebot teilweise kom-      leicht. Doch auch in diesen Situationen möchte
plett um, um im globalen Wettbewerb mithalten          die Bundesagentur für Arbeit unterstützen. Mit
zu können. Um diese neuen Strukturen zu gestal-        dem Angebot der Berufsberatung im Erwerbs­
ten, gilt es, die Veränderung von Arbeit und Qua-      leben verfolgen wir einen präventiven Ansatz, in-
                                                                                                           17
lifikationen in den Blick zu nehmen. Als Bundes-       dem wir Menschen helfen, sich in einem Arbeits-
agentur für Arbeit können wir nicht sagen, wo          markt zurechtzufinden, der sich immer schneller
es hingeht. Die betroffenen Menschen und Un-           wandelt. Berufliche Neu- bzw. Umorientierung
ternehmen gestalten ihre Transformation. Wir           sowie die Entwicklungen auf dem aktuellen und
möchten sie aber dabei im Rahmen unserer Mög-          zukünftigen Arbeitsmarkt stehen dabei im Mittel-
lichkeiten unterstützen.                               punkt.

Viele Unternehmen kennen die Bundesagentur             Das zum 1. Januar 2019 in Kraft getretene Quali-
für Arbeit vor allem als klassische Personalvermitt-   fizierungschancengesetz kam dabei genau zur
lerin oder im Zusammenhang mit der Gewährung           richtigen Zeit. Der Gesetzgeber unterstreicht
von Förderleistungen. Dass die Bundesagentur für       nochmals die Beratungsaufgabe der Arbeitsagen-
Arbeit auch arbeitgeberorientierte Beratung an-        turen: Nicht nur die beschäftigten und die er-
bietet, ist vielen Unternehmen nicht bekannt. Ge-      werbslosen Menschen haben Anspruch auf Wei-
rade in kleinen Unternehmen ist der Betriebsin­        terbildungsberatung, sondern auch die Unter-
haber oder die Betriebsinhaberin neben dem ope-        nehmen auf Qualifizierungsberatung.
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     Beschäftigte, deren berufliche Tätigkeit durch        stellen entstehen. Bereits heute haben wir einen
     Technologien ersetzt werden kann oder die in          Fachkräfteengpass unterschiedlichen Ausmaßes,
     sonstiger Weise vom Strukturwandel betroffen          je nach Branche und Region, so zum Beispiel in
     sind oder die eine berufliche Weiterbildung in        der Gesundheits- und Altenpflege, im Berufs-
     einem Engpassberuf anstreben, können unab-            kraftverkehr, im Sanitär-, Heizungs- und Klimage-
     hängig von Ausbildung, Lebensalter und Größe          werbe oder in der Softwareentwicklung und
     des Beschäftigungsbetriebs finanziell unterstützt     IT-Beratung. Auf absehbare Zeit werden wir daher
     werden. Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt        zum einen alle inländischen Potenziale nutzen müs-
     in diesen Fällen nicht nur die Weiterbildungskos-     sen – hier denken wir beispielsweise an Gering­
     ten für den einzelnen Beschäftigten (Arbeitneh-       qualifizierte, Langzeitarbeitslose und Menschen mit
     merförderung), sondern erstattet dem Arbeitge-        Migrationshintergrund – und zum anderen ver-
     ber auch das Arbeitsentgelt für die weiterbil-        stärkt auf die Zuwanderung von Fachkräften an-
     dungsbedingten Ausfallzeiten.                         gewiesen sein. Dies wird nur durch gemeinsames,
                                                           vernetztes Handeln mit den Partnerinnen und
     Mit Blick auf die besonderen Problemlagen von         Partnern am Arbeitsmarkt möglich sein.
     Geringqualifizierten ist die auf anerkannte Be-
     rufsabschlüsse ausgerichtete Weiterbildung von        Wie weitreichend, aber auch ungewiss die Aus-
     herausgehobener Wichtigkeit. Der Strukturwan-         wirkungen des Strukturwandels sein können, ist
     del erhöht den Veränderungsdruck aber auch bei        noch nicht greifbar. So werden sich Anforderun-
     Fachkräften Für Arbeitslose und Beschäftigte ge-      gen und Erkenntnisse laufend weiter verändern
     winnt das Stichwort Anpassungsqualifizierung an       bzw. konkretisieren. Diese Entwicklungen sind
     Bedeutung: Um mit dem technischen Wandel              von einem hohen Maß an Unstetigkeit gekenn-
     Schritt zu halten, gilt es, bereits vorhandene Qua-   zeichnet, was verstärkte Unsicherheit zur Folge
     lifikationen rechtzeitig durch Fortbildungen zu       haben kann.
     erneuern bzw. zu aktualisieren.
                                                           Auch wir als Bundesagentur für Arbeit und kon-
     Deshalb ermutigen wir alle Unternehmen – vor          kret vor Ort werden uns daran messen lassen müs-
18
     allem die kleinen und mittleren Unternehmen, die      sen, ob es uns gelingt, unsere Angebote in den
     mit höheren Fördersätzen unterstützt werden –,        Bereichen Beratung, Qualifizierung und Vermitt-
     davon Gebrauch zu machen. Wir empfehlen Un-           lung von Fachkräften vorausschauend und nach-
     ternehmen, die Arbeitsagenturen frühzeitig in         haltig an die veränderten Erfordernisse des Ar-
     ihre Planung einzubinden. Sie können präventiv        beitsmarktes anzupassen.
     bei der Qualifizierung von Beschäftigten ansetzen
     und damit vorausschauend Fachkräfteengpässen          Ein wichtiger Baustein ist dabei der permanente
     entgegenwirken. Die berufliche Weiterbildungs-        Austausch zwischen Praxis, Wissenschaft und den
     förderung ist mehr denn je von existenzieller Be-     Akteuren am Arbeitsmarkt, verbunden mit der
     deutung für die Unternehmen in unserer Region.        Frage, was wir in unseren unterschiedlichen Rol-
     Die demografische Entwicklung lässt für Sachsen-      len tun können, um die Wirtschaft bei Transfor-
     Anhalt einen Rückgang des Erwerbspersonenpo-          mationsprozessen gemeinsam wirksam zu unter-
     tenzials erwarten. Trotz der eventuellen Substitu-    stützen. Es gilt, den Blick nach vorn zu richten
     tion beruflicher Tätigkeiten werden neue Arbeits-     und den Strukturwandel aktiv mitzugestalten.
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

Wichtige Maßnahmen und Pläne der
Landesregierung Sachsen-Anhalt

Dr. Frank Danek                                                    auftragt hat. Einschließlich der Eigenanteile ste-
Referatsleiter im sachsen-anhaltischen                             hen dem Zuwendungsempfänger 8 Millionen
Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft                           Euro zur Verfügung – das Projekt läuft bis zum
und Digitalisierung                                                31. März 2022. Inhaltlicher Schwerpunkt des Pro-
                                                                   jekts ist die Durchführung von Untersuchungen
                                                                   zur strategischen Ausrichtung des Strukturwan-
Seit dem Beschluss zur Einsetzung der Kommis­                      dels im Revier. Dazu müssen die in den Regionen
sion „Wachstum, Strukturwandel und Beschäfti-                      doch sehr heterogenen Ausgangslagen analysiert
gung“ bereitet die Landesregierung die Grund­                      und Anknüpfungspunkte für Strukturentwick­lun­
lagen für den absehbaren Strukturwandel im                         gen gefunden werden.
Mitteldeutschen Revier vor. Es werden aber auch
Projekte begleitet, die unabhängig vom politischen                 Wichtige Einzelmaßnahmen in diesem Gesamt-
Beschluss zum Ausstieg aus der Kohleverstro-                       projekt sind:
mung, und zwar bereits deutlich früher initiiert
wurden und sich heute nahtlos in die Struktur­                     •   eine „Technologiefeldanalyse“ für das Mit-
entwicklungsprozesse einfügen.                                         teldeutsche Revier, die bereits im Mai 2020
                                                                       vorliegen soll und die vor allem die gegebenen
Die drei Bundesländer, die entsprechend der an­                        wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Tech­
erkannten regionalen Abgrenzung des Mittel-                            nologiekompetenzen im Revier und deren Ent-
deutschen Reviers betroffen sind (das Land Sachsen-                    wicklungsmöglichkeiten für den Strukturwandel                 19
Anhalt und die Freistaaten Sachsen und Thürin-                         beinhalten wird – eingeschlossen sind Maßnah-
gen), haben bereits im Dezember 2018 über die                          men zur erforderlichen Fachkräfteentwicklung;
sogenannte Experimentierklausel in der Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt­                  •   eine „Potenzialstudie zu Industrie- und
schaftsstruktur“ eine Zuwendung zu dem Modell-                         Gewerbeflächen“, die Ende des Jahres 2020
projekt „Innovationsregion Mitteldeutschland“                          fertiggestellt sein soll und die die Verfüg- und
bewilligt. Zuwendungsempfänger ist der Burgen-                         Nutzbarkeit von Flächen erheben und die Mög-
landkreis, der federführend für die anderen Land-                      lichkeiten für Betriebserweiterungen und Un-
kreise und kreisfreien Städte1 die Metropolregion                      ternehmensansiedlungen untersuchen soll –
Mitteldeutschland Management GmbH nach einer                           eine entscheidende Voraussetzung für wirt-
Ausschreibung mit der Projektdurchführung be-                          schaftliche Prosperität;

1     Die Landkreise Mansfeld-Südharz, Saalekreis, Anhalt-Bitterfeld, Nordsachsen, Landkreis Leipzig sowie die Städte Halle an der
      Saale und Leipzig.
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     •   diese und andere Untersuchungen (zum Bei-         die die Vertretung von Landesinteressen gegen-
         spiel zur Nutzung von Bergbaufolgelandschaf-      über dem Bund und die Kommunikation mit den
         ten, zu einzelnen Infrastrukturvorhaben, zur      regionalen Akteuren und Akteurinnen bündelt.
         Tourismusentwicklung, zur Digitalisierung und     Eine weitere wichtige Aufgabe dieser Stabsstelle
         zur Industriekultur) werden letztlich in eine     ist die Zusammenarbeit mit den Staatskanzleien
         „Sozioökonomische Perspektive 2040“               der anderen Bundesländer in Sachen Struktur-
         münden, die eine Art Strategie und Leitbild       wandel. Sie leitet auch eine landesinterne inter­
         für das Mitteldeutsche Revier werden könnte.      ministerielle Arbeitsgruppe zum Strukturwandel,
                                                           in der neben den Ressorts der Landesregierung
     Die betroffenen Bundesländer müssen Strategien        auch Vertreter der regionalen Gebietskörperschaf-
     erarbeiten und vorlegen, um in den Genuss der         ten, die Industrie- und Handelskammer Halle-Des-
     vom Bund zugesagten Finanzhilfen in Höhe von          sau, die Kommunalen Spitzenverbände und die
     bis zu 14 Milliarden Euro zu kommen (auf Sach-        Metropolregion Mitteldeutschland Management
     sen-Anhalt entfallen davon bis 2040 1,68 Milliar-     GmbH vertreten sind. Im Mittelpunkt der Beratun-
     den Euro). Auch unter Berücksichtigung von Pro-       gen stehen der Informationsaustausch zum Bei-
     jekten im Landesinteresse ist der „Bottom-up-         spiel zum Stand der Gesetzgebungsverfahren,
     Ansatz“ für die Regionalentwicklung von ent-          aber auch die Abstimmung eines gemeinsamen
     scheidender Bedeutung.                                Vorgehens bei großen, übergreifenden Projekten.

     Noch vor Inkrafttreten der entscheidenden Bun-        In der Investitions- und Marketinggesellschaft
     desrechtlichen Regelungen für die Beendigung          mbH Sachsen-Anhalt (IMG) wurde zum 1. Januar
     der Kohleverstromung (Kohleausstiegsgesetz)           2020 eine Neueinstellung vorgenommen, die sich
     und zur Finanzierung von Maßnahmen im Rah-            vorrangig mit Fragen der Strukturentwicklung im
     men der Strukturentwicklung in den betroffenen        sachsen-anhaltischen Teil des Mitteldeutschen
     Regionen (Strukturstärkungsgesetz) hat die Lan-       Reviers befasst. Der Fokus liegt auf der Beratung
     desregierung Sachsen-Anhalt in Anbetracht der         hinsichtlich der regionalen Wirtschaftsförderung
     umfangreichen Aufgabenstellung Strukturen ein-        bei anstehenden Investitionen und Neuansiedlun-
20
     gerichtet. Im wirtschaftspolitischen Grundsatzrefe-   gen. Angestrebt ist, dass auch Vor-Ort-Beratungs-
     rat des Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft     termine möglich sind. Ausdruck für die enge Zu-
     und Digitalisierung ist seit anderthalb Jahren eine   sammenarbeit der IMG mit den Gebietskörper-
     Projektgruppe „Strukturwandel im Braunkohlere-        schaften sollen Kooperationsvereinbarungen sein.
     vier“ tätig, die vor allem Koordinierungsaufgaben     Am 7. Februar 2020 wurde eine solche Koopera­
     innerhalb des Ministeriums und die Zusammen­          tionsvereinbarung mit dem Burgenlandkreis unter-
     arbeit mit anderen Ressorts und regionalen Ak-        zeichnet, die anderen Regionen werden folgen.
     teuren für das Ministerium steuert. Daneben ist
     die Vertretung von wirtschafts- und wissenschafts­    Neben diesen institutionalisierten Strukturen auf
     poli­tischen Interessen von großer Bedeutung: zum     Ebene der Landesregierung finden auch zwischen
     Beispiel bei der Erarbeitung von Strategien und       den Ministerien Gespräche darüber statt, mit wel-
     Förderrichtlinien sowie bei Projektbewertungen.       chen langfristigen Strukturen der Strukturwandel
                                                           im Mitteldeutschen Revier nicht nur begleitet,
     In der Staatskanzlei wurde vor rund einem Jahr        sondern letztlich umgesetzt werden soll. Ent-
     eine Stabsstelle „Strukturwandel“ eingerichtet,       scheidungen wurden noch nicht getroffen, wer-
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

den aber voraussichtlich mit Inkrafttreten des           Die hier vorgestellten Maßnahmen und Pläne der
bundesgesetzlichen Rahmens vorliegen. Prämis-            Landesregierung (natürlich vordergründig aus
sen für solche Strukturen müssen vor allem fol-          dem Blickwinkel des Ministeriums für Wirtschaft,
gende sein:                                              Wissenschaft und Digitalisierung) stellen nur eine
                                                         Auswahl der vielfältigen Aktivitäten dar. Entschei-
•     Größe und Umfang (Personal) müssen der Re-         dend ist, die Basis für die Strukturentwicklung im
      viergröße und den umzusetzenden Finanzmit-         Mitteldeutschen Revier so anzulegen, dass neue
      teln (Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und        Strukturelemente langfristig Bestand haben. Aller­
      Sparsamkeit) angemessen sein.                      dings kann niemand alle Unwägbarkeiten der
•     Aufgaben müssen klar definiert sein (Abgren-       kommenden 20 Jahre voraussehen, sodass perma-
      zungen und Zusammenarbeit).                        nent Nachjustierungen und Anpassungen vorge-
•     Die Regionen müssen in die Entscheidungsfin-       nommen werden müssen. Wir warten aber nicht
      dung einbezogen, die Landesinteressen ge-          auf den gesetzlichen Rahmen, um Strukturent-
      wahrt werden.                                      scheidungen zu treffen – wichtige Unternehmens­
•     Bereits bestehende Strukturen und Gremien in       ansiedlungen sind bereits geschehen und wichti-
      den Regionen sollen genutzt werden.                ge Forschungsschwerpunkte in der Region sind
•     Die Kompetenzverteilung zwischen den Struk-        bereits festgelegt.
      tureinheiten berücksichtigt die Ressortzustän-
      digkeiten innerhalb der Landesregierung.

                                                                                                               21
Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Sachsen-Anhalt

     Unser Revier! Unsere Zukunft!

                                                          Reduzierung um 40 Prozent gegenüber 1990 zu
                                                          kompensieren. Dazu soll zum einen ein Plan zur
                                                          „schrittweisen Reduzierung und Beendigung der
                                                          Kohleverstromung, einschließlich eines Abschluss-
                                                          datums“, entwickelt werden und zum anderen
                                                          sind Investitionen in den vom Strukturwandel be-
                                                          troffenen Regionen und Branchen vorgesehen.

                                                          Die Pläne verfolgen hunderttausende Mitarbeiter
                                                          in der Energiewirtschaft und der energieinten­
                                                          siven Industrie mit großer Sorge. Der Pfad für ein
     Felix Schultz                                        Auslaufen der Kohleverstromung ist heute bereits
     IGBCE | © Jens Schulze                               vorgezeichnet – durch in den kommenden Jahr-
                                                          zehnten auslaufende Genehmigungen und da-
                                                          durch, dass derzeit keine neuen Kraftwerke ge-
     Im Mitteldeutschen Revier ist die Braunkohle ein     baut werden. Die Klimaschutzziele 2030 und
     zentraler Wirtschaftsfaktor. An ihr allein hängen    2050 lassen sich deshalb auch ohne ein symbo-
     in der Region mehr als 7.000 Arbeitsplätze. Bei      lisch gesetztes Ausstiegsdatum für die Kohlever-
     einer Stilllegung des Bergbaus wären im direkten     stromung erreichen. Ein verfrühtes, von Symbol-
     Umfeld u.a. betroffen die MIBRAG GmbH (Mit­          politik getriebenes „Abschalten“ würde dagegen
     teldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH), die        schmerzhafte Folgen für die gesamte heimische
22
     MUEG (Mitteldeutsche Umwelt- und Energiever-         Industrie haben: Kahlschlag in den Regionen,
     sorgung GmbH), die LMBV (Lausitzer und Mittel-       steigende Energiepreise und Job-Abbau. Nieman-
     deutsche Bergbau- und Verwaltungsgesellschaft)       dem ist geholfen, wenn wir uns mit der Energie-
     und die GALA-MIBRAG Service GmbH. Der Teilbe-        wende übernehmen.
     trag der Wertschöpfung aus Braunkohle, der heute
     in die drei Braunkohlereviere fließt, ist deutlich   Die Braunkohle ist vor allem deshalb Deutsch-
     größer als die Summe der Fördermittel, die in        lands günstigster Energieträger, weil sie direkt am
     ganz Deutschland für Strukturpolitik zur Verfü-      Ort des Abbaus verstromt wird. Die „lineare Lo-
     gung stehen.                                         gik“ eines schrittweisen Herunterfahrens funktio-
                                                          niert hier deshalb nicht. „Abschalten“ würde den
     Die Bundesregierung will in der Kommission           Strukturbruch und damit Kahlschlag bedeuten!
     „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
     Maßnahmen vereinbaren, um das für 2030 ge-           Diesen geradezu fahrlässigen Umgang mit unse-
     setzte Ziel der CO2-Reduktion zu erreichen und       rer Heimatregion lassen wir, die Menschen im
     gleichzeitig die für 2020 geplante, aber verfehlte   Mitteldeutschen Revier, uns nicht länger gefallen!
KOHLEAUSSTIEG UND STRUKTURWANDEL IN SACHSEN-ANHALT

Wir fordern belastbare und nachhaltige Zukunfts-      dern geben, damit auch in Zukunft industrielle
konzepte für das Mitteldeutsche Revier. Wir brau-     Wertschöpfungsketten und gute Arbeit in ver-
chen keinen überhasteten, unkontrollierten Aus-       gleichbarem Umfang wie heute existieren wer-
stieg aus der Kohle. Wir brauchen einen Einstieg      den. Das gilt selbstverständlich nicht nur für
in einen Strukturwandel, der gute Industriearbeit     unsere Region, sondern auch für die anderen
sichert. Wir brauchen eine Energiewende, die          deutschen Kohleregionen.
sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und öko-
logisch verantwortungsvoll gestaltet wird. Strom,     In diesem Sinne erwarten wir, dass die Bundesre-
Wärme und Mobilität müssen bezahlbar sein.            gierung und die Landesregierungen jetzt das Ge-
                                                      spräch mit den betroffenen Kommunen und den
Wir brauchen ein weltweit verbindliches Klimaab-      Beschäftigten im Mitteldeutschen Revier suchen,
kommen als wichtigste Voraussetzung für einen         um die konkreten Forderungen der vor Ort Be-
wirksamen Klimaschutz. Nur so lässt sich ein fai-     troffenen an die eingesetzte Kommission „Wachs-
rer Ausgleich zwischen Industrie-, Schwellen- und     tum, Strukturwandel und Beschäftigung“ weiter-
Entwicklungsländern sicherstellen. Wir brauchen       zugeben.
eine Ausrichtung der Energie- und Klimapolitik an
der Förderung und Umsetzung von Innovationen.
Wir brauchen eine langfristige Strukturpolitik, die   Unsere Forderungen für eine gute
dem Revier zu neuer Wirtschaftskraft in vergleich-    Zukunft unserer Heimatregion:
barer Größenordnung verhilft.
                                                      Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner
Wir wissen, dass die Braunkohleverstromung eine       dieses Appells, haben die folgenden Forderungen
Auslaufphase durchläuft. Aber wir wollen nicht,       als eine Art Positionsbestimmung der Betroffenen
dass die soziale und wirtschaftliche Zukunft unse-    im Mitteldeutschen Revier formuliert. Wir erhe-
rer Region auf dem Altar energiepolitischer Glau-     ben hier weder den Anspruch auf Vollständigkeit
bensfragen geopfert wird!                             noch auf die allein seligmachende Wahrheit. Wir
                                                      halten es aber für dringend geboten, dass die        23
Die Zukunft unseres Reviers gehört uns!               poli­tisch Verantwortlichen unserer Region diese
                                                      Punkte aufgreifen, damit endlich das Revier selbst
Wir sprechen uns dafür aus, dass nun endlich          seine Zukunft mitgestalten kann!
Bund, Länder, Kommunen und auch die verant-
wortlichen Bergbau-Unternehmen ihre Kräfte            1. Die Zukunft des Reviers ist der Maßstab
bündeln, indem sie gemeinsam und aufeinander
abgestimmt in einen klugen, nachhaltigen Struk-       In ihrem Einsetzungsbeschluss für die Kommis­
turwandel investieren, der in unserer Heimatregi-     sion „Wachstum, Strukturwandel und Beschäf­
on neue, zukunftsträchtige industrielle Arbeits-      tigung“ legt die Bundesregierung fest, dass die
plätze schafft.                                       Kommission zuerst ihre Empfehlungen zur sozia-
                                                      len und strukturpolitischen Entwicklung der
Für uns gilt: Jetzt muss es ein konsistentes regio-   Braunkohleregionen sowie ihrer finanziellen Ab­
nales Strukturentwicklungskonzept für das Mit-        sicherung vorlegen soll. Wir begrüßen diese Prio-
teldeutsche Revier und die dazu erforderlichen        ritätensetzung!
langfristigen Förderkulissen von Bund und Län-
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