AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Die Bahn - BPB
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
72. Jahrgang, 8–9/2022, 21. Februar 2022 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Die Bahn Christopher Kopper Christian Böttger KLEINE (UNTERNEHMENS-) „PROBLEMKIND“ GESCHICHTE DER EISENBAHN DEUTSCHE BAHN? IN DEUTSCHLAND Christian Burgdorf Susanne Kill DIE SCHIENE IN „EISENBAHNGESCHICHTE DER VERKEHRSWENDE. IST ÜBERALL PRÄSENT“. WO DEUTSCHLAND VON EIN GESPRÄCH ANDEREN LERNEN KANN Robin Kellermann Wolfgang Schroeder WARTEN AUF DIE BAHN TARIFKONFLIKTE BEI DER DEUTSCHEN BAHN UND Frithjof Benjamin Schenk DAS TARIFE INHEITSGESETZ MYTHOS „TRANSSIB“ ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Die Bahn APuZ 8–9/2022 CHRISTOPHER KOPPER CHRISTIAN BÖTTGER KLEINE (UNTERNEHMENS-)GESCHICHTE „PROBLEMKIND“ DEUTSCHE BAHN? DER EISENBAHN IN DEUTSCHLAND Die mit der Bahnreform 1994 geschaffene Die erste deutsche Eisenbahn wurde 1835 zwi- Marktordnung für die Eisenbahn in Deutschland schen Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen. hat bis heute Bestand. Mittlerweise gibt es in Die darauf folgende Entwicklung des hiesigen vielen Bereichen Reformbedarf, insbesondere Schienenverkehrs und seiner institutionellen wenn die Bahn dazu beitragen soll, die Treibhaus- Verfasstheit war stets eng mit der deutschen gasemissionen des Verkehrssektors zu reduzieren. Geschichte verbunden. Seite 27–33 Seite 04–09 CHRISTIAN BURGDORF SUSANNE KILL DIE SCHIENE IN DER VERKEHRSWENDE. WO „EISENBAHNGESCHICHTE IST ÜBERALL DEUTSCHLAND VON ANDEREN LERNEN KANN PRÄSENT“. EIN GESPRÄCH Die „Stärkung der Schiene“ ist in Deutschland 1996 wurde innerhalb der Deutsche Bahn AG ein erklärtes Ziel von Politik und Eisenbahn- die Abteilung „Konzerngeschichte/Historische branche. Bei der Umsetzung von konkreten Sammlung“ eingerichtet. Deren heutige Leiterin Ideen und Konzepten können Erfahrungen Susanne Kill spricht über den Umgang der DB aus dem Ausland helfen, etwa aus der Schweiz, AG mit der eigenen Geschichte und der Vergan- Schweden und dem Vereinigten Königreich. genheit ihrer Vorgängerorganisationen. Seite 34–40 Seite 10–12 WOLFGANG SCHROEDER ROBIN KELLERMANN TARIFKONFLIKTE BEI DER DEUTSCHEN BAHN WARTEN AUF DIE BAHN UND DAS TARIFEINHEITSGESETZ Wartesituationen gehören seit jeher zu Bahn- Deutschland gilt als das Land der Sozialpartner- reisen. Wie und wo wurde in früheren Zeiten schaft und kooperativen Arbeitsbeziehungen. auf die Bahn gewartet, und war es schon immer Warum verlaufen dann bei der Deutschen so geächtet wie heute? Der Beitrag unterzieht Bahn Tarifkonflikte so unerbittlich und Streiks die zentrale Mobilitätspraxis einer bau- und so heftig? Und bietet das seit 2015 geltende rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktion. Tarifeinheitsgesetz eine Lösungsperspektive? Seite 13–19 Seite 41–46 FRITHJOF BENJAMIN SCHENK MYTHOS „TRANSSIB“ Die Transsibirische Eisenbahn sollte die Distanz zwischen Europa und Asien verkürzen und war ein Grund für einen verheerenden Krieg zwischen Russland und Japan. Heute träumen russische Pla- ner erneut von einer Umlenkung der Warenströme aus China auf die längste Bahnlinie der Welt. Seite 20–26
EDITORIAL Die erste Dampflokomotive fährt in einem Eisenwerk im südlichen Wales: Die Konstruktion des Ingenieurs Richard Trevithick, ein liegender Hochdruck- dampfkessel mit Schornstein auf einem Fahrgestell, zieht am 21. Februar 1804 fünf Waggons mit zehn Tonnen Eisen und 70 Personen über 15 Kilometer weit. Da sie für die Schienen zu schwer ist, die eigentlich für Pferdewagen vorgesehen sind, wird sie bald nicht mehr eingesetzt. Die Technik allerdings wird fortentwi- ckelt, und 1825 kann zwischen der Bergbaustadt Darlington und dem Hafen von Stockton im Nordosten Englands die erste Eisenbahnlinie der Welt in Betrieb genommen werden. Zehn Jahre später folgt die erste deutsche Eisenbahnverbin- dung zwischen Nürnberg und Fürth. Mit der Eisenbahn beginnt in Europa eine Revolution. Das neue Verkehrs- mittel ist so schnell, sicher und günstig wie keines zuvor, und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts beschleunigt der Ausbau des Eisenbahnnetzes nicht nur den Personen- und Gütertransport sowie das Post- und Nachrichten- wesen, sondern auch die Industrialisierung und die wirtschaftliche Integration. Die historische Entwicklung hin zu unserem heutigen Alltag und der globalen Wirtschaftsweise ist eng mit der Eisenbahn verknüpft. Heute verbinden über eine Million Schienenkilometer weltweit Städte, Regionen und Kontinente miteinander. Als Verkehrs- und Transportmittel ist die Eisenbahn durch die Konkurrenz auf der Straße und in der Luft jedoch ins Hintertreffen geraten und kündet – zumindest in Deutschland – kaum mehr von der Überwindung von Raum und Zeit: Die Deutsche Bahn gilt als chronisch verspätet, überlastet und zu teuer, die Infrastruktur als marode. Die oftmals gegensätzlichen Ansprüche ökonomischer Effizienz und öffentlicher Daseins- vorsorge stellen das staatseigene Unternehmen vor erhebliche Herausforderun- gen. Dabei birgt die Schiene angesichts des Klimawandels das größte Potenzial, Treibhausemissionen zu reduzieren. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 8–9/2022 KLEINE (UNTERNEHMENS-)GESCHICHTE DER EISENBAHN IN DEUTSCHLAND Christopher Kopper Die erste deutsche Eisenbahn, die 1835 zwischen bahngesellschaften im gesamten Reich einsetzbar Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen wur- waren, legte der Verein deutscher Eisenbahnver- de, war eine Gründung privater Investoren. Die waltungen Standardmaße für die Größe der Wag- deutschen Staaten stiegen erst in den 1840er Jahren gons und Normen für die Kupplungen fest. in den Bau von Bahnlinien ein. Während einzel- Die preußische Staatsbahn trug nicht ohne ne Staaten wie Baden von Anbeginn auf ein reines Grund den Namen „Eisenbahnverwaltung“. Die Staatsbahnsystem setzten, entstand in Preußen ein KPEV war ein unselbstständiger Regiebetrieb und Mischsystem aus Privatbahnen und Staatsbahn. Teil der preußischen Staatsverwaltung. An ihrer Ab 1850 entwickelte sich der Eisenbahnbau zur Spitze stand bis 1919 der preußische Minister für Lokomotive der wirtschaftlichen Entwicklung.01 öffentliche Arbeiten. Wie in der öffentlichen Ver- waltung war das Personal in vier Laufbahngruppen KAISERREICH vom einfachen bis zum höheren Dienst aufgeteilt. Mit Ausnahme der Werkstatt- und Bahnunterhal- Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 spiel- tungsarbeiter besaßen die Bediensteten den Be- te die Eisenbahn erstmals eine strategisch wichti- amtenstatus und genossen das Privileg einer gesi- ge Rolle für den Aufmarsch und den Nachschub cherten Beschäftigung und einer auskömmlichen von Truppen und Material. Zugleich wurde ein Pension. Als Gegenleistung waren sie ihrem obers- Teil der Kriegskosten durch den Verkauf von Ei- ten Dienstherrn, dem preußischen König und deut- senbahnaktien gedeckt. Nach dem Krieg erlaub- schen Kaiser, zu besonderer Treue verpflichtet. Das ten die hohen französischen Kriegskontributi- Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft galt onen der preußischen Regierung, im großen Stil für sie nicht, und wer in die sozialdemokratische Aktien privater Bahngesellschaften zu kaufen und Eisenbahnergewerkschaft eintrat, musste mit der den Anteil der Staatsbahn am Streckennetz zu er- Entlassung rechnen. Den Bahnbeamten war ledig- höhen. Die preußische Regierung strebte an, alle lich die Mitgliedschaft in patriotischen und kaiser- Hauptbahnen in den Besitz der staatlichen Eisen- treuen Beamtenvereinen g estattet. bahnverwaltung zu bringen. Als 1873 die Bahnen Innerhalb des preußischen Fiskus war die KPEV des als „Eisenbahnkönig“ bekannten Unterneh- ein Nebenhaushalt von beträchtlicher Größe. Vor mers Bethel Strousberg Konkurs anmeldeten, bot dem Ersten Weltkrieg erwirtschaftete sie jährli- sich die Gelegenheit zu einer großen Erweiterung che Nettoüberschüsse von mehr als 200 Millionen des Staatsbahnnetzes, und bis 1880 waren fast alle Mark. So verfügte die preußische Regierung über Hauptbahnlinien in Preußen in staatlicher Hand. eine sprudelnde Einnahmequelle, die der Kontrolle Die Königlich Preußische Eisenbahnverwal- des Preußischen Landtags entzogen war. Bereits in tung (KPEV) entwickelte sich zur größten Ei- den 1870er Jahren erweckten die hohen Überschüsse senbahngesellschaft der Welt. Ihr Netz umfasste der Staatsbahnen die Begehrlichkeit des Reichskanz- etwa zwei Drittel des Reichsgebiets. Neben Preu- lers Otto von Bismarck. Sein Versuch, sie in Reichs- ßen gehörten die Territorien der thüringischen eigentum zu überführen und dem Reich eine große Kleinstaaten und das Herzogtum Braunschweig neue Einnahmequelle zu sichern, scheiterte jedoch zum Betriebsgebiet, ab 1897 auch Hessen. Neben am Bundesrat, wo die übrigen deutschen Staaten die der KPEV gab es die deutlich kleineren Staats- „Verreichlichung“ der Staatsbahnen blockierten. bahnbetriebe von Bayern, Sachsen, Württemberg, Die Friedensjahre des Kaiserreiches von 1871 Baden und Oldenburg. Damit die Waggons der bis 1914 waren das Zeitalter der Mobilitätsex- Staatsbahnverwaltungen und der privaten Eisen- plosion. Während das Hauptbahnnetz zum Zeit- 04
Die Bahn APuZ punkt der Reichsgründung bereits recht weit Diese Entwicklungen wurden mit Beginn des entwickelt war, lag das Deutsche Reich in der Flä- Ersten Weltkrieges unterbrochen. Die Staatsbahnen chenerschließung noch deutlich hinter Großbri- waren in die militärischen Aufmarschplanungen in- tannien zurück. Das deutsche Eisenbahnnetz hol- tegriert und mussten auf Wunsch des Generalstabs te den Rückstand1 in den nächsten Jahrzehnten strategisch wichtige „Kanonenbahnen“ nach Wes- vollständig auf, als die Staatsbahnen den Ausbau ten bauen. Allein in den ersten beiden Wochen des des Neben- mit den hohen Überschüssen aus dem August 1914 waren 32 000 Züge mit Truppentrans- Hauptbahnnetz finanzieren konnten. Während porten und Nachschub an die West- und Ostfront das deutsche Eisenbahnnetz 1870 noch eine Stre- unterwegs.04 Während die deutschen Bahnen ihre ckenlänge von 18 300 Kilometern umfasste, waren Transportaufgaben beim Aufmarsch gegen Belgi- es 1913 60 800 Kilometer. Das preußische Minis- en, Frankreich und Russland reibungslos erfüllten, terium für öffentliche Arbeiten baute das Bahn- waren sie dem vier Jahre dauernden Verschleiß- netz zur Förderung der regionalen Wirtschaft krieg nicht gewachsen. Ab 1916 führte der Man- und zur Integration des Binnenmarkts planmä- gel an einsatzfähigen Loks und Waggons zu Versor- ßig aus. Die Regierungen der preußischen Pro- gungsengpässen für die Zivilbevölkerung, die unter vinzen erhielten Zuschüsse aus dem preußischen einem Mangel an Nahrung und an Kohlen litt. Zu- Staatshaushalt, um den Bau von kreiseigenen Se- gleich unterschätzte die Oberste Heeresleitung kundär- und Kleinbahnen zu fördern. Neben den die logistische Bedeutung der Eisenbahnen für die Nebenbahnlinien der KPEV entstanden Tausen- Aufrechterhaltung der Kriegsproduktion und ver- de Kilometer normal- und schmalspurige Kreis- sorgte die Staatsbahnen nur nachrangig mit Eisen, bahnen zur Erschließung ländlicher Räume. Stahl und Kupfer. Die Schienenfahrzeughersteller Die Mobilität per Eisenbahn wurde im Kaiser- wie Krupp, Henschel und Krauss-Maffei stellten reich zu einer Alltagserscheinung.02 Von 1870 bis ihre Produktion wegen der hohen Gewinnspannen 1913 stieg die Zahl der Passagierkilometer fast auf für Heereslieferungen teilweise auf Waffen um, wo- das Zehnfache, von 4,4 auf 41,2 Milliarden.03 Ab durch sich der Fahrzeugmangel weiter v erschärfte. der Jahrhundertwende boten die Staatsbahnen stark vergünstigte Arbeiterwochenkarten an, die das Pen- WEIMARER REPUBLIK deln zum Arbeitsplatz für Arbeiter aus dem Umland der Städte erschwinglich machte. Dies ermöglich- Am Ende des Ersten Weltkrieges waren das te die Durchsetzung neuer Lebensformen wie des Gleisnetz, die Lokomotiven und die Waggons Arbeiterbauern, der in seiner Heimatgemeinde ein wegen der Überlastung und infolge rückständiger Stück Land bearbeitete und seinen Lebensunterhalt Reparaturen stark verschlissen. Der Substanzver- in einem städtischen Industrie-, Handwerks- oder zehr wurde durch die Reparationsforderungen Baubetrieb verdiente. Der Ausbau des Eisenbahn- der alliierten Siegermächte zusätzlich verschärft, netzes und die Beschleunigung und Verdichtung des die zum Ausgleich für die Kriegszerstörungen in Zugbetriebs führten auch zu einer kommunikativen Belgien und Frankreich ultimativ die Übergabe Revolution: Der Posttransport per Bahn verkürz- von 5000 Loks forderten.05 te die Laufzeit von Briefen erheblich. Die Berliner Die Regierung der Weimarer Republik und Morgenzeitungen, die am Abend des Vortags ge- die Nationalversammlung waren sich einig, die druckt wurden, erreichten am nächsten Tag die Zei- Länderbahnen in den Besitz des Reiches zu über- tungskioske in den Städten des Reiches. führen und zur Reichsbahn zu fusionieren. Die- ses Mal verzichteten die Länder auf ein Veto ge- gen das Ende des Eisenbahnföderalismus. Der 01 Vgl. Dieter Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Krieg, die Zwangsablieferungen und die steigen- Industrialisierung, Stuttgart 1996; Lothar Gall, Von den Anfän- gen bis zum Ersten Weltkrieg, in: ders./Manfred Pohl (Hrsg.), de Inflation hatten die profitablen Länderbahnen Die Eisenbahn in Deutschland, München 1999, S. 13–70; Rainer Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 04 Vgl. Christopher Kopper, Transport und Verkehr, in: Marcel 1840–1879, Dortmund 1975. Boldorf (Hrsg.), Handbuch Deutsche Wirtschaft im Ersten Welt- 02 Vgl. Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, Ostfildern krieg, Berlin 2020, S. 105–122. Siehe auch Christopher Kopper, 2005. Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert, München 2002. 03 Zur Verkehrsstatistik seit 1850 siehe Christopher Kopper, 05 Vgl. ders., Ein Opfer der alliierten Reparationspolitik?, in: Jan- Verkehr und Kommunikation, in: Thomas Rahlf (Hrsg.), Deutsch- Otmar Hesse/Dieter Ziegler (Hrsg.), 1919 – Der Versailler Vertrag land in Daten, Bonn 2015, S. 224–235. und die deutschen Unternehmen, Berlin 2022, S. 157–173. 05
APuZ 8–9/2022 in Verlustbringer verwandelt, sodass die Länder tionsgläubigern war spannungsfrei, während sie mit ihre Eisenbahnen 1920 sogar ein Jahr früher als der Reichsregierung wegen Tariferhöhungen regel- geplant in Reichsbesitz übertrugen. mäßig in Konflikte geriet. Die DRG wurde als ge- Die Reichsbahn unter der Führung des Reichs- winnorientiertes, aber nicht wie ein gewinnmaxi- verkehrsministers besaß als unselbstständiger Re- mierendes Unternehmen geführt. Das Management giebetrieb und Teil des Reichsfiskus den gleichen bestand weiterhin aus höheren Eisenbahnbeamten, rechtlichen Status wie die KPEV. In ihren ersten die kaufmännisch dachten, sich aber einer gemein- Jahren holte sie den kriegsbedingten Instandhal- wohlorientierten Betriebsführung verpflichtet fühl- tungsrückstand auf und startete ein großes Be- ten. So wurden etwa für die Tarife im Güterverkehr, schaffungsprogramm. Die verschlissenen oder als der bis in die 1950er Jahre zwei Drittel aller Einnah- Reparationsgut abgegebenen Lokomotiven aus men einbrachte, auch regionalwirtschaftliche und der Kaiserzeit wurden durch moderne Loks er- strukturpolitische Interessen berücksichtigt. setzt. Der Übergang zu den Einheitsbaureihen der Ab dem Ende der 1920er Jahre stellte der Reichsbahn reduzierte die große und unwirtschaft- Lkw-Fernverkehr das bestehende Geschäftsmo- liche Typenvielfalt der Länderbahnen mit über 100 dell aus gewinnbringenden Gütertarifen für Kauf- Lokomotivtypen. Allerdings musste der Reichs- mannsgüter und gemeinwohlorientierten Tarifen haushalt schon bald ein immer größeres Betriebs- für Rohstoffe infrage. Die Weltwirtschaftskri- defizit decken, da während der Inflation die Tarife se verschärfte den Konkurrenzdruck durch die hinter den Kostensteigerungen zurückblieben. Lkw-Spediteure, die ihre Frachtraten bis auf die 1924 erhielt die Reichsbahn die Rechtsform Grenzkosten drückten. 1931 intervenierte die einer reichseigenen Aktiengesellschaft. Die Deut- Reichsregierung durch eine eingeschränkt wirk- sche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) wurde von same Notverordnung gegen die Unterschreitung einem autonomen Vorstand mit voller unterneh- der Bahntarife. Von 1929 bis zum Höhepunkt der merischer Verantwortung geführt und konnte Weltwirtschaftskrise 1932 ging der Güterverkehr über Beschaffungen, Netzausbau und Tarife ei- auf der Schiene um 40 Prozent zurück. 1931 und genständig entscheiden.06 Zudem erhielt sie eine 1932 schrieb die DRG zum ersten Mal rote Zahlen. wichtige Funktion bei der Aufbringung der deut- schen Kriegsreparationen. Nach dem internatio- NATIONALSOZIALISMUS nalen Reparationsabkommen von 1924 (Dawes- Plan) brachte die DRG jährlich 660 Millionen Als die Nationalsozialisten Anfang 1933 die Reichsmark Reparationen auf, wodurch sie den Macht übernahmen, reagierte die Führungsspitze Reichshaushalt und die deutsche Wirtschaft er- der DRG passiv und gehorsam. Im März 1933 ließ heblich entlastete. Für die alliierten Reparations- sie das Hissen der Hakenkreuzfahne an Bahnge- gläubiger war die DRG ein „produktives Pfand“. bäuden zu und erklärte im Juni den Hitlergruß Der Güterverkehr mit Kaufmannsgütern und der zur Pflicht. Sie setzte die von der Reichsregierung Personenfernverkehr erbrachten hohe Gewinne, geforderte Entlassung der jüdischen und sozial- sodass die Investitionsspielräume der DRG nicht demokratischen Bahnbeamten um, versuchte al- beeinträchtigt waren. lerdings, an besonders qualifizierten jüdischen Die DRG war nicht nur der größte, sondern Mitarbeitern so lange wie möglich festzuhalten.07 auch der technisch modernste Bahnbetrieb Euro- Die Reichsregierung verlangte von der DRG pas. Mit dem Bau elektrifizierter S-Bahn-Netze betrieblich nicht notwendige Arbeitsbeschaf- in Berlin und Hamburg und der Einführung von fungsmaßnahmen, von denen vor allem arbeits- dieselgetriebenen Triebwagen („Fliegender Ham- lose SA-Männer profitierten. Obwohl die DRG burger“) mit einer Höchstgeschwindigkeit von bis 1936 ein selbstständiges Unternehmen blieb, 160 Stundenkilometern setzte sie neue Maßstäbe. passte sie sich den Wünschen der Regierung wi- Das Verhältnis der DRG zu den alliierten Repara- derstandslos an. Da die Finanzierung der Aufrüs- tung und des Autobahnbaus durch Reichsanlei- 06 Vgl. Alfred C. Mierzejewski, The Most Valuable Asset of the Reich. A History of the German National Railway, Bd. 1 07 Vgl. Alfred Gottwaldt, Die Reichsbahn und die Juden (1920–1932), Chapel Hill 1999; Eberhard Kolb, Die Reichsbahn 1933–1939, Wiesbaden 2011. Zur Geschichte der Reichsbahn vom Dawes-Plan bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Gall/ im Nationalsozialismus siehe Mierzejewski (Anm. 6), Bd. 2 Pohl (Anm. 1), S. 109–163. (1933–1945), Chapel Hill 2000. 06
Die Bahn APuZ hen Vorrang hatten, durfte die Reichsbahn keine BUNDESREPUBLIK eigenen Anleihen auf dem Kapitalmarkt platzie- ren. Als sie ab 1936 dank der rüstungsbedingten Nach dem Krieg betraf die Teilung Deutschlands Hochkonjunktur wieder Investitionen aus eige- in vier Besatzungszonen auch die Reichsbahn. ner Kraft finanzieren konnte, wurde sie bei der 1947 übernahm die Verwaltung für Verkehr in der Zuweisung von Eisen und Stahl benachteiligt. amerikanischen und der britischen Besatzungs- Die eingeschränkten Investitionsmöglichkeiten zone (Bizone) die Leitung des Schienenverkehrs. führten ab 1938 zu ersten Kapazitätsengpässen Die Aufbauleistungen der Eisenbahn in den ersten im Verkehr. 1937 beendete Hitler den Status der Nachkriegsjahren reichten aus, um nach der Wäh- DRG als autonomes reichseigenes Unternehmen rungsreform im Juni 1948 alle wichtigen Verkehrs- und ließ die Reichsbahn in das Reichsverkehrs- bedürfnisse der Wiederaufbaugesellschaft decken ministerium und in den Reichsfiskus eingliedern. zu können. Nach Gründung der Bundesrepublik Der seit 1926 amtierende DRG-Generaldirektor wurde die Reichsbahn in der Bizone im September Julius Dorpmüller erhielt das Amt des Reichsver- 1949 in Deutsche Bundesbahn (DB) umbenannt. kehrsministers und blieb bis 1945 in Personaluni- Die Eisenbahn in der französischen Besatzungszo- on Chef der Reichsbahn. ne wurde bis Anfang 1951 in die DB integriert.09 In Der Beginn des Zweiten Weltkrieges, die da- der sowjetischen Besatzungszone und der späteren mit verbundenen Verdunkelungsvorschriften und DDR behielt die Bahn den alten Namen „Deut- der sehr harte Winter 1939/40 verursachten er- sche Reichsbahn“. Damit konterkarierte die Re- hebliche Verkehrsstörungen im Bahnverkehr. Bis gierung der DDR den Alleinvertretungsanspruch zum Sommer 1944 funktionierte der Verkehr re- der Bundesbahn für die deutschen Eisenbahnen lativ zuverlässig, bevor alliierte Bomberverbän- in den internationalen Eisenbahnorganisationen. de die Reichsbahn durch gezielte Angriffe auf Im geteilten Berlin übertrugen die Alliierten der Bahnanlagen zum Erliegen brachten. Im Winter Reichsbahn den Bahnverkehr einschließlich der S- 1941/42 kam es wegen des großen Lokomotivbe- Bahn. In der DDR blieb die Reichsbahn im Ver- darfs für Transporte zur Ostfront zu Nachschub- kehrsministerium eingegliedert. Sie stand unter problemen. Auf Drängen des Reichsrüstungs- der Leitung des Verkehrsministers und unterlag ministers Albert Speer stellte die Reichsbahn die der zentralen Wirtschaftsplanung. Lokbeschaffung auf eine besonders rationell ge- Die DB wurde mit dem Bundesbahngesetz fertigte und technisch vereinfachte Kriegslok 1951 administrativ und finanziell von der Verwal- (Baureihe 52) um, von der in den letzten beiden tung des Bundes getrennt. Sie erhielt den Status Kriegsjahren 6000 Stück gebaut wurden. eines rechtlich unselbstständigen Sondervermö- Von 1941 bis 1944 transportierte die Reichs- gens mit eigenem Vorstand. Das Bundesbahnge- bahn mehrere Millionen Juden in Ghettos, Kon- setz stellte der DB zwei Ziele, die sich schon 1951 zentrations- und Vernichtungslager und damit in nicht mehr vereinbaren ließen: Das Ziel einer ge- den Tod.08 Obwohl dabei häufig Viehwaggons meinwohlorientierten Verkehrsbedienung stand zum Einsatz kamen, kassierte die Reichsbahn den im Widerspruch zu dem Ziel, angemessene Ge- regulären Tarif für Gruppenreisen. Die Deporta- winne zu erwirtschaften und an den Bund abzu- tionszüge wurden mit dem beschlagnahmten Ver- führen. Die DB musste die Kosten des Wieder- mögen der ermordeten Juden bezahlt. Obwohl aufbaus in Höhe von zwei Milliarden D-Mark Deportationstransporte keine Priorität besaßen, aus eigenen Mitteln tragen. Während die Bahn bis sorgte der stellvertretende Reichsbahn-General- zur Währungsreform gleichzeitig Gewinne hatte direktor Albert Ganzenmüller für den Vorrang erwirtschaften und ihren Wiederaufbau finanzie- der SS bei der Gestellung von Deportationszü- ren können, brachen die Gewinne nun weg. Das gen. Nach dem Krieg schwiegen die Verantwort- Boomjahr 1951 war das einzige Jahr in ihrer Ge- lichen der Reichsbahn über ihre Mitverantwor- schichte, in dem die DB einen kleinen Gewinn tung für die Deportationen. Keiner von ihnen von 76 Millionen D-Mark erzielen konnte. wurde je von einem deutschen Gericht verurteilt. Das Geschäftsmodell der Vorkriegszeit, Defizi- te des Personennahverkehrs aus den Überschüssen 08 Vgl. Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1981; Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die „Judendeportatio- 09 Vgl. Christopher Kopper, Die Bahn im Wirtschaftswunder, nen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005. Frankfurt/M. 2007. 07
APuZ 8–9/2022 des Güterverkehrs zu decken, funktionierte ab den gierung und der Bundestag eine Rückkehr zur 1950er Jahren nicht mehr. Hierfür war die zuneh- komfortablen Ertragslage der Vorkriegszeit er- mende Konkurrenz des Lkw-Fernverkehrs verant- warteten. Der Durchbruch des Lkw zum stärks- wortlich, der der DB immer mehr lukrative Trans- ten Konkurrenten der Bahn und das Vordringen porte von Kaufmannsgütern kostete. Während die des Autos als Massenprodukt zwangen die Ver- Tarife des gewerblichen Lkw-Fernverkehrs weiter- antwortlichen zum Umdenken. Trotz der er- hin an die Bahntarife gebunden blieben, konnten kennbaren Problemlage wurden die Ergebnisse werkseigene Lkw Transportleistungen zum Teil zweier Expertenkommissionen zur Sanierung der deutlich kostengünstiger anbieten als die Bahn. DB in den späten 1950er und frühen 1960er Jah- Die Steuerpolitik der Bundesregierung begüns- ren nur halbherzig umgesetzt. Bundesverkehrs- tigte diese Entwicklung: Zur Förderung des Wie- minister Hans Christoph Seebohm (DP/CDU) deraufbaus erhielten Unternehmen Steuervorteile setzte vergeblich auf Wettbewerbseinschränkun- durch hohe Abschreibungssätze für Investitions- gen im Güterfernverkehr auf der Straße und lehn- güter. Da das Defizit der DB ab 1953 stetig wuchs, te den Ausgleich der gemeinwirtschaftlichen Las- versuchten Bundesfinanz- und Bundesverkehrsmi- ten der DB durch den Verkehrshaushalt ab. nisterium gegenzusteuern. Doch selbst die Einfüh- In den 1960er Jahren erkannten Verkehrsex- rung einer hohen, als prohibitiv angesehenen Son- perten die zunehmende Bedeutung des schienen- dersteuer für den werkseigenen Lkw-Fernverkehr gebundenen Nahverkehrs in Ballungsräumen. konnte die Verschiebung der Verkehrsanteile von 1965 geschah ein erster Schritt in Richtung eines der Schiene zur Straße lediglich v erlangsamen. entsprechenden Ausbaus, als die Stadt München Zugleich lasteten Personalkosten zunehmend und das Land Bayern mit der DB einen Vertrag auf der DB: Nicht nur stiegen die Aufwendungen über den Bau eines S-Bahn-Netzes in der Regi- für Beamtenpensionen, bis Mitte der 1950er Jah- on München unterzeichneten. 1967 schloss die re beschäftigte sie auch 50 000 Menschen mehr, Bundesregierung die Finanzierungslücke, die bis- als betrieblich notwendig war. Das 1950 verab- lang die Modernisierung und den Ausbau von S- schiedete Gesetz für die Wiedereingliederung Bahn-Netzen verhindert hatte. von ehemaligen Beamten und Berufssoldaten in Mitte der 1960er Jahre lösten Elektro- und den öffentlichen Dienst (Artikel 131-Gesetz) ver- Diesellok die überkommene Dampflok als wich- pflichtete die DB, über ihren Bedarf hinaus Be- tigsten Zugantrieb ab. Die DB stellte 1965 den amte wiedereinzustellen. Hiervon profitierten ersten Loktyp mit einer Höchstgeschwindigkeit nicht nur geflohene und vertriebene Reichsbahn- von 200 Stundenkilometern vor, als nur ein ein- beamte, die ihre frühere Dienststelle auf dem ziger Streckenabschnitt in ihrem Netz für Tempo Gebiet der deutschen Ostgebiete und der DDR 200 ausgebaut war. Erst als Bundesverkehrsmi- verloren hatten. Auch ehemalige Nationalsozia- nister Georg Leber (SPD) 1968 den „Leber-Plan“ listen, die im Zuge der Entnazifizierung entlassen zur Modernisierung der DB vorstellte, konnte die worden waren, wurden wieder eingestellt. DB-Hauptverwaltung mit langfristigen Ausbau- Wegen ihrer negativen Ertragslage musste die planungen beginnen. DB schon in den 1950er Jahren einen zunehmen- Die Bundesbahn geriet durch ihre steigenden den Anteil ihrer Investitionen durch Kreditauf- Defizite und ihre wachsende Verschuldung in eine nahmen finanzieren. Obwohl der Bund ihr 1958 zunehmende finanzielle Abhängigkeit vom Bund. und 1961 einen Teil der hohen Pensionslasten und Größere Neuinvestitionen erforderten die Zu- mehrere Milliarden D-Mark Schulden abnahm, stimmung des Bundesverkehrsministeriums. Der litt die DB weiterhin unter einseitigen Wettbe- Bund stellte der DB ab Anfang der 1970er Jahre werbsnachteilen: Die DB subventionierte den wachsende Mittel für den Ausbau des Kernnetzes Pendlerverkehr durch besonders günstige Wo- und den Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken chen- und Monatskarten und förderte die Mo- zur Verfügung, vernachlässigte aber die Moderni- bilität von Menschen mit Behinderungen durch sierung und Rationalisierung der Nebenstrecken Tarifvergünstigungen, erhielt aber vom Bund, der im ländlichen Raum. Mangels einer staatlichen Be- die Sozialtarife veranlasst hatte, keinen angemes- teiligung an den hohen Betriebskosten war die DB senen Ausgleich. ab den späten 1960er Jahren zur Stilllegung des Das Bundesbahngesetz war zu einem Zeit- Personenverkehrs auf zahlreichen Nebenstrecken punkt verabschiedet worden, als die Bundesre- gezwungen. Im Güterverkehr führte der wirt- 08
Die Bahn APuZ schaftliche Strukturwandel zu einem Bedeutungs- reagieren. Hohe Investitionen in neue Fahrzeug- verlust der Bahn. Sie besaß in der schrumpfenden baureihen und in die Rationalisierung des Zugbe- Grundstoffindustrie die höchsten Marktanteile, triebs brachten in den ersten zehn Jahren jährliche aber konnte beim Transport von Kaufmannsgü- Produktivitätssteigerungen von zehn Prozent. Die tern und in modernen Logistikkonzepten immer beschleunigte technische Innovation durch auto- weniger mit dem Lkw konkurrieren. nome und gestraffte Beschaffungsprozesse brach- Mit ihrem Schuldenberg von 50 Milliarden D- te mitunter Probleme. So erhielt die DB von der Mark fehlten der DB nicht allein finanzielle Mit- Fahrzeugindustrie gelegentlich Modellreihen, die tel, sondern auch unternehmerische Handlungs- technisch noch nicht ausgereift waren. spielräume, um weitere Verluste ihrer Marktanteile Die Organisation des bislang hochdefizitären im Verkehr zu verhindern. Trotz des unstrittigen Nahverkehrs wurde auf das Bestellprinzip um- Handlungsbedarfs wurde eine grundlegende Re- gestellt: Die Länder erhielten feste jährliche Zu- form der DB und der Schienenverkehrspolitik bis weisungen des Bundes. Um eigene Mittel ergänzt, zum Ende der 1980er Jahre hinausgezögert. Im traten die Länder jetzt als Besteller von Zugleis- Sommer 1989 beauftragte das Bundesverkehrs- tungen auf. Die DB wurde zu einem Konzern mit ministerium eine Expertenkommission mit ei- selbstständigen Gesellschaften für Nah-, Fern- nem Konzept für eine wirtschaftlich eigenständi- und Güterverkehr, für Stationen und für das Schie- ge und zukunftsträchtige Bahn in der Rechtsform nennetz umgebaut, die durch Beherrschungs- und einer Aktiengesellschaft.10 Durch die Wiederver- Gewinnabführungsverträge mit der Konzernmut- einigung und die Eingliederung der ostdeutschen ter verbunden wurden. Es gelang der DB AG und Reichsbahn in die DB stieg der Handlungsdruck ihren Wettbewerbern auf der Schiene, den Anteil weiter. Da die Rechtsform der Bundesbahn in Ar- des Schienenverkehrs im Personenverkehr zu stei- tikel 87 des Grundgesetzes festgeschrieben war, gern und im Güterverkehr trotz des Strukturwan- benötigten Bundesregierung und Bundesbahn eine dels zu halten. Die Bundesnetzagentur sorgte für Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. diskriminierungsfreie Nutzungsentgelte für das Bundesbahnchef Heinz Dürr und Verkehrsminis- Schienennetz, die gleichermaßen für die DB-Ge- ter Günther Krause (CDU) gelang es, alle Landes- sellschaften wie für ihre Konkurrenten galten. regierungen, die oppositionelle SPD und die Ge- Ab 2004 verfolgte der Konzernvorstand den werkschaft der Eisenbahner Deutschlands (heute Plan, einen Teil des DB-Kapitals an der Börse zu Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG) für platzieren. Die verhältnismäßig günstige Ertrags- die Bahnreform zu gewinnen. Nur die Gewerk- lage bestärkte den Vorstand in seiner Erwartung, schaft der Bundesbahnbeamten und die Gewerk- dass eine Teilprivatisierung gelingen könnte. Der schaft der Lokomotivführer versagten der Um- Börsengang wurde jedoch 2008 unter anderem wandlung der Bundesbahn in eine zu 100 Prozent wegen der Finanzkrise abgeblasen. Die positive bundeseigene Aktiengesellschaft ihre Zustimmung. Ertragslage der Jahre zuvor war durch die Ver- Der Bund verschaffte der DB AG die notwen- nachlässigung von Investitionen in das Gleisnetz digen finanziellen Mittel für einen gelingenden und einen Personalabbau in den Werkstätten er- Neustart. Er übernahm sämtliche Altschulden, die kauft worden, der sich im Betriebsablauf negativ Mehrkosten für aktive Bahnbeamte und Pensio- bemerkbar machte. Eine dauerhaft hohe Eigen- näre und leistete bis nach der Jahrtausendwende kapitalrendite von acht Prozent als Vorausset- Milliardenzuschüsse zur Deckung der besonders zung eines erfolgreichen Börsengangs ließ sich hohen Betriebsdefizite in Ostdeutschland. Die DB in der kapitalintensiven DB AG nicht nachhaltig profitierte in den 1990er und 2000er Jahren von erwirtschaften. Die Bahnreform löste viele, aber deutlich höheren Investitionszuwendungen zur nicht alle strukturellen Probleme der Bahn. Im Sanierung und zum Ausbau des Netzes und zum Vergleich zu unseren europäischen Nachbarlän- Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken. Mit ihrer dern investiert der Bund noch immer zu wenig zurückgewonnenen wirtschaftlichen Selbststän- Geld in den Ausbau des Schienenverkehrs. digkeit konnte die DB deutlich flexibler auf die Anforderungen des intermodalen Wettbewerbs CHRISTOPHER KOPPER ist außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für 10 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Wiedervereinigung und Bahnre- Wirtschaftsgeschichte der Universität Bielefeld. form 1819–1994, in: Gall/Pohl (Anm. 1), S. 377–418. christopher.kopper@uni-bielefeld.de 09
APuZ 8–9/2022 INTERVIEW – Zu Bundesbahnzeiten lag das Thema Geschichte beim Ver- „EISENBAHNGESCHICHTE kehrsmuseum in Nürnberg, das von der dortigen damaligen IST ÜBERALL PRÄSENT“ Bundesbahn-Direktion verant- wortet wurde und ein traditi- onelles Technikmuseum mit Ein Gespräch über den Umgang der DB lokalpatriotischem Einschlag AG mit der Unternehmensgeschichte war. Dort begann nach öffent- licher Kritik die ernsthafte und selbstreflektierte Auseinan- mit Susanne Kill dersetzung mit der Geschich- te in den 1980er Jahren. Bei der Reichsbahn in der DDR gab es Frau Dr. Kill, Sie leiten bei der Grundstock einer Bibliothek sogenannte Traditionskabinet- Deutschen Bahn AG die Abtei- und einer wertvollen Foto- te, in denen die Geschichte der lung Konzerngeschichte/Histori- sammlung bilden. Sie werden jeweiligen Bahnbetriebe meis- sche Sammlung. Diese Abteilung gepflegt und stehen der histo- tens von den politischen Abtei- wurde 1996 eingerichtet. Warum rischen Kommunikation der lungen mit betreut wurde. Sie nicht schon vorher? Deutschen Bahn sowie der For- stellten eine Art Identitätsbin- Susanne Kill – Das war ein Er- schung zur Verfügung. Darüber dung der Angestellten und Ar- gebnis der Bahnreform. Denn hinaus bieten wir dem Unter- beiter zum eigenen Betrieb und als formale Aktiengesellschaft nehmen und der Öffentlichkeit dem großen Selbstverständnis unterlag die Bahn nicht mehr Expertise zur Geschichte der einer antifaschistischen DDR den Abgabepflichten des Bun- Eisenbahn in Deutschland seit und ihrer sozialistischen Plan- desarchivgesetzes. Für die ihren Anfängen. wirtschaft her. Staatsbahnen der Bundesbahn und Reichsbahn wurden die Was ist daran im Vergleich zum Wenn sich die DB AG also Akten pflichtgemäß ans Bun- Umgang der Staatsbetriebe erstmals systematisch der desarchiv beziehungsweise an Bundesbahn und Reichsbahn mit Vergangenheit auch ihrer die Landes- und Staatsarchive deren Geschichte neu? Vorgängerorganisation genähert abgegeben. Nach der Grün- – Es ist die historisch-wissen- hat: Wie geht man an so eine dung der Deutschen Bahn AG schaftlich informierte Perspek- Mission heran? Wo hat Ihre hatte sich der Vorstand dazu tive und ein sehr starkes Be- Abteilung seinerzeit angefangen? entschlossen, ein schlankes Un- wusstsein dafür, dass man sich – Sie hat auf zwei Ebenen be- ternehmensarchiv zu etablieren auch mit kritischen Themen der gonnen. In den 1990er Jahren und das Verkehrsmuseum in Eisenbahngeschichte auseinan- beauftragte der damalige Vor- Nürnberg zu übernehmen, um derzusetzen hat. Eisenbahnge- stand unabhängige Historiker, über die eigene Geschichte aus- schichte ist ja ausgesprochen sich die Geschichte der Eisen- kunftsfähig zu sein. vielfältig, und sie ist immer eng bahn in Deutschland gesamt- mit der Geschichte Deutsch- haft anzuschauen, mit einem Welche Aufgaben hat die lands verbunden. Das ist die Schwerpunkt auf der Geschich- Abteilung? Aufgabe von Historikerinnen, te der Reichsbahn im Natio- – Wir haben hier in Berlin die den Blick daraufhin zu weiten, nalsozialismus. Das war die Aufgabe, Firmendokumente wie Technikgeschichte, Politik- historisch-wissenschaftliche zu sammeln, die die Unterneh- geschichte und Betriebsgeschich- Grundlage der Auseinander- mensgeschichte der Deutschen te ineinander verwoben sind. setzung mit der Eisenbahnge- Bahn AG seit 1994 von der schichte, die selbst vom Un- Spitze her dauerhaft archivie- Hatte es vorher also keine ternehmen initiiert wurde. ren. Hinzu kommen Altbestän- Auseinandersetzung mit dieser Zeitgleich übernahm die DB de aus den ehemaligen Presse- „Metaebene“ der Vergangenheit das Nürnberger Museum und stellen in Ost und West, die den gegeben? konzipierte eine neue Dauer- 10
Die Bahn APuZ ausstellung zur Entwicklung der Massenmord an den euro- der eigenen Unternehmensge- der Eisenbahn in den jeweili- päischen Juden, Sinti und Roma schichte ein wichtiges Element gen Epochen. Das heißt, man logistisch nicht möglich gewesen. dieses Engagements. hat bestimmte, oft in der Lite- In der DDR war die Reichsbahn ratur wiederholte Mythen kri- dann nicht nur Dienstleisterin für Welche Rolle spielt die Geschich- tisch hinterfragt und immer Gefangenentransporte, sondern te der Vorgängerorganisationen nach dem Zusammenspiel von auch Profiteurin des Strafvollzugs, für den Konzern heute intern? Politik, Kultur und Wirtschaft da sie Häftlingszwangsarbeiter – Wir sind in der glücklichen gefragt. Dabei fokussierten wir beschäftigte. Welche Verantwor- Situation, dass es sehr viele Be- nicht mehr so stark auf Loks tung leitet die DB AG aus diesen schäftigte gibt, die sehr ge- und technische Entwicklungen, dunklen Kapiteln der Geschichte schichtsaffin und auf den unter- sondern auch auf die Menschen, ihrer Vorgängerorganisationen ab? schiedlichsten Gebieten äußerst die damals für die Eisenbahn – Das erste ist, dass man im Un- kenntnisreich sind. Wir kön- gearbeitet hatten beziehungs- ternehmen darüber Bescheid nen mit unserer Arbeit auf eine weise arbeiten mussten. wissen muss. Das heißt, wenn breite Unterstützung bauen es keinerlei fundierte Kenntnis und sind auch mit den Gewerk- Welche Mythen waren das? gibt, müssen wissenschaftliche schaften in einem guten Aus- – Ein heute noch beliebter My- Studien initiiert werden. In den tausch, und das nicht nur bei thos ist, dass die Anfänge der von Ihnen genannten Beispielen den „schönen Themen“. Es gibt Eisenbahn von großen Ängs- haben wir als Unternehmensar- Kooperationen für Gedenkstät- ten begleitet war und Medi- chiv keinen privilegierten Zu- tenfahrten oder auch die Initia- ziner vor den Geschwindig- gang zu den Quellen, und im tive Auszubildende gegen Hass keiten warnten – ein Mythos, Fall der Häftlingszwangsarbeit und Gewalt. Nicht zu vernach- der im späten 19. Jahrhundert der DDR waren Zeitzeugenbe- lässigen sind aber auch genuin als Fortschrittskritik geboren fragungen oft die Primärquelle. wirtschaftshistorische Themen. wurde. Auch die Einordnung Das heißt, es muss Forschungs- Investitionsentscheidungen ver- der Zeit der Reichsbahngrün- aufträge geben. Das andere ist gangener Zeiten in Infrastruk- dung in der Weimarer Repu- die gesellschaftspolitische Ver- tur und Fahrzeuge haben immer blik als Zeit des Niedergangs antwortung, die sich aus der noch Auswirkungen auf das der Eisenbahn haben wir auf Geschichte ergibt. Bei der DB heutige Geschäft. den Stand der Forschung ge- gibt es inzwischen eine sehr ak- bracht, und schließlich ging tive Erinnerungskultur, die sich Welche blinden Flecken würden es auch um Personen wie den unter anderem in der Pflege und Sie in der Unternehmensge- Generaldirektor und Reichs- Teilnahme an den Gedenkver- schichte beziehungsweise in verkehrsminister Julius Dorp anstaltungen zu den Deporta- der Geschichte der Eisenbahn müller. Dessen Ruhm war als tionen am Mahnmal der Bahn, in Deutschland identifizieren? international anerkannter Ei- dem Gleis 17 am Bahnhof Gru- Welche Zeiträume oder Themen, senbahnfachmann größer, als newald, manifestiert oder auch Fragestellungen sind möglicher- seine doch entscheidende Rolle in der internen Weiterbildungs- weise weniger gut erforscht? bei der Durchsetzung der na- arbeit des Konzerns. Als Un- – Das hängt sehr mit den über- tionalsozialistischen Politik in ternehmenshistoriker können lieferten Quellen zusammen. der NS-Zeit bekannt war. Die wir das Wissen zur Verfügung Die traditionelle Behörden- Kolleginnen und Kollegen in stellen und dazu anregen, Initi- überlieferung in den öffentli- Nürnberg haben ihn da für ihre ativen zu ergreifen beziehungs- chen Archiven erzählt uns re- Ausstellung im wahrsten Sinne weise zu unterstützen. Wenn lativ wenig über das operative des Wortes vom Sockel geholt. es Unternehmen ernst meinen Geschäft oder das Berufsleben mit ihrem gesellschaftspoliti- von Eisenbahnern. So hatten Während der NS-Zeit transpor- schen Engagement für eine de- wir unlängst wieder Anfra- tierte die Reichsbahn Millionen mokratische Gesellschaft, in gen zur Rolle von Gastarbei- Menschen fahrplanmäßig in der Antisemitismus, Rassismus tern bei der Bundesbahn. Oder Ghettos, Konzentrations- und und Zwangsarbeit keinen Platz auch Fragen zum operativen Vernichtungslager. Ohne sie wäre haben, dann ist die Kenntnis Geschäft im Güterverkehr, also 11
APuZ 8–9/2022 Antworten auf Fragen der Ver- Die Deutsche Bahn wirbt heute ökonomischer, nicht mehr die- kehrsgeschichte lassen sich nur unter anderem mit dem Spruch se wahnsinnigen Kohlevorrä- sehr mühsam rekonstruieren. „Mit uns schützen Sie die te und ausufernde Infrastruk- Umwelt“ fürs Bahnfahren. Gibt es tur vorhalten zu müssen, die Geschweige denn Rückschlüsse in der Unternehmensgeschichte ein Dampfbetrieb bedeutete. auf Lebenswirklichkeiten ziehen. eine Tradition bei der Berufung Die Umweltfreundlichkeit der – Genau, das wird man sich auf Umweltfreundlichkeit als Bahn ist gegenüber dem Indi- eher über Fotos und Objek- Verkehrsmittel oder zumindest vidualverkehr das große Plus. te erschließen können. Wir historische Anknüpfungspunkte? Das war den damals Verant- können in unserem DB Muse- – Wenn man ehrlich ist, be- wortlichen bei der Bahn aller- um auf einen schönen Bestand ginnt das in den 1980er Jah- dings schon klar. zurückgreifen. Der kann aber ren. Die Bahn reagiert immer nicht den Anspruch haben, al- auch auf wirtschaftliche und Das Interview führte Anne- les abzudecken, weil es das We- gesellschaftliche Herausforde- Sophie Friedel per Telefon am sen der Eisenbahngeschichte rungen. Zum Beispiel gibt es 28. Januar 2022. ist, fast überall präsent zu sein. ein sehr berühmtes Plakat, das Also steht man auch immer heißt „Unsere Loks gewöh- in Korrespondenz mit priva- nen sich das Rauchen ab“, das SUSANNE KILL ten Sammlern, aber eben auch stammt aus dem Jahr 1968. Da ist promovierte Historikerin und öffentlichen Archiven, um ein war der Umweltgedanke noch leitet die Abteilung Konzernge- Thema entsprechend aufzube- nicht so verbreitet, sondern es schichte/Historische Sammlung reiten, sei es für eine Ausstel- ging um mehr Effizienz durch der Deutsche Bahn AG in Berlin. lung oder für eine Publikation. die Elektrifizierung. Es war susanne.kill@deutschebahn.com Schon gehört? Die APuZ gibt es auch als Podcast! bpb.de/ apuz-podcast 12
Die Bahn APuZ WARTEN AUF DIE BAHN Eine Bau- und Kulturgeschichte Robin Kellermann „Diese Zeit gehört Dir“, lautet seit 2015 der Slo- Stunden Verspätung in Manchester ein, nachdem gan einer prominenten Werbekampagne der Deut- auf halber Strecke ein entgegenkommender Zug schen Bahn. Reisezeit, so das Versprechen, sei kei- den britischen Parlamentsabgeordneten und ehe- ne verlorene, sondern (wieder)gewonnene Zeit, maligen Minister William Huskisson erfasst hat- Bahnfahren das kurze Exil in einer hektischen All- te, der später seinen Verletzungen erlag.02 tagswelt – ein raffinierter Ansatz im Kontext unse- Über dieses historische Ereignis hinaus eröff- rer höchst zeitsensiblen Gesellschaft, in der Schnel- net die Beschäftigung mit dem Warten einen Ein- ligkeit und selbstbestimmte (Reise-)Zeitnutzung blick in Konstitution und Wandel unserer moder- einen hohen Stellenwert einnehmen. Gleichwohl nen Zeitauffassung. Obwohl Wartesituationen aus trägt zur allgemeinen Zeitsensibilität des Bahn- Passagierperspektive seit jeher ein zentraler As- reisens nicht nur das Entspannen im Bordbistro, pekt der Mobilitätserfahrung sind, erhält die The- sondern auch die alltägliche Erfahrung von War- matik innerhalb der historischen Verkehrs- und tezeiten bei. Laut der Deutschen Bahn waren im Technikforschung bislang nur geringe Aufmerk- präpandemischen „Normalbetrieb“ des Jahres samkeit. Vor diesem Hintergrund würdigt die- 2019 75,9 Prozent aller Fernverkehrszüge pünkt- ser Beitrag das Warten auf die Bahn nicht nur als lich.01 Demnach kam gut ein Viertel der Züge un- eine zentrale Mobilitätspraxis, sondern unterzieht pünktlich an sein Ziel, wobei die Bahn in ihrer Sta- es auch einer bau- und rezeptionsgeschichtlichen tistik einen Halt erst dann als unpünktlich wertet, Rekonstruktion.03 Wie und wo wurde in früheren wenn die planmäßige Ankunftszeit um mehr als Zeiten auf die Bahn gewartet, und war es schon sechs Minuten überschritten wird. Ausgefallene immer so geächtet wie heute? Züge finden zudem keine statistische Berücksich- tigung. Deutschland liegt damit im europäischen WARUM WIR AUF DIE BAHN Vergleich im letzten Drittel – und das obwohl an- WARTEN (MÜSSEN) dere Länder Pünktlichkeit strenger auslegen. Of- fiziell fielen 2019 laut Bahn 3,74 Millionen Ver- Die Entstehung von Verzögerungen und War- spätungsminuten an, wobei Nahverkehrszüge von tezeiten im Bahnwesen hat viele Ursachen. Zu Verzögerungen grundsätzlich weniger betroffen den infrastrukturell-technischen Ursachen zäh- sind als Fernverkehrszüge. len Probleme an Gleisanlagen, Fahrzeugen oder Das Warten auf die (verspätete) Bahn bildet am Signal- und Leitungssystem, die Reparaturen zweifellos einen unweigerlichen Teilaspekt der oder die Einrichtung von Baustellen erfordern. Zu Reiseerfahrung. Überhaupt stellte Verspätung be- den betrieblichen Ursachen zählen die unzurei- reits von Anbeginn des Bahnwesens eine feste Be- chende Anzahl und Einsatzfähigkeit verfügbarer gleitgröße dar. Dies kann kaum treffender illus- Züge und Ersatzzüge, aber auch Personalmangel. triert werden als durch die Eröffnung der ersten Zudem führen Wetterereignisse wie Sturm, Stark- regulären Personenverkehrsstrecke zwischen Li- regen und starker Schneefall oder auch Streiks verpool und Manchester am 15. September 1830, gelegentlich zu Verzögerungen. 2019 waren die die den triumphalen Auftakt in ein neues Zeital- drei häufigsten Verspätungsursachen von Zügen ter der beschleunigten Raumüberwindung mar- der DB Fernverkehr netzbedingte Verspätungs- kieren sollte: Nicht nur mussten die 600 Passagie- minuten (18 Prozent), Störungen an Fahrzeugen re des Festzuges in Liverpool bereits vor Abfahrt (11,8 Prozent) sowie Störungen an Leit- und Si- eine Wartezeit von gut 70 Minuten absolvieren, cherheitstechnik (7 Prozent).04 Davon ist auch der sondern traf der Zug auch erst mit zweieinhalb Güterverkehr betroffen. So waren Güterzüge der 13
APuZ 8–9/2022 DB Cargo im Jahresmittel von 2019 durchschnitt- zeitwarten von 0 bis 6 Minuten.06 Auch wenn kei- liche 43,2 Minuten verspätet. ne vergleichbaren Statistiken aus jüngerer Zeit Der hohe Anteil an netzbedingten Verspätun- vorliegen, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit gen führt vor Augen, dass die Bahn als ein hoch- der Bahnreisenden nach wie vor solche Zeitpuffer komplexes und entsprechend störungsanfälliges einrichtet. Verkehrssystem zu verstehen ist. In einem sol- Historisch gesehen, nahm dieser seitens der chen System können Störungen sich oftmals noch Reisenden benötigte Zeitvorlauf noch weit grö- auf selbst weit entfernte Punkte auswirken, was ßere Kapazitäten in Anspruch als heute. Grund Reisenden bisweilen in der besonders grotesk an- dafür war unter anderem, dass ein geordnetes mutenden Verspätungsursache „Verspätung auf- Verkehrsangebot aus Sicht der Eisenbahngesell- grund einer vorausgegangenen Verspätung“ in schaften über weite Teile des 19. Jahrhunderts nur Erinnerung gerufen wird.1234 durch ein mehr oder weniger hohes Maß zeitli- Neben netzbedingten und betrieblichen Ursa- cher und räumlicher Kontrolle vor Beginn der chen entstehen Wartesituationen jedoch auch sei- Abfahrt ermöglicht werden konnte, um Ströme tens der Reisenden selbst. Sie resultieren aus der (sicher) zu lenken, Fahrberechtigungen zu prüfen formalen Besonderheit, dass der Zugang zu einem oder Passagiere (klassenspezifisch) gruppieren zu öffentlichen Verkehrsmittel – das im Gegensatz können. Der neuartigen organisatorischen He- zum Individualverkehrsmittel eine „örtliche und rausforderung, viele Menschen gleichzeitig mit zeitliche Bündelung von Fahrtwünschen“05 er- einem Verkehrsmittel zu synchronisieren, wurde möglicht – nur dann effizient und verlässlich re- folglich mit Kontroll- und Transferzonen begeg- alisiert werden kann, wenn sich Reisende einem net. Die Gestaltung von Bahnhöfen im 19. Jahr- gewissen Orts- und Sachzwang unterstellen. Die hundert zielte demnach nicht nur auf die Errich- Abfahrt ist für Reisende folglich nicht frei wähl- tung symbolträchtiger Kathedralen der Mobilität, bar, sie müssen sich schlicht zu einem bestimmten sondern auch auf die Einrichtung großer Warte- Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfinden, um zonen, um einen ordnungsgemäßen Übergang gemeinsam transportiert zu werden. Daher müs- der Passagiere auf die Züge zu gewährleisten. Ins- sen selbst bei pünktlicher Abfahrt gewisse Zeit- besondere das erste Jahrhundert der Eisenbahn puffer eingeräumt werden. So absolvieren Bahn- stand dabei vielerorts im Zeichen der temporä- reisende am Abfahrtsort ein mehr oder weniger ren Sammlung bereits abgefertigter Reisender in langes Warten im Transitraum von Warteräumen großen Wartesälen, die „aus Gründen der Sicher- und Bahnsteigen oder aber ein indirektes Warten heit und Kontrolle noch nicht auf den Bahnsteig in Restaurants und Geschäften. Der zeitliche Um- durften“.07 fang dieses situativen Wartens vor Abfahrt kann durchaus erheblich sein. So erhob die Deutsche WARTEN IST „MODERN“ Bundesbahn 1979, dass 35 Prozent der Fernver- kehrsreisenden vor der planmäßigen Abfahrt ih- Dass Reisende einen Zug im Wartesaal oder am res Zuges eine selbstgewählte Wartezeit von 6 bis Bahnsteig erwarten, mag heute banal erscheinen. 15 Minuten, 32 Prozent eine Wartezeit von 15 bis Tatsächlich aber ist diese Situation historisch gese- 30 Minuten, 14 Prozent eine Wartezeit von 30 bis hen relativ neu, denn ohne den organisierten Mas- 60 Minuten und 5 Prozent gar eine Wartezeit von senverkehr der Eisenbahnen wäre jener Zeitzwi- mehr als 60 Minuten verbrachten. Nur 12 Prozent schenraum schlichtweg nicht entstanden. Zwar der Fernverkehrsreisenden absolvierten ein Kurz- war zum Zeitpunkt der ersten Eisenbahnreisen das Warten an sich keineswegs neu: Menschen warteten schon immer auf ernährungsrelevante 01 Vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 19/18864, 28. 4. 2020. Ernten, auf transportrelevante Winde, auf spiritu- 02 Vgl. James Walker, An Accurate Description of the Liverpool elle Erlösung und vieles mehr. Jedoch erfuhr das and Manchester Railway, Liverpool 1832, S. 68. Warten als anthropologische Grundverfassung 03 Der vorliegende Beitrag basiert auf Robin Kellermann, Im Zwi- schenraum der beschleunigten Moderne: Eine Bau- und Kulturge- schichte des Wartens auf Eisenbahnen, 1830–1935, Bielefeld 2021. 06 Vgl. Karl Radlbeck, Bahnhof und Empfangsgebäude: die 04 Vgl. BT-Drs. (Anm. 1). Entwicklung vom Haus zum Verkehrswegekreuz, München 1981, 05 Katrin Dziekan/Meinhard Zistel, Öffentlicher Verkehr, in: Oli- S. 132. ver Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, Wiesbaden 2018, S. 348. 07 Vgl. ebd., S. 13. 14
Die Bahn APuZ mit Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1830er te. Baulicher Rahmen und kulturelle Rezeption Jahren eine „moderne“ Erweiterung. Diese Form können somit Aufschluss geben, welchen Wandel des Wartens war erst durch die allgemeine Bewe- das Warten auf die Bahn durchlaufen hat. gungs- und Beschleunigungszunahme der ver- kehrlichen Moderne erzeugt worden und unter- BAUGESCHICHTLICHE schied sich in mindestens vier Merkmalen von der KONJUNKTUREN Erfahrung bis dahin typischer Wartesituationen. Erstens war sie wesentlich kürzer als etwa Wie und wo auf die Bahn in ihrer fast 200-jäh- ein vormodernes Langzeitwarten auf jahres- rigen Geschichte gewartet wurde, war auf engste zeitlichen Wandel oder das Erscheinen astrono- mit den Entwicklungsphasen des Bahnhofsbaus mischer Konstellationen zur Zeitbestimmung. verbunden. Darin spiegelten Lage und Stellung Auch wenn es sich aus Sicht der Wartenden des wartebezogenen Raumprogramms jeweils am Bahnhof manchmal wie eine Ewigkeit an- wandelnde Betriebskonzepte des Verkehrszu- fühlen mag, ist es verglichen mit vormodernen gangs, die den wartenden Passagier mehr oder Wartesituationen von relativ begrenzter Dauer. weniger stark formalisierten und disziplinierten. Zweitens war dieses Warten wesentlich profa- Während die Pionierphase der Eisenbahn ner und weniger existenziell, weil es eine forma- (1830–1845) den Reisenden zum Teil noch recht le Notwendigkeit des (neuen) Verkehrszugangs große informelle Spielräume und Bewegungs- darstellte. Drittens war dieses Warten von we- freiheiten bot, bildete sich zur Mitte des 19. Jahr- niger Ungewissheit gezeichnet. Wartende in hunderts ein Regime der Zwangsschleusung modernen Systemzusammenhängen wie etwa durch Wartesäle heraus, das dem Abfertigungs- am Bahnhof verfügten insgesamt über eine ge- prinzip heutiger Flughäfen ähnelte und ungefähr wisse Prozesssicherheit, weil sie sich bereits im bis zur Schwelle zum 20. Jahrhundert dominier- System befanden beziehungsweise Informatio- te. Im Rahmen dieses „stationären Warteimpera- nen durch Pläne oder Auskünfte erhielten, die tivs“08 war es den Reisenden in vielen europäi- die Ungewissheit des Wartens kompensieren schen Ländern vor Abfahrt nicht gestattet, den konnten. Im Vergleich zu anderen Wartesituati- Bahnsteig oder bereitstehende Züge zu betre- onen war das Warten auf die Bahn zudem stär- ten. Vielmehr mussten sie sich so lange in nach ker im Vorfeld plan- und absehbar und geschah bis zu vier Wagenklassen separierten Wartesälen dadurch weniger überraschend. Viertens trat aufhalten, bis ein Einstiegssignal ertönte. Dieser das „moderne“ Warten im Bahnkontext zudem organisatorische Zwang zum Warten wurde als häufiger und regelmäßiger auf. Das Wissen über eine Art Zeitstrategie implementiert, um die be- Rhythmik der Entstehung, Erfahrung und Auf- trieblichen Abläufe in der Gleishalle nicht zu ge- lösung solcher systemischer Wartesituationen fährden. Der Zwang wurde jedoch durch Kom- gehörte im Leben der Moderne zunehmend zur fort- und Serviceeinrichtungen kompensiert. So Alltagsroutine, weil diese auch in anderen Kon- ähnelten Wartesäle im deutschsprachigen Raum texten (Verwaltung, Dienstleistungen) auftra- ab Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts großen ten und damit eine stärkere Routinisierung des Restaurants, in denen das Warten fast untrenn- Verhaltens ermöglichten. Nichtsdestotrotz wa- bar mit dem Konsum von Speisen und Geträn- ren und sind solche „modernen“ Wartesituatio- ken verbunden war. nen keineswegs psychologisch unproblematisch, Der im Laufe des 19. Jahrhunderts wachsen- denn die selbst im Kurzzeitwarten erzwunge- de Formalisierungsgrad der Abfahrtsorganisa- ne Taktunterbrechung bildet unweigerlich den tion war jedoch international nicht einheitlich. Wahrnehmungsmittelpunkt und kann negative Während insbesondere im deutschen und fran- Affektreaktionen hervorrufen, insbesondere im zösischen Kontext Reisende mancherorts förm- Verspätungsfall. lich in die Wartesäle eingesperrt wurden und die Vor diesem Hintergrund erforderte das War- Wartezeit dadurch wesentlich angespannter und ten am Bahnhof eine neue Kulturpraxis, die erst nervöser erlebt haben dürften, war es Reisenden erlernt werden musste. Zudem impliziert die in England von Anbeginn möglich, sich frei auf Neuheit der Wartesituation, dass sie in den Be- den Bahnsteigen zu bewegen. Hier wurden War- triebsablauf eingefügt und von einem entspre- chenden Raumprogramm gerahmt werden muss- 08 Vgl. Kellermann (Anm. 3), S. 242 ff. 15
Sie können auch lesen