AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Die Bahn - BPB

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Die Bahn - BPB
72. Jahrgang, 8–9/2022, 21. Februar 2022

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Die Bahn
      Christopher Kopper                          Christian Böttger
  KLEINE (UNTERNEHMENS-)                        „PROBLEMKIND“
 GESCHICHTE DER EISENBAHN                      DEUTSCHE BAHN?
      IN DEUTSCHLAND
                                                 Christian Burgdorf
          Susanne Kill                         DIE SCHIENE IN
  „EISENBAHNGESCHICHTE                      DER VERKEHRSWENDE.
   IST ÜBERALL PRÄSENT“.                   WO DEUTSCHLAND VON
       EIN GESPRÄCH                        ANDEREN LERNEN KANN
       Robin Kellermann                         Wolfgang Schroeder
   WARTEN AUF DIE BAHN                    TARIFKONFLIKTE BEI DER
                                          DEUTSCHEN BAHN UND
    Frithjof Benjamin Schenk
                                         DAS TARIF­E INHEITSGESETZ
    MYTHOS „TRANSSIB“

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Die Bahn - BPB
Die Bahn
                                     APuZ 8–9/2022
CHRISTOPHER KOPPER                                 CHRISTIAN BÖTTGER
KLEINE (UNTERNEHMENS-)GESCHICHTE                   „PROBLEMKIND“ DEUTSCHE BAHN?
DER EISENBAHN IN DEUTSCHLAND                       Die mit der Bahnreform 1994 geschaffene
Die erste deutsche Eisenbahn wurde 1835 zwi-       Marktordnung für die Eisenbahn in Deutschland
schen Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen.      hat bis heute Bestand. Mittlerweise gibt es in
Die darauf folgende Entwicklung des hiesigen       vielen Bereichen Reformbedarf, insbesondere
Schienenverkehrs und seiner institutionellen       wenn die Bahn dazu beitragen soll, die Treibhaus-
Verfasstheit war stets eng mit der deutschen       gasemissionen des Verkehrssektors zu reduzieren.
Geschichte verbunden.                              Seite 27–33
Seite 04–09
                                                   CHRISTIAN BURGDORF
SUSANNE KILL                                       DIE SCHIENE IN DER VERKEHRSWENDE. WO
„EISENBAHNGESCHICHTE IST ÜBERALL                   DEUTSCHLAND VON ANDEREN LERNEN KANN
PRÄSENT“. EIN GESPRÄCH                             Die „Stärkung der Schiene“ ist in Deutschland
1996 wurde innerhalb der Deutsche Bahn AG          ein erklärtes Ziel von Politik und Eisenbahn-
die Abteilung „Konzerngeschichte/Historische       branche. Bei der Umsetzung von konkreten
Sammlung“ eingerichtet. Deren heutige Leiterin     Ideen und Konzepten können Erfahrungen
Susanne Kill spricht über den Umgang der DB        aus dem Ausland helfen, etwa aus der Schweiz,
AG mit der eigenen Geschichte und der Vergan-      Schweden und dem Vereinigten Königreich.
genheit ihrer Vorgängerorganisationen.             Seite 34–40
Seite 10–12
                                                   WOLFGANG SCHROEDER
ROBIN KELLERMANN                                   TARIFKONFLIKTE BEI DER DEUTSCHEN BAHN
WARTEN AUF DIE BAHN                                UND DAS TARIFEINHEITSGESETZ
Wartesituationen gehören seit jeher zu Bahn-       Deutschland gilt als das Land der Sozialpartner-
reisen. Wie und wo wurde in früheren Zeiten        schaft und kooperativen Arbeitsbeziehungen.
auf die Bahn gewartet, und war es schon immer      Warum verlaufen dann bei der Deutschen
so geächtet wie heute? Der Beitrag unterzieht      Bahn Tarifkonflikte so unerbittlich und Streiks
die zentrale Mobilitätspraxis einer bau- und       so heftig? Und bietet das seit 2015 geltende
rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktion.          Tarifeinheitsgesetz eine Lösungsperspektive?
Seite 13–19                                        Seite 41–46

FRITHJOF BENJAMIN SCHENK
MYTHOS „TRANSSIB“
Die Transsibirische Eisenbahn sollte die Distanz
zwischen Europa und Asien verkürzen und war
ein Grund für einen verheerenden Krieg zwischen
Russland und Japan. Heute träumen russische Pla-
ner erneut von einer Umlenkung der Warenströme
aus China auf die längste Bahnlinie der Welt.
Seite 20–26
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Die Bahn - BPB
EDITORIAL
Die erste Dampflokomotive fährt in einem Eisenwerk im südlichen Wales: Die
Konstruktion des Ingenieurs Richard Trevithick, ein liegender Hochdruck-
dampfkessel mit Schornstein auf einem Fahrgestell, zieht am 21. Februar 1804
fünf Waggons mit zehn Tonnen Eisen und 70 Personen über 15 Kilometer weit.
Da sie für die Schienen zu schwer ist, die eigentlich für Pferdewagen vorgesehen
sind, wird sie bald nicht mehr eingesetzt. Die Technik allerdings wird fortentwi-
ckelt, und 1825 kann zwischen der Bergbaustadt Darlington und dem Hafen von
Stockton im Nordosten Englands die erste Eisenbahnlinie der Welt in Betrieb
genommen werden. Zehn Jahre später folgt die erste deutsche Eisenbahnverbin-
dung zwischen Nürnberg und Fürth.
   Mit der Eisenbahn beginnt in Europa eine Revolution. Das neue Verkehrs-
mittel ist so schnell, sicher und günstig wie keines zuvor, und im weiteren
Verlauf des 19. Jahrhunderts beschleunigt der Ausbau des Eisenbahnnetzes
nicht nur den Personen- und Gütertransport sowie das Post- und Nachrichten-
wesen, sondern auch die Industrialisierung und die wirtschaftliche Integration.
Die historische Entwicklung hin zu unserem heutigen Alltag und der globalen
Wirtschaftsweise ist eng mit der Eisenbahn verknüpft.
   Heute verbinden über eine Million Schienenkilometer weltweit Städte,
Regionen und Kontinente miteinander. Als Verkehrs- und Transportmittel ist
die Eisenbahn durch die Konkurrenz auf der Straße und in der Luft jedoch ins
Hintertreffen geraten und kündet – zumindest in Deutschland – kaum mehr von
der Überwindung von Raum und Zeit: Die Deutsche Bahn gilt als chronisch
verspätet, überlastet und zu teuer, die Infrastruktur als marode. Die oftmals
gegensätzlichen Ansprüche ökonomischer Effizienz und öffentlicher Daseins-
vorsorge stellen das staatseigene Unternehmen vor erhebliche Herausforderun-
gen. Dabei birgt die Schiene angesichts des Klimawandels das größte Potenzial,
Treibhausemissionen zu reduzieren.

                                                   Anne-Sophie Friedel

                                                                               03
APuZ 8–9/2022

     KLEINE (UNTERNEHMENS-)GESCHICHTE
       DER EISENBAHN IN DEUTSCHLAND
                                       Christopher Kopper

Die erste deutsche Eisenbahn, die 1835 zwischen       bahngesellschaften im gesamten Reich einsetzbar
Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen wur-           waren, legte der Verein deutscher Eisenbahnver-
de, war eine Gründung privater Investoren. Die        waltungen Standardmaße für die Größe der Wag-
deutschen Staaten stiegen erst in den 1840er Jahren   gons und Normen für die Kupplungen fest.
in den Bau von Bahnlinien ein. Während einzel-            Die preußische Staatsbahn trug nicht ohne
ne Staaten wie Baden von Anbeginn auf ein reines      Grund den Namen „Eisenbahnverwaltung“. Die
Staatsbahnsystem setzten, entstand in Preußen ein     KPEV war ein unselbstständiger Regiebetrieb und
Mischsystem aus Privatbahnen und Staatsbahn.          Teil der preußischen Staatsverwaltung. An ihrer
Ab 1850 entwickelte sich der Eisenbahnbau zur         Spitze stand bis 1919 der preußische Minister für
Lokomotive der wirtschaftlichen Entwicklung.01        öffentliche Arbeiten. Wie in der öffentlichen Ver-
                                                      waltung war das Personal in vier Laufbahngruppen
                 KAISERREICH                          vom einfachen bis zum höheren Dienst aufgeteilt.
                                                      Mit Ausnahme der Werkstatt- und Bahnunterhal-
Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 spiel-         tungsarbeiter besaßen die Bediensteten den Be-
te die Eisenbahn erstmals eine strategisch wichti-    amtenstatus und genossen das Privileg einer gesi-
ge Rolle für den Aufmarsch und den Nachschub          cherten Beschäftigung und einer auskömmlichen
von Truppen und Material. Zugleich wurde ein          Pension. Als Gegenleistung waren sie ihrem obers-
Teil der Kriegskosten durch den Verkauf von Ei-       ten Dienstherrn, dem preußischen König und deut-
senbahnaktien gedeckt. Nach dem Krieg erlaub-         schen Kaiser, zu besonderer Treue verpflichtet. Das
ten die hohen französischen Kriegskontributi-         Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft galt
onen der preußischen Regierung, im großen Stil        für sie nicht, und wer in die sozialdemokratische
Aktien privater Bahngesellschaften zu kaufen und      Eisenbahnergewerkschaft eintrat, musste mit der
den Anteil der Staatsbahn am Streckennetz zu er-      Entlassung rechnen. Den Bahnbeamten war ledig-
höhen. Die preußische Regierung strebte an, alle      lich die Mitgliedschaft in patriotischen und kaiser-
Hauptbahnen in den Besitz der staatlichen Eisen-      treuen Beamtenvereinen g­ estattet.
bahnverwaltung zu bringen. Als 1873 die Bahnen            Innerhalb des preußischen Fiskus war die KPEV
des als „Eisenbahnkönig“ bekannten Unterneh-          ein Nebenhaushalt von beträchtlicher Größe. Vor
mers Bethel Strousberg Konkurs anmeldeten, bot        dem Ersten Weltkrieg erwirtschaftete sie jährli-
sich die Gelegenheit zu einer großen Erweiterung      che Nettoüberschüsse von mehr als 200 Millionen
des Staatsbahnnetzes, und bis 1880 waren fast alle    Mark. So verfügte die preußische Regierung über
Hauptbahnlinien in Preußen in staatlicher Hand.       eine sprudelnde Einnahmequelle, die der Kontrolle
    Die Königlich Preußische Eisenbahnverwal-         des Preußischen Landtags entzogen war. Bereits in
tung (KPEV) entwickelte sich zur größten Ei-          den 1870er Jahren erweckten die hohen Überschüsse
senbahngesellschaft der Welt. Ihr Netz umfasste       der Staatsbahnen die Begehrlichkeit des Reichskanz-
etwa zwei Drittel des Reichsgebiets. Neben Preu-      lers Otto von Bismarck. Sein Versuch, sie in Reichs-
ßen gehörten die Territorien der thüringischen        eigentum zu überführen und dem Reich eine große
Kleinstaaten und das Herzogtum Braunschweig           neue Einnahmequelle zu sichern, scheiterte jedoch
zum Betriebsgebiet, ab 1897 auch Hessen. Neben        am Bundesrat, wo die übrigen deutschen Staaten die
der KPEV gab es die deutlich kleineren Staats-        „Verreichlichung“ der Staatsbahnen blockierten.
bahnbetriebe von Bayern, Sachsen, Württemberg,            Die Friedensjahre des Kaiserreiches von 1871
Baden und Oldenburg. Damit die Waggons der            bis 1914 waren das Zeitalter der Mobilitätsex-
Staatsbahnverwaltungen und der privaten Eisen-        plosion. Während das Hauptbahnnetz zum Zeit-

04
Die Bahn APuZ

punkt der Reichsgründung bereits recht weit                           Diese Entwicklungen wurden mit Beginn des
entwickelt war, lag das Deutsche Reich in der Flä-                Ersten Weltkrieges unterbrochen. Die Staatsbahnen
chenerschließung noch deutlich hinter Großbri-                    waren in die militärischen Aufmarschplanungen in-
tannien zurück. Das deutsche Eisenbahnnetz hol-                   tegriert und mussten auf Wunsch des Generalstabs
te den Rückstand1 in den nächsten Jahrzehnten                     strategisch wichtige „Kanonenbahnen“ nach Wes-
vollständig auf, als die Staatsbahnen den Ausbau                  ten bauen. Allein in den ersten beiden Wochen des
des Neben- mit den hohen Überschüssen aus dem                     August 1914 waren 32 000 Züge mit Truppentrans-
Hauptbahnnetz finanzieren konnten. Während                        porten und Nachschub an die West- und Ostfront
das deutsche Eisenbahnnetz 1870 noch eine Stre-                   unterwegs.04 Während die deutschen Bahnen ihre
ckenlänge von 18 300 Kilometern umfasste, waren                   Transportaufgaben beim Aufmarsch gegen Belgi-
es 1913 60 800 Kilometer. Das preußische Minis-                   en, Frankreich und Russland reibungslos erfüllten,
terium für öffentliche Arbeiten baute das Bahn-                   waren sie dem vier Jahre dauernden Verschleiß-
netz zur Förderung der regionalen Wirtschaft                      krieg nicht gewachsen. Ab 1916 führte der Man-
und zur Integration des Binnenmarkts planmä-                      gel an einsatzfähigen Loks und Waggons zu Versor-
ßig aus. Die Regierungen der preußischen Pro-                     gungsengpässen für die Zivilbevölkerung, die unter
vinzen erhielten Zuschüsse aus dem preußischen                    einem Mangel an Nahrung und an Kohlen litt. Zu-
Staatshaushalt, um den Bau von kreiseigenen Se-                   gleich unterschätzte die Oberste Heeresleitung
kundär- und Kleinbahnen zu fördern. Neben den                     die logistische Bedeutung der Eisenbahnen für die
Nebenbahnlinien der KPEV entstanden Tausen-                       Aufrechterhaltung der Kriegsproduktion und ver-
de Kilometer normal- und schmalspurige Kreis-                     sorgte die Staatsbahnen nur nachrangig mit Eisen,
bahnen zur Erschließung ländlicher Räume.                         Stahl und Kupfer. Die Schienenfahrzeughersteller
    Die Mobilität per Eisenbahn wurde im Kaiser-                  wie Krupp, Henschel und Krauss-Maffei stellten
reich zu einer Alltagserscheinung.02 Von 1870 bis                 ihre Produktion wegen der hohen Gewinnspannen
1913 stieg die Zahl der Passagierkilometer fast auf               für Heereslieferungen teilweise auf Waffen um, wo-
das Zehnfache, von 4,4 auf 41,2 Milliarden.03 Ab                  durch sich der Fahrzeugmangel weiter v­ erschärfte.
der Jahrhundertwende boten die Staatsbahnen stark
vergünstigte Arbeiterwochenkarten an, die das Pen-                                  WEIMARER REPUBLIK
deln zum Arbeitsplatz für Arbeiter aus dem Umland
der Städte erschwinglich machte. Dies ermöglich-                  Am Ende des Ersten Weltkrieges waren das
te die Durchsetzung neuer Lebensformen wie des                    Gleisnetz, die Lokomotiven und die Waggons
Arbeiterbauern, der in seiner Heimatgemeinde ein                  wegen der Überlastung und infolge rückständiger
Stück Land bearbeitete und seinen Lebensunterhalt                 Reparaturen stark verschlissen. Der Substanzver-
in einem städtischen Industrie-, Handwerks- oder                  zehr wurde durch die Reparationsforderungen
Baubetrieb verdiente. Der Ausbau des Eisenbahn-                   der alliierten Siegermächte zusätzlich verschärft,
netzes und die Beschleunigung und Verdichtung des                 die zum Ausgleich für die Kriegszerstörungen in
Zugbetriebs führten auch zu einer kommunikativen                  Belgien und Frankreich ultimativ die Übergabe
Revolution: Der Posttransport per Bahn verkürz-                   von 5000 Loks forderten.05
te die Laufzeit von Briefen erheblich. Die Berliner                   Die Regierung der Weimarer Republik und
Morgenzeitungen, die am Abend des Vortags ge-                     die Nationalversammlung waren sich einig, die
druckt wurden, erreichten am nächsten Tag die Zei-                Länderbahnen in den Besitz des Reiches zu über-
tungskioske in den Städten des Reiches.                           führen und zur Reichsbahn zu fusionieren. Die-
                                                                  ses Mal verzichteten die Länder auf ein Veto ge-
                                                                  gen das Ende des Eisenbahnföderalismus. Der
01 Vgl. Dieter Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der
                                                                  Krieg, die Zwangsablieferungen und die steigen-
Industrialisierung, Stuttgart 1996; Lothar Gall, Von den Anfän-
gen bis zum Ersten Weltkrieg, in: ders./Manfred Pohl (Hrsg.),
                                                                  de Inflation hatten die profitablen Länderbahnen
Die Eisenbahn in Deutschland, München 1999, S. 13–70; Rainer
Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum          04 Vgl. Christopher Kopper, Transport und Verkehr, in: Marcel
1840–1879, Dortmund 1975.                                         Boldorf (Hrsg.), Handbuch Deutsche Wirtschaft im Ersten Welt-
02 Vgl. Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, Ostfildern      krieg, Berlin 2020, S. 105–122. Siehe auch Christopher Kopper,
2005.                                                             Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert, München 2002.
03 Zur Verkehrsstatistik seit 1850 siehe Christopher Kopper,      05 Vgl. ders., Ein Opfer der alliierten Reparationspolitik?, in: Jan-
Verkehr und Kommunikation, in: Thomas Rahlf (Hrsg.), Deutsch-     Otmar Hesse/Dieter Ziegler (Hrsg.), 1919 – Der Versailler Vertrag
land in Daten, Bonn 2015, S. 224–235.                             und die deutschen Unternehmen, Berlin 2022, S. 157–173.

                                                                                                                                    05
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in Verlustbringer verwandelt, sodass die Länder                tionsgläubigern war spannungsfrei, während sie mit
ihre Eisenbahnen 1920 sogar ein Jahr früher als                der Reichsregierung wegen Tariferhöhungen regel-
geplant in Reichsbesitz übertrugen.                            mäßig in Konflikte geriet. Die DRG wurde als ge-
    Die Reichsbahn unter der Führung des Reichs-               winnorientiertes, aber nicht wie ein gewinnmaxi-
verkehrsministers besaß als unselbstständiger Re-              mierendes Unternehmen geführt. Das Management
giebetrieb und Teil des Reichsfiskus den gleichen              bestand weiterhin aus höheren Eisenbahnbeamten,
rechtlichen Status wie die KPEV. In ihren ersten               die kaufmännisch dachten, sich aber einer gemein-
Jahren holte sie den kriegsbedingten Instandhal-               wohlorientierten Betriebsführung verpflichtet fühl-
tungsrückstand auf und startete ein großes Be-                 ten. So wurden etwa für die Tarife im Güterverkehr,
schaffungsprogramm. Die verschlissenen oder als                der bis in die 1950er Jahre zwei Drittel aller Einnah-
Reparationsgut abgegebenen Lokomotiven aus                     men einbrachte, auch regionalwirtschaftliche und
der Kaiserzeit wurden durch moderne Loks er-                   strukturpolitische Interessen berücksichtigt.
setzt. Der Übergang zu den Einheitsbaureihen der                   Ab dem Ende der 1920er Jahre stellte der
Reichsbahn reduzierte die große und unwirtschaft-              Lkw-Fernverkehr das bestehende Geschäftsmo-
liche Typenvielfalt der Länderbahnen mit über 100              dell aus gewinnbringenden Gütertarifen für Kauf-
Lokomotivtypen. Allerdings musste der Reichs-                  mannsgüter und gemeinwohlorientierten Tarifen
haushalt schon bald ein immer größeres Betriebs-               für Rohstoffe infrage. Die Weltwirtschaftskri-
defizit decken, da während der Inflation die Tarife            se verschärfte den Konkurrenzdruck durch die
hinter den Kostensteigerungen zurückblieben.                   Lkw-Spediteure, die ihre Frachtraten bis auf die
    1924 erhielt die Reichsbahn die Rechtsform                 Grenzkosten drückten. 1931 intervenierte die
einer reichseigenen Aktiengesellschaft. Die Deut-              Reichsregierung durch eine eingeschränkt wirk-
sche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) wurde von                   same Notverordnung gegen die Unterschreitung
einem autonomen Vorstand mit voller unterneh-                  der Bahntarife. Von 1929 bis zum Höhepunkt der
merischer Verantwortung geführt und konnte                     Weltwirtschaftskrise 1932 ging der Güterverkehr
über Beschaffungen, Netzausbau und Tarife ei-                  auf der Schiene um 40 Prozent zurück. 1931 und
genständig entscheiden.06 Zudem erhielt sie eine               1932 schrieb die DRG zum ersten Mal rote ­Zahlen.
wichtige Funktion bei der Aufbringung der deut-
schen Kriegsreparationen. Nach dem internatio-                             NATIONALSOZIALISMUS
nalen Reparationsabkommen von 1924 (Dawes-
Plan) brachte die DRG jährlich 660 Millionen                   Als die Nationalsozialisten Anfang 1933 die
Reichsmark Reparationen auf, wodurch sie den                   Macht übernahmen, reagierte die Führungsspitze
Reichshaushalt und die deutsche Wirtschaft er-                 der DRG passiv und gehorsam. Im März 1933 ließ
heblich entlastete. Für die alliierten Reparations-            sie das Hissen der Hakenkreuzfahne an Bahnge-
gläubiger war die DRG ein „produktives Pfand“.                 bäuden zu und erklärte im Juni den Hitlergruß
Der Güterverkehr mit Kaufmannsgütern und der                   zur Pflicht. Sie setzte die von der Reichsregierung
Personenfernverkehr erbrachten hohe Gewinne,                   geforderte Entlassung der jüdischen und sozial-
sodass die Investitionsspielräume der DRG nicht                demokratischen Bahnbeamten um, versuchte al-
beeinträchtigt waren.                                          lerdings, an besonders qualifizierten jüdischen
    Die DRG war nicht nur der größte, sondern                  Mitarbeitern so lange wie möglich festzuhalten.07
auch der technisch modernste Bahnbetrieb Euro-                     Die Reichsregierung verlangte von der DRG
pas. Mit dem Bau elektrifizierter S-Bahn-Netze                 betrieblich nicht notwendige Arbeitsbeschaf-
in Berlin und Hamburg und der Einführung von                   fungsmaßnahmen, von denen vor allem arbeits-
dieselgetriebenen Triebwagen („Fliegender Ham-                 lose SA-Männer profitierten. Obwohl die DRG
burger“) mit einer Höchstgeschwindigkeit von                   bis 1936 ein selbstständiges Unternehmen blieb,
160 Stundenkilometern setzte sie neue Maßstäbe.                passte sie sich den Wünschen der Regierung wi-
Das Verhältnis der DRG zu den alliierten Repara-               derstandslos an. Da die Finanzierung der Aufrüs-
                                                               tung und des Autobahnbaus durch Reichsanlei-

06 Vgl. Alfred C. Mierzejewski, The Most Valuable Asset of
the Reich. A History of the German National Railway, Bd. 1     07 Vgl. Alfred Gottwaldt, Die Reichsbahn und die Juden
(1920–1932), Chapel Hill 1999; Eberhard Kolb, Die Reichsbahn   1933–1939, Wiesbaden 2011. Zur Geschichte der Reichsbahn
vom Dawes-Plan bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Gall/   im Nationalsozialismus siehe Mierzejewski (Anm. 6), Bd. 2
Pohl (Anm. 1), S. 109–163.                                     (1933–1945), Chapel Hill 2000.

06
Die Bahn APuZ

hen Vorrang hatten, durfte die Reichsbahn keine                                    BUNDESREPUBLIK
eigenen Anleihen auf dem Kapitalmarkt platzie-
ren. Als sie ab 1936 dank der rüstungsbedingten                  Nach dem Krieg betraf die Teilung Deutschlands
Hochkonjunktur wieder Investitionen aus eige-                    in vier Besatzungszonen auch die Reichsbahn.
ner Kraft finanzieren konnte, wurde sie bei der                  1947 übernahm die Verwaltung für Verkehr in der
Zuweisung von Eisen und Stahl benachteiligt.                     amerikanischen und der britischen Besatzungs-
Die eingeschränkten Investitionsmöglichkeiten                    zone (Bizone) die Leitung des Schienenverkehrs.
führten ab 1938 zu ersten Kapazitätsengpässen                    Die Aufbauleistungen der Eisenbahn in den ersten
im Verkehr. 1937 beendete Hitler den Status der                  Nachkriegsjahren reichten aus, um nach der Wäh-
DRG als autonomes reichseigenes Unternehmen                      rungsreform im Juni 1948 alle wichtigen Verkehrs-
und ließ die Reichsbahn in das Reichsverkehrs-                   bedürfnisse der Wiederaufbaugesellschaft decken
ministerium und in den Reichsfiskus eingliedern.                 zu können. Nach Gründung der Bundesrepublik
Der seit 1926 amtierende DRG-Generaldirektor                     wurde die Reichsbahn in der Bizone im September
Julius Dorpmüller erhielt das Amt des Reichsver-                 1949 in Deutsche Bundesbahn (DB) umbenannt.
kehrsministers und blieb bis 1945 in Personaluni-                Die Eisenbahn in der französischen Besatzungszo-
on Chef der Reichsbahn.                                          ne wurde bis Anfang 1951 in die DB integriert.09 In
    Der Beginn des Zweiten Weltkrieges, die da-                  der sowjetischen Besatzungszone und der späteren
mit verbundenen Verdunkelungsvorschriften und                    DDR behielt die Bahn den alten Namen „Deut-
der sehr harte Winter 1939/40 verursachten er-                   sche Reichsbahn“. Damit konterkarierte die Re-
hebliche Verkehrsstörungen im Bahnverkehr. Bis                   gierung der DDR den Alleinvertretungsanspruch
zum Sommer 1944 funktionierte der Verkehr re-                    der Bundesbahn für die deutschen Eisenbahnen
lativ zuverlässig, bevor alliierte Bomberverbän-                 in den internationalen Eisenbahnorganisationen.
de die Reichsbahn durch gezielte Angriffe auf                    Im geteilten Berlin übertrugen die Alliierten der
Bahnanlagen zum Erliegen brachten. Im Winter                     Reichsbahn den Bahnverkehr einschließlich der S-
1941/42 kam es wegen des großen Lokomotivbe-                     Bahn. In der DDR blieb die Reichsbahn im Ver-
darfs für Transporte zur Ostfront zu Nachschub-                  kehrsministerium eingegliedert. Sie stand unter
problemen. Auf Drängen des Reichsrüstungs-                       der Leitung des Verkehrsministers und unterlag
ministers Albert Speer stellte die Reichsbahn die                der zentralen Wirtschaftsplanung.
Lokbeschaffung auf eine besonders rationell ge-                      Die DB wurde mit dem Bundesbahngesetz
fertigte und technisch vereinfachte Kriegslok                    1951 administrativ und finanziell von der Verwal-
(Baureihe 52) um, von der in den letzten beiden                  tung des Bundes getrennt. Sie erhielt den Status
Kriegsjahren 6000 Stück gebaut wurden.                           eines rechtlich unselbstständigen Sondervermö-
    Von 1941 bis 1944 transportierte die Reichs-                 gens mit eigenem Vorstand. Das Bundesbahnge-
bahn mehrere Millionen Juden in Ghettos, Kon-                    setz stellte der DB zwei Ziele, die sich schon 1951
zentrations- und Vernichtungslager und damit in                  nicht mehr vereinbaren ließen: Das Ziel einer ge-
den Tod.08 Obwohl dabei häufig Viehwaggons                       meinwohlorientierten Verkehrsbedienung stand
zum Einsatz kamen, kassierte die Reichsbahn den                  im Widerspruch zu dem Ziel, angemessene Ge-
regulären Tarif für Gruppenreisen. Die Deporta-                  winne zu erwirtschaften und an den Bund abzu-
tionszüge wurden mit dem beschlagnahmten Ver-                    führen. Die DB musste die Kosten des Wieder-
mögen der ermordeten Juden bezahlt. Obwohl                       aufbaus in Höhe von zwei Milliarden D-Mark
Deportationstransporte keine Priorität besaßen,                  aus eigenen Mitteln tragen. Während die Bahn bis
sorgte der stellvertretende Reichsbahn-General-                  zur Währungsreform gleichzeitig Gewinne hatte
direktor Albert Ganzenmüller für den Vorrang                     erwirtschaften und ihren Wiederaufbau finanzie-
der SS bei der Gestellung von Deportationszü-                    ren können, brachen die Gewinne nun weg. Das
gen. Nach dem Krieg schwiegen die Verantwort-                    Boomjahr 1951 war das einzige Jahr in ihrer Ge-
lichen der Reichsbahn über ihre Mitverantwor-                    schichte, in dem die DB einen kleinen Gewinn
tung für die Deportationen. Keiner von ihnen                     von 76 Millionen D-Mark erzielen konnte.
wurde je von einem deutschen Gericht verurteilt.                     Das Geschäftsmodell der Vorkriegszeit, Defizi-
                                                                 te des Personennahverkehrs aus den Überschüssen
08 Vgl. Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, Frank­furt/M.
1981; Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die „Judendeportatio-      09 Vgl. Christopher Kopper, Die Bahn im Wirtschaftswunder,
nen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005.          Frank­furt/M. 2007.

                                                                                                                              07
APuZ 8–9/2022

des Güterverkehrs zu decken, funktionierte ab den    gierung und der Bundestag eine Rückkehr zur
1950er Jahren nicht mehr. Hierfür war die zuneh-     komfortablen Ertragslage der Vorkriegszeit er-
mende Konkurrenz des Lkw-Fernverkehrs verant-        warteten. Der Durchbruch des Lkw zum stärks-
wortlich, der der DB immer mehr lukrative Trans-     ten Konkurrenten der Bahn und das Vordringen
porte von Kaufmannsgütern kostete. Während die       des Autos als Massenprodukt zwangen die Ver-
Tarife des gewerblichen Lkw-Fernverkehrs weiter-     antwortlichen zum Umdenken. Trotz der er-
hin an die Bahntarife gebunden blieben, konnten      kennbaren Problemlage wurden die Ergebnisse
werkseigene Lkw Transportleistungen zum Teil         zweier Expertenkommissionen zur Sanierung der
deutlich kostengünstiger anbieten als die Bahn.      DB in den späten 1950er und frühen 1960er Jah-
Die Steuerpolitik der Bundesregierung begüns-        ren nur halbherzig umgesetzt. Bundesverkehrs-
tigte diese Entwicklung: Zur Förderung des Wie-      minister Hans Christoph Seebohm (DP/CDU)
deraufbaus erhielten Unternehmen Steuervorteile      setzte vergeblich auf Wettbewerbseinschränkun-
durch hohe Abschreibungssätze für Investitions-      gen im Güterfernverkehr auf der Straße und lehn-
güter. Da das Defizit der DB ab 1953 stetig wuchs,   te den Ausgleich der gemeinwirtschaftlichen Las-
versuchten Bundesfinanz- und Bundesverkehrsmi-       ten der DB durch den Verkehrshaushalt ab.
nisterium gegenzusteuern. Doch selbst die Einfüh-         In den 1960er Jahren erkannten Verkehrsex-
rung einer hohen, als prohibitiv angesehenen Son-    perten die zunehmende Bedeutung des schienen-
dersteuer für den werkseigenen Lkw-Fernverkehr       gebundenen Nahverkehrs in Ballungsräumen.
konnte die Verschiebung der Verkehrsanteile von      1965 geschah ein erster Schritt in Richtung eines
der Schiene zur Straße lediglich v­ erlangsamen.     entsprechenden Ausbaus, als die Stadt München
     Zugleich lasteten Personalkosten zunehmend      und das Land Bayern mit der DB einen Vertrag
auf der DB: Nicht nur stiegen die Aufwendungen       über den Bau eines S-Bahn-Netzes in der Regi-
für Beamtenpensionen, bis Mitte der 1950er Jah-      on München unterzeichneten. 1967 schloss die
re beschäftigte sie auch 50 000 Menschen mehr,       Bundesregierung die Finanzierungslücke, die bis-
als betrieblich notwendig war. Das 1950 verab-       lang die Modernisierung und den Ausbau von S-
schiedete Gesetz für die Wiedereingliederung         Bahn-Netzen verhindert hatte.
von ehemaligen Beamten und Berufssoldaten in              Mitte der 1960er Jahre lösten Elektro- und
den öffentlichen Dienst (Artikel 131-Gesetz) ver-    Diesellok die überkommene Dampflok als wich-
pflichtete die DB, über ihren Bedarf hinaus Be-      tigsten Zugantrieb ab. Die DB stellte 1965 den
amte wiedereinzustellen. Hiervon profitierten        ersten Loktyp mit einer Höchstgeschwindigkeit
nicht nur geflohene und vertriebene Reichsbahn-      von 200 Stundenkilometern vor, als nur ein ein-
beamte, die ihre frühere Dienststelle auf dem        ziger Streckenabschnitt in ihrem Netz für Tempo
Gebiet der deutschen Ostgebiete und der DDR          200 ausgebaut war. Erst als Bundesverkehrsmi-
verloren hatten. Auch ehemalige Nationalsozia-       nister Georg Leber (SPD) 1968 den „Leber-Plan“
listen, die im Zuge der Entnazifizierung entlassen   zur Modernisierung der DB vorstellte, konnte die
worden waren, wurden wieder eingestellt.             DB-Hauptverwaltung mit langfristigen Ausbau-
     Wegen ihrer negativen Ertragslage musste die    planungen beginnen.
DB schon in den 1950er Jahren einen zunehmen-             Die Bundesbahn geriet durch ihre steigenden
den Anteil ihrer Investitionen durch Kreditauf-      Defizite und ihre wachsende Verschuldung in eine
nahmen finanzieren. Obwohl der Bund ihr 1958         zunehmende finanzielle Abhängigkeit vom Bund.
und 1961 einen Teil der hohen Pensionslasten und     Größere Neuinvestitionen erforderten die Zu-
mehrere Milliarden D-Mark Schulden abnahm,           stimmung des Bundesverkehrsministeriums. Der
litt die DB weiterhin unter einseitigen Wettbe-      Bund stellte der DB ab Anfang der 1970er Jahre
werbsnachteilen: Die DB subventionierte den          wachsende Mittel für den Ausbau des Kernnetzes
Pendlerverkehr durch besonders günstige Wo-          und den Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken
chen- und Monatskarten und förderte die Mo-          zur Verfügung, vernachlässigte aber die Moderni-
bilität von Menschen mit Behinderungen durch         sierung und Rationalisierung der Nebenstrecken
Tarifvergünstigungen, erhielt aber vom Bund, der     im ländlichen Raum. Mangels einer staatlichen Be-
die Sozialtarife veranlasst hatte, keinen angemes-   teiligung an den hohen Betriebskosten war die DB
senen Ausgleich.                                     ab den späten 1960er Jahren zur Stilllegung des
     Das Bundesbahngesetz war zu einem Zeit-         Personenverkehrs auf zahlreichen Nebenstrecken
punkt verabschiedet worden, als die Bundesre-        gezwungen. Im Güterverkehr führte der wirt-

08
Die Bahn APuZ

schaftliche Strukturwandel zu einem Bedeutungs-             reagieren. Hohe Investitionen in neue Fahrzeug-
verlust der Bahn. Sie besaß in der schrumpfenden            baureihen und in die Rationalisierung des Zugbe-
Grundstoffindustrie die höchsten Marktanteile,              triebs brachten in den ersten zehn Jahren jährliche
aber konnte beim Transport von Kaufmannsgü-                 Produktivitätssteigerungen von zehn Prozent. Die
tern und in modernen Logistikkonzepten immer                beschleunigte technische Innovation durch auto-
weniger mit dem Lkw konkurrieren.                           nome und gestraffte Beschaffungsprozesse brach-
    Mit ihrem Schuldenberg von 50 Milliarden D-             te mitunter Probleme. So erhielt die DB von der
Mark fehlten der DB nicht allein finanzielle Mit-           Fahrzeugindustrie gelegentlich Modellreihen, die
tel, sondern auch unternehmerische Handlungs-               technisch noch nicht ausgereift waren.
spielräume, um weitere Verluste ihrer Marktanteile              Die Organisation des bislang hochdefizitären
im Verkehr zu verhindern. Trotz des unstrittigen            Nahverkehrs wurde auf das Bestellprinzip um-
Handlungsbedarfs wurde eine grundlegende Re-                gestellt: Die Länder erhielten feste jährliche Zu-
form der DB und der Schienenverkehrspolitik bis             weisungen des Bundes. Um eigene Mittel ergänzt,
zum Ende der 1980er Jahre hinausgezögert. Im                traten die Länder jetzt als Besteller von Zugleis-
Sommer 1989 beauftragte das Bundesverkehrs-                 tungen auf. Die DB wurde zu einem Konzern mit
ministerium eine Expertenkommission mit ei-                 selbstständigen Gesellschaften für Nah-, Fern-
nem Konzept für eine wirtschaftlich eigenständi-            und Güterverkehr, für Stationen und für das Schie-
ge und zukunftsträchtige Bahn in der Rechtsform             nennetz umgebaut, die durch Beherrschungs- und
einer Aktiengesellschaft.10 Durch die Wiederver-            Gewinnabführungsverträge mit der Konzernmut-
einigung und die Eingliederung der ostdeutschen             ter verbunden wurden. Es gelang der DB AG und
Reichsbahn in die DB stieg der Handlungsdruck               ihren Wettbewerbern auf der Schiene, den Anteil
weiter. Da die Rechtsform der Bundesbahn in Ar-             des Schienenverkehrs im Personenverkehr zu stei-
tikel 87 des Grundgesetzes festgeschrieben war,             gern und im Güterverkehr trotz des Strukturwan-
benötigten Bundesregierung und Bundesbahn eine              dels zu halten. Die Bundesnetzagentur sorgte für
Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.             diskriminierungsfreie Nutzungsentgelte für das
Bundesbahnchef Heinz Dürr und Verkehrsminis-                Schienennetz, die gleichermaßen für die DB-Ge-
ter Günther Krause (CDU) gelang es, alle Landes-            sellschaften wie für ihre Konkurrenten galten.
regierungen, die oppositionelle SPD und die Ge-                 Ab 2004 verfolgte der Konzernvorstand den
werkschaft der Eisenbahner Deutschlands (heute              Plan, einen Teil des DB-Kapitals an der Börse zu
Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG) für               platzieren. Die verhältnismäßig günstige Ertrags-
die Bahnreform zu gewinnen. Nur die Gewerk-                 lage bestärkte den Vorstand in seiner Erwartung,
schaft der Bundesbahnbeamten und die Gewerk-                dass eine Teilprivatisierung gelingen könnte. Der
schaft der Lokomotivführer versagten der Um-                Börsengang wurde jedoch 2008 unter anderem
wandlung der Bundesbahn in eine zu 100 Prozent              wegen der Finanzkrise abgeblasen. Die positive
bundeseigene Aktiengesellschaft ihre Zustimmung.            Ertragslage der Jahre zuvor war durch die Ver-
    Der Bund verschaffte der DB AG die notwen-              nachlässigung von Investitionen in das Gleisnetz
digen finanziellen Mittel für einen gelingenden             und einen Personalabbau in den Werkstätten er-
Neustart. Er übernahm sämtliche Altschulden, die            kauft worden, der sich im Betriebsablauf negativ
Mehrkosten für aktive Bahnbeamte und Pensio-                bemerkbar machte. Eine dauerhaft hohe Eigen-
näre und leistete bis nach der Jahrtausendwende             kapitalrendite von acht Prozent als Vorausset-
Milliardenzuschüsse zur Deckung der besonders               zung eines erfolgreichen Börsengangs ließ sich
hohen Betriebsdefizite in Ostdeutschland. Die DB            in der kapitalintensiven DB AG nicht nachhaltig
profitierte in den 1990er und 2000er Jahren von             erwirtschaften. Die Bahnreform löste viele, aber
deutlich höheren Investitionszuwendungen zur                nicht alle strukturellen Probleme der Bahn. Im
Sanierung und zum Ausbau des Netzes und zum                 Vergleich zu unseren europäischen Nachbarlän-
Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken. Mit ihrer             dern investiert der Bund noch immer zu wenig
zurückgewonnenen wirtschaftlichen Selbststän-               Geld in den Ausbau des Schienenverkehrs.
digkeit konnte die DB deutlich flexibler auf die
Anforderungen des intermodalen Wettbewerbs                  CHRISTOPHER KOPPER
                                                            ist außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für
10 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Wiedervereinigung und Bahnre-   Wirtschaftsgeschichte der Universität Bielefeld.
form 1819–1994, in: Gall/Pohl (Anm. 1), S. 377–418.         christopher.kopper@uni-​bielefeld.de

                                                                                                               09
APuZ 8–9/2022

INTERVIEW                                                               – Zu Bundesbahnzeiten lag das
                                                                        Thema Geschichte beim Ver-

„EISENBAHNGESCHICHTE
                                                                        kehrsmuseum in Nürnberg,
                                                                        das von der dortigen damaligen

IST ÜBERALL PRÄSENT“
                                                                        Bundesbahn-Direktion verant-
                                                                        wortet wurde und ein traditi-
                                                                        onelles Technikmuseum mit
Ein Gespräch über den Umgang der DB                                     lokalpatriotischem Einschlag

AG mit der Unternehmensgeschichte                                       war. Dort begann nach öffent-
                                                                        licher Kritik die ernsthafte und
                                                                        selbstreflektierte Auseinan-
mit Susanne Kill                                                        dersetzung mit der Geschich-
                                                                        te in den 1980er Jahren. Bei der
                                                                        Reichsbahn in der DDR gab es
Frau Dr. Kill, Sie leiten bei der   Grundstock einer Bibliothek         sogenannte Traditionskabinet-
Deutschen Bahn AG die Abtei-        und einer wertvollen Foto-          te, in denen die Geschichte der
lung Konzerngeschichte/Histori-     sammlung bilden. Sie werden         jeweiligen Bahnbetriebe meis-
sche Sammlung. Diese Abteilung      gepflegt und stehen der histo-      tens von den politischen Abtei-
wurde 1996 eingerichtet. Warum      rischen Kommunikation der           lungen mit betreut wurde. Sie
nicht schon vorher?                 Deutschen Bahn sowie der For-       stellten eine Art Identitätsbin-
Susanne Kill – Das war ein Er-      schung zur Verfügung. Darüber       dung der Angestellten und Ar-
gebnis der Bahnreform. Denn         hinaus bieten wir dem Unter-        beiter zum eigenen Betrieb und
als formale Aktiengesellschaft      nehmen und der Öffentlichkeit       dem großen Selbstverständnis
unterlag die Bahn nicht mehr        Expertise zur Geschichte der        einer antifaschistischen DDR
den Abgabepflichten des Bun-        Eisenbahn in Deutschland seit       und ihrer sozialistischen Plan-
desarchivgesetzes. Für die          ihren Anfängen.                     wirtschaft her.
Staatsbahnen der Bundesbahn
und Reichsbahn wurden die           Was ist daran im Vergleich zum      Wenn sich die DB AG also
Akten pflichtgemäß ans Bun-         Umgang der Staatsbetriebe           erstmals systematisch der
desarchiv beziehungsweise an        Bundesbahn und Reichsbahn mit       Vergangenheit auch ihrer
die Landes- und Staatsarchive       deren Geschichte neu?               Vorgängerorganisation genähert
abgegeben. Nach der Grün-           – Es ist die historisch-wissen-     hat: Wie geht man an so eine
dung der Deutschen Bahn AG          schaftlich informierte Perspek-     Mission heran? Wo hat Ihre
hatte sich der Vorstand dazu        tive und ein sehr starkes Be-       Abteilung seinerzeit angefangen?
entschlossen, ein schlankes Un-     wusstsein dafür, dass man sich      – Sie hat auf zwei Ebenen be-
ternehmensarchiv zu etablieren      auch mit kritischen Themen der      gonnen. In den 1990er Jahren
und das Verkehrsmuseum in           Eisenbahngeschichte auseinan-       beauftragte der damalige Vor-
Nürnberg zu übernehmen, um          derzusetzen hat. Eisenbahnge-       stand unabhängige Historiker,
über die eigene Geschichte aus-     schichte ist ja ausgesprochen       sich die Geschichte der Eisen-
kunftsfähig zu sein.                vielfältig, und sie ist immer eng   bahn in Deutschland gesamt-
                                    mit der Geschichte Deutsch-         haft anzuschauen, mit einem
Welche Aufgaben hat die             lands verbunden. Das ist die        Schwerpunkt auf der Geschich-
Abteilung?                          Aufgabe von Historikerinnen,        te der Reichsbahn im Natio-
– Wir haben hier in Berlin die      den Blick daraufhin zu weiten,      nalsozialismus. Das war die
Aufgabe, Firmendokumente            wie Technikgeschichte, Politik-     historisch-wissenschaftliche
zu sammeln, die die Unterneh-       geschichte und Betriebsgeschich-    Grundlage der Auseinander-
mensgeschichte der Deutschen        te ineinander verwoben sind.        setzung mit der Eisenbahnge-
Bahn AG seit 1994 von der                                               schichte, die selbst vom Un-
Spitze her dauerhaft archivie-      Hatte es vorher also keine          ternehmen initiiert wurde.
ren. Hinzu kommen Altbestän-        Auseinandersetzung mit dieser       Zeitgleich übernahm die DB
de aus den ehemaligen Presse-       „Metaebene“ der Vergangenheit       das Nürnberger Museum und
stellen in Ost und West, die den    gegeben?                            konzipierte eine neue Dauer-

10
Die Bahn APuZ

ausstellung zur Entwicklung        der Massenmord an den euro-           der eigenen Unternehmensge-
der Eisenbahn in den jeweili-      päischen Juden, Sinti und Roma        schichte ein wichtiges Element
gen Epochen. Das heißt, man        logistisch nicht möglich gewesen.     dieses ­Engagements.
hat bestimmte, oft in der Lite-    In der DDR war die Reichsbahn
ratur wiederholte Mythen kri-      dann nicht nur Dienstleisterin für    Welche Rolle spielt die Geschich-
tisch hinterfragt und immer        Gefangenentransporte, sondern         te der Vorgängerorganisationen
nach dem Zusammenspiel von         auch Profiteurin des Strafvollzugs,   für den Konzern heute intern?
Politik, Kultur und Wirtschaft     da sie Häftlingszwangsarbeiter        – Wir sind in der glücklichen
gefragt. Dabei fokussierten wir    beschäftigte. Welche Verantwor-       Situation, dass es sehr viele Be-
nicht mehr so stark auf Loks       tung leitet die DB AG aus diesen      schäftigte gibt, die sehr ge-
und technische Entwicklungen,      dunklen Kapiteln der Geschichte       schichtsaffin und auf den unter-
sondern auch auf die Menschen,     ihrer Vorgängerorganisationen ab?     schiedlichsten Gebieten äußerst
die damals für die Eisenbahn       – Das erste ist, dass man im Un-      kenntnisreich sind. Wir kön-
gearbeitet hatten beziehungs-      ternehmen darüber Bescheid            nen mit unserer Arbeit auf eine
weise arbeiten mussten.            wissen muss. Das heißt, wenn          breite Unterstützung bauen
                                   es keinerlei fundierte Kenntnis       und sind auch mit den Gewerk-
Welche Mythen waren das?           gibt, müssen wissenschaftliche        schaften in einem guten Aus-
– Ein heute noch beliebter My-     Studien initiiert werden. In den      tausch, und das nicht nur bei
thos ist, dass die Anfänge der     von Ihnen genannten Beispielen        den „schönen Themen“. Es gibt
Eisenbahn von großen Ängs-         haben wir als Unternehmensar-         Kooperationen für Gedenkstät-
ten begleitet war und Medi-        chiv keinen privilegierten Zu-        tenfahrten oder auch die Initia-
ziner vor den Geschwindig-         gang zu den Quellen, und im           tive Auszubildende gegen Hass
keiten warnten – ein Mythos,       Fall der Häftlingszwangsarbeit        und Gewalt. Nicht zu vernach-
der im späten 19. Jahrhundert      der DDR waren Zeitzeugenbe-           lässigen sind aber auch genuin
als Fortschrittskritik geboren     fragungen oft die Primärquelle.       wirtschaftshistorische Themen.
wurde. Auch die Einordnung         Das heißt, es muss Forschungs-        Investitionsentscheidungen ver-
der Zeit der Reichsbahngrün-       aufträge geben. Das andere ist        gangener Zeiten in Infrastruk-
dung in der Weimarer Repu-         die gesellschaftspolitische Ver-      tur und Fahrzeuge haben immer
blik als Zeit des Niedergangs      antwortung, die sich aus der          noch Auswirkungen auf das
der Eisenbahn haben wir auf        Geschichte ergibt. Bei der DB         heutige Geschäft.
den Stand der Forschung ge-        gibt es inzwischen eine sehr ak-
bracht, und schließlich ging       tive Erinnerungskultur, die sich      Welche blinden Flecken würden
es auch um Personen wie den        unter anderem in der Pflege und       Sie in der Unternehmensge-
Generaldirektor und Reichs-        Teilnahme an den Gedenkver-           schichte beziehungsweise in
verkehrsminister Julius Dorp­      anstaltungen zu den Deporta-          der Geschichte der Eisenbahn
müller. Dessen Ruhm war als        tionen am Mahnmal der Bahn,           in Deutschland identifizieren?
international anerkannter Ei-      dem Gleis 17 am Bahnhof Gru-          Welche Zeiträume oder Themen,
senbahnfachmann größer, als        newald, manifestiert oder auch        Fragestellungen sind möglicher-
seine doch entscheidende Rolle     in der internen Weiterbildungs-       weise weniger gut erforscht?
bei der Durchsetzung der na-       arbeit des Konzerns. Als Un-          – Das hängt sehr mit den über-
tionalsozialistischen Politik in   ternehmenshistoriker können           lieferten Quellen zusammen.
der NS-Zeit bekannt war. Die       wir das Wissen zur Verfügung          Die traditionelle Behörden-
Kolleginnen und Kollegen in        stellen und dazu anregen, Initi-      überlieferung in den öffentli-
Nürnberg haben ihn da für ihre     ativen zu ergreifen beziehungs-       chen Archiven erzählt uns re-
Ausstellung im wahrsten Sinne      weise zu unterstützen. Wenn           lativ wenig über das operative
des Wortes vom Sockel geholt.      es Unternehmen ernst meinen           Geschäft oder das Berufsleben
                                   mit ihrem gesellschaftspoliti-        von Eisenbahnern. So hatten
Während der NS-Zeit transpor-      schen Engagement für eine de-         wir unlängst wieder Anfra-
tierte die Reichsbahn Millionen    mokratische Gesellschaft, in          gen zur Rolle von Gastarbei-
Menschen fahrplanmäßig in          der Antisemitismus, Rassismus         tern bei der Bundesbahn. Oder
Ghettos, Konzentrations- und       und Zwangsarbeit keinen Platz         auch Fragen zum operativen
Vernichtungslager. Ohne sie wäre   haben, dann ist die Kenntnis          Geschäft im Güterverkehr, also

                                                                                                        11
APuZ 8–9/2022

Antworten auf Fragen der Ver-        Die Deutsche Bahn wirbt heute      ökonomischer, nicht mehr die-
kehrsgeschichte lassen sich nur      unter anderem mit dem Spruch       se wahnsinnigen Kohlevorrä-
sehr mühsam rekonstruieren.          „Mit uns schützen Sie die          te und ausufernde Infrastruk-
                                     Umwelt“ fürs Bahnfahren. Gibt es   tur vorhalten zu müssen, die
Geschweige denn Rückschlüsse         in der Unternehmensgeschichte      ein Dampfbetrieb bedeutete.
auf Lebenswirklichkeiten ziehen.     eine Tradition bei der Berufung    Die Umweltfreundlichkeit der
– Genau, das wird man sich           auf Umweltfreundlichkeit als       Bahn ist gegenüber dem Indi-
eher über Fotos und Objek-           Verkehrsmittel oder zumindest      vidualverkehr das große Plus.
te erschließen können. Wir           historische Anknüpfungspunkte?     Das war den damals Verant-
können in unserem DB Muse-           – Wenn man ehrlich ist, be-        wortlichen bei der Bahn aller-
um auf einen schönen Bestand         ginnt das in den 1980er Jah-       dings schon klar.
zurückgreifen. Der kann aber         ren. Die Bahn reagiert immer
nicht den Anspruch haben, al-        auch auf wirtschaftliche und       Das Interview führte Anne-
les abzudecken, weil es das We-      gesellschaftliche Herausforde-     Sophie Friedel per Telefon am
sen der Eisenbahngeschichte          rungen. Zum Beispiel gibt es       28. Januar 2022.
ist, fast überall präsent zu sein.   ein sehr berühmtes Plakat, das
Also steht man auch immer            heißt „Unsere Loks gewöh-
in Korrespondenz mit priva-          nen sich das Rauchen ab“, das      SUSANNE KILL
ten Sammlern, aber eben auch         stammt aus dem Jahr 1968. Da       ist promovierte Historikerin und
öffentlichen Archiven, um ein        war der Umweltgedanke noch         leitet die Abteilung Konzernge-
Thema entsprechend aufzube-          nicht so verbreitet, sondern es    schichte/Historische Sammlung
reiten, sei es für eine Ausstel-     ging um mehr Effizienz durch       der Deutsche Bahn AG in Berlin.
lung oder für eine Publikation.      die Elektrifizierung. Es war       susanne.kill@deutschebahn.com

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            bpb.de/
          apuz-podcast

12
Die Bahn APuZ

                       WARTEN AUF DIE BAHN
                           Eine Bau- und Kulturgeschichte
                                          Robin Kellermann

„Diese Zeit gehört Dir“, lautet seit 2015 der Slo-      Stunden Verspätung in Manchester ein, nachdem
gan einer prominenten Werbekampagne der Deut-           auf halber Strecke ein entgegenkommender Zug
schen Bahn. Reisezeit, so das Versprechen, sei kei-     den britischen Parlamentsabgeordneten und ehe-
ne verlorene, sondern (wieder)gewonnene Zeit,           maligen Minister William Huskisson erfasst hat-
Bahnfahren das kurze Exil in einer hektischen All-      te, der später seinen Verletzungen erlag.02
tagswelt – ein raffinierter Ansatz im Kontext unse-         Über dieses historische Ereignis hinaus eröff-
rer höchst zeitsensiblen Gesellschaft, in der Schnel-   net die Beschäftigung mit dem Warten einen Ein-
ligkeit und selbstbestimmte (Reise-)Zeitnutzung         blick in Konstitution und Wandel unserer moder-
einen hohen Stellenwert einnehmen. Gleichwohl           nen Zeitauffassung. Obwohl Wartesituationen aus
trägt zur allgemeinen Zeitsensibilität des Bahn-        Passagierperspektive seit jeher ein zentraler As-
reisens nicht nur das Entspannen im Bordbistro,         pekt der Mobilitätserfahrung sind, erhält die The-
sondern auch die alltägliche Erfahrung von War-         matik innerhalb der historischen Verkehrs- und
tezeiten bei. Laut der Deutschen Bahn waren im          Technikforschung bislang nur geringe Aufmerk-
präpandemischen „Normalbetrieb“ des Jahres              samkeit. Vor diesem Hintergrund würdigt die-
2019 75,9 Prozent aller Fernverkehrszüge pünkt-         ser Beitrag das Warten auf die Bahn nicht nur als
lich.01 Demnach kam gut ein Viertel der Züge un-        eine zentrale Mobilitätspraxis, sondern unterzieht
pünktlich an sein Ziel, wobei die Bahn in ihrer Sta-    es auch einer bau- und rezeptionsgeschichtlichen
tistik einen Halt erst dann als unpünktlich wertet,     Rekonstruktion.03 Wie und wo wurde in früheren
wenn die planmäßige Ankunftszeit um mehr als            Zeiten auf die Bahn gewartet, und war es schon
sechs Minuten überschritten wird. Ausgefallene          immer so geächtet wie heute?
Züge finden zudem keine statistische Berücksich-
tigung. Deutschland liegt damit im europäischen                 WARUM WIR AUF DIE BAHN
Vergleich im letzten Drittel – und das obwohl an-                  WARTEN (MÜSSEN)
dere Länder Pünktlichkeit strenger auslegen. Of-
fiziell fielen 2019 laut Bahn 3,74 Millionen Ver-       Die Entstehung von Verzögerungen und War-
spätungsminuten an, wobei Nahverkehrszüge von           tezeiten im Bahnwesen hat viele Ursachen. Zu
Verzögerungen grundsätzlich weniger betroffen           den infrastrukturell-technischen Ursachen zäh-
sind als Fernverkehrszüge.                              len Probleme an Gleisanlagen, Fahrzeugen oder
     Das Warten auf die (verspätete) Bahn bildet        am Signal- und Leitungssystem, die Reparaturen
zweifellos einen unweigerlichen Teilaspekt der          oder die Einrichtung von Baustellen erfordern. Zu
Reiseerfahrung. Überhaupt stellte Verspätung be-        den betrieblichen Ursachen zählen die unzurei-
reits von Anbeginn des Bahnwesens eine feste Be-        chende Anzahl und Einsatzfähigkeit verfügbarer
gleitgröße dar. Dies kann kaum treffender illus-        Züge und Ersatzzüge, aber auch Personalmangel.
triert werden als durch die Eröffnung der ersten        Zudem führen Wetterereignisse wie Sturm, Stark-
regulären Personenverkehrsstrecke zwischen Li-          regen und starker Schneefall oder auch Streiks
verpool und Manchester am 15. September 1830,           gelegentlich zu Verzögerungen. 2019 waren die
die den triumphalen Auftakt in ein neues Zeital-        drei häufigsten Verspätungsursachen von Zügen
ter der beschleunigten Raumüberwindung mar-             der DB Fernverkehr netzbedingte Verspätungs-
kieren sollte: Nicht nur mussten die 600 Passagie-      minuten (18 Prozent), Störungen an Fahrzeugen
re des Festzuges in Liverpool bereits vor Abfahrt       (11,8 Prozent) sowie Störungen an Leit- und Si-
eine Wartezeit von gut 70 Minuten absolvieren,          cherheitstechnik (7 Prozent).04 Davon ist auch der
sondern traf der Zug auch erst mit zweieinhalb          Güterverkehr betroffen. So waren Güterzüge der

                                                                                                        13
APuZ 8–9/2022

DB Cargo im Jahresmittel von 2019 durchschnitt-                     zeitwarten von 0 bis 6 Minuten.06 Auch wenn kei-
liche 43,2 Minuten verspätet.                                        ne vergleichbaren Statistiken aus jüngerer Zeit
     Der hohe Anteil an netzbedingten Verspätun-                     vorliegen, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit
gen führt vor Augen, dass die Bahn als ein hoch-                     der Bahnreisenden nach wie vor solche Zeitpuffer
komplexes und entsprechend störungsanfälliges                        einrichtet.
Verkehrssystem zu verstehen ist. In einem sol-                           Historisch gesehen, nahm dieser seitens der
chen System können Störungen sich oftmals noch                      Reisenden benötigte Zeitvorlauf noch weit grö-
auf selbst weit entfernte Punkte auswirken, was                     ßere Kapazitäten in Anspruch als heute. Grund
Reisenden bisweilen in der besonders grotesk an-                    dafür war unter anderem, dass ein geordnetes
mutenden Verspätungsursache „Verspätung auf-                        Verkehrsangebot aus Sicht der Eisenbahngesell-
grund einer vorausgegangenen Verspätung“ in                         schaften über weite Teile des 19. Jahrhunderts nur
Erinnerung gerufen wird.1234                                        durch ein mehr oder weniger hohes Maß zeitli-
     Neben netzbedingten und betrieblichen Ursa-                    cher und räumlicher Kontrolle vor Beginn der
chen entstehen Wartesituationen jedoch auch sei-                    Abfahrt ermöglicht werden konnte, um Ströme
tens der Reisenden selbst. Sie resultieren aus der                  (sicher) zu lenken, Fahrberechtigungen zu prüfen
formalen Besonderheit, dass der Zugang zu einem                     oder Passagiere (klassenspezifisch) gruppieren zu
öffentlichen Verkehrsmittel – das im Gegensatz                      können. Der neuartigen organisatorischen He-
zum Individualverkehrsmittel eine „örtliche und                     rausforderung, viele Menschen gleichzeitig mit
zeitliche Bündelung von Fahrtwünschen“05 er-                       einem Verkehrsmittel zu synchronisieren, wurde
möglicht – nur dann effizient und verlässlich re-                   folglich mit Kontroll- und Transferzonen begeg-
alisiert werden kann, wenn sich Reisende einem                      net. Die Gestaltung von Bahnhöfen im 19. Jahr-
gewissen Orts- und Sachzwang unterstellen. Die                      hundert zielte demnach nicht nur auf die Errich-
Abfahrt ist für Reisende folglich nicht frei wähl-                  tung symbolträchtiger Kathedralen der Mobilität,
bar, sie müssen sich schlicht zu einem bestimmten                   sondern auch auf die Einrichtung großer Warte-
Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfinden, um                     zonen, um einen ordnungsgemäßen Übergang
gemeinsam transportiert zu werden. Daher müs-                       der Passagiere auf die Züge zu gewährleisten. Ins-
sen selbst bei pünktlicher Abfahrt gewisse Zeit-                    besondere das erste Jahrhundert der Eisenbahn
puffer eingeräumt werden. So absolvieren Bahn-                      stand dabei vielerorts im Zeichen der temporä-
reisende am Abfahrtsort ein mehr oder weniger                       ren Sammlung bereits abgefertigter Reisender in
langes Warten im Transitraum von Warteräumen                        großen Wartesälen, die „aus Gründen der Sicher-
und Bahnsteigen oder aber ein indirektes Warten                     heit und Kontrolle noch nicht auf den Bahnsteig
in Restaurants und Geschäften. Der zeitliche Um-                    ­durften“.07
fang dieses situativen Wartens vor Abfahrt kann
durchaus erheblich sein. So erhob die Deutsche                                  WARTEN IST „MODERN“
Bundesbahn 1979, dass 35 Prozent der Fernver-
kehrsreisenden vor der planmäßigen Abfahrt ih-                      Dass Reisende einen Zug im Wartesaal oder am
res Zuges eine selbstgewählte Wartezeit von 6 bis                   Bahnsteig erwarten, mag heute banal erscheinen.
15 Minuten, 32 Prozent eine Wartezeit von 15 bis                    Tatsächlich aber ist diese Situation historisch gese-
30 Minuten, 14 Prozent eine Wartezeit von 30 bis                    hen relativ neu, denn ohne den organisierten Mas-
60 Minuten und 5 Prozent gar eine Wartezeit von                     senverkehr der Eisenbahnen wäre jener Zeitzwi-
mehr als 60 Minuten verbrachten. Nur 12 Prozent                     schenraum schlichtweg nicht entstanden. Zwar
der Fernverkehrsreisenden absolvierten ein Kurz-                    war zum Zeitpunkt der ersten Eisenbahnreisen
                                                                    das Warten an sich keineswegs neu: Menschen
                                                                    warteten schon immer auf ernährungsrelevante
01 Vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 19/18864, 28. 4. 2020.
                                                                    Ernten, auf transportrelevante Winde, auf spiritu-
02 Vgl. James Walker, An Accurate Description of the Liverpool      elle Erlösung und vieles mehr. Jedoch erfuhr das
and Manchester Railway, Liverpool 1832, S. 68.                      Warten als anthropologische Grundverfassung
03 Der vorliegende Beitrag basiert auf Robin Kellermann, Im Zwi-
schenraum der beschleunigten Moderne: Eine Bau- und Kulturge-
schichte des Wartens auf Eisenbahnen, 1830–1935, Bielefeld 2021.    06 Vgl. Karl Radlbeck, Bahnhof und Empfangsgebäude: die
04 Vgl. BT-Drs. (Anm. 1).                                           Entwicklung vom Haus zum Verkehrswegekreuz, München 1981,
05 Katrin Dziekan/Meinhard Zistel, Öffentlicher Verkehr, in: Oli-   S. 132.
ver Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, Wiesbaden 2018, S. 348.      07 Vgl. ebd., S. 13.

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Die Bahn APuZ

mit Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1830er    te. Baulicher Rahmen und kulturelle Rezeption
Jahren eine „moderne“ Erweiterung. Diese Form       können somit Aufschluss geben, welchen Wandel
des Wartens war erst durch die allgemeine Bewe-     das Warten auf die Bahn durchlaufen hat.
gungs- und Beschleunigungszunahme der ver-
kehrlichen Moderne erzeugt worden und unter-                        BAUGESCHICHTLICHE
schied sich in mindestens vier Merkmalen von der                      KONJUNKTUREN
Erfahrung bis dahin typischer Wartesituationen.
    Erstens war sie wesentlich kürzer als etwa      Wie und wo auf die Bahn in ihrer fast 200-jäh-
ein vormodernes Langzeitwarten auf jahres-          rigen Geschichte gewartet wurde, war auf engste
zeitlichen Wandel oder das Erscheinen astrono-      mit den Entwicklungsphasen des Bahnhofsbaus
mischer Konstellationen zur Zeitbestimmung.         verbunden. Darin spiegelten Lage und Stellung
Auch wenn es sich aus Sicht der Wartenden           des wartebezogenen Raumprogramms jeweils
am Bahnhof manchmal wie eine Ewigkeit an-           wandelnde Betriebskonzepte des Verkehrszu-
fühlen mag, ist es verglichen mit vormodernen       gangs, die den wartenden Passagier mehr oder
Wartesituationen von relativ begrenzter Dauer.      weniger stark formalisierten und disziplinierten.
Zweitens war dieses Warten wesentlich profa-             Während die Pionierphase der Eisenbahn
ner und weniger existenziell, weil es eine forma-   (1830–1845) den Reisenden zum Teil noch recht
le Notwendigkeit des (neuen) Verkehrszugangs        große informelle Spielräume und Bewegungs-
darstellte. Drittens war dieses Warten von we-      freiheiten bot, bildete sich zur Mitte des 19. Jahr-
niger Ungewissheit gezeichnet. Wartende in          hunderts ein Regime der Zwangsschleusung
modernen Systemzusammenhängen wie etwa              durch Wartesäle heraus, das dem Abfertigungs-
am Bahnhof verfügten insgesamt über eine ge-        prinzip heutiger Flughäfen ähnelte und ungefähr
wisse Prozesssicherheit, weil sie sich bereits im   bis zur Schwelle zum 20. Jahrhundert dominier-
System befanden beziehungsweise Informatio-         te. Im Rahmen dieses „stationären Warteimpera-
nen durch Pläne oder Auskünfte erhielten, die       tivs“08 war es den Reisenden in vielen europäi-
die Ungewissheit des Wartens kompensieren           schen Ländern vor Abfahrt nicht gestattet, den
konnten. Im Vergleich zu anderen Wartesituati-      Bahnsteig oder bereitstehende Züge zu betre-
onen war das Warten auf die Bahn zudem stär-        ten. Vielmehr mussten sie sich so lange in nach
ker im Vorfeld plan- und absehbar und geschah       bis zu vier Wagenklassen separierten Wartesälen
dadurch weniger überraschend. Viertens trat         aufhalten, bis ein Einstiegssignal ertönte. Dieser
das „moderne“ Warten im Bahnkontext zudem           organisatorische Zwang zum Warten wurde als
häufiger und regelmäßiger auf. Das Wissen über      eine Art Zeitstrategie implementiert, um die be-
Rhythmik der Entstehung, Erfahrung und Auf-         trieblichen Abläufe in der Gleishalle nicht zu ge-
lösung solcher systemischer Wartesituationen        fährden. Der Zwang wurde jedoch durch Kom-
gehörte im Leben der Moderne zunehmend zur          fort- und Serviceeinrichtungen kompensiert. So
Alltagsroutine, weil diese auch in anderen Kon-     ähnelten Wartesäle im deutschsprachigen Raum
texten (Verwaltung, Dienstleistungen) auftra-       ab Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts großen
ten und damit eine stärkere Routinisierung des      Restaurants, in denen das Warten fast untrenn-
Verhaltens ermöglichten. Nichtsdestotrotz wa-       bar mit dem Konsum von Speisen und Geträn-
ren und sind solche „modernen“ Wartesituatio-       ken verbunden war.
nen keineswegs psychologisch unproblematisch,            Der im Laufe des 19. Jahrhunderts wachsen-
denn die selbst im Kurzzeitwarten erzwunge-         de Formalisierungsgrad der Abfahrtsorganisa-
ne Takt­un­ter­bre­chung bildet unweigerlich den    tion war jedoch international nicht einheitlich.
Wahrnehmungsmittelpunkt und kann negative           Während insbesondere im deutschen und fran-
Affektreaktionen hervorrufen, insbesondere im       zösischen Kontext Reisende mancherorts förm-
Verspätungsfall.                                    lich in die Wartesäle eingesperrt wurden und die
    Vor diesem Hintergrund erforderte das War-      Wartezeit dadurch wesentlich angespannter und
ten am Bahnhof eine neue Kulturpraxis, die erst     nervöser erlebt haben dürften, war es Reisenden
erlernt werden musste. Zudem impliziert die         in England von Anbeginn möglich, sich frei auf
Neuheit der Wartesituation, dass sie in den Be-     den Bahnsteigen zu bewegen. Hier wurden War-
triebsablauf eingefügt und von einem entspre-
chenden Raumprogramm gerahmt werden muss-           08 Vgl. Kellermann (Anm. 3), S. 242 ff.

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