AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Fleisch - Bundeszentrale für politische ...
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71. Jahrgang, 51–52/2021, 20. Dezember 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Fleisch Gunther Hirschfelder Achim Spiller ∙ Gesa Busch VOM WOHLSTANDS- WIE TIERE ZUM KRISENSYMBOL ZU FLEISCH WERDEN Bernd Ladwig Thorsten Schulten ∙ Johannes Specht KRITIK AM FLEISCHKONSUM: EIN JAHR ARBEITSSCHUTZ- MORALISCH ODER KONTROLLGESETZ MORALISTISCH? Deborah Williger Martin Winter SCHÄCHTEN IN DER FLEISCHKONSUM DEUTSCH-JÜDISCHEN UND MÄNNLICHKEIT GESCHICHTE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Fleisch APuZ 51–52/2021 GUNTHER HIRSCHFELDER ACHIM SPILLER · GESA BUSCH VOM WOHLSTANDS- ZUM KRISENSYMBOL WIE TIERE ZU FLEISCH WERDEN Fleisch beziehungswiese seine als Nahrungs- Um die rege Diskussion um die Zukunft der mittel relevanten Hauptbestandteile Protein Tierhaltung und des Fleischkonsums zu verste- und Fett haben entscheidend zur menschlichen hen, lohnt ein Blick auf die Wertschöpfungskette Entwicklung und damit zur Herausbildung von der Fleischwirtschaft. Warum ist Fleisch so Kultur beigetragen. Heute erlebt Fleisch eine billig? Welche Herausforderungen birgt das für regelrechte Ansehenskrise. eine nachhaltige Fleischerzeugung? Seite 04–12 Seite 26–35 BERND LADWIG THORSTEN SCHULTEN · JOHANNES SPECHT KRITIK AM FLEISCHKONSUM: EIN JAHR ARBEITSSCHUTZKONTROLLGESETZ MORALISCH ODER MORALISTISCH? Lange wurde die deutsche Fleischindustrie mit Die Deutschen essen durchschnittlich etwa menschenverachtenden Arbeitsverhältnissen 57,3 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Der Trend verbunden. Das im Dezember 2020 verabschie- ist leicht rückläufig, das Niveau aber weiterhin dete Arbeitsschutzkontrollgesetz ist ein erster hoch. Wie ist dieses Ernährungsverhalten Schritt, um das Geschäftsmodell der Branche moralisch zu beurteilen? Ist es überhaupt ein grundlegend neu zu ordnen. zulässiger Gegenstand moralischer Bewertung? Seite 36–41 Seite 13–18 DEBORAH WILLIGER MARTIN WINTER SCHÄCHTEN IN DER DEUTSCH-JÜDISCHEN FLEISCHKONSUM UND MÄNNLICHKEIT GESCHICHTE Geschlecht und mithin Männlichkeit sind ein Fest in der jüdischen Tradition verankert, besitzt wesentlicher Faktor für Fleischkonsum. Um- der Schächtkultus für Juden identitätsstiftenden gekehrt spielt Fleischkonsum eine wesentliche Charakter. In Deutschland ist das Schächten Rolle in der Konstruktion von Männlichkeiten. als Schlachttechnik verboten. Rechtshistorisch Wo liegen die Ursprünge dieser Verbindung und bedingt stehen sich in der hiesigen Debatte welchen aktuellen Trends unterliegt sie? Tierschutz und Religionsfreiheit gegenüber. Seite 20–25 Seite 42–46
EDITORIAL Weltweit werden jährlich rund 325 Millionen Tonnen Fleisch produziert. Im Lichte des Bevölkerungswachstums und steigender Einkommen insbesondere in den Ländern des Globalen Südens hat sich die Nachfrage in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Als einer der größten Fleischproduzen- ten und -exporteure profitiert Deutschland von dieser Entwicklung. Zugleich ist der Fleischkonsum hierzulande rückläufig: Aßen die Deutschen 2010 durchschnittlich 62,4 Kilogramm Fleisch, waren es 2020 noch 57,3 Kilogramm; immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisch oder verzichten ganz auf tierische Produkte. In Deutschland hat der kritische Diskurs zum scheinbar selbstverständ- lichen Grundnahrungsmittel an Breite und Schärfe zugenommen. Neben gesundheitlichen Aspekten des Fleischkonsums stehen vor allem die Auswir- kungen der industriellen Fleischproduktion auf Tierwohl, Klima und Arten- vielfalt im Mittelpunkt. Spätestens seit den massiven Corona-Ausbrüchen in einigen großen Fleischbetrieben 2020 sind auch die prekären Arbeitsbedingun- gen in der Branche, die – ganz untypisch für „Made in Germany“ – seit den 1990er Jahren auf möglichst geringe Produktionskosten setzt, in das öffentli- che Bewusstsein gerückt. Der tatsächliche Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit in der Fleischwirtschaft erweist sich jedoch als zäh. Während mit dem im Dezember 2020 verabschie- deten Arbeitsschutzkontrollgesetz, das unter anderem Werkverträge und Leiharbeit in der Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung verbietet, die Grundlage für eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen geschaffen wurde, steht in der Agrarpolitik die Umsetzung jahrelang diskutierter Vorhaben wie ein staatliches Tierschutzlabel für Fleischprodukte weiter aus. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 51–52/2021 VOM WOHLSTANDS- ZUM KRISENSYMBOL Eine Kulturgeschichte des Nahrungsmittels Fleisch Gunther Hirschfelder Wer sich zu Beginn der 2020er Jahre mit dem The- Der Mensch muss essen, aber er befriedigt seinen ma Fleisch beschäftigt, ist irritiert. Auf der einen Hunger primär mit erlernten und tradierten, von Seite ist breite Ablehnung allgegenwärtig: Im öf- der ihn umgebenden Gesellschaft gemeinhin ak- fentlichen Raum und in den Medien ebenso wie in zeptierten Methoden. Diese wiederum sind kaum der Politik werden Fleischproduktion und -kon- statisch, sondern stetem Wandel unterworfen. sum als ökologisches und moralisches Problem Wenn Menschen über ihre Ernährung nach- diskutiert, und Bekenntnisse zum Fleischverzicht denken oder die nächste Mahlzeit planen, spie- gelten als Zeichen von Integrität – man gewinnt len oft rationale Erwägungen eine Rolle: Fakto- beinahe den Eindruck, niemand äße mehr Fleisch. ren wie Geschmack und Preis, die enthaltenen Wer hingegen Werbeprospekte studiert, durch die Nährstoffe oder auch gewünschte Wirkungen auf Innenstädte streift, in Autobahnrasthöfen ein- den Körper sind dominant, denn über Ernährung kehrt oder einen Supermarkt besucht, sieht über- wird kognitiv reflektiert. Das Essen wiederum ist all Fleisch und Wurst. In der Tat ist der Fleisch- ein hochemotionaler Akt: Essen befriedigt Lust, konsum in Deutschland in den vergangenen Jahren stiftet Geborgenheit und Sicherheit, weckt posi- nur marginal zurückgegangen, er verharrt fast auf tive Erinnerung. Wer auf dem Weg zur Kantine einem markant hohen Niveau: Von gut 60 Kilo- vorhat, den Salatteller zu wählen, mag sich an der gramm pro Kopf und Jahr in der Mitte der 2010er Ausgabetheke kurzfristig anders entscheiden und Jahre ist er auf knapp 57 Kilogramm im Jahr 2020 zur deftigen Fleischmahlzeit greifen. Ebenso wie gesunken.01 Wer den Widerspruch zwischen ge- beim Einkauf im Geschäft schlägt das Gefühl die sellschaftlicher (Selbst-)Wahrnehmung und realem Vernunft. Bei Fleischprodukten ist diese Versu- Konsumverhalten verstehen will, muss die Aus- chung offenbar besonders groß, denn noch bis ins gangslage der Ernährung in den Blick nehmen, letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein stand es aber auch in die Geschichte zurückblicken.02 für Wohlstand, Gesundheit und gutes Leben. Zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels be- Fleisch erlebt heute eine regelrechte Anse- nötigen Menschen wie alle Säugetiere Proteine, henskrise. Fleisch beziehungsweise seine an die- Fette und Kohlenhydrate als Energiespender so- ser Stelle relevanten Hauptbestandteile Protein wie Bausteine zur Erneuerung von Zellen. Für und Fett haben jedoch entscheidend zur mensch- Menschen stellt die Aufnahme von Nahrung aber lichen Entwicklung und damit letztlich zur He- mehr als nur die Aufrechterhaltung des Stoff- rausbildung von Kultur beigetragen. Diesen Wer- wechsels dar, denn Essen ist vor allem auch ein degang werde ich im Folgenden skizzieren. Denn kultureller Akt. Die Ernährung kann als sozia- in der geschichtlichen Betrachtung liegt nicht zu- les Totalphänomen begriffen werden. Damit ge- letzt die Antwort auf die Frage, warum wir nicht hen verschiedenste gesellschaftliche und kulturel- vom Fleisch lassen können04 und es vielleicht nie le Wertigkeiten einher, und Ernährung ist „immer werden.05 auch als Symbolkonsum, als Spielart der mensch- lichen Selbstausstattung mit Bedeutungen und ACHILLESFERSE DER FRÜHEN damit auch als Verfahren der sozialen Selbstver- MENSCHLICHEN ERNÄHRUNG ortung“ zu sehen.03 Daher lässt sich Esskultur, in diesem Fall gewissermaßen Fleischkonsum- Die Entwicklung der Menschheit setzte vor über kultur, als Bindeglied zwischen dem physiologi- drei Millionen Jahren ein und verlief proportio- schen Bedürfnis – dem Hunger – und seiner Be- nal zur Fähigkeit der anfangs schmächtigen Früh- friedigung – der Nahrungsaufnahme – begreifen: menschen, sich Protein- und Fettquellen zu er- 04
Fleisch APuZ schließen. Erst mit deren besserer Verfügbarkeit und starb aus. Fleischkonsum war elementar, aber wuchs das Gehirn. So hatte etwa „Lucy“, jener eben nicht alles – die besseren sozialen Fähigkei- Frühmensch der Gattung Australopithecus afa- ten des Homo sapiens stellten den entscheiden- rensis, dessen etwa 3,2 Millionen Jahre alte Über- den Vorteil dar.08 reste 1974 in Äthiopien gefunden wurden, ein Das Leben der Frühmenschen war beschwer- Hirnvolumen, das mit 400 bis 560 Kubikzentime- lich und stets gefährdet, denn das Jagdglück tern nur ein Drittel unseres heutigen12345 umfasst06 – schwankte und der Fleischkonsum war risiko- wohl nicht zuletzt deshalb, weil Lucy zwar sam- behaftet. Einen Wendepunkt brachte die Entde- meln, aber noch nicht jagen konnte. Erst vor ckung der Feuerbereitung vor etwa einer Million etwa 2,5 Millionen Jahren gelang es unserem di- Jahren. Fleisch konnte nun gegart werden, wurde rekten Vorfahren, dem Homo erectus, sich mit also leichter verdaulich und sicherer, verringerte dem Fleisch jagd- und fangbarer Tiere – inklusive sich dadurch doch das Risiko parasitären Faden- Reptilien, Insekten, Fischen und Muscheln – wei- wurmbefalls (Trichinellose).09 tere Nahrungsquellen zu erschließen, sodass sich Vor etwa 12 000 Jahren wurden im Vorderen das Hirnvolumen mehr als verdoppeln konnte.07 Orient aus den Jäger- und Sammler- allmählich Fleischkonsum und Menschheitsentwicklung er- Ackerbauer- und Viehzüchtergesellschaften. Die- scheinen vor diesem Hintergrund eng verzahnt. ser Prozess ist als „Neolithische Revolution“ be- Der Homo erectus entwickelte sich in meh- kannt und vollzog sich in Europa rund fünf Jahr- reren Linien weiter, aus denen der Homo sapiens tausende später.10 Die Fleischversorgung wurde und der Homo neanderthalensis hervorgingen. deutlich stabiler, denn die inzwischen sesshaften Beide lebten parallel, beide waren exzellente Jä- Menschen begannen, Wildtiere zu domestizie- ger und hatten genügend Fleisch zur Verfügung. ren: Ziegen, Schafe, Rinder, Schweine und Geflü- Gleichwohl unterlag der Neandertaler langfristig gel wurden zu Nutztieren, die man aufzog und pflegte, um sie bei Bedarf zu töten und zu essen. 01 Vgl. Bundesinformationszentrum Landwirtschaft, Geflügel, Fleisch wurde nun komplexer zubereitet, gerös- 9. 7. 2021, www.landwirtschaft.de/landwirtschaftliche-produkte/ tet, gebraten, gedämpft oder gekocht, aber auch wie-werden-unsere-lebensmittel-erzeugt/tierische-produkte/ trocken zerkleinert und mit Fett vermischt. Mit gefluegelfleisch. Dabei dürfte dieses Absinken vor allem dem dem stabileren Zugriff auf Fleisch ging ein deutli- Rückgang des Außerhausverzehrs infolge der Corona-Pandemie ches Bevölkerungswachstum einher.11 geschuldet sein. 02 Vgl. Gunther Hirschfelder/Lars Winterberg, Fleisch als Kulturgut: Traditionen und Dynamiken, in: Ernährung im Fo- ANTIKE kus 1/2020, S. 28–33. 03 Timo Heimerdinger, Schmackhafte Symbole und alltägliche Ab etwa 4000 v. Chr. entstanden aus den Ackerbau- Notwendigkeit. Zu Stand und Perspektiven der volkskundlichen kulturen am Nil und im Zweistromland allmäh- Nahrungsforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 101/2005, S. 205–218, hier S. 207. lich Hochkulturen mit Schriftlichkeit, komplexen 04 Vgl. Manuel Trummer, Die kulturellen Schranken des Religionen und ausdifferenzierter Viehhaltung. Gewissens – Fleischkonsum zwischen Tradition, Lebensstil und Die Landwirtschaft wie parallel auch die Techni- Ernährungswissen, in: Gunther Hirschfelder et al. (Hrsg.), Was ken in den Bereichen Fischfang und Jagd – etwa der Mensch essen darf. Ökonomischer Zwang, ökologisches auf Zug- und Singvögel – waren effektiver gewor- Gewissen und globale Konflikte, Wiesbaden 2015, S. 63–82. 05 Vgl. Gunther Hirschfelder/Manuel Trummer, Essen und Trinken, 26. 6. 2013, http://ieg-ego.eu/de/threads/hintergru- 08 Vgl. Rüdiger Wehner/Walter Gehring (Hrsg.), Zoologie, ende/essen-und-trinken/gunther-hirschfelder-manuel-trummer- Stuttgart 2007, S. 664. essen-und-trinken; Neil Mann, Meat in the Human Diet: An 09 Vgl. Francesco Berna et al., Microstratigraphic Evidence Anthropological Perspective, in: Nutrition & Dietetics 64/2007, of in situ Fire in the Acheulean Strata of Wonderwerk Cave, S. 102–107; Donald Johanson/Edgar Blake, Lucy und ihre Northern Cape Province, South Africa, in: Proceedings of the Kinder, München 2006; Gunther Hirschfelder, Fleischkonsum, National Academy of Sciences of the United States of America in: Enzyklopädie der Neuzeit 3, Stuttgart–Weimar 2006, 109/2012, E1215–E1220. Sp. 1015–1018; ders., Europäische Esskultur. Geschichte der 10 Vgl. Hansjürgen Müller-Beck, Die Steinzeit: Der Weg der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt/M.–New York Menschen in die Geschichte, München 2004. 2005; Hans-Jürgen Teuteberg, Der Fleischverzehr in Deutsch- 11 Vgl. Gunther Hirschfelder, Nahrungsfette und Proteine – land und seine strukturellen Veränderungen, in: ders. (Hrsg.), Zentrale Bausteine der Ernährung im Spannungsfeld von Kultur Unsere tägliche Kost, Münster 1986, S. 63–74. und Physiologie, in: Dr. Rainer Wild-Stiftung (Hrsg.), Zucker – 06 Vgl. Mann (Anm. 5); Johanson/Blake (Anm. 5), S. 21. Fette – Proteine. Makronährstoffe im interdisziplinären Diskurs, 07 Vgl. Mann (Anm. 5). Heidelberg 2021, S. 160–193, hier S. 169 f. 05
APuZ 51–52/2021 den,12 und vor allem wurden Nutztiere, insbeson- sum war prestigeträchtig, aber viel Fleisch zu es- dere Rinder, planmäßig gezüchtet.13 sen, blieb Privileg der Oberschicht, während die Für die klassische Antike lassen sich die Ver- Arbeiter auf den Landgütern und vor allem Skla- hältnisse genauer rekonstruieren, und es wird ven sich mit geringen Mengen von deutlich unter deutlich, wie sehr die entwickelten Gesellschaf- 20 Kilogramm pro Kopf und Jahr begnügen muss- ten kämpfen mussten, um den Fleischbedarf zu ten.16 Die Reichen aßen gerne Schweinefleisch, wo- decken. Auch lässt sich das außerordentlich hohe hingegen archäologische Funde darauf hindeuten, Ansehen, das Fleisch genoss, klarer fassen. Weit dass in den Armenvierteln eher Rinder geschlach- verbreitet waren rituelle Schlachtungen, bei denen tet wurden, die ein langes Arbeitsleben hinter sich das Tier den Göttern geopfert wurde. Symbolisch hatten und deren Fleisch zäh war. Römische Sol- wurde das Fleisch mit den Göttern geteilt und erst daten hatten deutlich mehr Zugriff auf Fleisch, was dann verspeist – ein klares Indiz dafür, dass Fleisch die Attraktivität des Militärs fraglos erhöhte. auf der Wertigkeitsskala ganz oben stand. Freilich Grundsätzlich besser war die Fleischversor- blieb der Speisezettel der breiten Bevölkerung vor- gung nördlich der Alpen. Das Land war dünn be- nehmlich pflanzlich geprägt, und es ist von einem siedelt, und Viehhaltung war hier effizienter als Fleischkonsum von deutlich unter 20 Kilogramm der arbeitsintensive Getreideanbau. Während der pro Kopf und Jahr auszugehen. Kulturmuster tra- Lebensstandard insgesamt deutlich niedriger blieb ten zutage, die für die meisten vorindustriellen als im mediterranen Raum, können wir von einem Gesellschaften charakteristisch sind: Das Fleisch signifikant höheren Fleischverbrauch ausgehen. stammte oft von älteren Nutztieren. Es wurde, Weiderinder oder Schweine, die in kleinen Her- wenn möglich, gekocht, denn die Mangelgesell- den in die Wälder getrieben wurden, um Kasta- schaften konnten es sich kaum leisten, Fett durch nien, Eicheln oder Bucheckern zu fressen, kamen das Braten auf dem Rost zu vergeuden. reichlich auf den Tisch der keltischen und germa- In der griechischen Antike des ersten vor- nischen Bevölkerung oder auch der neuen römi- christlichen Jahrtausends spielte Schweinefleisch, schen Machthaber. Das reichere Vorhandensein das sich durch seinen hohen Fettanteil besonders von Holz ermöglichte das Garen über Feuer. Im gut zum Konservieren durch Pökeln und für die römischen Germanien war die Küche daher deut- Wurstherstellung eignet, eine bedeutende Rolle. lich fleischlastiger und deftiger als im Süden, aber Während Ferkel als besondere Delikatesse galten, wohl schwächer gewürzt und weniger fi ligran.17 standen Rind, Ochse und Kalb seltener auf dem Speiseplan. Grundsätzlich wurde das ganze Tier MITTELALTER verwertet: Es gab viele Gerichte, die auf Innerei- en basierten, und Schnauzen, Nasenscheidewän- Ab dem 4. nachchristlichen Jahrhundert begann de oder Bindegewebsfetzen wurden zu Würsten der Niedergang des Imperium Romanum. Immer verarbeitet.14 wieder fielen germanische Kampfverbände aus Ab dem ersten vorchristlichen Jahrtausend dem Norden ein, denn in Skandinavien und im breitete sich das Imperium Romanum über die östlichen Europa hatten sich die Bedingungen für Apenninenhalbinsel hinaus aus. Bald herrschte die Landwirtschaft durch das einsetzende mittel- Rom über die mediterrane Welt und expandierte alterliche Klimapessimum massiv verschlechtert.18 in den nördlich der Alpen gelegenen Raum. Die- Während die römische Infrastruktur nördlich der ser militärische Erfolg basierte nicht zuletzt auf ei- Alpen erodierte, stieg der Fleischverbrauch. Doch ner Effizienzsteigerung der Landwirtschaft: Ge- freilich konnte auch die Tierhaltung kaum eine biete mit hohen Getreideerträgen wie Sizilien oder stabile Versorgung gewährleisten – Seuchen, harte Ägypten wurden dem Reich strategisch einver- Winter, Konflikte oder auch Bär und Wolf stellten leibt, die Landwirtschaft wurde straff organisiert permanente Bedrohungen dar.19 und das Tier als Nutztier begriffen.15 Fleischkon- 16 Vgl. ders./Winterberg (Anm. 2), S. 30. 17 Vgl. ebd.; Hirschfelder (Anm. 11), S. 173. 12 Vgl. Jürgen Bär, Frühe Hochkulturen an Euphrat und Tigris, 18 Vgl. Kyle Harper, Climate, Disease and the Fate of Rome, Darmstadt 2009. Princeton 2017; Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas: 13 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 170. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2013, 14 Vgl. ders./Winterberg (Anm. 2), S. 29. S. 59 ff. 15 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 171 ff. 19 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 173. 06
Fleisch APuZ Aus dieser Zeit ist die „Lex Salica“ erhalten, eine Gesetzessammlung, die zwischen 507 und 511 n. Chr. auf Anordnung des Merowingerkönigs Chlodwig verfasst wurde und umfangreiche Be- stimmungen zur Schweinezucht nennt. Wie vom oströmischen Arzt Anthimus (ca. 450–530 n. Chr.) überliefert ist, war Schweinespeck die Leibspeise der Franken. Er berichtete, besonderer Beliebtheit erfreue sich gekochter Schinken, und roher Speck gehöre zu den wichtigsten Heilmitteln.20 Der kulturelle Umgang mit Fleisch wurde in der Folgezeit stark durch die Christianisierung beeinflusst. In den verbindlichen Fastenzeiten – an Freitagen und jeweils 40 Tage vor Ostern und Weihnachten – durfte kein Fleisch gegessen wer- den, und Fisch aus der nun expandierenden Teich- wirtschaft sowie aus der Binnen- und Seefischerei gewann an Bedeutung. Dafür litten jene, denen aus strukturellen oder ökonomischen Gründen kein Fisch zur Verfügung stand, nun unter pha- Schweineschlachtung im Mittelalter, Illustration aus senweisem Proteindefizit.21 der Handreichung für eine gesunde Lebensführung Die massiven Schwankungen in der Lebens- „Tacuinum sanitatis“, 14. Jahrhundert. Quelle: Wikimedia Commons mittelversorgung gingen mit dem beginnenden Klimaoptimum ab Mitte des 10. Jahrhunderts zu- rück. Die Ernteerträge wurden stabiler, und es wurde immer mehr Getreide gegessen, während Das bedeutete für viele zunächst Hunger und Un- der Fleischanteil drastisch sank. Insbesondere au- terversorgung. Mittelfristig verbesserte sich die Bo- ßerhalb der wohlhabenderen Städte herrschte je- den-Mensch-Relation aber, und nun weitete sich doch Mangel, sogar in den Klöstern. Was rar ist, die Viehhaltung wieder auf Kosten des Getreidean- erscheint besonders begehrenswert, und so gal- baus aus. Vor allem im Norden und am Alpenrand ten große Fleischportionen beim Adel als Zei- wurden immer mehr Rinder, aber auch Schweine, chen hohen gesellschaftlichen Ranges. Vor allem Schafe und Ziegen gehalten, und die Fleischversor- die Mahlzeiten der Wohlhabenden dürften aus gung wuchs so stark, dass der Verzehr von Fleisch großen Mengen an einfach zubereitetem Fleisch pro Kopf und Jahr nördlich der Alpen temporär bestanden haben, während die ländliche Bevöl- wahrscheinlich auf bis zu 100 Kilogramm anstieg kerung einmal mehr von gravierenden Fett- und – Fleisch gab es im Überfluss.24 Im Einzugsgebiet Proteindefiziten betroffen war.22 der Ostsee war Butter so reich verfügbar, dass sie In der Mitte des 13. Jahrhunderts hatte das Kli- kaum mehr Ansehen genoss und als Bauernspeise maoptimum seinen Zenit überschritten, und die galt, während sich die europäische bürgerliche Kü- merkliche Abkühlung führte in den Jahren nach che auf Speck und Schmalz fokussierte.25 1315 zu einer dramatischen Hungersnot. Bald da- rauf traf die „Schwarzer Tod“ genannte Pestepide- FRÜHE NEUZEIT mie Europa mit voller Wucht und kostete mindes- tens einem Drittel der Bevölkerung das Leben.23 Die Erfindung des modernen Buchdrucks 1453, die „Entdeckung“ Amerikas 1492 und die 1517 20 Vgl. ders. (Anm. 5). beginnende Reformation markierten nicht nur 21 Vgl. ders. (Anm. 11), S. 174. 22 Vgl. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas: Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, S. 112. 24 Vgl. Hans-Jürgen Teuteberg/Günter Wiegelmann, Nah- 23 Vgl. Manfred Vasold, Die Ausbreitung des Schwarzen Todes rungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhun- in Deutschland nach 1348: Zugleich ein Beitrag zur deutschen derts, Münster 1995, S. 99 f. Bevölkerungsgeschichte, in: Historische Zeitschrift Bd. 277/2003, 25 Vgl. Birgit Pelzer-Reith, Fettkonsum, in: Enzyklopädie der S. 281–301. Neuzeit 3, Stuttgart–Weimar 2006, Sp. 965–971. 07
APuZ 51–52/2021 Stillleben mit Fleisch und der Heiligen Familie, Öl auf Tafel, Pieter Aertsen, 1551. Quelle: Wikimedia Commons das Ende des Mittelalters,26 alle drei Prozesse des Agrarsektors auf Großbetriebe vor allem öst- wirkten sich auch nachhaltig auf Fleischproduk- lich der Elbe eine entrechtete und mittellose Kas- tion und -konsum aus. Im Zuge des columbian te von Landarbeitern entstehen, deren eiweiß- exchange gelangten aus der „Neuen Welt“ Mais arme Kost in krassem Widerspruch zu jener der und Kartoffel nach Europa und damit hocheffizi- begüterten Grundherren stand.28 ente Futtermittel für eine ertragreichere Viehhal- Vor diesem Hintergrund wurde die fleisch- tung. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts reiche Ernährung von einer stark getreideba- verschlechterten sich die klimatischen Bedingun- sierten Lebensweise abgelöst. Der Fleisch-pro- gen jedoch rapide, sodass die Agrarerträge sanken Kopf-Verzehr sank im Verlauf der Frühneuzeit und die Viehbestände abnahmen.27 Die konfessi- von etwa 100 auf unter 16 Kilogramm jährlich.29 onellen Spannungen, die im Zuge der Reformati- Die tatsächlich konsumierte Menge war dabei in on auftraten, entluden sich 1618 mit Beginn des hohem Maß von sozialen Zugehörigkeiten, etwa Dreißigjährigen Kriegs, dessen Verwüstungen dem jeweiligen Stand, sowie räumlicher und zeit- eine Dezimierung des Viehbestands und massive licher Verortung, also von der Wohnsituation Preissteigerungen zur Folge hatte – Fleisch wurde auf dem Land oder in der Stadt und der jewei- knapp und teuer. Zudem ließ die Konzentration ligen Konjunktur abhängig. Für den Konsum wie auch für das kulinarische System hatte dieser Rückgang weitreichende Folgen: Das Ansehen 26 Vgl. Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt: des Fleisches blieb groß, die Knappheit mach- Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, te es zusätzlich begehrlich, und ausgeprägt war München 2016. 27 Vgl. Behringer (Anm. 22); Dominik Collet, Die doppelte Katastrophe: Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 28 Vgl. Hirschfelder/Trummer (Anm. 5). 1770–1772, Göttingen 2019. 29 Vgl. Teuteberg/Wiegelmann (Anm. 24), S. 99. 08
Fleisch APuZ der Wunsch, es weiterhin in die Mahlzeitensyste- Die Entwicklung von Fleisch zum Massen- me einzubinden. Daher entwickelten sich zuneh- produkt trug in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- mend Gerichte, bei denen der Fleischanteil varia- hunderts zu einem starken Bevölkerungsanstieg bel gesteuert werden konnte, die also mit weniger bei. Zugleich basierte die Industrialisierung auf Fleisch auskamen. Es deutet einiges darauf hin, der Ausbeutung fossiler Ressourcen, die nicht dass Traditionsgerichte wie Maultaschen, Kohl- ge-, sondern verbraucht werden und damit un- rouladen, Grützwurst, Saumagen oder – im Be- wiederbringlich verloren gehen.33 Den Zeitge- reich der jüdischen Esskultur – Matzeklöße in nossen waren diese Gefahren nicht bewusst. Die diesem Kontext entstanden. Die defizitäre Prote- Angst vor Hunger blieb lange größer als die Sorge inversorgung wirkte sich tendenziell negativ auf um die zerstörerische Macht des Wohlstands, und Gesundheitszustand und Körpergröße der Mit- man freute sich über das preisgünstige und leicht teleuropäer aus.30 Das hatte nicht zuletzt zur Fol- zu verarbeitende Schweinefleisch. Würste und ge, dass Übergewicht als Schönheitsideal galt, ein Würstchen, Frikadellen, Bouletten und Braten, schlanker Körper hingegen mit Hunger und Ar- Schnitzel und Kotelett – die aufstrebende Gas mut assoziiert wurde. tronomie, die Deutschland als dichtes Netz über- zog und zum Treffpunkt vieler sozialer Gruppen INDUSTRIEZEITALTER wurde, hatte all das im Angebot. Ein erster durchschlagender Erfolg in Sachen In den Jahren um 1800 wurde mit dem Über- bürgerlicher Küche war Henriette Davidis be- gang zum Industriezeitalter die Talsohle der schieden, die 1845 jenes Kochbuch herausgab, mitteleuropäischen Fleischversorgung durch- das ab der dritten Auflage als „Praktisches Koch- schritten. Diese Tatsache trägt ihren Teil Verant- buch für die gewöhnliche und feine Küche“ fir- wortung dafür, dass man die Frühzeit der Indus- mierte. Bürgerliche Kochbücher avancierten im trialisierung auch als Zeitalter des Pauperismus 19. Jahrhundert bald zum beliebten Hochzeitsge- bezeichnet. Ab etwa 1830 stieg der Fleischver- schenk und machen deutlich, wie stark die tägli- brauch wieder kontinuierlich und erreichte um che Ernährung der Epoche auf Fleisch ausgelegt 1900 etwa 50 Kilogramm pro Kopf und Jahr.31 war. Außer freitags, wenn in katholischen Gebie- Die Gründe lagen in der langen Friedenszeit ten Fisch gegessen wurde, stand jeden Tag Fleisch nach dem Wiener Kongress 1815, dem stark be- auf dem Speiseplan – gerade auch in vielen Ar- schleunigten wissenschaftlichen Fortschritt und beiter- und Bauernhaushalten. Speck, Schinken in den Folgen der Industrialisierung. Gerade und Würste aus Schweinefleisch werden beson- jene, die aus den armen Mittelgebirgsregionen ders häufig erwähnt. Für den obligatorischen im Westen des Deutschen Bundes, aus Schlesien Sonntagsbraten favorisierte man Rind- und Kalb- oder dem östlichen Preußen in die rasch wach- fleisch, zunehmend auch Huhn. Eine Analyse senden Industriezentren des Ruhrgebiets und dieser Kochbücher zeigt, dass Menschen, die ihre Sachsens zogen, wurden nicht zuletzt auch von Nahrung vorher selbst angebaut hatten, jetzt vie- dem Nahrungsmittel angezogen, das sie lange le Produkte zukaufen mussten und sich immer sehnlich vermisst hatten und nun billig haben weiter von der Lebensmittelerzeugung entfrem- konnten: Fleisch. Von dessen enormem gesell- deten. Fleisch wurde zunehmend als ein vom Tier schaftlichen Stellenwert zeugen die kunstvolle losgelöstes Produkt wahrgenommen.34 Architektur der neuen industriellen Schlachthö- Bei vielen Alten, kinderreichen Familien oder fe, die an zentralen Stellen im Stadtbild errichtet einkommensschwachen Arbeitern kam auch wurden, als Symbole von Fortschritt und gutem während der Hochkonjunktur des Kaiserreichs Leben an Knotenpunkten zwischen Peripherie oft nur einmal pro Woche Fleisch auf den Tisch, und Innenstadt.32 sodass dessen Konsum ein markanter Indikator für Wohlstand blieb. Die Nachfrage nach tieri- schen Produkten stieg permanent, das Angebot 30 Vgl. Frank Sirocko (Hrsg.), Wetter, Klima, Menschheitsent- konnte aber kaum mithalten. Vor allem die But- wicklung: Von der Eiszeit bis ins 21. Jahrhundert, Darmstadt terherstellung verharrte auf niedrigem Niveau. In 2009. 31 Vgl Hirschfelder/Winterberg (Anm. 2), S. 31. 32 Vgl. Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer 33 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 177. Industrialisierung, Paderborn 2020. 34 Vgl. ders./Winterberg (Anm. 2), S. 31. 09
APuZ 51–52/2021 Arbeitsteilig organisierter Schlachthof in Cincinnati, Postkarte, 1873. Quelle: Library of Congress Frankreich wurde nach langwierigen Forschun- zent zurück, und es ist davon auszugehen, dass gen eine neuartige Kunstbutter entwickelt: 1869 sich vor allem die vielen Verarmten, Witwen und gelang es dem Chemiker Hippolyte Mège-Mou- mittellosen Alten kaum mehr Fleischprodukte riès, eine Substanz zu entwickeln, die aussah wie leisten konnten – ein schmerzlicher und vor allem Butter, aber überwiegend pflanzlich war; nur ein für jene harter kultureller Bruch, die in den Frie- wenig Nierenfett, Lab und zerstoßene Kuheu- densjahren volle Teller genossen hatten.36 Auch ter waren enthalten. Ebenso wie Fleisch und Fett in der Weimarer Republik blieb die Fleischkon- stand diese Margarine für Wohlstand und Ge- sumschere weit geöffnet: Hohe Arbeitslosigkeit, sundheit, denn viele litten unter Kalorienunter- die Hyperinflation 1923 und die Weltwirtschafts- versorgung. So warb in den USA der Hersteller krise 1929 sorgten dafür, dass Fleisch für breite eines Tonikums zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bevölkerungsschichten beinahe unerschwinglich noch damit, dass sein Mittel und die zugehörigen wurde.37 Nahrungsmittel seine Konsumenten „fat“ mache. Mit der Machtübernahme der Nationalsozia- Fett war dabei positiv besetzt und klar mit Ge- listen ging auch ein Paradigmenwechsel hinsicht- sundheit assoziiert.35 lich des Fleischkonsums einher: Zwar propagierte die Ideologie schmale und fleischarme Kost, aber 20. JAHRHUNDERT man suchte sich das Wohlwollen der Volksge- meinschaft zu erkaufen, indem man für eine mög- Während des Ersten Weltkriegs, der Mangel, lichst gute Fleischversorgung sorgte – allerdings Hunger und Teuerung mit sich brachte, wurde nur für jene, die man dieser „Volksgemeinschaft“ die Fleischversorgung strukturell entdemokrati- siert. Der Fleischkonsum ging um etwa 80 Pro- 36 Vgl. Eckart Ehlers, Das Anthropozän. Die Erde im Zeitalter des Menschen, Darmstadt 2008, S. 230 ff. 35 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 179 f. 37 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 181. 10
Fleisch APuZ zurechnete. Zunächst führten Berufsverbote, te: Fleisch war nicht nur preiswert, sondern bil- Ausschluss von Schulbesuch und -speisungen so- lig geworden, und das Grillen stand jedem offen. wie erste Inhaftierungswellen dazu, dass immer Zugleich ging vom Grillen die Faszination des mehr Menschen ihren Fleischkonsum stark redu- Elementaren aus: Rohes Fleisch und offenes Feu- zieren mussten. Dagegen stiegen die Gesamtkon- er lassen sich vor diesem Hintergrund als Reflex sumzahlen im Deutschen Reich. Der Überfall auf auf eine technisch überformte und von der Natur Polen 1939 setzte eine ganz neue Entwicklung in entfremdete urbane Gesellschaft lesen. Gang: Während des Zweiten Weltkriegs wurden Vom einst raren Prestigeprodukt war Fleisch die von den Deutschen unterworfenen Länder zur Massenware geworden, die bereitwillig systematisch ausgeplündert, sodass der Fleisch- nachgefragt wurde. Der wachsende Out-of- konsum der betroffenen Bevölkerungen sich home-Konsum, der seinerzeit auf Fleischpro- massiv reduzierte. Hunger und Fleischentzug dukten wie Hamburger, Wurst und Döner ba- wurden zu systematisch eingesetzten Unterwer- sierte, die Entchronologisierung der Essalltage fungs- und Demütigungsinstrumenten, gerade sowie die ständige Verfügbarkeit beschleunig- auch in den Konzentrationslagern und gegenüber ten diese Prozesse. Mit dem zunehmenden und den sowjetischen Kriegsgefangenen.38 oft übermäßigen Verzehr von Fett und Proteinen In der Schlussphase des Kriegs und während wurde die Ernährung als wesentlicher Grund für der Übergangsperiode zur Neuordnung Europas das Massenphänomen Übergewicht zugleich aus bis in die Zeit um 1950 herrschte in weiten Teilen gesundheitlicher Sicht problematisch – und mit Europas dramatische Mangelernährung.39 Durch ihr der Fleischverzehr.4141 das Hungertrauma kam es in den Jahren des Auf- Die Jahre um 1970 leiteten einen erneuten Pa- schwungs zu einem weitverbreiteten Heißhun- radigmenwechsel ein. Die Umwälzungen im Rah- ger auf Fleisch, der eine ganze Generation prägen men der Studentenunruhen 1968 führten dazu, sollte – nicht zufällig wurde für die 1950er Jahre dass Kultur und Alltag stärker in ihren Umwelt- der Topos von der „Fresswelle“ bemüht. In der bezügen reflektiert wurden, und auch die Wissen- Bundesrepublik nahm der Konsum von Schwei- schaften fokussierten zunehmend auf dieses The- nefleisch zwischen 1950 und 1960 von 19 auf bei- ma – die Publikation des Club of Rome über die nahe 30 Kilogramm pro Kopf und Jahr zu, der „Grenzen des Wachstums“ 1972 war Meilenstein Eierverbrauch stieg von 7,4 auf 13,1 Kilogramm und Initialzündung zugleich. Die Erkenntnis und der Verbrauch von Geflügelfleisch verdrei- brach sich Bahn, dass globale Ökosysteme fragil fachte sich sogar.40 Ab den 1960er Jahren kam es und eine Abkehr von dominanten Wirtschafts- daher zu einer Protein- und Fettüberversorgung. und Konsumweisen erforderlich sind.424243 Aus der In dieser Dekade stieg der Fleischkonsum auf außerparlamentarischen Ökologiebewegung ging über 60 Kilogramm pro Kopf und Jahr und pen- 1980 die Partei Die Grünen hervor. Der Umgang delt seitdem bei etwa plus/minus drei Kilogramm mit Nutztieren und Fleisch wurde zu einem im- auf diesem Plateau. Eine ähnliche Entwicklung mer wichtigeren Thema, und ab den 1980er Jah- verzeichnete die DDR. ren rückte die fundamentale Kritik am Fleisch- Mit dem Übergang zur Dienstleistungs- und konsum in die gesellschaftliche Mitte. Sie blieb Freizeitgesellschaft wurde das Kochen von ei- aber eher Narrativ, denn die Konsumgewohnhei- ner Notwendigkeit zur Freizeitbeschäftigung – ten änderten sich nicht signifikant.43 Fleisch bildete dabei das zentrale Element. Die Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts lös- Begeisterung kulminierte in der aufkommen- ten neue Diskurse die gesellschaftliche Orientie- den Leidenschaft für das Grillen, das einen idea- rung an politischen Ideologien ab, in denen auch len Gegenpart zur Büroarbeit bot und in das de- Ernährungsstile eine identitätsstiftende Funkti- mokratische Ideal der Zeit sowie zum Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ pass- 41 Vgl. Gunther Hirschfelder, Gesundheit und Ernährung: Die Macht der Kultur, in: Biologie in unserer Zeit 48/2018, S. 106–112. 42 Vgl. Jan Grossarth, Die Vergiftung der Erde. Metaphern 38 Vgl. Fritz Keller, Die Küche im Krieg. Lebensmittelstandards und Symbole agrarpolitischer Diskurse seit Beginn der Industria- 1933 bis 1945, Wien 2015. lisierung, Frankfurt/M. 2018, S. 227 ff. 39 Vgl. Keith Lowe, Der wilde Kontinent: Europa in den Jahren 43 Vgl. Lars Winterberg, „Tracing and Tracking Meat“. Fleisch der Anarchie 1943–1950, Stuttgart 2015. als Ressource und Speicher von (Welt-)Wissen, in: Hamburger 40 Vgl. Hirschfelder (Anm. 5), S. 234 ff. Journal für Kulturanthropologie 13/2021, S. 235–246. 11
APuZ 51–52/2021 on erfüllen. Fleischverzicht wurde zur zentralen len fleischig schmecken. Jene aber, die heute ohne Metapher. Parallel dazu trugen die Krise um die Fleisch aufwachsen, brauchen später auch kein als „BSE“ bekannt gewordene Rinderkrankheit Ersatzfleisch. Auch werden die Fleischdiskur- „Bovine spongiforme Enzephalopathie“, diver- se nur von einem Teil der Bevölkerung geführt. se Gammelfleisch-Skandale und tierethische Dis- Viele finden dieses Thema grundsätzlich irrele- kussionen dazu bei, den Themenkomplex Fleisch vant oder berufen sich auf ihr Recht, legale Pro- weiter zu problematisieren. dukte nach Belieben konsumieren zu dürfen. Und schließlich gibt es auch ein wachsendes Seg- AUSBLICK ment von bewusst konsumierenden und hoch- preisig orientierten Fleischliebhabern, die sich Fleisch ist von einer Chiffre für Leben und Wohl- auf die Vorteile regionaler Produktion, den Ge- stand zum Symbol für eine zerstörte Welt gewor- nussaspekt und die physiologischen Vorteile von den. Dennoch wird Fleisch heute in Deutschland Fleisch berufen. So deutet einiges darauf hin, dass in fast unveränderter Menge konsumiert. Das Fleisch zentraler Baustein der europäischen Er- könnte sich im Laufe der 2020er Jahre ändern: nährung bleibt, sein Konsum aber wohl wieder Die zunehmende Problematisierung drängt Po- exklusiver wird. litik und Gesellschaft zum Handeln, und durch verschärfte Produktionsbestimmungen werden die Preise steigen. Dass Fleisch von Ersatzpro- GUNTHER HIRSCHFELDER dukten wie pflanzlichen oder insektenbasierten ist Kulturanthropologe und Professor für Verglei- Alternativen verdrängt wird, ist unwahrschein- chende Kulturwissenschaft an der Universität lich. Diese erinnern derzeit strukturell stark an Regensburg. die große Zeit des Fleischs: Vegane Burger sol- gunther.hirschfelder@sprachlit.uni-regensburg.de Schon gehört? Die APuZ gibt es auch als Podcast! bpb.de/ apuz-podcast Neu! 12
Fleisch APuZ KRITIK AM FLEISCHKONSUM Moralisch oder moralistisch? Bernd Ladwig Die Deutschen essen im Durchschnitt pro Jahr zwar moralisch schlecht ist, für das die Akteu- etwa 57,3 Kilogramm Fleisch.01 Der Trend ist rin aber keine Kritik verdient. Vielleicht konnte leicht rückläufig, das Niveau aber weiterhin hoch, sie faktisch nicht anders handeln, oder sie besaß zumal im globalen Vergleich. Wie ist dieses Er- entschuldigende oder gar rechtfertigende Grün- nährungsverhalten moralisch zu beurteilen? Ist es de, um das Schlechte dennoch zu tun. Moralis- überhaupt ein zulässiger Gegenstand moralischer tisch wäre es schließlich auch, ein moralisch alles Bewertung? Ernährungsentscheidungen sind sehr in allem falsches Handeln maßlos zu verurtei- persönlich: Sie haben uns alle von Kindheit an len. Bei einem minderschweren Fehler mag eine stark geprägt, sie sind Ausdruck unseres Selbst- Mahnung angebracht sein, nicht aber regelrechte und Weltverständnisses, und wir verbinden mit Entrüstung.02 ihnen auch wichtige und schöne Gemeinschafts- Die erste und grundlegende Frage lautet, wann erlebnisse, vom Weihnachtsbraten im Familien- etwas moralisch Schlechtes geschieht. Nicht je- kreis bis zur Grillparty unter Freundinnen und des noch so große Übel verdient ein moralisches Freunden. Zu fragen wäre auch, wer, wenn über- Negativurteil. Wenn ein Stein ohne Fremdver- haupt, die Kritik verdient und was sie im besten schulden eine Wanderin erschlägt, so ist das zwar Fall bewirkt. Konsumentinnen und Konsumen- schrecklich, der Stein ist aber kein moralischer ten auf Massenmärkten antworten auf Angebo- Akteur. Eine erste notwendige Bedingung für ein te, die sie individuell kaum beeinflussen können, moralisches Übel ist daher, dass es in den Verant- und das Wissen über die Methoden und die Fol- wortungsbereich moralischer Akteure fällt. Eine gen der Herstellung dieser Angebote ist unvoll- moralische Akteurin kann etwas tun oder lassen, ständig und ungleich verteilt. weil sie einsieht, dass es moralisch verlangt oder verboten ist. Erforderlich ist zweitens, dass das MORAL UND MORALISMUS Übel direkt oder indirekt jemanden (be)trifft, der moralisch um seiner selbst willen zählt. Beide Be- Hier sind vier Fragen zu unterscheiden, die auf- dingungen sind sicher erfüllt, wo jemand durch einander aufbauen: Geschieht durch den Fleisch- sein Handeln einen menschenrechtlich erhebli- konsum etwas moralisch Schlechtes? Wenn ja, chen Schaden hervorruft, den ein anderer erleidet. ist es unter sonst gleichen Umständen moralisch Handlungen, die kausal zum Leiden oder vorzei- falsch, Fleisch nachzufragen, um es zu essen? tigen Sterben anderer Menschen beitragen, sind Wenn ja, ist dies auch alles in allem gesehen ver- moralisch schlecht. kehrt? Und wenn ja, welche Art der Kritik oder Allerdings haben wir, selbst wenn wir ein auch der Sanktion ist moralisch erlaubt oder so- Übel durch unser Handeln aufrechterhalten, gar geboten? nicht immer die Fähigkeit, es zu verhindern Wer andere für ein moralisch neutrales oder oder auf eine bessere Welt hinzuwirken. Viel- erfreuliches Verhalten moralisch tadelt, verdient leicht können wir ein Problem kollektiven Han- selbst einen Vorwurf, denn er urteilt und handelt delns, etwa auf Weltmärkten, nicht lösen, das uns moralistisch. Moralismus ist ein unangebrachter an wirksamer Abhilfe hindert. Nicht alles, was oder überzogener Gebrauch moralischer Begriffe moralisch schlecht ist, ist darum auch schon mo- und Begründungen. Wer in diesem Sinne morali- ralisch falsch. Eine moralisch schlechte Hand- siert, übt eine moralische Kritik, die nicht oder je- lung ist unter sonst gleichen Umständen mora- denfalls nicht so angebracht ist. Moralistisch wäre lisch falsch, wenn die Akteurin in ihrer Situation es auch, andere für ein Verhalten zu tadeln, das anders handeln und damit das moralische Übel 13
APuZ 51–52/2021 vermeiden oder vermindern könnte. Allerdings ein Kilogramm Geflügel.04 Zugleich gelangen Ni- könnte sie gleichwohl Gründe haben, die ihr trate, Pestizide und Antibiotika ins Wasser und Handeln alles in allem rechtfertigen. Das mö- gefährden direkt oder indirekt die menschliche gen zum Beispiel Rücksichten auf überwiegen- Gesundheit. Nicht zuletzt trägt die Fleischpro- de Rechte Dritter oder unzumutbar hohe Kos- duktion auch zur globalen Erwärmung bei. Die ten für die Handelnde selbst sein. Alles in allem industrielle Tierhaltung ist für 14,5 Prozent der falsch ist ein moralisch schlechtes Handeln nur von uns verantworteten Treibhausgase verant- dann, wenn die Akteurin anders handeln könn- wortlich.05 Sie trägt damit mehr zum Klimawan- te und für ihr tatsächliches Tun oder Lassen kei- del bei als der gesamte globale Transportsektor. ne zureichenden Rechtfertigungsgründe besitzt. Bezieht man alle relevanten Faktoren wie Land- Verdient sie deshalb aber auch schon in jedem nutzung, Düngung, tierliche Verdauung und auch Fall einen moralischen Vorwurf? Nicht unbe- die Produktions- und Lieferketten in die Bilanz dingt, denn vielleicht konnte sie von einer fak- ein, so dürfte der Anteil der Treibhausgase aus tisch falschen, für sie möglichen und auch zu- der Massentierhaltung noch weit höher liegen – mutbaren Handlung nicht wissen, dass diese dem Worldwatch Institute zufolge bei mindes- falsch war und dass sie die Möglichkeit gehabt tens 51 Prozent.06 hätte, auf zumutbare Weise anders zu handeln. Ausgeblendet blieben bis jetzt die Folgen für Und auch wenn sie einen Vorwurf verdient, ist die Tiere. Zählen auch „Fleischtiere“ wie Schwei- vielleicht nur ein milder Tadel angebracht, aber ne, Rinder und Puten moralisch um ihrer selbst kein heftiger moralischer Angriff.12 willen? Sie sind jedenfalls Individuen, die etwas empfinden und erleben können. Und so gut wie GESCHIEHT DURCH keiner behauptet mehr, dass das Quälen eines Tie- FLEISCHKONSUM ETWAS res moralisch neutral sei. Einem Tier Qualen zu MORALISCH SCHLECHTES? bereiten, ist moralisch schlecht, und die direktes- te Begründung dafür liegt im Tierleid selbst. Das Legen wir diese Unterscheidungen an den heu- ist auch nicht mehr nur eine Frage der Moral. Das tigen Fleischkonsum an, so lautet die erste Fra- deutsche Tierschutzgesetz zum Beispiel verbietet, ge, ob durch ihn etwas moralisch Schlechtes einem Tier „ohne vernünftigen Grund Schmer- geschieht. Die Antwort ist ja, denn die Fleisch- zen, Leiden oder Schäden“ zuzufügen. tierhaltung trägt kausal zum Leiden und vorzeiti- Eine einfache Überlegung stützt diesen Mi- gen Sterben anderer Menschen bei. nimalkonsens.07 Wenn wir moralisch urteilen, Sie erschwert zunächst die Bekämpfung des müssen wir Willkür vermeiden und gleiche Fäl- Welthungers, weil sie eine wenig effiziente Art le gleich beachten. Wir müssen uns etwa fragen, und Weise der Gewinnung von Nährstoffen ist. welche unserer Interessen so stark sind, dass sie Etwa ein Drittel des weltweit angebauten Ge- Pflichten der Rücksicht begründen. Entschei- treides und 75 Prozent der Sojabohnen werden dend ist dann nicht, wer das Interesse hat, son- an Vieh verfüttert, anstatt Menschen direkt zu dern wie wichtig es ist und welcher Gefährdung ernähren. Tierprodukte beanspruchen 83 Pro- es unterliegt. Das sollte auch ungeachtet der bio- zent der Ackerflächen auf der Welt, decken aber logischen Artengrenze gelten. Ein moralisch be- nur 37 Prozent unseres Protein- und 18 Prozent deutsames Interesse, das wir mit vielen anderen unseres Kalorienbedarfs.03 Auch der Wasserver- Tieren teilen, ist sicher die Vermeidung von Lei- brauch für Fleischprodukte ist hoch: 15 415 Liter den. Selbst für Fische ist inzwischen gut belegt, für ein Kilogramm Rindfleisch, 5988 Liter für ein Kilogramm Schweinefleisch und 4325 Liter für 04 Siehe https://wfd.de/thema/fleisch-milch. 05 Vgl. Food and Agriculture Organisation, Tackling Climate 01 Siehe www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-verstehen/ Change Through Livestock: A Global Assessment of Emissions haetten-sies-gewusst/infografiken. and Mitigation Opportunities, Rom 2013. 02 Siehe dazu Bernd Ladwig, Ist der Veganismus ein Moralis- 06 Vgl. Robert Goodland/Jeff Anhang, Livestock and Climate mus?, in: Christian Neuhäuser/Christian Seidel (Hrsg.), Kritik des Change. What if the Key Actors in Climate Change Are … Moralismus, Berlin 2020, S. 331–358. Cows, Pigs and Chickens?, in: World Watch November/Decem- 03 Vgl. Joseph Poore/Thomas Nemecek, Reducing Food’s ber 2009, S. 10–19, hier S. 13. Environmental Impacts Through Producers and Consumers, in: 07 Zum Folgenden ausführlich Bernd Ladwig, Politische Philoso- Science 6392/2018, S. 987–992. phie der Tierrechte, Berlin 2020, Kap. 2. 14
Fleisch APuZ dass sie Schmerz empfinden können. Aber Lei- Raum zusammen, dass sie sich gegenseitig angrei- densfähigkeit ist nicht die einzige moralisch er- fen und einander schwer verletzen. Ihre Halterin- hebliche Eigenschaft, die Menschen und Tiere nen und Halter greifen dagegen zu Maßnahmen gemeinsam haben. Erlebensfähige Tiere können wie Schnabelkürzen ohne Betäubung und fügen sich auch an Spielen, an sinnlich stimulierenden den Tieren damit schwere Schmerzen zu. Leid- Umwelten und an Freiheiten der Bewegung er- voll ist oft auch die stunden- oder tagelange Fahrt freuen. Höhere Tiere sind lernfähig und lösen in engen und heißen Lastwagen zum Schlachthof, gern Probleme, die ihre Intelligenz beanspru- wo nicht wenige Tiere ein qualvoller Tod erwar- chen. Sozial veranlagte Tiere schätzen zudem das tet, weil die Betäubung versagt. Zusammensein und die Interaktion mit anderen Die kleinbäuerliche Landwirtschaft unter- Individuen, seien es Artgenossen, andere Tiere scheidet sich hier höchstens graduell und nicht oder auch Menschen. Viele Tiereltern empfinden grundsätzlich von der industriellen Tierhaltung, offenbar Zuneigung zu ihrem Nachwuchs, sie die allerdings für die weitaus größte Menge an bringen ihm etwas bei und verteidigen ihn gegen Leiden und für die weitaus meisten Tötungen Bedrohungen.08 verantwortlich zeichnet. Eine Fleischtierhaltung, Nicht zuletzt scheinen Tiere auch an ihrem die wirklich alle Grundbedürfnisse der Tiere be- eigenen Leben zu hängen. Schweine etwa reagie- friedigte, wäre wirtschaftlich nicht rentabel. Die ren ganz offenbar panisch, wenn sie im Schlacht- vergleichsweise wenigen Produkte, die sie ab- hof das Blut ihrer Artgenossen riechen. Ist das würfe, wären prohibitiv teuer. Die allerwenigsten nur eine biologisch funktionale Todesfurcht ohne Fleischtiere können daher vor ihrer Tötung art- moralische Bedeutung? Immerhin scheinen die gerechte Gruppen bilden, sich angemessen frei in meisten Tiere nicht wie wir Menschen auf ihr sinnlich anregenden Umgebungen bewegen und Dasein als solches und als Ganzes reflektieren natürlichen Neigungen wie Spiel oder Nestbau und um die eigene Sterblichkeit wissen zu kön- folgen. Und selbst die meisten Bio-Tiere wer- nen. Doch wiederum trifft wenigstens ein Grund, den am Ende ihres Lebens bis zu vier Stunden aus dem wir selbst das Weiterleben normaler- lang zum Schlachthof gefahren, wo sie das glei- weise wertschätzen, auch auf alle anderen emp- che erleben und erleiden wie ihre übrigen Art- findungs- und erlebensfähigen Tiere zu: Der Tod genossen auch. Eine Ausnahme machen hier nur beraubt sie der Möglichkeit aller weiteren für sie (Freiland-)Rinder, die durch einen Kugelschuss erfreulichen Erlebnisse. Wenn dies für selbstbe- auf der Weide getötet werden.09 Das ist vielleicht wusste Personen ein eigenständiger Grund ist, der am wenigsten grausame Tod für ein Tier, das den Tod zu fürchten, so ist dieser auch für Tie- aber dennoch etwas verliert: sein eines und ein- re ein Übel. ziges Leben. Das gleiche gilt für die Jagd, die zu- Die Fleischindustrie schädigt Tiere in all die- dem oft grausamer verläuft, als ihre Verteidiger sen Hinsichten. Von Zukunftsszenarien wie be- uns glauben machen: Viele gejagte Tiere leiden zahlbaren Steaks aus der Petrischale einmal ab- unter Stress und unter Todesangst, und nicht we- gesehen, müssen Tiere sterben, damit Menschen nige verenden unter Schmerzen, weil die Kugeln ihr Fleisch verzehren können. Die meisten soge- sie nicht sofort töten.10 nannten Fleischtiere werden zu diesem Zweck gezüchtet, gefangen gehalten und schließlich ge- IST FLEISCHKONSUM schlachtet. Nicht wenige leiden schon unter ih- MORALISCH VERKEHRT? rer leiblichen Verfassung, wie Mastputen, deren Oberschenkelknochen unter der Last der riesigen Wenn so vieles an und in der Fleischwirtschaft Brustmuskeln brechen. Zuchtsauen in Kasten- moralisch schlecht ist, ist es darum auch unter ständen und Abferkelbuchten sind auf so engem Raum eingesperrt, dass sie sich nicht um die eige- 09 Diese Tötungsmethode ist nur nach ganzjähriger Freiland- ne Achse drehen können. Hühner in Bodenhal- haltung erlaubt, weil sie waffenrechtliche Probleme aufwirft und tung leben mit so vielen Artgenossen auf engem mit dem grundsätzlichen Betäubungsgebot im Tierschutzgesetz kollidiert. Siehe dazu Rechtliche Hürden beim Kugelschuss. Interview mit Dr. Birgit Mennerich-Bunge, in: Land in Form Spezi- 08 Vgl. die Liste tierlicher Grundfähigkeiten in: Martha C. Nuss- al 5/2015, S. 42 f. baum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität 10 Vgl. Jens Tuider/Ursula Wolf, Gibt es eine ethische Rechtfer- und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2014, S. 528–539. tigung der Jagd?, in: Tierethik 7/2013, S. 33–46. 15
APuZ 51–52/2021 sonst gleichen Umständen moralisch verkehrt, sie ihren Boykott von vornherein unter dem Ge- wenn Menschen Fleisch nachfragen und verzeh- sichtspunkt des Aggregateffekts vieler individuel- ren? Sie müssten dazu in ihrer Situation die Mög- ler Handlungen vieler verschiedener Konsumen- lichkeit haben, ein Übel zu vermeiden oder zu ten betrachten. Zu diesem Effekt trägt sie selbst vermindern. Das kann, je nachdem, welche Mo- mit ihrem Boykott wie immer marginal bei, und ralauffassung man vertritt, Verschiedenes bedeu- er erhöht insgesamt die Wahrscheinlichkeit, dass ten. Konsequentialisten sind der Ansicht, dass die der Schwellenwert überschritten werden wird.12 moralische Richtigkeit oder Falschheit letztend- Außerdem könnte sie, indem sie individuell kein lich immer von den Folgen bestimmt wird, die Fleisch mehr kauft, als Vorbild wirken: Ihr Bei- unsere Handlungen oder auch Regelungen vo- spiel könnte anderen das Gefühl geben, dass sie raussichtlich haben. Dagegen argumentieren De- mit einem Verzicht nicht allein dastehen und viele ontologen, dass manche Handlungen und Rege- individuellen Handlungen zusammen sehr wohl lungen in sich selbst verkehrt sind, weil sie etwa einen Unterschied machen. Nicht zuletzt könn- moralische Rechte verletzen. te sie glaubwürdig für ein gemeinsames Vorgehen Konsequentialistisch gesehen, scheinen Kon- gegen die Fleischwirtschaft werben. Die größte sumentinnen und Konsumenten jedenfalls kei- Wirkung würden politische Veränderungen der nen gravierenden moralischen Fehler zu ma- rechtlichen Rahmenbedingungen erzielen, für die chen, wenn sie Fleisch kaufen. Die Strukturen der wir aber kollektiv eintreten müssten. Fleischwirtschaft können jede individuelle Kauf- Damit ist allerdings auch gesagt, dass jeden- verweigerung ganz oder teilweise neutralisie- falls bei einer folgenbezogenen Betrachtung der ren. Anbieterinnen und Anbieter auf großen und mögliche moralische Fehler der Fleischkäufe- komplexen (Massen-)Märkten produzieren nicht rin nicht sehr ins Gewicht fällt. Man mag daraus auf Abruf, und sie werden Gütermengen erst re- schließen, dass ihre Kaufhandlung (wenn über- duzieren oder gar gewisse Angebote ganz auf- haupt, dann) weniger kritikwürdig sei als die geben, wenn die Boykotte einen Schwellenwert Handlungen von Akteuren, die über regelrechte wirtschaftlicher Wahrnehmbarkeit überschreiten. Marktmacht verfügen. Aber man kann die Kri- Keine individuelle Konsumentin kann wissen, tik verstärken, indem man auch deontologische ob gerade sie mit ihrem Verzicht auf Fleisch ei- Einwände hinzuzieht. Die Philosophin Christine nen solchen Unterschied macht. Dieses Problem Korsgaard argumentiert, dass jedes einzelne Tier ist als Einwand der kausalen Wirkungslosigkeit ein Recht darauf habe, dass wir es immer auch als (causal impotence objection) bekannt.11 Zweck und niemals nur als Mittel gebrauchen. Nicht alle Konsequentialisten, die das Pro- Wir sollten uns daher fragen, welches Verhältnis blem erkennen, denken allerdings, dass es die wir zu einem individuellen Tier eingehen, indem moralischen Einwände gegen die Nachfrage nach wir sein Fleisch essen oder andere Produkte nut- Fleisch entkräfte. Schließlich trage jede indivi- zen, die ihm ohne Rücksicht auf sein Wohl abge- duelle Konsumentin mit einer gewissen, wenn presst wurden. Wir würden es als bloßes Mittel auch von ihr nicht bezifferbaren Wahrschein- behandeln, und das sei verkehrt.13 lichkeit dazu bei, dass der Schwellenwert ein- Der Philosoph Blake Hereth argumentiert in mal überschritten werden wird. Und dabei sei ähnlicher Weise, dass es in sich falsch sei, andere nicht maßgeblich, ob gerade ihre Entscheidung Akteure für eine Ungerechtigkeit zu belohnen.14 die gewünschte Wirkung zeitigt. Vielmehr sollte Stellen Sie sich etwa vor, in einer vom Drogen- krieg verheerten Gemeinde existiere ein Laden, dessen Besitzerin die Kleidung von Mordopfern 11 Vgl. Peter Singer, Utilitarianism and Vegetarianism, in: zu günstigen Preisen verkauft. Würden Sie einen Philosophy and Public Affairs 4/1980, S. 325–337; Russ Shafer-Landau, Vegetarianism, Causation and Ethical Theory, solchen Laden aufsuchen, um von den Preisvor- in: Public Affairs Quarterly 1/1994, S. 85–100; Gary Chartier, On the Threshold Argument Against Consumer Meat Purchases, in: Journal of Social Philosophy 2/2006, S. 233–249; Shelly 12 Vgl. Almassi (Anm. 11), S. 404. Kagan, Do I Make a Difference?, in: Philosophy and Public 13 Vgl. Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir. Warum wir mo- Affairs 2/2011, S. 105–141; Ben Almassi, The Consequences ralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Eine Ethik, München of Individual Consumption. A Defence of Threshold Arguments 2021, S. 284. for Vegetarianism and Consumer Ethics, in: Journal of Applied 14 Vgl. Blake Hereth, Animals and Causal Impotence: A Deon- Philosophy 4/2011, S. 396–411. tological View, in: Between the Species 1/2016, S. 32–51. 16
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