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Betriebspraxis & Arbeitsforschung Zeitschrift für angewandte Arbeitswissenschaft Ausgabe 226 | Februar 2016 r ie: Neue Se Führung Interview: Den Wandel gestalten! Lutz Stratmann, Demografie-Agentur Niedersachsen Kreativitätstechnik: Im Kopfstand Probleme lösen Entgelt-Statistik: Wie M+E-Verbände in Zeiten des Wandels wichtige Leitplanken schaffen Ganzheitliche Produktionssysteme: Warum GPS im Angestelltenbereich hakt Das REFA-Haus: Wie erfolgreiche Unternehmen ihre Arbeit organisieren Best Practices: Was exzellente Betriebe gut machen — die ifaa-Benchmarkreise Lebenslanges Lernen: Wie Unternehmen Bedingungen dafür schaffen
Inhalt Editorial 03 Interview Den Wandel gestalten! Ein Gespräch mit Lutz Stratmann, Geschäftsführer der Demografie-Agentur Niedersachsen 04 Aktuelles Meldungen: Robotikbranche wächst; »Land der Ideen« zeichnet schlaue Roboter-Software aus; VDI-Kampagne »Ingenieursgeschichten«; Industrie 4.0: KMU trifft Fachkräftemangel besonders; Destatis zu »überlangen« Arbeitszeiten; Gut für Integration: OECD lobt duale Ausbildung; Deutsche Industrie 4.0. macht Schule in China; DAK-»Psychoreport«: Mehr Fehltage, weniger Burnout; ifo-Prognose: Aufschwung geht »verhalten« weiter 10 Betriebssicherheitsverordnung 2015 — Chance beim Verwenden von Arbeitsmitteln 13 Nörgeln erlaubt: Mit der Kopfstandtechnik kreativ Probleme lösen 16 Führung Die Führung als wesentlicher Faktor für den Unternehmenserfolg 18 Arbeitszeit und Vergütung Hessen, Pfalz und Saarland: Entgelt-Statistik in den M+E-Verbänden 26 Unternehmensexzellenz Ganzheitliche Produktionssysteme bei Angestelltentätigkeiten in der Industrie 30 Wie erfolgreiche Unternehmen ihre Arbeit organisieren 38 ifaa-Benchmark-Reise: exzellente Unternehmen besucht 46 Arbeits- und Leistungsfähigkeit Lern- und Veränderungsfähigkeit durch lebenslanges Lernen erhalten 52 Kurzweiliges 58 Glossar Humanorientiertes Produktivitätsmanagement 59 Medien Arbeitsorganisation erfolgreicher Unternehmen — Wandel in der Arbeitswelt 60 Veranstaltungen 61 Titel und Inhalte früherer Ausgaben 62 Impressum 62
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Demografiefestigkeit — vor allem in kleineren und mittleren Unabhängig davon bleibt natürlich das Arbeitsentgelt eine Unternehmen ist dieses wichtige arbeitswissenschaftliche wichtige Größe. Die Verbandsingenieure Wolfgang Kohler, Handlungsfeld noch nicht ausreichend im Bewusstsein ange- Ralf Mertel und Nikolaus Schade stellen in diesem Heft die kommen. Das stellt Lutz Stratmann, Chef der Demografie- Entgeltstatistik ihrer M+E-Verbände vor. In Zeiten rapider Agentur in Niedersachsen, fest. Der frühere langjährige nie- Veränderung sind solche tariflichen Leitplanken wichtiger dersächsische Wissenschaftsminister ist unser Gesprächs- denn je für die Planung der Betriebe. partner im Interview dieser neuen Ausgabe von Essenziell für den Unternehmenserfolg ist es, ständig Betriebspraxis & Arbeitsforschung. produktiver zu werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Ein Doch wie können wir KMU motivieren, sich hier jenseits Schlüssel dazu sind Ganzheitliche Produktionssysteme, GPS. des fordernden Tagesgeschäftes stärker zu engagieren? Be- Deren in der Produktion so erfolgreicher Vormarsch stockt merkenswert fand ich Stratmanns Ausführungen zum Return jedoch im Angestelltenbereich. Jörg Abel und Peter Itter- on Invest von Maßnahmen, mit denen sich Betriebe fit für mann, TU Dortmund, analysieren in ihrem Beitrag auf Basis den demografischen Wandel machen können. Zu Recht weist einer empirischen Untersuchung die Gründe. er beispielsweise darauf hin, dass die Altersstruktur zuneh- Orientierung für den Unternehmenserfolg bietet das mend in die Bewertung von Unternehmenswerten eingeht; REFA-Haus. Gemeinsam mit Ralph W. Conrad beschreibt Know-how in dieser Frage und rechtzeitiges Handeln können Patricia Stock, Leiterin des REFA-Instituts, in dieser Ausgabe, also bares Geld wert sein. wie Unternehmen hier Methoden und Werkzeuge finden, um Ein weiterer Aspekt aus dem Interview ist mir gleicher- den Wandel der Arbeitswelt erfolgreich zu bewältigen. maßen wichtig: Uns an der Schwelle zur Industrie 4.0 für Angewandte Arbeitswissenschaft betreiben wir beim eine erfolgreiche Zukunft aufzustellen geht über Maßnah- ifaa, wie der Name unseres Instituts bereits sagt. Der Bericht men in den Unternehmen und die alleinige Fachkräftesiche- über eine Benchmarkreise bietet interessante Einblicke, was rung selbst hinaus. Breitbandnetze als unverzichtbarer Teil Unternehmen praktisch tun, um Exzellenz zu entwickeln und digitaler Infrastruktur müssen auch in bevölkerungsärmeren auszubauen. Auch diese Ausgabe unseres Magazins verbindet Regionen vorhanden sein. Das wird nicht ohne weitere Infra- so Theorie und Praxis, um Erfolg zu schaffen, den ich Ihnen strukturanstrengungen des Staates gehen. Das Fazit aus allen für das Jahr 2016 von Herzen wünsche. diesem Gespräch: Arbeitswissenschaft, Unternehmen und Öffentlichkeit sind gefordert, damit wir gemeinsam in eine Herzlichst Ihr produktive Zukunft 4.0 starten können. Sascha Stowasser Führung spielt dabei die entscheidende Rolle. Gerade auch in altersgemischten Belegschaften der Zukunft sind Führungskräfte über das Fachliche hinaus gefordert. Das stel- len Peter Grass, Manager bei Man Truck & Bus und Vor- standsvorsitzender des ifaa, sowie unser Autor Sven Hille in einem lesenswerten Aufsatz fest. Dieser ist Auftakt einer Serie von Beiträgen, die ausloten werden, wie Führung zum Unternehmenserfolg beitragen kann. ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 3
Den Wandel gestalten! Der frühere niedersächsische Wissenschaftsminister Lutz Stratmann ist Geschäftsführer der Demografie-Agentur Niedersachsen. Diese vom Arbeitgeberverband NiedersachsenMetall, DGB, IGBCE, der AOK, den Handwerkskammern und weiteren Organisationen getragene und vom Land unterstützte Agentur macht Betriebe mit individueller Beratung für den Strukturwandel, der vor allem auch durch die demografischen Veränderungen bestimmt wird, fit. Die Fragen stellte Carsten Seim. Haben alle Unternehmen die demografische den kann. Ein wichtiges Thema ist auch das Herausforderung bereits in ausreichendem Wissensmanagement: Wenn in den kommen- Maße erkannt? den zehn Jahren zum Beispiel 25 bis 30 Pro- zent der Belegschaft eines Betriebes in die Hier gibt es ein Groß-Klein-Gefälle. Während Rente gehen, verlässt auch deren Erfahrungs- sich in Konzernen ganze Abteilungen mit den wissen den Betrieb. Ich muss systematisch da- Auswirkungen der Demografie auseinanderset- für sorgen, dass dieses Wissen im Unterneh- zen, ist das Thema in KMU noch nicht ausrei- men bleibt. Wir haben dafür Methoden und chend angekommen. Allerdings ist mir wichtig Tools, die wir in den Betrieben umsetzen. darauf hinzuweisen, dass es schon lange nicht mehr nur um die demografischen Veränderun- Für wen steht Ihre Beratung offen? gen geht. Es geht um die erfolgreiche Bewälti- gung der drei Megatrends »Internationalisie- Grundsätzlich für jedes Unternehmen, das bei uns rung«, »Demografischer Wandel« und »Digi anklopft. Gerade kleineren Unternehmen greifen talisierung«. Diese Megatrends sind eng wir dabei finanziell unter die Arme. Betriebe mit miteinander verknüpft und betreffen dieselben bis zu zehn Mitarbeitern können sich im Rahmen betrieblichen Handlungsfelder. des Projektes »unternehmens-Wert:Mensch« 80 Prozent der Beratungskosten von täglich bis Und da kommen Sie als Demografie- zu 1 000 Euro für eine Dauer von bis zu zehn Be- Agentur ins Spiel? ratungstagen erstatten lassen, wenn sie die ent- sprechenden Voraussetzungen erfüllen. Unter- Wir sind grundsätzlich für alle Unternehmen of- nehmen zwischen 10 und 249 Beschäftigten kön- fen. Vor allem aber sind wir in Niedersachsen für nen sich je nach Umsatzgröße 50 Prozent der KMU der M+E-Industrie aktiv: Niedersachsen Beratungskosten bezuschussen lassen. Metall hat uns beauftragt, das Thema in seine Verbandsunternehmen zu tragen. Unseren zwei- Was tun Sie konkret für die Unternehmen? ten Großauftrag erledigen wir bundesweit für den Vor allem unterstützen wir diese darin, die Ar- Arbeitgeberverband der Kautschuk-Industrie und beitsfähigkeit der Belegschaften zu erhalten. dessen Tarifpartner IGBCE. Sie hatten bereits 2010 Das hat natürlich immer auch mit der Verbesse- in einem Tarifvertrag vereinbart, Maßnahmen zu rung von Arbeitsbedingungen zu tun. Unsere unternehmensWert:Mensch entwickeln, um die Folgen des demografischen Berater schauen sich beispielsweise das Arbeits- Dieses Programm wird ge- Wandels zu bewältigen. Sie haben uns beauftragt, umfeld an — etwa die Lichtverhältnisse oder speist aus dem Experten diesen Anspruch in die Tat umzusetzen. auch die Geräuschemissionen. Ältere brauchen wissen der Initiative Neue gutes Licht zum Arbeiten. Unsere Beratung soll Qualität der Arbeit (INQA) und steht im Kontext der Fach- Um welche Themen geht es da? aber auch Mentalitätsveränderungen bewirken. kräfte-Offensive der Bundes regierung. Finanziert wird Zum Beispiel um Personalführung, also Perso- Zum Beispiel? unternehmensWert:Mensch nalplanung und -entwicklung, um Arbeitszeit- aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des modelle, aber auch um Gesundheit, vor allem Wenn der Betrieb Mitarbeiter im Rahmen eines Bundesministeriums für um die Schaffung alternsgerechter Arbeits- Gesundheitsmanagements zu gesundheitsbe- Arbeit und Soziales (BMAS). plätze und Arbeitsbedingungen, wodurch die wusstem Verhalten anhält, dann müssen natür- Internet: unternehmens- Arbeitsfähigkeit einer älter werdenden Beleg- lich auch die Führungskräfte mit gutem Beispiel wert-mensch.de schaft langfristig erhalten und verbessert wer- vorangehen. Einem älteren Mitarbeiter, der aus 4 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016
Interview einer Zeit kommt, in der viele Menschen noch Lutz Stratmann im Inter ein Leben lang ein und dieselbe Aufgabe versa- view. In unseren Foto zeigt hen, soll klar werden, dass er mit Mitte 50 noch er eine Deutschlandkarte. In den roten Bereichen ist einmal grundlegend Neues lernen muss, um sei- die demografische Situa ne Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Wir ar- tion besonders prekär. beiten hierbei mit Workshops. Die Teilnehmer sollen im Anschluss als Multiplikatoren in den Betrieb hineinwirken. Dazu gehört auch, dass langjährige Mitarbeiter unter Umständen von Führungskräften angeleitet werden, die viel- leicht 30 Jahre jünger sind als sie selbst. Das fällt vielen sehr schwer. Ist es richtig, vor allem die Unternehmer sich in Anbetracht einer früheren Rente noch seite für das Gesundheitsmanagement ver- Veränderungen zu stellen, gesunken sei. Ein Be- antwortlich zu machen? triebsratsvorsitzender eines sehr großen Auto- mobilzulieferers hat mir berichtet, wie er einen Arbeitnehmer tragen natürlich auch eine Eigen- 60-jährigen Mitarbeiter ohne finanzielle Nach- verantwortung für die eigene Gesundheit und teile aus der Nachtschicht herausnehmen und berufliche Entwicklung. Diese Erkenntnis ist für eine neue Aufgabe fortbilden wollte. Der wichtiger denn je, denn wir werden ja künftig habe geantwortet: »Lass mal sein, die paar Jahre ein Regelrenteneintrittsalter von 67 haben. schaffe ich auch noch. Ich will mir doch von Jungen nichts mehr erzählen lassen.« Theoretisch ja. Doch aktuell hat diese Bun- desregierung den Demografie-Experten erst Und Ihre Beratung kann dafür sorgen, dass Langjährige Mitar einmal die Rente mit 63 nach 45 Beitrags- sich das ändert? beiter werden unter jahren vorgesetzt. Wie stehen Sie dazu? Umständen von Füh Mittel- und langfristig setzen wir auf veränderte rungskräften ange Jeder hat sich nach 45 Beitragsjahren seine Unternehmenskulturen, die solche Veränderun- leitet, die vielleicht Rente redlich verdient. Dennoch ist diese Ent- gen bewirken. Aber natürlich gibt es da keine 30 Jahre jünger sind scheidung aus meiner Sicht vor allem proble- Patentlösung. Wir versuchen, die Leute zum Bei- als sie selbst. Das fällt matisch, weil sie dafür sorgt, dass in vielen Un- spiel in Workshops mitzunehmen. Diese sind re- vielen sehr schwer. ternehmen ausgerechnet die erfahrenen Fach- präsentativ durch alle Betriebsebenen besetzt — arbeiter und Experten jetzt früher gehen, auf und wir hoffen, dass die Teilnehmer als Multi- die in Anbetracht der sich beschleunigenden plikatoren in die Betriebe hineinwirken. Wir Veränderungen der Arbeitswelt nicht verzichtet werden aber den heute 63-Jährigen mit ganz werden sollte. Zudem ist mit dieser Weichen- anderer Sozialisierung nicht zu einem Fan län- stellung eine Botschaft verbunden, die unsere gerer Lebensarbeitszeiten machen. Unsere Ziel- Bemühungen, lebenslanges Lernen in die Köpfe gruppe sind die heute 50-Jährigen und alle fol- zu tragen, konterkariert. Der HR-Chef eines mit- genden Kohorten. Gemeinsam mit ihnen erar- telständischen Unternehmens zeichnete jüngst beiten wir Empfehlungen für Unternehmen. das Bild seiner älteren Mitarbeiter, durch das Dazu gehört auch eine veränderte Haltung der diese Sorge bestätigt wird, weil die Bereitschaft, Entscheider: Diese sind aufgerufen, der Beleg- ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 5
Interview schaft zu vermitteln, dass das Unternehmen Noch einmal zurück zum ROI: Wie zahlt sich auch in Zukunft auf sie baut und sie nicht in Wissens-Management aus? den Vorruhestand abschieben will. In einem sol- chen Führungsumfeld kann die Arbeitsfähigkeit Jüngst war ich in einem Unternehmen, das För- von Mitarbeitern bis 60 und darüber hinaus auf derschnecken herstellt. Der Materialtransport ist dem Stand von 45 gehalten werden. zum einen von der Beschaffenheit des Materials und zum anderen von der Oberflächenstruktur Das sind wirklich dicke Bretter, die Sie da der Förderschnecke abhängig. Es braucht viel bohren wollen... Erfahrungswissen, damit hier alles perfekt auf- einander abgestimmt ist. Nach dem altersbe- In Schweden würden bis zu einem Lebensalter dingten Weggang erfahrener Fachkräfte kam es Das Thema »Demogra von 65 Jahren nur wenige auf den Gedanken plötzlich zu mehr Kundenreklamationen. Jede fie« erschöpft sich kommen, die eigene Arbeitsfähigkeit für beein- davon kostet im Schnitt rund eine halbe Million nicht darin, wie ich trächtigt zu halten. Viele Deutsche setzen diesen Euro. Wir arbeiten in diesem Unternehmen jetzt auch bei knapper wer Zeitpunkt schon bei 56 oder 57 Jahren an. Die an einem Wissensmanagement-System. Und denden Humanres Differenz von sieben bis acht Jahren muss Grün- wenn es dadurch gelingt, die Zahl der Rekla sourcen meinen Fach de haben. Natürlich haben die Schweden keinen mation nur geringfügig zu reduzieren, ist der kräftebedarf decken mit Deutschland vergleichbaren industriellen finanzielle Nutzen bereits gegeben. kann. Es geht auch Komplex. Dennoch zeigt das Beispiel einen men- Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld sind darum, wie die Unter talen Nachholbedarf in Deutschland auf. Das Konzepte, wie wir zu einem späteren Rentenein- nehmen Vorausset Thema »Demografie« erschöpft sich ja nicht da tritt kommen. Zurzeit liegt der Durchschnitt bei zungen für ein erfolg rin, wie ich auch bei knapper werdenden Hu- den von uns beratenen Betrieben bei 62,4 Jah- reiches Change-Ma manressourcen meinen Fachkräftebedarf decken ren. Wie können wir es schaffen, diesen auf 64 nagement schaffen. kann. Es geht auch darum, wie die Unternehmen oder 65 Jahre anzuheben? Dies kann zum Bei- Voraussetzungen für ein erfolgreiches Change- spiel über Arbeitszeitmodelle erreicht werden. Management schaffen. Gefordert sind altersge- Das dritte Thema: Wie können Unterneh- mischte Teams. In diesen können wir die Gelas- men in Zukunft frei werdende Stellen wiederbe- senheit, die Erfahrung, die Zuverlässigkeit und setzen. Hier machen mir in unserem Bundesland die Detailkenntnis der Älteren, aber auch deren vor allem die ländlichen Regionen in Südnieder- Pflichtgefühl und Loyalität, mit den Eigenschaf- sachsen Sorgen. Für diese strukturschwachen ten der Jüngeren kombinieren, die frisch von der Gebiete haben wir derzeit keine Lösung, die Hochschule oder aus der dualen Ausbildung Abhilfe schaffen kann. Sie sind Teil eines von kommen und neue Erkenntnisse mitbringen. besonders ungünstigen demografischen Merk- malen geprägten Gürtels, der von Ostdeutsch- Was antworten Sie auf die Frage nach dem land über Südniedersachsen bis nach NRW in Return-on-Invest solcher Maßnahmen? die Region Dortmund/Essen reicht. Ich verweise dann beispielsweise auf den Un- Und wo punktet Niedersachsen aus demo- ternehmenswert. Denn die Altersstruktur eines grafischer Sicht? Unternehmens geht zunehmend in dessen Be- wertung durch Banken ein. Eine strategisch Vor allem im Nordwesten herrschen Verhältnisse, ausgerichtete Personalplanung kann hier also die mit den erfolgreichen Regionen in Baden- bares Geld wert sein, wenn man seinen Betrieb Württemberg oder Bayern vergleichbar sind. Wir zum Beispiel verkaufen will oder muss, weil es, haben hier eine diversifizierte Branchenstruktur, wie in leider viel zu vielen Fällen, an einem die durch inhabergeführte Familienbetriebe ge- Nachfolger fehlt. prägt ist. Allein im Emsland haben wir weit über 1000 mittelständisch geprägte Maschinenbauer. Welche Optionen haben Unternehmen mit Wir haben darüber hinaus Oberzentren wie Han- ungünstiger Altersstruktur? nover, Wolfsburg und Braunschweig, die die for- schungsstärkste Region Europas abbilden. Die Maßnahme zur Verbesserung der Altersstruktur Stadt Oldenburg hat sich von einer verschlafe- und die Installation eines Wissensmanagement- nen Residenz- und Verwaltungsstadt zu einem Systems, mit dem systematisch dafür Sorge ge- Wissenschafts- und Forschungsstandort entwi- tragen wird, dass die Älteren ihr Wissen an die ckelt, der mit der ersten, deutschlandweiten Jüngeren weitergeben, sind in der Regel die ers- Gründung einer medizinischen Fakultät seit ten Schritte. Personal- und Betriebsräte sind 1972, in Kooperation mit der Universität Gronin- dabei stets an Bord. gen, vor allem auf die Versorgungsforschung 6 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016
Interview setzt. Niedersachsen hat bundesweit den höchs- ten Anteil an Studienplätzen im Bereich MINT und Medizin. Das heißt: Wir verfügen im Bun- desvergleich über relativ viele Nachwuchskräfte mit einer MINT-Ausbildung. Die Menschen ziehen in die urbanen Räume. Bietet das Chancen für neue Unterneh- mens-Cluster? Nicht zwangsläufig. Ein Beispiel dafür ist das Um- feld von Frankfurt. Auch hier nimmt die Bevölke- rung tatsächlich zu: Ältere Menschen ziehen ins Umfeld der Main-Metropole. Das Wohnen ist hier günstiger, und die ärztliche Versorgung ist gut. Dennoch nimmt die Zahl beschäftigungsfähiger Menschen auch hier ab. Dieser problematische Effekt würde sich noch beschleunigen, wenn die drei Monaten darf jeder zumindest ein Praktikum Interview in Stratmanns kommunale Politik sich auf diese älteren Wähler absolvieren und auch eine Ausbildung, wenn Büro in Hannover. konzentriert und zum Beispiel Infrastruktur für Arbeitsamt und Ausländerbehörde zustimmen. Mit Carsten Seim (rechts) jüngere Familien wie Kitas und Schulen nicht Doch welcher Betrieb bildet schon aus, wenn er mehr oben auf ihrer Agenda hat. Das trifft dann damit rechnen muss, dass sein angehender Mit- letztlich die Unternehmen in der Region, da sich arbeiter wieder ausgewiesen wird. Hier brauchen dann die Probleme, junge Nachwuchskräfte zu wir einen veränderten Rechtsrahmen. gewinnen, weiter verschärfen würden. Wie können die Betriebe motiviert werden, Noch einmal zurück zu Südniedersachsen: Flüchtlinge einzuarbeiten sowie aus- und Was kann dieser Region helfen? weiterzubilden? Ich habe viel Sympathie für Bürgermeister und In diesem Fall muss sichergestellt sein, dass ein Wir haben im Harz- Landräte, zum Beispiel in Goslar, die sich im Rah- erfolgreich ausgebildeter und integrierter Vorland Betriebe, die men der derzeitigen Möglichkeiten besonders für Flüchtling auch in Deutschland bleiben kann. verlieren in den kom Flüchtlinge einsetzen, damit diese sich willkom- Wir brauchen den klassischen Spurwechsel weg menden zehn Jahren men fühlen und damit langfristig der Region er- vom Aufenthaltsrecht nach der Genfer Flücht- 50 Prozent ihrer Mit halten bleiben. Generell sollten wir Anreize dafür lingskonvention beziehungsweise dem Asylrecht arbeiter. Das beein schaffen, dass die Zuwanderung künftig vor al- hin zum Status eines klassischen Einwanderers. flusst Investitions lem in solche Regionen erfolgt, in denen die Zahl Bei Letzterem spielt die Frage, ob er verfolgt ist, entscheidungen der Menschen im beschäftigungsfähigen Alter keine Rolle mehr. Im Vordergrund muss hier ste- abnimmt. Wir haben im Harz-Vorland Betriebe, hen, ob wir ihn aufgrund seiner Vorkenntnisse die verlieren in den kommenden zehn Jahren hier gut gebrauchen können. Das wäre ein gutes 50 Prozent ihrer Mitarbeiter in einem Umfeld, Signal an die Ausbildungsbetriebe. Eine beruf in dem die Bevölkerung in den vor uns liegenden liche Qualifikation versetzt den Zuwanderer in 20 Jahren um 30 Prozent abnimmt. Das beein- die Lage, in Deutschland seinen Lebensunterhalt flusst Investitionsentscheidungen. Wenn es zum aus eigener Kraft zu bestreiten. Wenn dies der Beispiel um die Frage geht, ob ein Unternehmen Fall ist und er sich hier gut integriert, muss er noch einmal erhebliche Investitionen in Industrie- auch bleiben können. Die Unternehmen erhalten 4.0-Anlagen tätigen muss, was glauben Sie, wie damit die Sicherheit, dass ihre in die Ausbildung diese Entscheidung dann ausfällt? investierten Ressourcen gut angelegt sind. Wie führt man die jungen Erwachsenen Unterm Strich: Sehen Sie die Zuwanderung unter den Zuwanderern zum Beispiel an nach Deutschland eher als Chance oder als das duale System und unser industrielles Risiko? Arbeitsumfeld heran? Ich sehe sie eher als Chance! Wenn wir das Pro Mir ist bewusst, dass viele noch nicht ausrei- blem richtig anpacken, dann schaffen wir das. chend qualifiziert für einen Arbeitsplatz in den Wenn es jemand in Europa gelingen kann, dann deutschen Betrieben sind. Ein erster Schritt: Nach sind wir das! Eine Schlüsselrolle spielt allerdings ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 7
Interview die Notwendigkeit, möglichst viele Flüchtlinge in gewinnen, so würde dies bereits sehr viel demo- Wir sind gut beraten, den kommenden Jahren in sozialversicherungs- grafischen Druck wegnehmen und gleichzeitig klare Regeln zu ent pflichtige Arbeitsverhältnisse zu bringen. Nur unseren Unternehmen helfen. wickeln, damit Men wenn uns dies gelingt, wird die Integration gelin- schen, die sich hier gen! Hier müssen wir im Ausländer- und Arbeits- Welchen zentralen Herausforderungen integrieren und eine recht neue und unkonventionelle Wege gehen, die sehen Sie für das Verarbeitende Gewerbe? Arbeit aufnehmen, dafür sorgen, dass die Unternehmen das Vertrauen bleiben können, haben, Menschen, die sie ausbilden oder anlernen, Überlebenswichtig, vor allem für den Mittelstand auch wenn sie keinen dauerhaft weiterbeschäftigen zu können. in ländlichen Regionen, ist an der Schwelle zur Flüchtlings- oder Industrie 4.0 ein wirklich flächendeckender Aus- Asylstatus haben. Brauchen wir ein Einwanderungsrecht, bau der Breitbandversorgung. Mir sind Unterneh- wie es die Kanadier beispielsweise mit men bekannt, in denen am Wochenende die kom- ihrem Punkte-System etabliert haben? plette IT heruntergefahren wird, um freie Daten- bahnen für die Versendung von Datenpaketen an Wir werden dem kanadischen Vorbild schon aus Kunden zu schaffen. Vor allem die öffentliche geografischen Gründen nicht gerecht, weil wir Hand ist hier gefordert! Denn gerade auf dem mitten in Europa liegen und keine schwer über- Land sitzt die Mehrheit unserer produzierenden windbaren, natürlichen Grenzen haben. Doch Betriebe! Wir dürfen nicht zulassen, dass diese di- wir sind gut beraten, klare Regeln zu entwi- gital abgehängt werden! Finanzminister Schäuble ckeln, damit Menschen, die sich hier integrieren hat hier schon nachgesteuert. Wir brauchen aber und eine Arbeit aufnehmen, bleiben können, noch mehr staatliches Engagement, damit sich auch wenn sie keinen Flüchtlings- oder Asylsta- demografisch, wirtschaftlich und virtuell das tus haben. Das wäre ein klares Signal für quali- Stadt-Land-Gefälle nicht weiter vergrößert. fizierte Zuwanderung, die uns in unserer demo- grafischen Situation nützt. Diese Menschen Gibt es Best Practices für Unternehmen, können sich dann das Geld für Schleuser sparen die sich besonders gut aufgestellt haben? und die Risiken abenteuerlicher Überfahrten vermeiden. Sie könnten dann zum Beispiel in Wir zertifizieren Unternehmen, denen dies ge- ihrer Heimat einen Sprachkurs machen, um lungen ist. Der Automobilzulieferer WABCO in ganz legal hierhin zu kommen und eine Ausbil- Hannover oder der Familienbetrieb AMF-Bruns dung beziehungsweise Arbeit aufnehmen. Nach in Apen im Ammerland sind zwei Beispiele. allem, was wir wissen, sind Syrer im Schnitt am Bei AMF hat die Unternehmensführung die ge- besten qualifiziert. Wenn wir hier die Richtigen samte Produktion umgestellt. Aus einer dunklen schmiedeartigen Produktionsstätte wurde ein helles, sauberes und freundliches Arbeitsumfeld. Die M+E-Industrie in Niedersachsen und die Demografie Das Unternehmen engagiert sich von der Schule bis zum Ruhestand für seine Belegschaft. Das reicht von Schnuppermöglichkeiten für Schüler über Hilfestellungen für Mitarbeiter, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, bis hin zu Ergonomie am Arbeitsplatz und einem umfassenden Gesundheitsmanagement für Be- schäftigte. Die Zertifizierungen erfolgen in Zu- Dr. Volker Schmidt, Hauptgeschäfts sammenarbeit mit der Landesregierung. führer von NiedersachsenMetall Finale Frage: Sehen Sie die Chance, dass wir auch in Zukunft hochproduktiv bleiben Zitiert: »In den nächsten zehn Jahren werden wir erleben, dass die ersten können? Unternehmen aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkräfte- mangels ihre Pforten schließen müssen, gerade in den peripheren Lagen Selbstverständlich! Wenn wir die beschriebenen jenseits der großen Ballungsgebiete. Unsere Erhebungen zu den Verschie- Themen konsequent anpacken und die deut- bungen des Altersaufbaus der Belegschaft zeigen, dass mittlerweile fast schen Betriebe trotz ihre aktuellen Erfolge ihre acht Prozent der Mitarbeiter in den Unternehmen der niedersächsischen Bereitschaft nicht verlieren, sich den Herausfor- Metall- und Elektro-Industrie 60 Jahre oder älter sind. Zum Vergleich: derungen konsequent zu stellen und notwen Im Jahr 2000 lag der Anteil der 60-Jährigen bei nur 2,5 Prozent.« dige Veränderungen herbeiführen. Was wir brauchen, ist ein echter Kulturwandel! Quelle: http://bit.ly/1PN5que Interview & Fotos: Carsten Seim 8 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016
Interview Beispielhaft: Zertifizierte niedersächsische Unternehmen AMF-Bruns: Das Unternehmen mit Sitz in WABCO GmbH: Der Autozulieferer beschäftigt Apen beschäftigt 330 Mitarbeiter. Es produziert rund 3000 Mitarbeiter an Standorten in Hanno- Fahrzeugtechnik für Menschen mit Behinde- ver, Gronau und Langenhagen. rung und fertigt darüber hinaus Förder- und Zur Personalstrategie gehören Kooperati- Schüttgutanlagen. onen mit (Hoch-)Schulen und duale Studienan- Zur Personalstrategie gehören unter an- gebote. Das Unternehmen verfügt über eine derem Kooperationen mit (Hoch-)Schulen, Altersstrukturanalyse. In regelmäßigen Mitar- duale Studienangebote. Klassen der Schule beitergesprächen geht es unter anderem um Augustfehn werden im Unternehmen in Ziele und Entwicklungsmöglichkeiten. Mitarbei- verschiedenen Fächern praxisorientiert unter- terbindung findet über verschiedene betrieb richtet. AMF-Bruns verfügt über eine syste- liche Anreizsysteme statt — dazu zählen die matische Altersstrukturanalyse und Personal- WABCO-Pension, betriebliche Altersvorsorge, bedarfsplanung. Prämien und Zuschüsse. Zum Gesundheitsmanagement zählen Die WABCO GmbH arbeitet mit einem Füh- regelmäßige Berichte über den Gesundheits- rungskräfte-Feedback und pflegt eine Willkom- stand der Belegschaft. Eine Gesundheitsmana- menskultur zum Beispiel über Patenmodelle. gerin ist zentrale Ansprechpartnerin. Das Unter- Betriebsvereinbarungen gibt es zum be- nehmen bietet Sportangebote und Zuschüsse trieblichen Gesundheitsmanagement, zum be- zum Besuch eines Fitnessstudios, Gesundheits- trieblichen Eingliederungsmanagement und checks, Stressmanagement, Anti-Stress-Semi- Krankenrückkehrgesprächen. Die Betriebskran- nare, Augentrainings, Ernährungsberatung und kenkasse informiert regelmäßig mit Gesund- Suchtprävention. AMF-Bruns verfügt über eine heitsberichten. Das Unternehmen bietet seinen Hotline bei psychischen oder privaten Proble- Mitarbeitern verschiedene Präventionsangebo- men. Eine Physiotherapeutin überprüft jährlich te an — unter anderem WABCO-Fitness, Sport- die Ergonomie am Arbeitsplatz. Regelmäßig fin- gruppen, Sozialberatung und Rückenschule. den Gefährdungsanalysen statt. Darüber hinaus Es gibt ein Wiedereingliederungsmanagement. befasst sich ein Arbeitssicherheitsausschuss mit Arbeitsorganisation & Arbeitsgestaltung: dem Thema »Gesundheit«. Die WABCO GmbH verfügt über flexible Arbeits- Arbeitsorganisation & Arbeitsgestaltung: zeitmodelle wie die teamorientierte Arbeitszeit, Das Unternehmen führt regelmäßige Arbeits- Home-Office und die Möglichkeit zu Sabbaticals. platzanalysen durch, um individuellen Bedürf- Regelmäßig finden Arbeitsplatzbegehungen statt. nissen am Arbeitsplatz gerecht zu werden. Es Darüber hinaus fördert das Unternehmen die unterstützt die Mitarbeiter bei der Vereinbarkeit Vereinbarkeit von Beruf und Familie. von Beruf und Familie — zum Beispiel durch Zur Qualifizierung und zum Kompetenzauf- Abb. 3: Zukunftsinvesti Eltern-Kind-Zimmer, Betreuungsangebote für bau der Mitarbeiter werden Potenzial- und Quali- tion: Darstellung des neu Kinder und pflegebedürftige Angehörige, Zwei- fizierungsbedarfsanalysen sowie interne und ex- en WABCO-Engineering schichtsystem und Home-Office. terne Weiterbildungsangebote eingesetzt. Innovation Centers in Lebensarbeitszeitkonten ermöglichen Hannover. Es soll 2018 Quelle: Unterlagen der Demografie-Agentur Niedersachsen zur lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle, fertiggestellt werden. Zertifizierung der WABCO GmbH Sabbaticals und Auszeiten. Wer sich eine Aus- zeit genommen hat oder nehmen musste, wird durch Wiedereinstiegs- und Kontakthaltepro- gramme betreut. Weitere Maßnahmen: interne und externe Weiterbildungsangebote, Qualifikationsbe- darfsanalysen, systematischer und kontinuier licher Wissensaustausch, Lernpartnerschaften und Stellvertreterregelungen. Mitarbeiter von AMF Bruns haben die Möglichkeit zur Jobrotation zum Beispiel durch Wechselmöglichkeiten zwischen Rohbau und Endmontage oder Hubmatik und Anlagenbau. Quelle: Unterlagen der Demografie-Agentur Niedersachsen zur Zertifizierung von AMF-Bruns ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 9
Aktuelles Aktuelles Robotikbranche wächst wird, so das Unternehmen, »ein Computerprogramm in der Programmiersprache des jeweiligen Industrieroboter-Steue- Der Absatz an Industrierobotern für die Produktion sowie rungscomputers generiert«. Auch wenig erfahrene Benutzer auch Servicerobotern in gewerblichen Umfeldern wie Logistik können so die selbstständige Arbeit von Robotern einrichten. und Landwirtschaft oder Staubsauger- und Fensterputzrobo- Eine Expertenjury hatte gemeinsam mit einem fünfköpfigen ter für den privaten Gebrauch steigt nach Mitteilung des Fachbeirat aus mehr als 1 000 Bewerbungen das Projekt »Arti- Fraunhofer IPA. Größte Absatzmärkte für Industrierobotik sind Minds Robotics — der intelligente Fertigungsassistent« ausge- China, Japan, USA, Südkorea und Deutschland. Wichtigster wählt. »Deutschland — Land der Ideen« ist die gemeinsame Treiber ist hier der weltweite Wettbewerb der industriellen Standortinitiative von Politik und Wirtschaft. Sie wurde 2005 Produktion. Schwerpunkte sind hier die Automatisierung des von der Bundesregierung und dem Bundesverband der Deut- Automobilsektors und der Elektro- und Elektronikindustrie. schen Industrie (BDI) gegründet. Deutsche Robotikbranche im Aufwind Mehr: www.artiminds.com Umsätze in Milliarden Euro 2010 2 2011 2,8 2012 3 2013 3 2014 3,3 2015* 3,4 Abb. 1: Umsätze der deutschen Robotikbranche Quelle: VDMA *Stand Juni 2015 Mehr Arbeitsplätze In 1000 2010 39 2011 43 Abb 3: die Software von artiminds mit Machern und Robotern in Aktion 2012 48,6 Foto: Artiminds 2013 50,2 2014 51,6 Abb. 2: Beschäftigte in der Robotik- und Automationsbranche in VDI-Kampagne »Ingenieursgeschichten« Deutschland 2010 bis 2014 | Quelle: VDMA Unter der Webadresse www.ingenieurgeschichten.vdi.de er- zählt der VDI »Ingenieursgeschichten«. Er will damit »Innova- »Land der Ideen« zeichnet schlaue Roboter- tionen der Ingenieurinnen und Ingenieure auch Menschen Software aus außerhalb der Technik-Community bekannt machen«. »Wir wollen eine Galerie der vielen deutschen Alltagsingenieur- Die ArtiMinds Robotics GmbH ist eine Ausgründung des Karls- leistungen erstellen, die unsere Lebensqualität verbessern — ruher Instituts für Technologie. Sie beschäftigt sich mit der im unscheinbar Kleinen wie im unübersehbar Großen«, be- intuitiven Programmierung von Industrierobotern. Im Herbst gründet VDI-Präsident Prof. Dr.-Ing. Udo Ungeheuer die hat sie im Rahmen des Wettbewerbs »Land der Ideen« einen Kampagne. Preis als »Ausgezeichneter Ort« für ihre Software erhalten. Eine Jury entscheidet, welche der eingereichten Ge- Vereinfacht ausgedrückt können menschliche Bediener Indus- schichten berücksichtigt wird. Ausgewählte Beiträge werden trieroboter für solche Aufgaben manuell optimal einrichten, professionell als Video oder als Fotoreportage produziert. bei denen sich der Roboter anschließend selbstständig mittels Die Juroren sind ehrenamtliche Mitglieder des Vereins sowie Kraftsensor flexibel an die Umgebung anpassen muss. Dabei Unternehmens- und Medienvertreter. 10 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016
Aktuelles schen Bundesamtes (DESTATIS) im November hervor. Diese bezieht sich auf Daten der Arbeitskräfteerhebung des Jahres 2014. Jede achte vollzeiterwerbstätige Person (12 Prozent) gab demnach an, gewöhnlich mehr als 48 Stunden pro Wo- che zu arbeiten. Höher liegt der Anteil bei Männern, niedriger liegt er bei Frauen. Quelle: http://bit.ly/1RE6TCH Abb. 4: Screenshot des Online-Portals »Ingenieursgeschichten« | Bild: VDI Insgesamt 12,4 Prozent Männer 15,0 Prozent Industrie 4.0: KMU trifft Fachkräftemangel Frauen 7,2 Prozent besonders Selbstständige mit Beschäftigten 63,8 Prozent Solo-Selbstständige 41,4 Prozent Auf dem Weg zur Industrie 4.0 werden es vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, die diese Herausforderung nicht Arbeitnehmer 7,0 Prozent aktiv annehmen, zunehmend schwer haben, Fachkräfte zu Mithelfende Familienangehörige 41,6 Prozent gewinnen. »Unsere aktuelle Befragung innerhalb der Metall- und Elektroindustrie zum Thema Industrie 4.0 unterstützt die- Abb. 5: Anteil von Langzeitarbeitern an allen Vollzeitberufstätigen Quelle: Arbeitskräfteerhebung 2014, Destatis sen Sachverhalt«, so Dr. Tim Jeske, Studienleiter am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. (ifaa). Industrie 4.0 fordert beispielsweise höher qualifizierte Mitarbeiter. Große Gut für Integration: OECD lobt duale Unternehmen tun sich leichter, entsprechendes Personal zu Ausbildung gewinnen und zu binden. Deshalb, so das ifaa, müssten kleine und mittlere Unternehmen sich stärker als bisher in der Fach- Zur Vorstellung des neuen Bildungsberichtes der Organisation kräftesicherung engagieren. für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Die ifaa-Umfrage hatte ergeben, dass über alle poten- lobte deren stellvertretender Generalsekretär Stefan Kapferer ziellen Anwendungsfelder hinweg fast 40 Prozent der Betrie- die duale Ausbildung. Diese helfe auch bei der Integration von be noch gar nichts in Richtung Industrie 4.0 unternehmen; Flüchtlingen: »Mit dem Dualen System hat Deutschland gute darunter sind besonders viele KMU. Diese Unternehmen sind Voraussetzungen, auch die Arbeitsmarktintegration von Mi besonders vom Fachkräftemangel betroffen. Die Folge: Die granten zu stemmen.« Allerdings komme es jetzt darauf an, Unternehmen finden schwer neue Auszubildende und die Be- diese Basis etwa durch spezielle Angebote für Flüchtlinge legschaft wird im Schnitt immer älter. noch weiter zu stärken. Der Wissenschaftler Dr. Jeske: »Industrie 4.0 kann eine OECD-Vize Kapferer mahnte darüber hinaus an, dass Stellschraube sein, die es auch kleinen und mittleren Unter- sich der Anteil gut ausgebildeter Jugendlicher an den zahlen- nehmen erlaubt, trotz der Entwicklung wettbewerbsfähig zu mäßig schwächeren nachrückenden Jahrgängen weiter er- bleiben.« Denn die Digitalisierung biete Ansätze, den Fachkräf- höht. Nur so werde die Fachkräftelücke zu schließen sein. temangel zu kompensieren. So könnten beispielsweise Assis- Denn: »Demografie-bedingt wird in den kommenden Jahren tenzsysteme den Einsatzbereich vorhandener Mitarbeiter er- in Deutschland eine vergleichs- weitern oder die Arbeit attraktiver machen. Gerade KMU soll- weise große Zahl an Hochqualifi- ten diese Chancen stärker als bisher nutzen. zierten aus dem Erwerbsleben ausscheiden.« Erfolg bescheinigte die OECD Deutschland dabei, jun- Destatis zu »überlangen« Arbeitszeiten ge Frauen für ein MINT-Studium zu gewinnen. Selbstständige arbeiten besonders lang. Unter Arbeitnehmern Download: bit.ly/1M2JzY5 gibt nur jeder 14. an, überlange Arbeitszeiten zu haben. Ar- beitszeiten von mehr als 48 Stunden in der Woche gelten als »überlang«. Das geht aus einer Veröffentlichung des Statisti- Abb. 6: OECD-Bildungsbericht 2015 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 11
Aktuelles DAK-»Psychoreport«: Mehr Fehltage, weniger Burnout Laut »Psychoreport 2015« der Krankenkasse DAK-Gesundheit war im vergangenen Jahr jeder 20. Arbeitnehmer wegen einer psychischen Erkrankung krankgeschrieben. Hochgerechnet seien damit 1,9 Millionen Menschen betroffen. Seit 1997 habe sich die Zahl der Fehltage durch diagnostizierte Depressionen oder Anpassungsstörungen verdreifacht. Für den DAK-Psy- choreport hat das IGES Institut die anonymisierten Daten von rund 2,6 Millionen erwerbstätigen Versicherten ausgewertet. Detailergebnisse aus dem »Psychoreport«: 2014 verur- sachte die Diagnose »Depression« 112 Fehltage je 100 Versi- cherte, 42 Fehltage wurden mit Anpassungsstörungen be- gründet. Der Burnout als Zusatzdiagnose verliere dagegen an Abb. 7: Eröffnung des Weiterbildungszentrums 4.0 in Suzhou | Foto: KIT Bedeutung: 2014 entfielen darauf nur 5,2 Ausfalltage. Gegen- über 2011 hat sich die Anzahl damit fast halbiert. Quelle und weitere Informationen: bit.ly/1NbmKoV Deutsche Industrie 4.0 macht Schule in China ifo-Prognose: Aufschwung geht Die KIT China Branch, Außenstelle des Karlsruher Instituts für »verhalten« weiter Technologie in China, hat im Industrial Park von Suzhou bei Shanghai ein Demonstrations- und Innovationszentrum für »Der verhaltene Aufschwung der deutschen Wirtschaft setzt Technologien der Industrie 4.0 eröffnet. Hier bieten Institute sich fort«, erklärte ifo-Präsident Hans-Werner Sinn am 9. De- und Einrichtungen des KIT Weiterbildungen an, mit denen zember zur Vorstellung der aktuellen Konjunkturprognose des Mitarbeiter und Führungskräfte von Unternehmen in China ifo Institutes. Die Münchener Wirtschaftsforscher hoben ihre die Herausforderungen von »Industrie 4.0« besser bewältigen Prognose für das Jahr 2016 um 0,1 Prozentpunkte auf nun 1,9 können. So gibt es Trainingsmodule, die ihnen vermitteln, wie Prozent erwartetes Wachstum Wirtschaftsleistung an. Für 2017 sie Prozesse effektiver, Montagelinien flexibler und Fabrikhal- rechnen sie mit einem Plus von 1,7 Prozent. Der private Konsum len digitaler gestalten können. Das Zentrum ist das erste in bleibe die Stütze des Aufschwungs, »da die Einkommensperspek- China, in dem Unternehmen und Wissenschaft deutsche In- tiven der privaten Haushalte wegen der weiter verbesserten Ar- dustrie-4.0-Anwendungen sowie die Anforderungen einer beitsmarktlage gut sind.« Die Beschäftigung werde von 43 Milli- intelligenten Fabrik an einer echten Produktionslinie erpro- onen Erwerbstätigen im kommenden Jahr auf 43,4 Millionen ben, einstellen und erforschen können. und im Jahr 2017 auf 43,6 Millionen steigen. Für das Jahr 2017 Prof. Dr. Gisela Lanza, China-Beauftragte des KIT: »Die erwarten die Forscher jedoch dennoch einen Anstieg der Ar- Produktion in China wird immer stärker automatisiert und beitslosigkeit auf 7,1 Prozent. Prof. Sinn hält dies für »eine Folge digitalisiert. Allerdings gibt es kaum geeignete, praxisnah aus- der Flüchtlingsmigration und des Mindestlohns«. Die Exporte gebildete Fachkräfte, um diese Anlagen richtig zu bedienen.« werden nach ifo-Einschätzung langsamer wachsen als die Im- Das Weiterbildungsangebot richtet sich auch an deutsche porte. Dies spreche für eine robuste Binnenkonjunktur. Unternehmen, die in China operieren und ihre Belegschaften trainieren möchten. Im Industrial Park von Suzhou, wo sich ifo-Prognose das KIT-Weiterbildungszentrum befindet, sind auch zahlreiche 2016 2017 deutsche Industrieunternehmen angesiedelt. In dem Zentrum ist eine intelligente Montagelinie für Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1,9 Prozent 1,7 Prozent Hydraulikventile aufgebaut, die sich je nach Einsatzzweck Bruttoanlageinvestitionen 2,6 Prozent 2,7 Prozent konfigurieren lässt. Die Anlage ist mit verschiedenen Indust- Privater Konsum 2,0 Prozent 1,5 Prozent rie-4.0-Anwendungen ausgestattet: Sie kann durch ein kabel- los gesteuertes, intelligentes System um die 90 verschiedene Lohnstückkosten 1,4 Prozent 1,1 Prozent Ventil-Varianten ohne Werkzeugwechsel produzieren. Abb. 8: Ausgewählte Eckdaten zur ifo-Konjunkturprognose (Dezember 2015) 12 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016
Aktuelles Betriebssicherheitsverordnung 2015 Chance beim Verwenden von Arbeitsmitteln Am 01. Juni 2015 ist die Novelle der »Verord dung von Fehlplanungen und Nachbesserungen nung über Sicherheit und Gesundheitsschutz und der damit verbundenen Zeitersparnis ent- bei der Verwendung von Arbeitsmitteln« stehen. (Betriebssicherheitsverordnung — BetrSichV) in Kraft getreten. Die BetrSichV 2015 wurde konzeptionell, strukturell und sprachlich Vereinfachte Vorgehensweise neu gestaltet, ohne aber die grundlegenden bei der Verwendung von Inhalte zu ändern. Neben den allgemeinen Arbeitsmitteln Neuerungen beinhaltet die BetrSichV 2015 auch eine Handvoll Erleichterungen bei der In der BetrSichV 2015 ist eine vereinfachte Vor- Verwendung und dem Bereitstellen von Ar gehensweise bei der Verwendung von Arbeits- Ralph-Michael Herbert beitsmitteln. Der folgende Bericht gibt eine mitteln, die an bestimmte Bedingungen ge- SÜDWESTMETALL Übersicht über diese Erleichterungen. knüpft ist, enthalten. In Abb. 1 ist die Einbet- tung der vereinfachten Vorgehensweise in den Ablauf der BetrSichV 2015 dargestellt. Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale Um die oben genannten Vereinfachungen Element aller Verordnungen im Arbeitsschutz. in Anspruch zu nehmen, müssen Arbeitsmittel Sie ist für alle Tätigkeiten gefordert und ist vom einerseits den sicherheitstechnischen Anforde- Arbeitgeber durchzuführen. In der Betriebssi- rungen der für sie zum Zeitpunkt der jeweiligen cherheitsverordnung wird die Gefährdungsbe- Verwendung geltenden Rechtsvorschriften zum urteilung für den Bereich der Arbeitsmittel kon- Bereitstellen von Arbeitsmitteln auf dem Markt Abb. 1: Schematischer kretisiert. Mit der Novellierung der BetrSichV entsprechen und bestimmungsgemäß verwen- Ablauf BetrSichV 2015 haben sich neue Anforderungen an die Gefähr- dungsbeurteilung ergeben. Im Rahmen der Ge- fährdungsbeurteilung müssen nun neben den Gefährdungs- Gebieten der Ergonomie und der psychischen beurteilung Belastungen auch zahlreiche weitere Faktoren §5 ArbSchG berücksichtigt werden. Dazu zählen die Ge- brauchstauglichkeit, die Einflüsse der Ar- weiter mit Tätigkeit mit nein Gefährdungs- beitsumgebung, der Arbeitsverfahren und der Arbeitsmitteln beurteilung §5 ArbSchG -organisation, die Arbeitsabläufe, die Arbeits- ja aufgabe und die Arbeitszeit. In der Praxis bedeutet dies, dass bei der Gefährdungs- Prüfung vor beurteilung (§3) Inbetriebnahme Gefährdungsbeurteilung einer Bohrmaschine (§15) neben den entstehenden Gefährdungen bei der Grundpflichten (§4) Wiederkehrende eigentlichen Verwendung der Bohrmaschine Prüfung (§16) Prüfaufzeichnungen auch Gefährdungen aufgrund des Bohrma Anforderungen an und-bescheini- Bereitstellung (§5) terials (beispielsweise Holz oder Metall), die gungen (§17) Schichtzeit oder die Dauer der Tätigkeit (bei- Anforderungen an Erlaubnispflicht Verwendung (§6) (§18) Instandhaltung spielsweise sporadisch oder dauernd) berück- (§10) sichtigt werden müssen. ja Besondere Neu in der BetrSichV 2015 ist, dass die Betriebszustände weiter mit Vereinfachte ja überwach- nein (§11) Gefährdungs- Gefährdungsbeurteilung möglichst vor der Aus- Vorgehensweise ungsbedürftige Unterweisung, beurteilung wahl und der Beschaffung der Arbeitsmittel be- (§7) Anlage Beauftragung (§12) §5 ArbSchG Zusammenarbeit gonnen werden soll. Hierdurch soll die Arbeits- nein (§13) schutzkompetenz im Unternehmen in den Be- Prüfung (§14) Energien, Ingang- schaffungsprozess integriert werden. Durch und Stillsetzen (§8) möglichst frühzeitige Überlegungen zu den (zu Weitere Schutz- maßnahmen (§9) erwartenden) Bedingungen am Arbeitsplatz sol- © R.-M. Herbert, 2015 len Kosteneinsparungen aufgrund der Vermei- ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 13
Aktuelles det werden. Andererseits dürfen für die Arbeit- Bestandsschutz nehmer keine zusätzlichen Gefährdungen auf- grund der Arbeitsumgebung, der Arbeitsgegen- Die BetrSichV 2015 — und somit auch die Si- stände, der Arbeitsabläufe sowie der Dauer und cherheitsanforderungen — gilt für alte, neue der zeitlichen Lage der Arbeitszeit auftreten. und selbsthergestellte Arbeitsmittel. Eine Festle- Letztendlich müssen die erforderlichen Instand- gung auf einen bestimmten Stand der Technik haltungsmaßnahmen und die notwendigen ist in diesem Zusammengang nicht erfolgt. Prüfungen durchgeführt sein. Die Arbeitsmittel unterliegen dabei materiellen In der Begründung der Bundesregierung Anforderungen, die in der BetrSichV 2015 als Im Rahmen der Ge zur BetrSichV 2015 wird klargestellt, dass ein Schutzziele definiert sind. Diese Schutzziele gel- fährdungsbeurteilung vereinfachtes Maßnahmenkonzept für einfache ten für alle Arbeitsmittel gleichermaßen. ist auch zu beurteilen, Sachverhalte bei der Verwendung von Arbeits- In der Begründung der Bundesregierung ob die vorgesehene mitteln dem Arbeitgeber die praktische Anwen- zur BetrSichV 2015 wird explizit darauf hinge- Verwendung dem dung der Verordnung erleichtern soll. Dies be- wiesen, dass die materiellen Anforderungen in Stand der Technik deutet allerdings keine Einschränkung der den Schutzzielen aus der BetrSichV 2015 in je- anzupassen ist. grundsätzlichen Arbeitgeberpflichten oder eine dem Fall einzuhalten sind und die Verwendung Absenkung des Sicherheitsniveaus. Die techni- der Arbeitsmittel sicher sein muss. Daher muss schen Anforderungen betreffen insbesondere der Arbeitgeber im Rahmen der Gefährdungs- die Konstruktion, den Bau und weitere Schutz- beurteilung eigenverantwortlich selbst ent- maßnahmen. Es wird unterstellt, dass der Her- scheiden, ob gegebenenfalls Nachrüstmaßnah- steller bei der Gestaltung des Arbeitsmittels ein- men erforderlich sind. Dies bedeutet, dass im schließlich der Schutzmaßnahmen alle Gefähr- Rahmen der Gefährdungsbeurteilung auch zu dungen bei der bestimmungsgemäßen beurteilen ist, ob die vorgesehene Verwendung Verwendung berücksichtigt hat. noch dem Stand der Technik entspricht oder ob Eine vereinfachte Vorgehensweise ist sie an diesem anzupassen ist. Bei der Anpassung nicht möglich, wenn vom Hersteller des Ar- ist es dabei nicht zwingend erforderlich, dass beitsmittels beispielsweise in der Bedienungs- das Arbeitsmittel selbst dem Stand der Technik anleitung nicht vermeidbare Restrisiken ange- entsprechen muss. Die Verwendung des Arbeits- geben werden. Der »Ausstieg« kann also nicht mittels muss aber insgesamt nach dem Stand gelten, wenn nach der Gefährdungsbeurteilung der Technik sicher sein. Die sichere Verwendung betrieblicherseits zusätzliche Schutzmaßnah- — und somit letztendlich der Bestandsschutz men getroffen werden müssen, da der Schutz — kann auch durch ergänzende Schutzmaßnah- der Beschäftigten ohne zusätzliche Schutz- men gewährleistet werden. Aufgrund dieser maßnahmen gewährleistet sein muss. Typische Regelung bedarf es keiner besonderen, bisher Beispiele hierzu sind einfache Werkzeuge und strittigen, Bestandsschutzregelung mehr und Geräte wie Handsägen, Zangen, Bolzenschnei- gilt für künftige Änderungen im Regelwerk so- der, Wagenheber, aber auch einfache kraftbe- wie den damit verbundenen Nachrüstungen. Abb. 2: Anforderungen triebene Verbraucherprodukte wie Akkuschrau- Die Anforderungen an Arbeitsmittel — so- an Arbeitsmittel ber und Bohrmaschinen. wohl in der Vergangenheit als auch nach dem KEIN Bestandsschutz für Arbeitsmittel Gefährdungsbeurteilung, aufgrund technischer Mindestanforderungen Stand der Technik, T-O-P Mindestanforderungen Mindestanforderungen Schutzziele gem. gem. UVV‘en und AMBV BetrSichV 2002 Anh. I BetrSichV 2015 MRL MRL MRL MRL 93/44/EWG 98/37/EG 2006/42/EG ??? neu ??? 01.01.1995 2002 01.06.2015 14 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016
Aktuelles Inkrafttreten der BetrSichV 2015 zum gen müssen aufgrund der BetrSichV 2015 nur Literatur 01.06.2015 — zeigt Abb. 2. umgesetzt werden, wenn die Richtlinien die Begründung zur Betriebs Bei der Ableitung der Schutzmaßnahmen Herstellung für den Eigengebrauch mit berück- sicherheitsverordnung, für die sichere Verwendung des Arbeitsmittels sichtigen. Dies ist beispielsweise in der Maschi- Bundesrat Drucksache 400/14 sind die allgemeinen Grundsätze des Arbeits- nenrichtlinie, nicht aber in der Niederspan- vom 28.08.2014 schutzes, wie die Rangfolge der Schutzmaßnah- nungsrichtlinie der Fall. In der Maschinenricht- Gesetz über die Durchfüh- men, der Stand der Technik, Arbeitsmedizin und linie sind die Pflichten des Herstellers in Bezug rung von Maßnahmen des Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswis- auf das Inverkehrbringen und der Inbetrieb- Arbeitsschutzes zur Verbes- serung der Sicherheit und senschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. nahme der Maschine identisch. Demzufolge des Gesundheitsschutzes der Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass in der kann diese Erleichterung für die formellen An- Beschäftigten bei der Arbeit gegebenen Reihenfolge (technisch-organisato- forderungen nur für Arbeitsmittel in Bezug ge- (Arbeitsschutzgesetz — ArbSchG), BGBl. I 1996 risch-personenbezogen) das Maß an Sicherheit nommen werden, die keine Maschinen sind. S. 1246, letzte Änderung durch eine Kombination und Organisation der vom 31.08.2015 Schutzmaßnahmen ausgeschöpft wird. Ob die ergänzenden Schutzmaßnahmen Fazit Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz ausreichen, dass ein nicht dem Stand der Tech- bei der Verwendung nik entsprechendes Arbeitsmittel weiter betrie- Nicht nur aus rechtlichen Aspekten ist es erfor- von Arbeitsmitteln ben werden darf, muss im Einzelfall geprüft derlich, sich mit der Novelle der Betriebssicher- (Betriebssicherheitsverord- nung — BetrSichV), BGBl. I werden und stellt eine schwierige und verant- heitsverordnung zu befassen. Es lohnt sich in Nr. 4 vom 06.02.2015, S. 49, wortungsvolle Beurteilungs- und Wertungs jedem Fall. Der Dreh- und Angelpunkt der Betr- letzte Änderung vom frage dar. SichV 2015 ist die Gefährdungsbeurteilung für 13.07.2015 Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: die Verwendung der eingesetzten Arbeitsmittel. Zwei Arbeitgeber — Arbeitgeber A und B — be- Sie ermöglicht Freiräume und Erleichterungen, treiben eine baugleiche Anlage, die nicht dem die durch die betrieblichen Maßnahmen auszu- Stand der Technik entspricht. Arbeitgeber A schöpfen sind. Schlussendlich dient die Betr- betreibt die Anlage im Dreischichtbetrieb mit SichV 2015 auch dem Zwecke des Bürokratie wechselndem Personal, teilweise auch unge- abbaus. Aufgrund der Mehrfachregelungen im lernt. Arbeitgeber B betreibt die Anlage aus- staatlichen als auch im berufsgenossenschaft schließlich zur Ersatzteilgewinnung einmal pro lichen Regelwerk (beispielsweise bei Kranen Jahr für eine Woche durch einen besonders oder auch Beauftragung von Personen bei der qualifizierten Mitarbeiter. In der Situation beim Verwendung von Arbeitsmitteln mit besonderen Arbeitgeber B wäre es in der Gefährdungsbeur- Gefährdungen) ist durch die Regelung in der teilung begründbar, den Mitarbeiter so zu quali- BetrSichV 2015 die Voraussetzung geschaffen, fizieren, dass dasselbe Schutzziel — Unversehrt- das berufsgenossenschaftliche Regelwerk heit des Mitarbeiters — durch organisatorische schlanker zu gestalten. und personenbezogene Schutzmaßnahmen er- reicht werden kann. Beim Arbeitgeber A sieht die Situation aufgrund des Schichtbetriebes und der wechselnden Mitarbeiter anders aus. Hier ist die technische Nachrüstung zum Erreichen des Schutzzieles wahrscheinlicher. Herstellung von Arbeitsmitteln für den Eigengebrauch Generell müssen Arbeitsmittel, die für eigene Zwecke selbst hergestellt wurden, den grund legenden Sicherheitsanforderungen der Ge- Autoren-Kontakt meinschaftsrichtlinien, beispielsweise der Ma- Dipl.-Ing. (FH) schinenrichtlinie, der Niederspannungsrichtlinie Ralph-Michael Herbert oder der Richtlinie zur Elektromagnetischen SÜDWESTMETALL, Verträglichkeit, entsprechen. Die Richtlinien Verband der Metall- und beinhalten neben Bau- und Dokumentations- Elektroindustrie Baden- Württemberg e.V., Stuttgart anforderungen auch formelle Anforderungen Tel.: +49 711 7682-130 wie die CE-Kennzeichnung und die EG-Konfor- E-Mail: herbert@ mitätserklärung. Diese formellen Anforderun- suedwestmetall.de ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 226 | 2016 15
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