AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Zustand der Demokratie - Bundeszentrale ...

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71. Jahrgang, 26–27/2021, 28. Juni 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
      Zustand
  der Demokratie
      Wolfgang Merkel                              Philip Manow
      WISSENSCHAFT,                         REPRÄSENTATIVE
   MORALISIERUNG UND                       POLITIK ZWISCHEN
    DIE DEMOKRATIE IM                    DEMOKRATISIERUNG UND
     21. JAHRHUNDERT                     ENTDEMOKRATISIERUNG
      Jan-Werner Müller                            Eckhard Jesse
       GEFÄHRDET                             KRISE (UND ENDE?)
  „IDENTITÄTSPOLITIK“ DIE                    DER VOLKSPARTEIEN
  LIBERALE DEMOKRATIE?
                                          Lukas Kübler · Claus Leggewie ·
        Claudia Ritzi                             Patrizia Nanz
     ZUM ZUSTAND                              DEMOKRATISCHE
    DEMOKRATISCHER                          INNOVATION DURCH
     ÖFFENTLICHKEIT                             BÜRGERRÄTE

       Vanessa A. Boese
  DEMOKRATIE IN GEFAHR?

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Zustand der Demokratie - Bundeszentrale ...
Zustand der Demokratie
                               APuZ 26–27/2021
WOLFGANG MERKEL                                     PHILIP MANOW
WISSENSCHAFT, MORALISIERUNG                         REPRÄSENTATIVE POLITIK ZWISCHEN
UND DIE DEMOKRATIE IM 21. JAHRHUNDERT               DEMOKRATISIERUNG UND
Die zunehmende Verwissenschaftlichung und           ENTDEMOKRATISIERUNG
Moralisierung politischer Diskurse in entwickel-    Demokratische Repräsentation scheint von
ten Demokratien geht mit einer Polarisierung        der Lösung eines demokratischen Problems zu
einher, der durch eine pluralistische Debatten-     einem Problem für die Demokratie geworden zu
kultur begegnet werden muss. Hierfür braucht        sein. Um das zu verstehen, muss man sich einer
es Zeit und konstruktive Dissidenz.                 zentralen demokratischen Organisationsform
Seite 04–11                                         zuwenden: der politischen Partei.
                                                    Seite 32–38
JAN-WERNER MÜLLER
GEFÄHRDET „IDENTITÄTSPOLITIK“                       ECKHARD JESSE
DIE LIBERALE DEMOKRATIE?                            KRISE (UND ENDE?) DER VOLKSPARTEIEN
Entgegen weitverbreiteter Vorbehalte untergräbt     Die beiden Volksparteien Union und SPD haben
Identitätspolitik nicht den gesellschaftlichen      das politische System der Bundesrepublik lange
Zusammenhalt, sondern fordert für alle das          Zeit geprägt. Während die Ursachen ihres schon
ein, was diesen in einer liberalen Demokratie       seit Längerem zu beobachtenden Abwärtstrends
auszeichnet: eine gleichberechtigte Teilhabe und    offen zutage liegen, sind die Konsequenzen
den Schutz von Grundrechten.                        deutlich unklarer.
Seite 12–17                                         Seite 39–46

CLAUDIA RITZI                                       LUKAS KÜBLER · CLAUS LEGGEWIE ·
ZUM ZUSTAND DEMOKRATISCHER                          PATRIZIA NANZ
ÖFFENTLICHKEIT                                      DEMOKRATISCHE INNOVATION
Die Digitalisierung hat die Struktur der            DURCH BÜRGERRÄTE
Öffentlichkeit verändert und aus potenziellen       Als innovatives Instrument demokratischer
Lesern potenzielle Autoren gemacht. Damit           Beteiligung erfreuen sich Bürgerräte zuneh-
gehen Chancen, aber auch Herausforderungen          mender Beliebtheit. Sie ermöglichen es, die
für die Demokratie einher, auf die demokratische    im gemeinsamen Austausch herausgebildeten
Politik reagieren muss.                             Einstellungen der Bürger*­innen in politische
Seite 18–23                                         Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
                                                    Seite 47–53
VANESSA A. BOESE
DEMOKRATIE IN GEFAHR?
Um die Demokratie ist es derzeit nicht gut
bestellt. Wie Indikatoren des Varieties of
Democracy-Projekts (V-Dem) zeigen, erleben wir
weltweit eine Welle der Autokratisierung, von der
bereits ein Drittel der Weltbevölkerung erfasst
wurde. Vielerorts ist die Demokratie gefährdet.
Seite 24–31
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EDITORIAL
Diagnosen einer Gefährdung der Demokratie sind so alt wie diese selbst. Den-
noch häufen sich seit einigen Jahren Klagen über den Zustand der Demokratie
hierzulande wie weltweit. Auch wenn diese oftmals wenig differenziert und
in alarmistischem Ton vorgetragen werden, geben die Daten zur weltweiten
Demokratieentwicklung tatsächlich Anlass zur Sorge: Nach den Indikatoren
des Varieties of Democracy-Projekts (V-Dem) befinden sich seit 2012 – erstmals
seit den 1960er Jahren – mehr Staaten in einem Autokratisierungs- als in einem
Demokratisierungsprozess. Auch in einigen Staaten der Europäischen Union
und in anderen etablierten Demokratien war die Qualität der Demokratie –
gemessen etwa am Grundrechtsschutz und an der Gewaltenkontrolle – in den
vergangenen zehn Jahren rückläufig.
   Für Deutschland trifft dies zwar nicht zu, aber dennoch sind tiefgreifende
Wandlungsprozesse demokratischer Institutionen auch hier unverkennbar:
Die beiden ehemals großen Volksparteien, die über viele Jahrzehnte hinweg
einen beträchtlichen Teil der Wahlbevölkerung hinter sich vereinen und stabile
Regierungskoalitionen bilden konnten, verlieren kontinuierlich an Zustimmung.
Gleichzeitig verändern die sozialen Medien die politische Kommunikation und
die Funktionsweise der demokratischen Öffentlichkeit grundlegend. Das demo-
kratische Potenzial einer Absenkung der Teilnahmebarrieren wird dabei allzu
oft durch hate speech, Desinformation oder Algorithmen, die kommerziellen
Interessen dienen, konterkariert.
   Neben dem Umgang mit der Corona-Pandemie hat in jüngster Vergangenheit
vor allem das Thema „Identität“ Diskussionen über den Zustand der Demo-
kratie ausgelöst. In der Öffentlichkeit vorgetragene Anklagen, die bestimmte
Äußerungen oder Handlungen als diskriminierend kritisieren, werden von
den einen als Einschränkung der Meinungsfreiheit und Bedrohung des gesell-
schaftlichen Zusammenhalts empfunden, von anderen hingegen als Kampf um
gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und damit als genuin demokratisches
Anliegen verteidigt. Zusammenhalt kann es in der Demokratie – das zumindest
sollte unstrittig sein – nur durch die Anerkennung aller Bürgerinnen und Bürger
als Freie und Gleiche geben.

                                                  Christoph Rasemann

                                                                              03
APuZ 26–27/2021

                                                    ESSAY

                                      NEUE KRISEN
                         Wissenschaft, Moralisierung
                    und die Demokratie im 21. Jahrhundert
                                           Wolfgang Merkel

Wer von Demokratie redet, darf von ihren Krisen          kann, sind aber durchaus Qualitätsverluste und
nicht schweigen. Spätestens seit Platon wissen wir       Erosionstendenzen der Demokratie beobacht-
das. Die Galerie großer Geister, die zum demokrati-      bar. Dies belegen auch die jüngsten Expertenerhe-
schen Herrschaftssystem stets dessen Krise mitdach-      bungen des Varieties of Democracy-Projekts (V-
ten, ist beeindruckend: von den antiken Klassikern       Dem) sehr eindrucksvoll. Die aggregierten Daten
Platon, Aristoteles und Polybios über neuzeitliche       der Abbildung zeigen die durchschnittliche De-
Denker wie Thomas Hobbes, Alexis de Tocqueville          mokratiequalität der westlichen Demokratien im
und Max Weber bis hin zu den Gegenwartsdiagno-           Zeitverlauf seit 1950. Sie illustriert, dass die Qua-
sen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts von       litätssteigerung der Demokratie über den Epo-
Jürgen Habermas, Claus Offe oder Colin Crouch.           chenbruch von 1989 hinaus bis etwa zum Jahr
So beeindruckend das Werk der letztgenannten Zeit-       2008 anhielt. Zwar verursachten die jungen De-
genossen wissenschaftlich wie intellektuell auch ist,    mokratien Osteuropas 1990 einen kleinen Knick
ihre Krisendiagnosen sind überzogen – zumindest          in der demokratischen Evolution, dieser wurde je-
dann, wenn man den Begriff der Krise ernst nimmt         doch rasch wieder geglättet, als die 32 etablierten
und sie als eine Existenzfrage begreift, bei der es um   Demokratien sich weiter demokratisierten. Mehr
Leben und Tod, Stabilität oder Kollaps, Demokratie       Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, die
oder Autokratie geht. Eine solche existenzielle Krise    gesetzliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher
der Demokratie haben wir in den vergangenen fünf         Partnerschaften, besserer Minderheitenschutz,
Dekaden in Westeuropa nicht erlebt.01                    die Stärkung der Zivilgesellschaft sowie eine zu-
    Die USA unter ihrem Präsidenten Donald               nehmende Medienvielfalt waren die Treiber der
Trump dürften ein Grenzfall sein.02 Der populis-         „Demokratisierung der Demokratie“.04 Ab 2008
tisch-plebejische Regierungsstil und der sich über       nahm diese Entwicklung jedoch eine signifikante
demokratische Werte, Normen und Prozeduren               Wende. Seitdem geht die Qualität der etablierten
hinwegsetzende Machtanspruch Trumps und sei-             Demokratien sichtbar zurück. Der Zeitraum von
ner ihn stützenden Republikanischen Partei wur-          mehr als zwölf Jahren scheint lange genug, um von
den durch die machtbegrenzenden Institutionen            einem stabilen Trend zu sprechen.
des demokratischen Rechtsstaats, die Qualitäts-               Zu diesem länger anhaltenden Trend einer
medien und schließlich auch durch freie Wahlen           Erosion der Qualität etablierter Demokratien
erfolgreich zurückgewiesen. Anders liegt der Fall        stoßen nun mit erheblicher Wucht drei externe
in einigen Staaten (Mittel-)Osteuropas: Rumänien         Krisen hinzu, die die Demokratie in besonderer
und Bulgarien haben es trotz Mitgliedschaft in der       und anhaltender Weise herausfordern. Welche
Europäischen Union nie zu einer voll entwickel-          Krisen sind dies, was zeichnet sie aus – und wa-
ten rechtsstaatlichen Demokratie gebracht. Weit          rum sind sie eine besondere Herausforderung?
beunruhigender ist, dass die einstigen Vorzeigede-
mokratien der Region, Ungarn und Polen, inner-                   NEUE KONFLIKTSTRUKTUREN
halb eines Jahrzehnts von konsolidierten zu defek-
ten und illiberalen Demokratien regrediert sind.03       Finanz-, Arbeitsmarkt- und ganz allgemein Wirt-
    Während in westlichen Demokratien kaum               schaftskrisen sind nicht verschwunden. „The
von einer existenziellen Krise gesprochen werden         great recession“, die Finanzkrise von 2008 und die

04
Zustand der Demokratie APuZ

auf sie folgende Eurokrise nach 2010 liegen zwar                    vertikal. Auf dem einen Pol dieser Konfliktlinie
schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Die Kon-                       stehen die mit hohem kulturellen und ökonomi-
struktion der europäischen Gemeinschaftswäh-                        schen Kapital ausgestatteten, meist urban leben-
rung, aber auch die massive Staatsverschuldung                      den (gehobenen) Mittelschichten, die in der Regel
zur Bewältigung der Corona-Pandemie sowie                           einem kosmopolitischen Weltbild folgen. Sie se-
die erheblichen Transformationskosten, die im                       hen nationalstaatliche Grenzen als ein Relikt des
Kampf gegen die Klimakrise aufzuwenden sind,                        20. Jahrhunderts an, das es tendenziell zu überwin-
werden aber dazu beitragen, dass Wirtschafts-                       den gelte. Ihr normativer Bezugspunkt ist nicht die
krisen auch in näherer Zukunft nicht einfach                        Nation, sondern die gesamte Menschheit. Fragen
verschwinden werden. Trotz verbesserter inter-                      politischer und rechtlicher Gleichstellung, etwa
nationaler Steuerungsin­  strumente und Koope-                      zwischen den Geschlechtern, sehen sie als gesell-
rationsbereitschaft der großen kapitalistischen                     schaftlich relevanter an als klassische Fragen der
Ökonomien des Westens werden wirtschaftliche                        Verteilungsgerechtigkeit. Zu dieser Konfliktlinie
Krisen die Demokratie weiter1234 herausfordern.05                   gehören etwa die gendergerechte Sprache, das In-
Im Übrigen können nicht nur die Krisen des Ka-                      sistieren auf der Gleichberechtigung unterschiedli-
pitalismus eine Bedrohung für die Demokratie                        cher sexueller Präferenzen und Identitäten jenseits
darstellen, sondern gerade auch sein Triumph –                      der „Heteronormativität“ und die Befürwortung
etwa dann, wenn deregulierte globale Märkte die                     einer liberalen Immigrationspolitik. Als absolute
Steuerungsspielräume demokratischer Politik                         Priorität für das 21. Jahrhundert wird jedoch der
weiter erheblich einengen.06                                        Kampf gegen die Klimakrise angesehen.07
    Zu diesen sozioökonomischen Krisen und der                           An dem anderen Pol dieser Konfliktlinie finden
mit ihr verbundenen traditionellen Konfliktlinie –                  sich die gesellschaftlich weniger Privilegierten. Sie
zwischen Kapital und Arbeit, Rechts und Links,                      verfügen über eine deutlich geringere formale Bil-
Staat und Markt – ist nun in der zweiten Deka-                      dung, haben ein niedrigeres Einkommen und be-
de des 21. Jahrhunderts eine neue, kulturell kon-                   finden sich sozioökonomisch in der unteren Hälf-
notierte Krisen- und Konfliktdimension hinzuge-                     te, wenn nicht im unteren Drittel der Gesellschaft.
treten. Diese teilt unsere entwickelte Gesellschaft                 Sie befürworten mehrheitlich den Nationalstaat,
                                                                    von dem sie Schutz und Unterstützung erwarten –
                                                                    etwa durch Umverteilung materieller Ressourcen,
01 Vgl. Reinhart Koselleck, Krise, in: Otto Brunner/Werner
Conze/ders. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches
                                                                    Einkommen und Lebenschancen; sie neigen eher
Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1,       zu autoritären als zu libertären Lebenseinstellun-
Stuttgart 2004, S. 641–649; Wolfgang Merkel, Demokratie-            gen und bewerten Ordnung und Regelbefolgung
krisen, in: Frank Bösch/Nicole Deitelhoff/Stefan Kroll (Hrsg.),     meist höher als individuelle Selbstentfaltung; The-
Handbuch Krisenforschung, Wiesbaden 2020, S. 111–133;
                                                                    men wie gendergerechte Sprache sind ihnen un-
Wolfgang Merkel, Die Herausforderungen der Demokratie, in:
ders. (Hrsg.), Demokratie und Krise: Zum schwierigen Verhältnis
                                                                    wichtig, wenn sie ihnen denn überhaupt geläufig
von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2017, S. 7–44; ähnlich           sind, und haben politisch daher für sie kaum Rele-
für Deutschland: Sascha Kneip/Wolfgang Merkel/Bernhard              vanz. Dieses Lager lässt sich grob noch einmal in
Weßels, Legitimationskrise der Demokratie in Deutschland?, in:      zwei Gruppen unterteilen: Die eine Gruppe neigt
dies. (Hrsg.), Legitimitätsprobleme. Zur Lage der Demokratie in
                                                                    zu Nationalismus, Rechtspopulismus und Xeno-
Deutschland, Wiesbaden 2020, S. 1–22.
02 Vgl. Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, How Democracies Die,
                                                                    phobie, hegt rassistische Einstellungen und befür-
New York 2018.                                                      wortet einen exkludierenden Nationalstaat. Vie-
03 Vgl. Wolfgang Merkel, Embedded and Defective Demo-               le von ihnen haben ihre politische Heimat in den
cracies, in: Democratization 5/2004, S. 33–58; Attila Ágh,          rechtspopulistischen Parteien gefunden. Die ande-
Deconsolidation of Democracy in East-Central Europe, in: Wolf-
                                                                    re Gruppe bildet sich vornehmlich aus der tradi-
gang Merkel/Raj Kollmorgen/Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.),
The Handbook of Political, Social, and Economic Transformation,
                                                                    tionellen, „kommunitaristisch“ eingestellten Kli-
Oxford 2019, S. 431–436.
04 Vgl. Claus Offe, Demokratisierung der Demokratie. Diagno-        07 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitä-
sen und Reformvorschläge, Frank­furt/M. 2003.                       ten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; Wolfgang
05 Vgl. Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München          Merkel, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer
2013.                                                               Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst/Ina Kubbe/Thomas
06 Vgl. Wolfgang Merkel, Is Capitalism Compatible With              Poguntke (Hrsg.), Parties, Governments and Elites. The Compa-
Democracy?, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft   rative Study of Democracy, Wiesbaden 2017, S. 9–23; Pieter de
8/2014, S. 109–128.                                                 Wilde et al., The Struggle Over Borders, Cambridge 2019.

                                                                                                                                 05
APuZ 26–27/2021

  Abbildung: Die Qualitätsentwicklung etablierter Demokratien (1950–2020)
                          85%

                          80%

                          75%
Liberal Democracy Index

                          70%

                          65%

                          60%

                          55%

                          50%

                          45%
                                1950   1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010                     2015 2020
                                                                       Jahr
  Quelle: V-Dem, Liberal Democracy Index. Durchschnitt der 27 EU-Mitgliedsstaaten (exklusive Malta), Vereinigtes Königreich,
  Australien, Neuseeland, Kanada, USA und Japan.

  entel der Sozialdemokratie. Als ihr normativer                     Studie in der vergleichenden Politikwissenschaft
  Bezugspunkt kann das schwedische „Volksheim“                       außerordentlich einflussreich.08 Sie gilt bis heute.
  (folkhemmet) angesehen werden, ein kulturell re-                   Erst vor dem Hintergrund der gestiegenen Rele-
  lativ homogenes „Heim“ mit einem starken solida-                   vanz solcher soziokulturellen Anliegen für einen
  rischen Sozialstaat. Nachdem in den vergangenen                    Teil der Bevölkerung in entwickelten Demokra-
  Jahrzehnten viele sozialdemokratische Parteien                     tien – und von „politischen Unternehmern“, die
  dazu übergangen sind, soziokulturelle Belange der                  diese diskursiv mächtige Konfliktlinie für ihre
  akademischen Mittelschichten ins Zentrum ihrer                     Mobilisierungsstrategien nutzen – ist zu verste-
  Politiken zu rücken, sind viele von ihnen politisch                hen, warum die neuen Krisen des 21. Jahrhunderts
  heimatlos geworden – und landeten nach einem                       eine so große Herausforderung für die etablierten
  Aufenthalt im Lager der Nichtwähler europaweit                     Demokratien sind.
  nicht selten bei den Rechtspopulisten.
      Die sozioökonomische und die kulturelle Kon-                                         NEUE KRISEN
  fliktlinie prägen nicht nur die Wettbewerbsstruk-
  tur des demokratischen Parteiensystems, sondern                    Die Nachwehen der Finanz- und Eurokrise sind
  auch die Diskurslandschaften in Deutschland wie                    in Südeuropa bis heute zu erkennen. Im Norden
  in vielen anderen entwickelten westlichen Gesell-                  und Westen Europas wie in den USA folgte aller-
  schaften. „Entwickelt“ ist an dieser Stelle ein wich-              dings auf die Finanzkrise eine lange Phase stabiler
  tiges Adjektiv, weil sich empirisch zeigen lässt, dass             wirtschaftlicher Prosperität, zumindest bis zum
  die kosmopolitisch-kulturellen Diskurse und An-                    Ausbruch der Corona-Pandemie.
  liegen besonders dort Wichtigkeit erlangen, wo die                     Zu den traditionellen Wirtschaftskrisen sind
  Volkswirtschaften hoch entwickelt sind und – auf                   nun in der zweiten Dekade des 21. Jahrhun-
  dieser materiell gesicherten Basis – postmaterialis-               derts neue Krisen hinzugekommen: die Flücht-
  tische Werte und Belange relevanter werden kön-                    lings- und Migrationskrise, die – schon länger
  nen. Diese auf den psychologischen Hypothesen
  Abraham Maslows basierende Bedürfnishierarchie                     08 Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Val­
  wurde mit Ronald Ingleharts „Silent Revolution“-                   ues and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977.

  06
Zustand der Demokratie APuZ

schwelende, aber seit einigen Jahren deutlich an           ebenso bei wie die „objektiven“ Sachverhalte, die sie
Relevanz gewinnende – Klimakrise sowie die                 zu er- oder zu verklären versuchen. Es sind vor al-
mit Covid-19 seit 2020 einhergehende, in nahe-             lem diese Krisenerzählungen, an denen sich die drei
zu alle Bereiche der Gesellschaft ausstrahlende            neuen Eigenschaften der Szientifizierung, der Mo-
Pandemiekrise. Neu an diesen Krisen sind drei              ralisierung und der Polarisierung zeigen.
Eigenschaften, die in einer bestimmten Sequenz
ineinander verflochten sind, und die in ihrem Zu-                         SZIENTIFIZIERUNG
sammenspiel zu einer Spaltung der demokrati-
schen Gesellschaften beitragen: Szientifizierung,          Nicht alle der drei „neuen“ Krisen sind gleicher-
Moralisierung und Polarisierung.                           maßen von der Verwissenschaftlichung erfasst.
     Dabei wird gerade bei diesen neuen Krisen             Am wenigsten gilt dies für die Flüchtlingskri-
sichtbar, dass sie stets eine „objektive“ und eine         se. Auch wenn die politischen Entscheidungseli-
„subjektive“ Dimension besitzen. Die objektive             ten auf diesem Feld eher weniger Expertise haben
Dimension umfasst die Sachverhalte der äußeren             als in der Sozial-, Arbeitsmarkt- oder Innenpoli-
Wirklichkeit, die in der Krise relevant werden. In         tik, ist die Nachfrage nach wissenschaftlicher For-
den wirtschaftlichen Krisen der jüngeren Vergan-           schung zu Flüchtlingsbewegungen und Migra-
genheit bestand diese etwa im Platzen einer durch          tion begrenzt. Allerdings treten in diesem Bereich
überbewertete Technologien oder die Vergabe                NGOs, humanitäre Organisationen und Think-
von unzureichend gesicherten Immobilienkredi-              tanks sichtbarer als politische Berater auf, als dies
ten ausgelösten Spekulationsblase (Dotcom-Kri-             bei klassischen Verbänden und Lobbygruppen
se 2000 und Finanzkrise 2008) beziehungsweise in           in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Fall ist.
der – ebenfalls zur Spekulation Anlass gebenden –          Anders verhält es sich beim Umgang mit der Kli-
steigenden öffentlichen wie privaten Verschuldung          makrise und der Covid-19-Pandemie. Die Kom-
im gemeinsamen Währungsraum (Eurokrise ab                  plexität der Ursachen und Wirkungen von Treib-
2010). In der Flüchtlings- und Migrationskrise von         hausgasen oder der Verbreitung von Viren trifft
2015 kann der außerordentlich schnelle Zustrom             die in regulären politischen Entscheidungsgre-
einer hohen Anzahl Geflüchteter und Migranten              mien vorhandene Sachkompetenz fast notwen-
nach Westeuropa, insbesondere nach Österreich,             digerweise kognitiv unvorbereitet. Die politische
Deutschland und Schweden, als „objektiver“ Kri-            Nachfrage nach (natur)wissenschaftlicher Exper-
senauslöser vermerkt werden. In der Klimakrise             tise ist entsprechend groß. Ohne wissenschaft-
wird die vor allem durch die Menschen in den In-           liche Beratungen lassen sich rationale und effi-
dustrieländern verursachte Erderwärmung als be-            ziente Krisenlösungen nicht finden. Der aus der
sonders gravierend erachtet. In der Corona-Pan-            Gesundheitsforschung der 1980er Jahre stammen-
demie waren es schließlich die rasche Zunahme              de Begriff der evidence based medicine hat als evi-
der Infektionszahlen, die Mortalität sowie die Be-         dence based policy making bereits Eingang in die
lastung der Intensivstationen in den Krankenhäu-           Policy-Forschung gefunden. Mit der Klimakrise
sern, die im Zentrum der Krise standen.                    und der Corona-Pandemie taucht er zunehmend
     Keine der drei neuen Krisen kann jedoch nur           auch in der deutschsprachigen politischen und
durch „objektive“ Sachverhalte erklärt werden. Es          medialen Öffentlichkeit auf.
gibt darüber hinaus eine subjektive Dimension, der             So notwendig die wissenschaftlich-evidenzba-
ebenfalls erhebliche Bedeutung zukommt. Diese be-          sierte politische Beratung auf der einen Seite ist,
zieht sich auf die Konstruktion des jeweiligen Kri-        so problematisch bleibt sie doch auch auf der an-
sennarrativs, über das in gesellschaftlichen Diskur-       deren Seite. Denn Regierungen suchen sich unter
sen von einer Vielzahl von Akteuren – Regierung,           Umständen genau jene Wissenschaftler als Bera-
Opposition, politischen „Krisenunternehmern“,              ter aus, die ihnen am besten ins Konzept passen,
Medien, Demagogen oder sozialen Bewegungen –               und die ihre eigenen Strategien untermauern. Eine
gerungen wird. Denn jenseits der Frage nach der            politisch-strategische Selektion ist aber in kom-
Legitimität oder Illegitimität eines solchen Narra-        plexen Krisen, die von Nicht-Wissen und Unsi-
tivs gilt: Eine Krise ist erst dann eine Krise, wenn die   cherheit geprägt sind, besonders problematisch.
Menschen mehrheitlich glauben, dass es eine Krise          Gerade dort bedarf die Politik eines besonders
ist, auf die durch politisches Handeln zu reagieren        breiten und pluralistischen Zugangs von Wissen-
ist. Zu diesem Glauben tragen die Krisennarrative          schaftlern und Wissenschaftsdisziplinen. Wird

                                                                                                             07
APuZ 26–27/2021

dieser Zugang aus politischen Gründen strategisch                  kunft beschäftigen wird: Kann die Wissenschaft
verengt, führt die Verwissenschaftlichung der Po-                  (im Plural) das Allgemeinwohl (vor)formulie-
litik zur Politisierung der Wissenschaft. Das evi-                 ren? Nicht zuletzt in Deutschland erlebt die nie
dence based policy making droht dann in ein policy                 ganz verschwundene Sehnsucht eine Renais-
based evidence making verkehrt zu werden.                          sance, den mühsamen Weg des Parteienpluralis-
     Dies bedeutet nicht nur die Ausgrenzung be-                   mus (Weimar: „Parteienhader“) und der mühe-
stimmter alternativer wissenschaftlicher Positi-                   vollen Kompromissfindung zu umgehen oder gar
onen, sondern auch, dass Teile der Wissenschaft                    zu überwinden. Dies soll keineswegs durch einen
gefährlich nah an die Sphäre des politischen Ak-                   Autokraten geschehen, aber vielleicht doch durch
tivismus zu geraten drohen. Scientists for Future,                 eine so tadellose, nur der Wahrheit verpflichte-
gewissermaßen die Wissenslieferanten für die so-                   te Sphäre wie jene der Wissenschaft. Warum, so
ziale Bewegung Fridays for Future (FFF), muss                      könnte man fragen, sollte man von der gefunde-
es schwerfallen, ihr wissenschaftlich-politisches                  nen Wahrheit abweichen, nur weil unterschiedli-
Engagement mit dem epistemischen Gebot einer                       che Interessen, weniger wahrhafte Politiker oder
ergebnisoffenen Forschung in Einklang zu brin-                     gar Ignoranten die politischen Beschlüsse beein-
gen. Die Bewegungsaktivisten von FFF respon-                       flussen und damit die beste wissenschaftskonfor-
dieren dann auch ebenso naiv wie folgerichtig:                     me Lösung verwässern? Gesucht werden kollek-
„Science has told us.“ Soll heißen, die „politisch                 tive Philosophenkönige, die, ethisch wie kognitiv
richtigen“ Pläne liegen längst in den Schubladen                   auf der Höhe der Probleme, diese schneller, ef-
der Wissenschaft, und es ist nur die kompromiss-                   fektiver und gerechter lösen können, als dies die
belastete Politik, die die notwendige 1:1-Umset-                   langwierigen Entscheidungsfindungen in den
zung wissenschaftlicher Forschung in politische                    Ebenen pluralistischer Interessensaushandlung je
Pläne kompromittiert. Hier werden zwei proble-                     vermögen.
matische Simplifizierungen sichtbar: Zum einen                          Ich schneide hier mein Argument bewusst
wird von „der“ Wissenschaft im Singular gespro-                    scharf zu, um die Demokratiefallen dieses szien-
chen, als wäre es nicht gerade der konkurrierende                  tistischen Politik(miss)verständnisses zu beleuch-
Pluralismus der Wissenschaften mit ihren perma-                    ten. Wenn etwa in der Klimapolitik argumentiert
nenten Widerlegungsversuchen, der den wissen-                      wird, das Ziel und die Wegmarken zum Ziel sei-
schaftlichen Fortschritt auf der approximativen                    en von der Wissenschaft längst formuliert, die Po-
Wahrheitssuche garantiert.09 Zum anderen wird                      litik müsse sie nur endlich umsetzen, fußt dies auf
demokratische Politikgestaltung als eine Umset-                    einem Missverständnis dessen, was Demokratie
zungsmaschinerie „wahrhaftiger“, „unbezweifel-                     ist. Demokratie ist, wie es der Theoretiker Adam
barer“ Erkenntnis verkannt – als gäbe es in der                    Przeworski formuliert hat, „a system of ruled
Migrationsfrage,10 in der Klimapolitik oder in der                 open-endedness, or organized uncertainty“.11 Die
Pandemiepolitik immer nur ein politisches Pro-                     Institutionen und Verfahren der Demokratie ste-
blem und nicht vielfältige Folgewirkungen, die auf                 hen a priori fest, die Entscheidungsergebnisse sind
Freiheitsrechte, Arbeitsmarkt, Wirtschaftswachs-                   aber notwendigerweise im Rahmen der Verfas-
tum, Ungleichheit, Generationen- und Genderfra-                    sung und ihrer Gesetze kontingent. Dies ist übri-
gen abstrahlen. Eine der zu wenig beachteten Ne-                   gens eine der kardinalen Differenzen zu autoritä-
benfolgen der Verwissenschaftlichung der Politik                   ren Entscheidungsregimen. Für Klimaaktivisten,
ist die naive Simplifizierung dessen, was Wissen-                  Zero-Covid-Verfechter und wissenschaftsgerüste-
schaft und Politik sind und in der Demokratie sein                 te Technokraten dagegen scheint klar: Das Ergeb-
dürfen, sein sollen und sein müssen.                               nis steht a priori fest, die Verfahren müssen diesem
     Damit taucht ein weiteres Problem auf,                        nur angepasst werden. Das ist der Kern techno-
das die Demokratie jetzt und vor allem in Zu-                      kratisch verengter „evidenzbasierter Politik“. Die-
                                                                   se liegt quer zu Ernst Fraenkels Kernpostulat plu-
                                                                   ralistischer Demokratien: In einer pluralistischen
09 Vgl. u. a. Karl R. Popper, Vermutungen und Widerlegungen,       Demokratie wird das Gemeinwohl erst a posterio-
Tübingen 1963.
10 Ich benutze hier bewusst den Sammelbegriff „Migration“,
wissend, dass es sehr unterschiedliche Motive und Ursachen für     11 Vgl. Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political
solche Wanderungsbewegungen gibt, die wiederum zu unter-           and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America,
schiedlichen Rechtstiteln der Migranten und Geflüchteten führen.   Cambridge 1991, S. 13.

08
Zustand der Demokratie APuZ

ri erreicht, und zwar als Ergebnis eines „delikaten                    naueren Stufenplans zur Erreichung der Pariser
Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen                      Klimaziele mit dem Argument eines zu tiefen
der Gruppen und Parteien“.12 Der Staat muss dabei                      Eingriffs in parlamentarische Kompetenzen kriti-
sowohl für die Herstellung von „Waffengleichheit“                      siert, wird er oder sie meist nicht mit verfassungs-
zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen                          rechtlichen Gegenargumenten konfrontiert, son-
Gruppierungen als auch für die Berücksichti-                           dern nicht selten als Klimaleugner diffamiert, der
gung der Interessen von Minderheiten Sorge tra-                        es in Kauf nehme, dass infolge seiner kleinlichen
gen. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse müssen                        demokratietheoretischen Bedenken die Klimaka-
durch die Schleuse demokratischer Entscheidungs-                       tastrophe näher rückt, Länder überflutet werden
prozeduren, wollen sie als legitime, autoritativ bin-                  und Menschen in der Dürre ihrer Regionen ster-
dende Beschlüsse die Folgebereitschaft freier und                      ben müssen. Ein Argument bezüglich richterli-
bisweilen eigensinniger Bürger generieren.                             cher Selbstbeschränkung und parlamentarischer
                                                                       Prärogativen wird simplifiziert, um auf eine ande-
                    MORALISIERUNG                                      re Sachverhaltsebene verschoben zu werden und
                                                                       dem Gegenüber ad personam eine unmoralische
Das zweite charakterisierende Element der „neu-                        oder gar unmenschliche Haltung zu unterstellen.
en“ Krisen ist die Moralisierung der Politik und                       Letztlich geht es also nicht um die Sachausein-
wissenschaftlicher Positionen. Moralisierung ist                       andersetzung, sondern darum, eine vermeintlich
von Moral abzugrenzen. Moral, wie sie etwa in                          unmoralische Person aus dem Diskurs morali-
den Menschen- und Freiheitsrechten der demo-                           scher Teilnehmer auszuschließen. Wird ein sol-
kratischen Verfassungen kodifiziert ist, wie sie                       ches Argument coram publico geführt, entfaltet
als Gleichheits- und Gerechtigkeitspostulate in                        es eine besonders intolerante Wirkung.
rechtsstaatlichen Normen gefasst wird oder auch                            Ein weiteres Beispiel kann aus den kontrover-
als Werte der Toleranz und des Respekts in zivili-                     sen Debatten um die Bekämpfung des Corona-
sierten Zivilgesellschaften verankert ist,13 ist ohne                  virus gewonnen werden. Mit Recht ging es dort
eine stete Rechtfertigungsbereitschaft nicht zu                        immer wieder um die schwierigen Abwägungs-
denken. Ohne Moral in diesem Sinne kann De-                            fragen zwischen dem Recht auf Leben aus Arti-
mokratie nicht funktionieren. Mit der Morali-                          kel 2 Abs. 2 GG und den übrigen Freiheitsrech-
sierung verhält es sich anders. Moralisierung ist                      ten, wie sie vor allem in den Artikeln 4, 8, 11 und
eine selbstgerechte Stilisierung der eigenen mora-                     12 des Grundgesetzes normiert sind. In morali-
lischen Position, um eine andere moralische Posi-                      sierenden Diskursen wurde der Satz „Jeder hat
tion herabzusetzen. Sie ist eine Spielart des Ego-                     das Recht auf Leben und körperliche Unver-
zentrismus, eine „moralische Ostentation“, die                         sehrtheit“ nicht nur zu einem alles überragen-
auf den Ausdruck der eigenen moralischen Über-                         den Grundrecht erklärt, sondern auch all jenen,
legenheit verweist.14 Eine solche Zurschaustel-                        die in der pandemischen Diskussion auf eine Ab-
lung der eigenen moralischen Überlegenheit ist                         wägung mit den anderen Freiheitsrechten dran-
ohne moralisierende und unangemessene Kom-                             gen, unterstellt, dass sie das Leben ihrer Mitmen-
plexitätsreduktion politischer Sachverhalte nicht                      schen gering schätzten. Damit wurde nicht nur
zu haben.                                                              das Gegenüber entmoralisiert, sondern der Spre-
    Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. Wenn                      cher erhöhte sich moralisch selbst. Während, mit
etwa in der Diskussion über die Klimakrise je-                         Ausnahme der AfD, die offiziellen Diskurse im
mand die Weisheit des jüngsten Verfassungsge-                          Parlament noch hinreichend zivilisiert geführt
richtsurteils zur Ausdifferenzierung eines ge-                         wurden, verwandelten sie sich in den sozialen
                                                                       Netzwerken nicht selten über die Moralisierung
12 Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demo-
                                                                       der Positionen in Hass und Hetze.
kratien, Frank­furt/M. 1991, S. 200.                                       Der Moralisierungsüberschuss15 und die nicht
13 Zivilisierte Zivilgesellschaft ist kein Pleonasmus, sondern soll    selten mit ihm verbundene Abwertung Anders-
diese von den „dunklen“ Seiten der Zivilgesellschaft abgren-           denkender wird auch bei der Beurteilung jener
zen, wie sie hierzulande etwa von Pegida, Reichsbürgern oder
                                                                       Bürger deutlich, die, aus welchen rationalen oder
militanten Verschwörungs„theoretikern“ repräsentiert werden.
14 Vgl. Christian Neuhäuser/Christian Seidel, Kritik des Mora-
lismus. Eine Landkarte zur Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Kritik des   15 Vgl. Peter Strohschneider, Zumutungen: Wissenschaft in Zeiten
Moralismus, Berlin 2020, S. 9–34, hier S. 10.                          von Populismus, Moralisierung und Szientokratie, Hamburg 2020.

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APuZ 26–27/2021

irrationalen Gründen auch immer, gegen die Co-                                          POLARISIERUNG
rona-Politik der Bundesregierung und der Lan-
desregierungen protestieren. Der Name war                           Demokratie lässt sich als eine politische Ordnung
schnell gefunden: „Coronaleugner“. Schon vor-                       verstehen, in der die Interessenunterschiede,
her wurden all jene, die gegen alle wissenschaft-                   Weltsichten und voneinander abweichenden Mo-
liche Evidenz die menschengemachte globale                          ralvorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft
Erderwärmung nicht glauben wollen, zu „Kli-                         friedlich prozessiert und Konflikte geschlichtet
maleugnern“. Mit Lügnern und Leugnern lassen                        werden können. Gelingt dies mit mehrheitlicher
sich aber keine Diskurse führen. Sie werden erst                    Zustimmung der Bevölkerung und ohne gewalt-
begrifflich und dann real gesellschaftlich ausge-                   same oder systemfeindliche Dissidenz politischer,
grenzt. Hier soll kein Zweifel aufkommen: Der                       sozialer, religiöser oder ethnischer Minderheiten,
Autor dieses Essays teilt nichts, aber auch gar                     erhält die Demokratie ihre Stabilität, indem sie
nichts von den Positionen der „Klima-“ und „Co-                     immer wieder ihre empirische Legitimität (die
ronaleugner“. Er hält aber die moralische Diskre-                   Zustimmung der Bevölkerung zum System) wie
ditierung für ebenso demokratisch problema-                         die normative Legitimität der demokratischen
tisch wie politisch unklug, da dadurch Menschen                     Ordnung18 unter Beweis stellt.
höchst unterschiedlicher Überzeugungen an den                           Wenn über diese pluralen Ansprüche an die
Rand der demokratischen Gesellschaft gedrängt                       Demokratie zwar konfliktreich, aber in wech-
werden. Demokratie verlangt nach Debatte, nach                      selseitiger Akzeptanz und nach a priori fixierten
der „Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Lu-                        Entscheidungsregeln gestritten und entschieden
xemburg), nach dem „zwanglosen Zwang des                            wird, kann dies die demokratischen Instituti-
besseren Argumentes“ (Jürgen Habermas) – also                       onen und ihre Einbettung in eine lebendige Zi-
nach Inklusion und nicht nach Exklusion.                            vilgesellschaft sogar stärken. Der Übergang von
    Über die moralisierende Herabsetzung der                        einem lebendigen Pluralismus zur Polarisierung
fremden und die Überlegenheitspostulierung der                      vollzieht sich jedoch dann, wenn die Vielzahl ge-
eigenen Positionen wird eine problematische Bi-                     sellschaftlicher Trennlinien fusionieren und sich
narität in den politischen Diskurs eingeführt. Der                  in einer einzigen Dimension bündeln. Dann ver-
binäre Code heißt dann: Wahrheit versus Lüge,                       lieren die cross cutting cleavages ihre moderieren-
Moral versus Unmoral. Pluralistische, abwei-                        de Wirkung, und ein einziger cleavage dominiert
chende wissenschaftliche Positionen werden so                       den politischen Wettbewerb. Im schlimmsten Fall
zu einer Zumutung, die es zu bekämpfen gilt.                        kann dies dazu führen, dass die Gesellschaft in
Diese Form der kommunikativen Praxis droht                          zwei Lager zerfällt. Dann heißt es im populisti-
eine moralisch-diskursive Transformation einzu-                     schen Narrativ „wir“ gegen „sie“ oder, noch zu-
leiten, die Krisennarrative dann in die Form eines                  gespitzter, die „korrupten Eliten“ gegen das „rei-
Freund-Feind-Verhältnisses gießt.16 Dabei sind es                   ne Volk“.19
nicht nur die rechten Verehrer Carl Schmitts, die                       Die oben erwähnte Konfliktlinie zwischen
dies als die Essenz des Politischen begreifen; auch                 weltoffenen Kosmopoliten und nationalstaatsfi-
vermeintlich links-liberale Strömungen17 sehen                      xierten „Kommunitaristen“ hat sich im vergange-
die Ausgrenzung „unmoralischer“ Positionen                          nen Jahrzehnt zunehmend als die entscheidende
und ihrer Vertreter als ihre demokratisch-morali-                   kulturelle Konfliktlinie westlicher Gesellschaften
sche Pflicht an. Der Versuch beider Seiten, mit ih-                 erwiesen. Die – weiterhin relevante – sozioökono-
rer je partikularen Moral komplexe Gesellschaf-                     mische Konfliktlinie zwischen Begüterten und we-
ten zu integrieren, kommt seltsam vormodern                         niger Begüterten deckt sich dabei nicht vollständig
daher – und führt zu Polarisierung, dem dritten                     mit der Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus
Charakteristikum „neuer“ Krisen.                                    und Kommunitarismus. Zwar neigt das Lager der

16 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932    18 Vgl. Sascha Kneip/Wolfgang Merkel, Demokratische
mit einem Vorwort und drei Corollarien, 3. Aufl. der Ausg. von      Legitimität: Ein theoretisches Konzept in empirisch-analytischer
1963, Berlin 1991, S. 20.                                           Absicht, in: Kneip/Merkel/Weßels (Anm. 1), S. 25–58.
17 Die gebräuchliche Benennung „linksliberal“ ist hier fehl         19 Vgl. u. a. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay,
am Platze. Exklusionsdiskurse mögen vieles sein, liberal sind sie   Frank­furt/M. 2016; Cas Mudde/Cristobal Rovira Kaltwasser,
gewiss nicht.                                                       Populism: A Very Short Introduction, Oxford 2017.

10
Zustand der Demokratie APuZ

Bessergestellten zum Kosmopolitismus und je-                        1919 beziehungsweise 1949 zeigen die befrieden-
nes der weniger Privilegierten zum nationalstaatli-                 de Wirkung dieses „demokratischen Klassen-
chen Kommunitarismus, beide Konfliktlinien ten-                     kampfs“22 in Deutschland. Kulturelle Konflikte
dieren also zueinander, sie haben sich aber (noch)                  sind in der Regel anders strukturiert. Bei ihnen
nicht zu einer einzigen Dimension vereinigt. Des-                   geht es ums Ganze, um wahr oder unwahr, Lüge
halb ist die Polarisierung in den meisten westeu-                   oder Wahrheit, Anerkennung oder Nicht-Aner-
ropäischen Gesellschaften auch noch nicht so weit                   kennung, Identität versus Identität. Hier werden
fortgeschritten wie etwa in den USA, wo der ge-                     „grundsätzliche und aus Sicht der Betroffenen un-
sellschaftliche Konflikt durch den polarisierten                    verhandelbare, weil moralisch absolute Werte ver-
Parteienwettbewerb zwischen Republikanern und                       handelt“.23 Purismus erlaubt weder relative Posi-
Demokraten politisch bereits zu einer Dimension                     tionen, noch Kompromisse.24
verschmolzen ist. Allerdings ist die Eindimensio-
nalität der Konfliktstruktur20 keine notwendige                                         SCHLUSS
Bedingung für die Polarisierung einer Gesellschaft.
Dominiert die kulturelle Konfliktlinie, kann sich                   Migrations-, Klima- und Corona-Krise werden
auch in einer zweidimensionalen Konfliktstruktur                    zwar unterschiedlich, aber doch in weit stärke-
eine scharfe Polarisierung herausbilden.                            rem Maße als etwa Wirtschaftskrisen von Verwis-
    In der Forschung wird zwischen demokrati-                       senschaftlichung, Moralisierung und Polarisie-
sierender und demokratiegefährdender – perni-                       rung geprägt. Längst haben sich in den meisten
cious polarization, also bösartiger – Polarisierung                 westlichen Demokratien einander gegenüber-
unterschieden.21 Dass2345 der kulturelle Konflikt (ge-              stehende Diskurslager herausgebildet, die von
genwärtig) besonders schädlich für Demokratie                       Interessengruppen, NGOs, Bewegungen, Par-
zu sein scheint, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass               teien und politischen „Unternehmern“ mit wis-
sozioökonomische Konflikte in der Regel leichter                    senschaftlichen und/oder moralisierenden Argu-
zu bearbeiten sind als kulturelle. Denn bei ihnen                   menten weiter befestigt werden. Die nicht selten
geht es nicht um alles oder nichts, sondern um                      handgestrickten moralischen Positionen reißen
mehr oder weniger. Kompromisse sind möglich,                        die Verständigungsbrücken zwischen den Lagern
wenn nicht gar naheliegend. Das heißt nicht, dass                   zunehmend nieder, Opponenten werden zu Fein-
Verteilungskonflikte dann ein für alle Mal gelöst                   den. Wissenschaft – so der Code – lässt sich eben-
sind. Die wiederkehrenden Kompromisse zwi-                          so wenig verhandeln wie Moral. „Science has told
schen den Konfliktparteien fördern aber wechsel-                    us.“ Minderheitsmeinungen oder Dissidenzen
seitiges Vertrauen und Akzeptanz und sie stabili-                   werden von Mehrheiten und Aktivisten diskur-
sieren die Regeln des Konfliktaustrags. Die Politik                 siv wirkungsvoll amoralisiert. Wir erleben gegen-
des Sozialstaats und das Tarifvertragssystem nach                   wärtig eine Neucodierung politischer Konflikte,
                                                                    die die Demokratie in Deutschland, Europa und
20 Vgl. hierzu Murat Somer/Jennifer McCoy, Transformations          Nordamerika vor neue Herausforderungen stellt.
through Polarizations and Global Threats to Democracy, in: The          Aber Herausforderungen sind noch keine Kri-
Annals of the American Academy of Political and Social Science      sen. Sie werden es erst dann, wenn Politik und
681/2019, S. 8–23; Murat Somer/Jennifer McCoy/Russell E. Luke,
                                                                    Gesellschaft keine demokratieangemessenen Ant-
Pernicious Polarization, Autocratization and Opposition Strate-
gies, in: Anna Lührmann/Wolfgang Merkel (Hrsg.), Resilience of
                                                                    worten finden. Hierfür braucht Demokratie Zeit,
Democracies: Responses to Illiberal and Authoritarian Challenges,   Pluralismus und Dissidenz. Werden ihr diese ent-
Democratization (Special Issue) 2021 (i. E.).                       zogen, verliert sie an Qualität und Resilienz.25 Da-
21 Vgl. Markus Pausch, Polarisation in Pluralist Democracies.       mit stoppen wir nicht die weltweite Erosion der
Considerations about a Complex Phenomenon, Paris 2020.
                                                                    Demokratie, sondern beschleunigen sie.
22 Vgl. Walter Korpi, The Democratic Class Struggle, London
1983.
23 Torben Lütjen, Wie Polarisierung der Demokratie schaden          WOLFGANG MERKEL
kann, in: APuZ 17–18/2021, S. 9–14, hier S. 11.                     ist Professor (em.) für Politikwissenschaft an der
24 Vgl. Markus Pausch, Dialog statt Polarisierung: Europas          Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor (em.)
Demokratie und die lokale Ebene, Österreichische Gesellschaft
                                                                    der Abteilung Demokratie und Demokratisierung
für Europapolitik, ÖGfE Policy Brief 2/2021, S. 3.
25 Vgl. Andreas Schäfer/Wolfgang Merkel, Emanzipation oder
                                                                    am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialfor-
Reaktion: Wie konservativ ist die deliberative Demokratie?, in:     schung (WZB).
Politische Vierteljahresschrift 3/2020, S. 449–472.                 wolfgang.merkel@wzb.eu

                                                                                                                         11
APuZ 26–27/2021

                                                   ESSAY

FREIHEIT, GLEICHHEIT, ZUSAMMENHALT –
 ODER: GEFÄHRDET „IDENTITÄTSPOLITIK“
       DIE LIBERALE DEMOKRATIE?
                                         Jan-Werner Müller

In Deutschland wird viel geklagt über die „Spal-        menhalt an Grundvorstellungen von Freiheit und
tung der Gesellschaft“. Man müsse, so heißt es          Gleichheit rückbinden. Erst dann wird das Wort
allenthalben, unseren Zusammenhalt stärken              nicht zum Kürzel für allen möglichen kommuni-
(wobei das Wort „Zusammenhalt“ in der Bun-              taristischen Kitsch oder Sonntagsreden-Kleister,
desrepublik seit 2015 eine erstaunliche Konjunk-        mit dem sich legitime Konflikte unsichtbar ma-
tur erfahren hat, für die sich keine Parallele in an-   chen lassen.
deren Demokratien finden lässt).01 Auf den ersten           Auch heute gilt noch, woran ein großer Li-
Blick kann niemand etwas gegen die Forderung            beraler wie Ralf Dahrendorf nicht müde wurde,
nach Zusammenhalt haben – außer vielleicht den          seine mitunter zu gemeinschaftsseligen Lands-
Verdacht, viele Reden über Gemeinsinn seien ein         leute zu erinnern: „Konflikt ist Freiheit.“ Er zog
Rennen um die besten Gemeinplätze. Auf den              in seinem 1965 erschienenen Klassiker über „Ge-
zweiten Blick darf man jedoch fragen, wie der           sellschaft und Demokratie in Deutschland“ so-
Ruf nach Kohäsion eigentlich mit einem ande-            gar den weitergehenden Schluss, liberale De-
ren zentralen Begriff im bundesrepublikanischen         mokratie sei „Regierung durch Konflikt“.03 Das
Demokratiediskurs zusammenpasst, für den es in          sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein
anderen Sprachen offenbar gar kein Äquivalent           in einem pluralistischen Gemeinwesen, das ge-
gibt: dem der Streitkultur. Denn, so würde man          rade wegen dieses Pluralismus demokratisch
meinen, nicht der Konflikt an sich ist eine Gefahr      sein muss: Wenn alle identisch dächten, gäbe es
für das Gemeinwesen; es kommt vielmehr ganz             kaum Konflikte – und deshalb wohl auch kei-
darauf an, wie er angezettelt wird und unter wel-       nen Bedarf an (konfliktvermittelnden) demo-
chen Bedingungen er beigelegt werden kann. Das          kratischen Institutionen. Denn deren Verspre-
gilt nicht zuletzt für die viel geschmähte „Identi-     chen ist ja gerade – anders, als dies Advokaten
tätspolitik“, von der Kritiker zum Teil behaup-         einer illiberalen, sprich: nicht-pluralistischen,
ten, sie trage ebenso viel zur Spaltung der Gesell-     Demokratie darstellen –, dass man Differenzen
schaft bei wie der Rechtspopulismus.                    aushält und Konflikte auf friedliche, idealerwei-
                                                        se dezidiert zivilisierte Weise regelt. All dies ge-
           WER HAT ANGST VOR                            schieht bekanntlich primär durch Mehrheitsent-
     IDENTITÄTSPOLITIK – UND WARUM?                     scheidungen bei Wahlen, denen eine ausführliche
                                                        Auseinandersetzung um politische Inhalte vo-
Zusammenhalt, darauf hat der Philosoph Rainer           rausgegangen sein sollte. Ein Clou von Wahlen
Forst hingewiesen, ist kein Wert an sich (bei der       ist nicht zuletzt, dass keine Wahl die letzte sein
Mafia hält man schließlich auch zusammen).02            darf und jeder Konflikt bei der nächsten Abstim-
Zusammenhalt, so Forst, sei vielmehr ein nor-           mung auch wieder aufs Tapet kommen und an-
mativ abhängiger Begriff; soll heißen: Ohne eine        ders entschieden werden kann. Nur so können
Einbettung in einen größeren Zusammenhang               Verlierer – die es in der repräsentativen Demo-
von Werten bleibt der Begriff politisch-moralisch       kratie immer geben wird – die Rolle einer legiti-
unbestimmt. Das bedeutet: Um in einer Demo-             men Opposition übernehmen, die die Regierung
kratie etwas Positives mit ihm anzustellen, soll-       kritisiert, aber nicht das demokratische System
te man eine spezifische Konzeption von Zusam-           an sich u­ ntergräbt.04

12
Zustand der Demokratie APuZ

    Man wirft nun denjenigen, die Identitätspoli-                     Bei alldem gehe das Verbindende in der Ge-
tik betreiben, vor, sie hielten sich – selbstgerecht              sellschaft wie im politischen Diskurs verloren –
und selbstermächtigend – gerade nicht an das de-                  und die Ironie der Geschichte sei zudem, dass die
mokratische Spiel. Anstatt die andere Seite als le-               eigentlichen Opfer der neuen progressiven „Er-
gitimen Partner im Konflikt anzuerkennen, wer-                    weckungsbewegung“ die Arbeiter und die sozi-
de sofort „gecancelt“ – und wer gecancelt ist,                    al Unterprivilegierten seien. Die auf Forderungen
kann auch bei der nächsten Abstimmung nicht                       nach „Buntheit“ um ihrer selbst willen fixier-
mehr gewinnen (oder zumindest an der nächsten                     ten Aktivistinnen und Aktivisten lenkten so sys-
Debatte nicht mehr teilnehmen).1234                               tematisch von der sozialen Frage ab. Und noch
    Zudem heißt es, früher sei die Lösung von                     schlimmer: Manche sich links dünkenden Bürge-
Auseinandersetzungen einfacher gewesen, weil                      rinnen und Bürger richteten sich auf diese Weise
man über materielle Interessen relativ emotions-                  ganz bequem in einem „progressiven Neolibera-
los habe verhandeln können; bei Identitäten hin-                  lismus“ ein: Man sieht sich als fortschrittlich an,
gegen gäbe es keine Kompromisse – und Streit                      weil man Transgendertoiletten befürwortet – wer
ende im Zweifelsfall im totalen Ausschluss und                    die Toiletten dann saubermacht und zu welchem
der moralischen Diskreditierung der anderen                       Stundenlohn, werde angeblich aber gar nicht
Seite. Nicht nur Rechtspopulisten würden heu-                     mehr gefragt.05
te Kulturkampf zu ihrem politischen Geschäfts-                        Diese Vorwürfe sind hinlänglich bekannt
modell machen, auch „narzisstische Linke“ mit                     und werden seit mindestens einem halben Jahr-
ihrem letztlich unstillbaren Verlangen nach An-                   zehnt breit diskutiert – sowohl auf der Sachebene
erkennung vermeintlich immer ausgefallene-                        als auch auf einer Metaebene, auf der man weni-
rer Identitäten (man kommt ja bei den ganzen                      ger einzelne Argumente empirisch und normativ
LGBTwhatever-Abkürzungen gar nicht mehr                           prüft, sondern eher die Qualität der Diskussion
mit … !) machten Moral und Kultur, statt materi-                  an sich evaluiert (etwa indem bemängelt wird, die
eller Interessen, zum Hauptschauplatz der politi-                 Debatte verlaufe „zu aggressiv“). Nur: Sind die
schen Auseinandersetzung.                                         Vorwürfe gegen das, was als Identitätspolitik ge-
    Daran schließt sich eine weitere Unterschei-                  schmäht wird, wirklich berechtigt? Auf welchen
dung an, die in der Kritik der Identitätspolitik                  begrifflichen und empirischen Annahmen beru-
eine wichtige Rolle spielt: Immer rabiater auf-                   hen sie, und wie plausibel sind diese letztlich?
tretende Minderheiten, so heißt es häufig, setz-                  Und schließlich: Wie ist es um Möglichkeiten be-
ten ihre eigenen Gefühle absolut, während De-                     stellt, aus einer unproduktiven Frontstellung mit
mokratie doch vom respektvollen gegenseitigen                     stereotyp wiederholten Anschuldigungen einen
Austausch von Gründen und vernünftigen Ar-                        Streit zu machen, aus dem beide Seiten etwas ler-
gumenten lebe. Zuweilen wird gar eine Parallele                   nen können?
zu Wiedertäufern und anderen religiösen Fanati-
kern gezogen, die „weißen Männern“ ostentati-                                 KRITIK DER KRITIK I:
ve Schuldbekenntnisse abverlangten. Gleichzeitig                        FALSCHE GEGENÜBERSTELLUNGEN
tolerierten die Eiferer aber keine anderen Inter-
pretationen (oder gar Relativierungen) ihrer eige-                Ganz grundsätzlich geht es bei Identitätspolitik,
nen Schuld.                                                       entgegen der Unterstellungen vieler ihrer Kriti-
                                                                  kerinnen und Kritiker, nicht einfach um subjek-
                                                                  tive Gefühlszustände, sondern um die Verwirk-
01 Vgl. Nicole Deitelhoff et al., Gesellschaftlicher Zusam-       lichung von Grundrechten – und zwar auf der
menhalt – Umrisse eines Forschungsprogramms, in: Nicole
                                                                  Basis gesamtgesellschaftlich geteilter Prinzipi-
Deitelhoff/Olaf Groh-Samberg/Matthias Middell (Hrsg.),
Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Ein interdisziplinärer Dialog,
                                                                  en wie Freiheit und Gleichheit. Für Bewegungen
Frank­furt/M.–New York 2020, S. 9–40.                             wie Black Lives Matter und #MeToo sollte das
02 Vgl. Rainer Forst, Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Zur        offensichtlich sein: Niemand will von der Poli-
Analyse eines sperrigen Begriffs, in: Deitelhoff/Groh-Samberg/    zei gepiesackt, malträtiert oder gar getötet wer-
Middell (Anm. 1), S. 41–53.
03 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutsch-
land, München 1965, S. 174.                                       05 Vgl. Nancy Fraser, The End of Progressive Neoliberalism,
04 Vgl. Adam Przeworski, Why Bother with Elections?, Cam-         2. 1. 2017, www.dissentmagazine.org/online_articles/progressi-
bridge 2018.                                                      ve-​neoliberalism-​reactionary-​populism-​nancy-​fraser.

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APuZ 26–27/2021

den; ebenso ist die Forderung, nicht von mäch-         ner Meinung zu sein, ohne aber die andere Seite in
tigen Männern belästigt oder gar vergewaltigt zu       der Debatte moralisch zu disqualifizieren.06
werden, kein skurriler Sonderwunsch einer dau-             Neben der begrifflichen Richtigstellung –
erbeleidigten Minderheit, sondern prinzipiell für      Identitäten und Interessen sind nicht einfach star-
alle nachvollziehbar. Anders gesagt: Es geht bei       re Gegensätze – bedarf es auch aus historischer
der sogenannten Identitätspolitik, die vielleicht      Perspektive einer Korrektur. Denn Identitäten
passender als „Politik für Minderheiten“ be-           spielen nicht erst in jüngster Zeit im politischen
zeichnet werden sollte, immer auch um Prinzipi-        Diskurs eine wichtige Rolle. Bereits Sozialis-
en – und deren Interpretation und Anwendung            ten und Sozialdemokraten verstanden sich nicht
versteht sich bekanntlich nicht von selbst. Mal        nur als eine Art Lobby für Lohnarbeiter, son-
gelten sie nur sehr selektiv, mal verfehlt eine ver-   dern kämpften für die Anerkennung der Wür-
meintlich universelle Anwendung ihre intendier-        de der Verdammten dieser Erde. Und die Kreati-
te ­Wirkung.                                           on von Klassenbewusstsein – als Schaffung einer
    Es geht allerdings auch nicht immer nur um         bestimmten kollektiven Identität – war selbst-
Abwehrrechte gegenüber staatlichen Akteuren            verständlich ebenfalls eine Form von Identitäts­
oder privilegierten Gruppen – es geht auch um          politik.
Anspruchsrechte, die sich etwa in der Forderung            Der Versuch, soziale Fairness gegen Antidis-
nach Teilhabe ausdrücken. Das führt wiederum           kriminierungspolitik auszuspielen, basiert letzt-
dazu, dass selbsterklärte Gegner der Identitäts-       lich auf der irrigen Vorstellung, es handele sich
politik behaupten, die Minderheiten wollten ja         dabei um eine Art Nullsummenspiel. Die Mög-
letztlich nur mehr Macht (würden ihren Willen          lichkeit, eine Gesellschaft als Ganze könnte sen-
zur Macht aber mit allerlei moralistischer Rheto-      sibler für Leiden werden und mehr Solidarität
rik kaschieren). Nun ist der Versuch, mehr Ein-        entwickeln, kommt dann gar nicht erst in den
fluss zu gewinnen, wohl kaum an sich illegitim         Blick. Ebenso sind diejenigen, für die vermeint-
in der demokratischen Politik. Und die Behaup-         lich rein kulturell-moralische Fragen nur vom
tung, die moralisierenden Minderheiten wollten         großen sozialen Ganzen ablenken, unfähig zu se-
nur mehr Macht, während man selber völlig un-          hen, wie sich materielle Nachteile und Diskrimi-
eigennützig mit der Verteidigung abstrakter Ide-       nierungen oft gegenseitig verstärken. Man denke
ale von Universalismus oder Individualismus            nur an den „psychologischen Lohn“ der weißen
beschäftigt sei, ist, gelinde gesagt, ideologiever-    Arbeiter in den USA – also die „Zusatzleistung“,
dächtig. Wer erst gar nicht über Macht reden will,     sich den Schwarzen essenziell überlegen fühlen
hat sie meist selber inne.                             zu dürfen.
    Der Vorwurf, hinter der Identitätspolitik ver-         Noch eine letzte krude Gegenüberstellung
berge sich reines Machtstreben (oder, anders ge-       bedarf der Kritik: die von Gefühlen auf der ei-
sagt: knallharte Interessenpolitik), ist ohnehin       nen und vernünftigen Gründen auf der anderen
nur schwer vereinbar mit der Idee, über Identitä-      Seite. Wut – um nur das offensichtlichste Beispiel
ten ließe sich politisch gar nicht verhandeln, weil    zu nehmen – kommt nicht einfach so über Men-
nur Interessen demokratisch satisfaktions- und         schen; vielmehr hat Wut immer Gründe: Man
kompromissfähig seien. Die simple Gegenüber-           ist verärgert, weil man sich ungerecht behandelt
stellung von Interessen und Identitäten führt so-      fühlt. Wer Emotionen immer sofort vom De-
wieso in die Irre, ebenso wie die Vorstellung, es      battentisch wischt, weil mit ihnen angeblich kei-
hätte ein Goldenes Zeitalter rein rationaler Ver-      ne Verständigung möglich sei, wird gar nicht an
handlungen über materielle Ansprüche gegeben.          den entscheidenden Punkt einer Auseinanderset-
Denn ausdifferenzierte Rechte sind auch eine           zung kommen: den Moment, an dem man etwa
Verteilungsfrage; und bei Fragen, wem was zu-          über einen verletzten Sinn von Gerechtigkeit mit
steht, lassen sich selbstverständlich auch Kom-        prinzipiell für alle nachvollziehbaren Gründen
promisse finden. Die Tatsache, dass viele dieser       reden kann. Am Ende eines solchen Gesprächs
Fragen notwendigerweise moralisch aufgeladen
sind, heißt nicht, dass man nicht respektvoll mit
                                                       06 Dass Fragen moralisch aufgeladen sind, bedeutet nicht,
anderen Ansichten umgehen könnte: So ist es            dass jeder Streit über sie „moralisierend“ sein muss. Siehe Chris-
etwa möglich, über politische Maßnahmen wie            tian Neuhäuser/Christian Seidel (Hrsg.), Kritik des Moralismus,
Affirmative Action in den USA sehr verschiede-         Berlin 2020.

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