AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Venezuela - Bundeszentrale für politische ...
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69. Jahrgang, 38–39/2019, 16. September 2019 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Venezuela Héctor Torres · Albor Rodríguez Stefan Rinke VENEZUELA UND DER MAKEL GESCHICHTE UND DER VERSPÄTETEN ANKUNFT GESCHICHTSBILDER VENEZUELAS: EINE SKIZZE Toni Keppeler · Ivo Hernández MACHTKAMPF UM VENEZUELA. Alejandro Márquez-Velázquez ZWEI PERSPEKTIVEN „FLUCH DER RESSOURCEN“? DIE BEDEUTUNG DES ERDÖLS Nikolaus Werz FÜR DIE VENEZOLANISCHE AUẞ ENPOLITIK UND WIRTSCHAFT INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN VENEZUELAS Minerva Vitti · Andrea Scholz DER KAMPF INDIGENER Claudia Vargas Ribas VÖLKER UM TERRITORIALE AUSWANDERUNGSLAND RECHTE IN VENEZUELA VENEZUELA ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Venezuela APuZ 38–39/2019 HÉCTOR TORRES · ALBOR RODRÍGUEZ STEFAN RINKE VENEZUELA UND DER MAKEL GESCHICHTE UND GESCHICHTSBILDER DER VERSPÄTETEN ANKUNFT VENEZUELAS: EINE SKIZZE Venezuela 2019: Millionen Menschen überleben Venezuela entwickelte sich von einer Peripherie irgendwie das Desaster, versuchen sich am Wi- innerhalb des spanischen Kolonialreichs zum derstand, müssen aber auch geliebte Menschen unabhängigen „Wirtschaftswunderland“ beerdigen oder in die Emigration verabschieden. Lateinamerikas. Zugleich blieb die Geschichte Sie sehnen den Augenblick herbei, in dem des Landes von Widersprüchen geprägt, die die Venezuela das 21. Jahrhundert erreicht. Grundlage für die heutige Situation bilden. Seite 04–10 Seite 31–39 TONI KEPPELER · IVO HERNÁNDEZ ALEJANDRO MÁRQUEZ-VELÁZQUEZ MACHTKAMPF UM VENEZUELA. „FLUCH DER RESSOURCEN“? ZWEI PERSPEKTIVEN DIE BEDEUTUNG DES ERDÖLS FÜR Der Machtkampf in Venezuela zwischen der DIE VENEZOLANISCHE WIRTSCHAFT amtierenden Regierung und der Opposition Venezuela ist eines der am stärksten vom Erdöl ist sowohl eine innervenezolanische als auch abhängigen Länder. Verlief die wirtschaftliche diplomatische Herausforderung. Die Autoren Entwicklung lange positiv, lieferte die Praxis, blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf Staatsfonds aufzulösen oder nicht zur Redu- Hintergründe und mögliche Lösungen. zierung der Abhängigkeit zu nutzen, das Land Seite 11–16 einem Fall der Ölpreise jedoch schutzlos aus. Seite 41–47 NIKOLAUS WERZ AU ẞ ENPOLITIK UND INTERNATIONALE MINERVA VITTI · ANDREA SCHOLZ BEZIEHUNGEN VENEZUELAS DER KAMPF INDIGENER VÖLKER Venezuela war lange Finanzier lateinamerikani- UM TERRITORIALE RECHTE IN VENEZUELA scher Einheitsbestrebungen. Mittlerweile befindet Eine indirekte Folge der Krise in Venezuela sich das Land mit einem amtierenden Präsidenten ist der massive Ausbau des Bergbaus in weiten und einem von über 50 Staaten anerkannten Teilen des Südens des Landes. Davon sind ins- Interimspräsidenten in einer so noch nicht besondere die indigenen Gruppen betroffen, die dagewesenen internationalen Konfliktsituation. dort seit Jahrzehnten erfolglos um eine rechtliche Seite 17–22 Anerkennung ihrer Territorien kämpfen. Seite 49–53 CLAUDIA VARGAS RIBAS AUSWANDERUNGSLAND VENEZUELA KARTE LATEINAMERIKA In den 1980er Jahren wurde Venezuela von Seite 23 einem Einwanderungs- zu einem Auswande- rungsland. Emigrierten Venezolaner bis Anfang KARTE GROẞ KOLUMBIEN der 2010er Jahre vor allem aus wirtschaftlichen Seite 40 Gründen, ist aktuell eine Fluchtbewegung aufgrund der humanitären Lage zu beobachten. KARTE VENEZUELA Seite 24–30 Seite 48
EDITORIAL Am 10. Januar 2019 trat Nicolás Maduro, Nachfolger des sozialistischen Prä- sidenten Hugo Chávez, trotz umstrittener Wahlergebnisse und internationaler Proteste eine weitere Amtszeit als venezolanischer Präsident an. Knapp zwei Wochen später kündigte Juan Guaidó in seiner Funktion als Präsident der von der Opposition dominierten Nationalversammlung an, interimsweise das Amt des Staatsoberhaupts zu übernehmen, bis Neuwahlen stattfinden können. Damit erreichte der innervenezolanische Machtkampf einen vorläufigen Höhepunkt. Mit einem amtierenden Präsidenten und einem weiteren, mittlerweile von über 50 Staaten anerkannten Interimspräsidenten befindet sich das Land in einer international wohl einmaligen Konfliktsituation, deren Ausgang ungewiss ist. Neben die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes trat in den vergangenen Jahren eine humanitäre Krise, die sich in einer massiven Auswan- derung manifestiert. Dass die Entwicklung Venezuelas vorher durchaus auch Erfolge zeitigte, zeigt ein Blick in die Geschichte des Landes: Einst Peripherie des spanischen Kolonialreichs, entwickelte sich Venezuela nach seiner Unab- hängigkeit im frühen 19. Jahrhundert insbesondere durch die Ausweitung der Erdölförderung im 20. Jahrhundert zum „Wirtschaftswunderland“ der Region. Unter Chávez, der sich in die Tradition des Nationalhelden Simón Bolívar stellte, versuchte sich der Staat Anfang des 21. Jahrhunderts als Finanzier latein- amerikanischer Einheitsbestrebungen. Zugleich ist die Entwicklung Venezuelas von Widersprüchen geprägt. Die zunehmende Abhängigkeit vom Erdölexport, der Verfall des demokratischen Systems und historische Konfliktlinien zwischen Stadt und Land sowie Eliten und Unterschichten, die unter den chavistischen Regierungen vertieft wurden, haben die venezolanische Gesellschaft wiederholt vor Herausforderungen gestellt. Die Frage, wie mit diesen umgegangen werden kann, ist nicht neu. Angesichts der massiven Beeinträchtigungen des politischen, wirtschaftlichen und alltäglichen Lebens und einer möglichen Destabilisierung der Region stellt sie sich aktuell mit besonderer Dringlichkeit. Frederik Schetter 03
APuZ 38–39/2019 ESSAY VENEZUELA UND DER MAKEL DER VERSPÄTETEN ANKUNFT Héctor Torres · Albor Rodríguez Die 15-jährige Daniela Salomon lebte mit ihrer Mut- verschmiert, dass man sie kaum auseinanderhalten ter und ihrem kleinen Bruder in einer bescheidenen konnte. „Als die Ärztin mir sagte, dass ich mit dem Wohnung im Bezirk 23 de Enero in San Cristóbal, Schlimmsten rechnen sollte, fing ich an, auf César Hauptstadt des Bundesstaates Táchira, im Westen einzuschlagen. Ich sagte ihm, er sei an allem schuld, von Venezuela.01 Sie hatte gerade die vierte Klasse er habe nicht gut genug auf sie aufgepasst“, erin- des Colegio Simón Bolívar abgeschlossen. Samstags nert sich Danielas verzweifelte Mutter Nohelia. half sie der Mutter in ihrem Kosmetiksalon; sonn- Weder im Falle ihrer Tochter noch bei einem an- tags ging sie mit der Familie in die Kirche, ging spa- deren politischen Mord während der Bürgerproteste zieren oder traf sich gelegentlich mit César, einem in Venezuela in jenen Tagen ist es zu einem Gerichts- jungen Mann von 23 Jahren, der seit Januar 2017 ihr verfahren gekommen, bei dem die Schuld festgestellt Freund war. Am Nachmittag des 30. Juli machte sie und jemand verurteilt worden wäre. Die Gruppen sich auf den Weg zu César. bewaffneter Motorradfahrer in Zivilkleidung sind An diesem Sonntag hatte Nicolás Maduro die inzwischen fester Bestandteil des chavistischen Un- Bildung einer Verfassunggebenden Versammlung terdrückungssystems und bekannt unter der Be- veranlasst. Die Opposition lehnte dies gemein- zeichnung colectivos. Sie handeln unter dem Schutz sam mit vielen anderen lateinamerikanischen der Nationalgarde und der Polizei, und haben schon Staaten ab. Dennoch verfolgte Maduro gegen jede Razzien in Gebäuden durchgeführt, von denen Wi- Vernunft weiter seinen Plan, was zu Protesten im derstand gegen die polizeiliche Repression ausgeht.02 ganzen Land führte, auf die er wiederum mit Re- pression reagierte. WEGE ZUM „CARACAZO“ Auf der Straße spürte Daniela die angespann- te Situation. Als sie ihre Mutter anrief und ihr da- Der venezolanische Intellektuelle Mariano Picón von erzählte, sagte diese ihr, sie solle heimkom- Salas sagte einst, Venezuela sei erst nach dem Tod men. Zusammen mit César machte sich Daniela des 1908 an die Macht gelangten Diktators Juan auf den Rückweg. Unterwegs stießen die beiden Vicente Gómez im 20. Jahrhundert angekommen. auf eine Barrikade. Dort protestierte eine kleine Gómez regierte sein damals noch sehr provinzi- Gruppe gegen die Wahl, bis plötzlich zwei Klein- elles Land mit eiserner Faust, bis sein Tod 1935 busse und vermummte Personen auf Motorrädern den Weg frei machte für die langsame Entstehung mit verdeckten Kennzeichen auftauchten und auf eines modernen Staates, der später auch zu einer die Protestierenden schossen. Hand in Hand rann- stabilen Demokratie werden sollte. Es war eine ten Daniela und César davon, und als sie stürzte, Entwicklung voller Schwierigkeiten, Verschwö- dachte der junge Mann, seine Freundin sei gestol- rungen und Unfälle, die ihren vorläufigen Höhe- pert. Als er sich umdrehte, um ihr zu helfen, sah punkt und Schluss nach 23 Jahren finden sollte, er das Blut. Er erschrak, hob sie auf und suchte in als es zum Sturz von Marcos Pérez Jiménez kam, den Gassen eines nahen Wohngebiets Schutz vor Venezuelas zweitem Diktator im 20. Jahrhundert. den Kugeln. Er wollte sie in ein Krankenhaus brin- Es ist unter anderem dem beim Pakt von Pun- gen, aber es kamen weder Taxis noch Privatfahr- to Fijo festgeschriebenen politischen Konsens der zeuge vorbei, bis schließlich eine Frau ihm anbot, damaligen Mehrheitsparteien zu verdanken, dass sie in ihrem Auto mitzunehmen. Als César Dani- Venezuela sich zu einer soliden Demokratie ent- ela in das Krankenhaus trug, waren beide so blut- wickeln und eine wirtschaftliche Entwicklung er- 04
Venezuela APuZ reichen konnte, die mit großen Erfolgen, aber zuelas ein altmodischer Militarismus und Cau- auch mit der Vernachlässigung von Idealen ver- dillismus jeden Fortschritt. Mit der Begnadigung bunden war. Die Verstaatlichung der Ölindustrie des Anführers des ersten Putschversuches, einem und die steigenden Ölpreise Mitte der 1970er Jah- damals weitgehend unbekannten Oberstleutnant re bescherten dem Staat ein Vermögen, das schutz- namens Hugo Chávez, setzte ab 1994 ein Pro- los der Korruption jener Personen ausgeliefert war, zess ein, der noch lange nicht abgeschlossen ist, die schon damals anfingen, Einnahmen aus staatli- das alte Venezuela jedoch schon längst zerstört chen Ressourcen in die eigene Tasche umzuleiten. hat. Bei bestimmten Teilen der Bevölkerung machte Die Präsidentschaftswahlen 1998 waren für sich daher der Eindruck breit, dass sie von diesem das Land von geradezu schicksalhafter Bedeu- Reichtum ausgeschlossen waren, und als unsichtba- tung. Es traten an: eine frühere Schönheitsköni- re Vertreter der Nation nur alle Jahre wieder zum gin, ein schillernder Provinzmillionär, ein voll- Wählen aufgefordert wurden. So stauten sich bei kommen uncharismatischer Vorsitzender der diesen Menschen Ressentiments auf, die eine radi- Partei Acción Democrática, die sich am Tief- kale Linke für sich zu nutzen wusste, die lange Zeit punkt ihrer Entwicklung befand, sowie Hugo ein Schattendasein geführt hatte, da ihr eine große Chávez, der agitierend durchs Land zog und sich Erzählung wie die kubanische Revolution fehlte. die Verbitterung vieler Menschen zunutze mach- Die Entfremdung der politischen Eliten von te, indem er gegen die „verfaulten Eliten“ wet- den demokratischen Idealen, die das politische terte und versprach, das politische Establishment System mit Leben erfüllt hatten, sowie das Han- hinwegzufegen. Mit dem Versprechen, alles zu deln derjenigen, die der wachsenden Abneigung ändern, konnte niemand mehr seinen Sieg aufhal- von Seiten der Besitzlosen weiter Nahrung gaben, ten, zumal gewisse wirtschaftliche und intellek- führten am 27. Februar 1989 zu einer sozialen Ex- tuelle Eliten ihn förderten und versprachen, sie plosion, die unter der Bezeichnung „Caracazo“ in würden ihn schon kontrollieren können. die Geschichtsbücher einging. Ausgangspunkt war Chávez trat wie eine Mischung aus evangeli- eine Erhöhung der Benzinpreise, die zunächst in kalem Prediger, Caudillo und Fernsehmoderator Guarenas, 50 Kilometer östlich von Caracas gele- auf, und zwang dem Land seine unberechenba- gen, Proteste hervorrief. Es kam zu Vandalismus, ren und willkürlichen Launen auf. Er verbünde- die Demonstrationen breiteten sich auf Caracas te sich mit den am stärksten benachteiligten Be- und andere Städte aus, bis die Armee sie schließlich völkerungsteilen und schwang sich zum Vertreter niederschlug. Danach war die Demokratie dauer- ihrer Interessen auf. Dabei nährte er Rachegelüs- haft beschädigt, und ihre führenden Persönlich- te, die als Forderungen nach sozialer Gerechtig- keiten waren bereits so korrumpiert, dass sie nicht keit maskiert daherkamen. Da für ihn die Loyali- mehr verstanden, was im Land vor sich ging. Der tät von Personen wichtiger als ihre Qualifikation Schaden wurde immer größer, bis es 1992 zu zwei war, öffnete er Tür und Tor für die Bildung von Putschversuchen von Militärs kam, die zwar schei- Machteliten, die eine Korruption von unvorstell- terten, aber zeigten, dass die Bevölkerung keinen baren Ausmaßen in den Verwaltungsapparat tra- Grund sah, eine Demokratie zu unterstützen, von gen sollten. Hinzu kam die enge Beziehung zum der sie sich nicht geschützt fühlte. Kuba Fidel Castros, womit das Ende der venezo- Obwohl sich das 21. Jahrhundert am Hori- lanischen Demokratie besiegelt war und das Land zont abzeichnete, blockierte in jener Phase Vene- in eine tiefe Krise stürzte. „PA’FUERA“ 01 Vgl. dazu und im Folgenden Jacqueline Goldberg, The Two Wounds of Nohelia Machado, 3. 6. 2019, www.lavidade- nos.com/the-two-wounds-of-nohelia-machado. Die Geoinformatikerin Ana María Wessolossky 02 Vgl. Crackdown on Dissent. Brutality, Torture, and zögerte nicht, sich dem Streik in der Ölindust- Political Persecution in Venezuela, 29. 11. 2017, www.hrw.org/ rie anzuschließen, der im Dezember 2002 seinen report/2017/11/29/crackdown-dissent/brutality-torture-and- Anfang nahm.03 Um gegen das Regime zu protes- political-persecution-venezuela; United Nations Office of the High Commissoner for Human Rights, Human Rights in the Bolivarian Republic of Venezuela. Advance Unedited Version, 03 Vgl. dazu und im Folgenden Ana María Wessolossky, 5. 7. 2019, S. 5 ff., www.ohchr.org/EN/Countries/LACRegion/ Un círculo que se cerró 13 años después, 22. 11. 2017, www. Pages/VEReportsOHCHR.aspx. lavidadenos.com/un-circulo-que-se-cerro-13-anos-despues. 05
APuZ 38–39/2019 tieren, legte sie ihre Arbeit in der Forschungsab- Strafgesetzen gar nicht existiert, zu fünf Jahren teilung des staatlichen Erdölunternehmens Petró- Haft verurteilt.04 leos de Venezuela nieder. Diese besondere Form der Rechtsprechung Chávez regierte das Land, indem er mit sei- wurde zum Vorbild für andere Institutionen des ner Präsenz das öffentliche Leben dominierte. In Chavismus. So tauchten im August 2015 Agenten seinem sonntäglichen Radio- und Fernsehpro- des venezolanischen Geheimdienstes in der Woh- gramm verkündete er Dekrete, kritisierte Gegner nung von Andrea González auf und verlangten, und erzählte Anekdoten aus seinem Leben. Mit sie solle zu dem Tötungsdelikt an Liana Hergueta dem ihm eigenen Gerechtigkeitssinn enteignete er aussagen, mit der sie befreundet war und die ein Unternehmen und Grundbesitzer, rief zur Verlet- gewisser José Pérez Venta ermordet haben soll.05 zung von Privateigentum auf und vereinigte alle Andrea sah keinen Grund, misstrauisch zu wer- Staatsgewalt auf seine Person. Außerdem entließ den und begleitete die Beamten zum Sitz der poli- er in aller Öffentlichkeit Arbeitskräfte. Dies galt tischen Polizei, wo man sie anschließend 859 Tage auch für beinahe 15 000 Personen, die in der Erd- lang festsetzte. Wenige Tage nach ihrer „Festnah- ölindustrie arbeiteten und so wie Ana María an me“ beschuldigte sie der damalige Gouverneur dem Streik teilgenommen hatten: Einzeln nann- des Bundesstaates Aragua, Tareck El Aissami, in te Chávez in seiner Fernsehshow die Namen der einer Pressekonferenz, ein Verbrechen zu planen: Entlassenen, stieß dazu einen Pfiff aus und rief Sie wolle gemeinsam mit ihrem Freund Dany dann: „pa’fuera“ – „raus mit dir“. Seine Anhän- Abreu die Tochter des damaligen Parlamentsprä- ger jubelten bei jedem Namen. sidenten, Daniela Cabello, ermorden. Als einzi- Am 9. Februar 2003 war Ana María an der gen Beweis präsentierte er der Öffentlichkeit eine Reihe: Sie hatte bereits vor fünf Tagen ihre Stel- Aussage des mutmaßlichen Mörders von Liana le verloren, aber nun beschuldigte Hugo Chávez Hergueta. sie des Terrorismus, und das nur, weil er sie auf „Du musst kein Politiker sein, damit sie dich einem Foto auf der Titelseite einer Zeitung gese- einsperren. Wenn du in ihren Plan passt, egal wie hen hatte. Auf dem Bild waren noch mehr Per- absurd dieser Plan dir auch vorkommt, sper- sonen, und es hätte jeden von ihnen treffen kön- ren sie dich ein. Gewissenlos sind die, es ist ih- nen, denn es stellte eine Menschenmenge dar, die nen völlig egal, und es wird ihnen garantiert nicht gegen die Regierung demonstriert hatte und in leidtun. Sie lochen dich einfach ein, so geht es in der Ana María mit einem Transparent zu sehen Venezuela unglaublich vielen Leuten“, sagt Ale- war. jandra, die Schwester von Andrea. Es war eine Praxis von Chávez, in seinem Sonntagsprogramm Personen eines Vergehens zu BRÖCKELNDE FASSADEN beschuldigen und gleich auch die entsprechen- de Strafe vorzuschlagen. So erging es der Richte- Durch den rapiden Rückgang der Erdöleinnah- rin María Lourdes Afiuni, die im Dezember 2009 men litt auch die Beliebtheit eines Politikers, der veranlasste, dass der festgenommene Unterneh- Ressourcen verteilte, ohne Reichtum zu produ- mer Eligio Cedeño vorläufig auf freien Fuß ge- zieren. Doch Chávez‘ Krankheit holte ihn noch setzt wurde, nachdem die UN-Arbeitsgruppe ge- schneller ein. Er konnte sich noch um eine vierte gen willkürliche Inhaftierungen seine Freilassung Präsidentschaft bewerben, wobei er im Laufe der empfohlen hatte. Wutentbrannt verlangte Chávez Kampagne sowohl seine Gesundheit als auch die im Radio und Fernsehen, die Richterin 30 Jahre verbliebenen Mittel der Staatskasse opfern sollte. lang ins Gefängnis zu sperren. Ohne Haftbefehl Ehe er sich in einer dramatischen Fernsehanspra- und ohne Gründe zu nennen, holten Polizisten che von der politischen Bühne verabschiedete, sie wenig später aus ihrer Wohnung und brach- bat er seine Anhänger, für „den Genossen Nicolás ten sie in ein Frauengefängnis außerhalb von Ca- racas, wo sie entwürdigend behandelt und nach eigenen Angaben sogar vergewaltigt wurde. Sie 04 Vgl. UN Expert Condemns New Sentence for Jailed Venezu- elan Judge as „Another Instance of Reprisal“, 26. 3. 2019, https:// wurde im Juni 2013, drei Monate nach dem Tod news.un.org/en/story/2019/03/1035451. von Chávez, aus humanitären Gründen entlassen, 05 Vgl. dazu und im Folgenden Johanna Osorio Herrera, 859 doch der Prozess gegen sie lief weiter. 2019 wurde Days Without Seeing the Sky, 28. 2. 2019, www.lavidadenos.com/ sie für ein Vergehen, das in den venezolanischen 859-days-without-seeing-the-sky. 06
Venezuela APuZ Maduro“ zu stimmen. Es war sein letzter öffent- ge.06 Damit wurde deutlich, was schon immer sei- licher Auftritt, ehe er nach Kuba reiste, um seine ne Haltung gewesen, aufgrund der Unterstüt- Krebserkrankung behandeln zu lassen. Er sollte zung der Wählerschaft bis dahin aber nie offen nicht mehr lebendig zurückkehren. zutage getreten war: Im chavistischen Projekt gab Kaum merklich trat Venezuela genau in diesem es keine Option, die Macht auf friedlichem Wege Moment in die düsterste Phase dieses schmerzli- abzugeben – unter keinen Umständen. chen Kapitels seiner Geschichte ein, wobei noch Je mehr Zeit verging und je komplizierter die nicht klar ist, ob am Ende der Bankrott des cha- wirtschaftliche Lage im Land wurde, desto auto- vistischen politischen Projekts oder jener des gan- ritärer wurde Maduro, desto stärker und kom- zen Landes stehen wird. promissloser reagierte er auf Widerspruch und In seiner letzten Kampagne im Dezember Proteste. Zugleich heizten seine wirtschaftlichen 2012 erreichte Chávez 8 Millionen Stimmen, der Maßnahmen die Inflation an, verschärften die Ver- Oppositionskandidat Henrique Capriles Radon- sorgungslage, verschlimmerten die Korruption ski brachte es auf 6,5 Millionen. Es war spürbar, und verschlechterten so die Lebensqualität weiter. dass die Unterstützung für das chavistische Pro- Die Regale der Supermärkte und Apotheken jekt langsam zurückging, doch mit dem Amts- leerten sich zusehends. Die durch die Zerstörung antritt Maduros im März 2013 beschleunigte der nationalen Produktion entstandenen Proble- sich dieser Niedergang enorm. Nur einen Monat me wurden noch schlimmer, weil die Regierung später verloren die Chavisten bei den Präsident- die verbliebenen, mehr oder weniger gut bestück- schaftswahlen 500 000 Stimmen. Maduro wurde ten Geschäfte beschuldigte, Waren zu horten, um mit knapp zwei Prozentpunkten Vorsprung zum das Land zu destabilisieren und bei jeder Schlan- Präsidenten ernannt, was seine relativ schwache ge vor einem Supermarkt oder einer Bäckerei den politische Position offenbarte. Staatsstreich fürchtete. Die Reaktion des Regimes Nun bemerkten die Menschen in Venezuela, war kafkaesk: Es verbot die Schlangen und die was sich hinter den teuren Shows mit ihrem im- leeren Regale, woraufhin die Händler, um nicht mer gleichen Moderator verbarg. Ohne Budget ins Visier der Behörden zu geraten, anfingen, die und ohne Popularität wurden hinter der Fassade Produkte am vorderen Rand der Regalbretter zunehmend die Mauern der Gefängnisse sicht- aufzureihen. Dahinter war Leere. bar, ebenso der Tod vieler Menschen, etwa bei Doch bei manchen Regalen war es nicht mög- den Protesten im April 2013, die mit einer Bilanz lich, das Vorhandensein von Ware zu simulieren von 7 Toten, 61 Verletzten und 135 Festnahmen – zum Beispiel, wenn darauf Medikamente stehen endeten. Zugleich wuchs die Gewissheit in der sollten, die teuer in Dollar bezahlt werden muss- chavistischen Wählerschaft, dass der neue Amts- ten und über das öffentliche Gesundheitssystem inhaber nicht in der Lage sein würde, den Fort- verteilt wurden. Ihr Fehlen brachte viele Patien- bestand der „bolivarianischen Revolution“ zu ten, die nun nicht mehr versorgt waren, dazu, das sichern. Land zu verlassen, um zu überleben. Der Wendepunkt war kaum eineinhalb Jahre So war es auch im Falle der zwölfjährigen Zwil- später erreicht. Bei den Parlamentswahlen vom linge Sebastián und Jesús Navas, die an der erbli- 6. Dezember 2015 sollte das Oppositionsbünd- chen Gerinnungsstörung Hämophilie B litten.07 nis Mesa de la Unidad Democrática 7,7 Millio- Der Kühlschrank der Familie Navas war nicht mit nen Stimmen erzielen, die chavistische Koaliti- Lebensmitteln gefüllt, sondern mit Faktor IX, dem on Gran Polo Patriótico Simón Bolívar hingegen Medikament der Zwillinge. Alle drei Monate fuhr nur 5,6 Millionen Stimmen. Die Chavisten hat- ihr Vater, Rafael, die 365 Kilometer von Barquisi- ten innerhalb von weniger als drei Jahren beinahe meto, dem Wohnort der Familie, nach Caracas, um 2,5 Millionen Stimmen verloren. dort bei der venezolanischen Sozialversicherung Die Opposition erhielt bei diesen Wahlen 112 von 167 Sitzen der Nationalversammlung, eine 06 Nicolás Maduro, zit. in: Maduro: „No voy a permitir que Mehrheit, mit der sie die Kontrolle über die ge- la derecha consolide su golpe fascista electoral“, 16. 12. 2005, www.teledoce.com/telemundo/internacionales/maduro-no-voy- samte Gesetzgebung übernehmen konnte. Nico- a-permitir-que-la-derecha-consolide-su-golpe-fascista-electoral. lás Maduro war außer Rand und Band und droh- 07 Vgl. dazu und im Folgenden Julett Pineda, La vida que espe- te, er werde „nicht zulassen, dass die Rechte ihren ra al atravesar el inframundo, 11. 8. 2019, www.lavidadenos.com/ faschistischen Wahl-Staatsstreich zu Ende“ brin- la-vida-que-espera-al-atravesar-el-inframundo. 07
APuZ 38–39/2019 das Medikament abzuholen. Dadurch konnte die Prepara Familia gibt an, dass 2017 aufgrund von Familie daheim 120 Dosen für die beiden Kinder Infektionen 24 chronisch nierenkranke Patientin- bereithalten, was 90 Tagen Behandlung entsprach. nen und Patienten verstorben sind. Allein im Mai Allerdings erhielt Rafael innerhalb kurzer Zeit im- 2019 starben vier krebskranke Kinder, die drin- mer weniger Dosen, bis man ihm schließlich im gend eine Knochenmarktransplantation benötig- Dezember 2017 nur noch zwei Faktor-IX-Dosen ten, die sie aber – auch aufgrund fehlender medizi- gab, mit dem Kommentar: „Bewahren Sie das für nischer Infrastrukturen – nie bekamen: Giovanny den Notfall auf, es gibt keinen Nachschub mehr.“ Figuera (6 Jahre alt), Robert Redondo (7), Yeider- Und der Notfall trat ein. Sebastián erlitt, beth Requena (8) und Erick Altuve (11).08 nachdem er beim Spielen mit seinen Freunden ge- stürzt war, an seinem linken Bein eine Hämarth- WAHLESKALATIONEN rose am Knie, die mangels Medikamenten nicht rechtzeitig behandelt werden konnte. Das Gelenk Seit dem Moment, als sie die Wahlen 2015 ver- schwoll an wie ein Tennisball, und es sah aus, als loren hatte, suchte das chavistische Regime nach würde jeden Moment die Haut platzen. Möglichkeiten, die Nationalversammlung als Ge- Die venezolanische Hämophiliegesellschaft gibt setzgebungsorgan zu entmachten. Daher rief die- an, dass seit 2016, dem Jahr, in dem die Faktor-IX- se im April 2017 zu einem Protestmarsch auf, was Lieferungen zum Erliegen kamen, in Venezuela in der Bevölkerung enormen Anklang fand und mindestens 44 Menschen an ihrer Hämophilie ge- zu einer vier Monate langen, enormen Welle von storben sind. Allein im ersten Halbjahr 2008 star- Protesten führte, in deren Verlauf Venezuela alle ben acht Personen, die an der gleichen Erkrankung nur erdenklichen Formen der Repression erleben litten wie Jesús und Sebastián. Um nicht ebenfalls konnte: Menschen wurden öffentlich verprügelt, in diese Statistik einzugehen, entschied sich die Fa- auf der Straße ermordet oder entführt; in Zivil ge- milie Navas, zu emigrieren. Doch sie konnten nicht kleidete Bewaffnete gingen auf Bürgerinnen und alle gemeinsam gehen, sodass Rafael schließlich im Bürger los, es gab illegale Razzien, Gebäude wur- März 2018 allein mit seinen beiden Söhnen die den zerstört, es wurde gefoltert und geplündert. Staatsgrenze zwischen Venezuela und Kolumbien Die Proteste 2013 hatten mit einer Bilanz von auf der Simón-Bolívar-Brücke überquerte. Sebas- sieben Toten geendet, die Proteste 2014 diese Zahl tián konnte nicht mehr gehen und bewegte sich im auf 43 erhöht. 2017 kam es zu rund 4000 Verhaftun- Rollstuhl fort. Der Vater gab ihm ein Kissen, damit gen und 120 Morden. Zehn dieser Opfer wurden, so er sein Knie vor den Menschenmassen, die über die wie auch Daniela Salomón, am 30. Juni 2017 getötet, Brücke strömten, schützen konnte. dem Tag der Wahlen zur Verfassunggebenden Ver- Sie blieben in Zipaquirá, einem Ort im Nor- sammlung. Zu den Unregelmäßigkeiten des Wahl- den der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. verfahrens gehörte, dass es kein allgemeines, sondern Dort erhielten die Söhne die lebensrettende Be- ein sektorenspezifisches Wahlrecht gab, und dass handlung. Vier Monate später die legte Mutter, keine Ratifikation durch die Wahlberechtigten vor- Kanthaly Ordoñez zusammen mit ihrer vierjäh- gesehen war. Sogar die Vertreter des Unternehmens rigen Tochter die 1090 Kilometer zurück, die sie Smarmatic, das bis zu diesem Jahr das elektronische von ihren Lieben trennten. Wahlsystem zur Verfügung gestellt hatte, klagten Längst nicht alle Kinder haben so ein Happy über Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang. End erlebt. Das Krankenhaus José Manuel de Los Die Verfassungsgebende Versammlung, die Ríos, das die wichtigste kindermedizinische Ab- letztlich unter der ausschließlichen Kontrolle der teilung Venezuelas beherbergt, ist zum Schauplatz Parteigänger von Maduro stand, berief die Präsi- zahlloser tragischer Geschichten geworden. Vom dentschaftswahlen von 2018 ein. Dabei waren die 1. Dezember 2018 bis zum 8. Januar 2019 starben wichtigsten Oppositionsfiguren inhaftiert oder wur- fünf Kinder zwischen fünf Monaten und 14 Jah- ren, weil sie Breitbandantibiotika benötigten, die 08 Vgl. Jesús Barreto, Niño del J. M. de los Ríos falleció luego im Krankenhaus fehlten. Im ersten Quartal 2019 de esperar nueve años por trasplante, 11. 7. 2019, https://elpita- zo.net/salud/nino-del-jm-de-los-rios-fallecio-tras-esperar-nueve- starben außerdem Mariángel Romero, Frandy- anos-por-trasplante; Armando Altuve, Murió cuarto niño que son Torrealba, Harold Alcalá, Víctor Pacheco und requería trasplante medular en el J. M. de los Ríos, 26. 5. 2019, Nohemí Oliveros, allesamt Patienten der Abtei- https://elpitazo.net/salud/murio-cuarto-nino-que-requeria- lung für Nierenkrankheiten. Die Organisation trasplante-medular-en-el-j-m-de-los-rios. 08
Venezuela APuZ den festgesetzt, einigen wichtigen politischen Partei- die Bürgerinnen und Bürger auf, in ganz Venezu- en wurde die Teilnahme verweigert und eine externe ela zu demonstrieren, um Maduro so unter Druck Wahlbeobachtung und -beurteilung durch Vertreter zu setzen, dass er seine Usurpation beendete. Die internationaler Organisationen fand nicht statt. Menschen folgten dem Aufruf und strömten in die Nachdem im Mai 2018 nur zwei wenig re- Straßen, die FAES übernahmen gemeinsam mit präsentative Oppositionskandidaten angetreten Bewaffneten in Zivilkleidung und vermummten und mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigten Motorradfahrern in der nun einsetzenden neuen den Urnen ferngeblieben waren, erklärte der Na- Unterdrückungswelle die Hauptrolle. tionale Wahlrat Nicolás Maduro zum Sieger. In Während Guaidó inmitten einer Massende- vielen Ländern der Region wurden die Wahler- monstration und ohne Zwischenfälle in Caracas gebnisse ungeduldig erwartet. Der entscheidende seinen Amtseid als Interimspräsident ablegte, er- Tag war der 10. Januar 2019, der Tag, an dem das lebten die Menschen im Zentrum von San Cristó- Ende der Amtszeit von Nicolás Maduro vorgese- bal im Bundesstaat Táchira erneut grauenhafte hen war. Als dieser die Petitionen von Dutzenden Dinge: Der imposante Oppositionsmarsch, der den Staaten, die ihn aufgefordert hatten, keine weite- Bolívar-Platz erreicht hatte, löste sich unter den re Amtszeit anzutreten, ignorierte und erneut die Schüssen von Bewaffneten in Zivilkleidung und Macht ergriff, führte dies dazu, dass diese Länder Mitgliedern der FAES auf. Alle rannten und such- ihn nicht (mehr) als Präsidenten anerkannten und ten Deckung. In kürzester Zeit wurden Dutzende er fortan als Usurpator bezeichnet wurde. Verletzte in das Zentralkrankenhaus der Stadt ge- In der Folge kam es zu Protesten in verschiede- bracht – allesamt von Kugeln getroffen. Es gingen nen venezolanischen Städten, insbesondere in den Gerüchte um, zwei von ihnen seien gestorben. Armenvierteln, wo die Menschen am meisten unter Lorena Evelyn Arraíz, Journalistin mit mehr den Folgen seiner Wirtschaftspolitik zu leiden ha- als einem Jahrzehnt Erfahrung als Hochschul- ben. Nacht für Nacht kam es in jenen ersten Janu- lehrerin an der Universidad de Los Andes, kam artagen zu immer größeren Demonstrationen der in einem Chat unter Journalisten an die Namen Opposition. Maduro schickte daraufhin die Fu- der Verstorbenen. Nachdem sie Nachrichten von erzas de Acciones Especiales (FAES) in die Viertel, besorgten Studierenden erhalten und den Na- eine schnelle Einsatztruppe der Nationalpolizei, men eines der beiden Verstorbenen korrigiert deren Mitglieder in schwarzer Kleidung, maskiert hatte, musste sie feststellen, dass der andere, Lu- und mit Gewehren bewaffnet daherkommen und igi Guerrero, 24, ihr Student gewesen war. Als er auf dem Ärmel ein Totenkopfsymbol tragen. Syste- starb, befand er sich in der letzten Woche seines matisch unterdrückte die FAES Proteste, indem sie Studiums. Angesichts der für ihn unerträglichen die Viertel übernahm, in denen die Demonstratio- Situation im Land hatte er überlegt, mit seiner nen geplant worden waren und mithilfe von Vertei- Mutter und seiner Großmutter nach Kolumbien lungslisten des staatlichen Lebensmittelprogramms zu gehen. Er hatte den beiden sogar vorgeschla- jene Anwohner, die an den Protesten teilgenommen gen, zuerst dorthin zu gehen, doch die Mutter hatten, in ihren Wohnungen suchten. Es gab mehre- wollte lieber warten, bis er seinen Abschluss hat- re Tote, einige Menschen verschwanden spurlos.09 te, um dann gemeinsam auszuwandern.10 Unterdessen wählte die Nationalversammlung Samuel Enrique Méndez hingegen hatte gar den Abgeordneten Juan Guaidó als ihren Präsi- nicht daran gedacht, das Land zu verlassen, ob- denten für die 2019 beginnende Legislaturperio- wohl sein Vater, der in Peru lebte, ihn immer wie- de. Angesichts des Machtvakuums, das durch das der darum gebeten hatte. Doch eine Entscheidung Fehlen eines Staatspräsidenten entstanden war, wurde den beiden aus der Hand genommen. Samu- erklärte dieser sich zum Interimspräsidenten, bis el lebte in der Stadt La Victoria, 90 Kilometer von wieder die Bedingungen hergestellt seien, um Caracas entfernt. Auch dort folgten die Menschen neue Wahlen zu organisieren. Dabei unterstützte am 30. April dem Aufruf von Guaidó, auf die Stra- ihn die Mehrheit der europäischen und amerika- ße zu gehen, um einen gerade stattfindenden Mili- nischen Staaten. Am 23. Januar 2019 rief Guaidó täraufstand zu unterstützen. Es entstand eine Men- schenmenge, die Flaggen trug, pfiff und auf Töpfe 09 Vgl. Génesis Carrera Soto, The War That Wouldn’t Let Me Get Home, 6. 5. 2019, www.lavidadenos.com/the-war-that- 10 Vgl. Lorena Evelyn Arráiz, No pueden seguir matándolos, wouldnt-let-me-get-home. 4. 2. 2019, www.lavidadenos.com/no-pueden-seguir-matandolos. 09
APuZ 38–39/2019 schlug, um den Aufstand zu unterstützen. Immer zeugen, einem Ort im Bundesstaat Zulia, der be- mehr Tränengas lag in der Luft. Die Repression un- sonders unter der mangelnden Stromversorgung ter dem Kommando zivil gekleideter Bewaffneter leidet. Im Juli 1914 hatte dort die venezolanische verwandelte den Protestmarsch in einen Höllen- Erdölförderung ihren Anfang genommen. trip. Die Zivilen schossen nicht nur, sondern ergrif- Luz Marina Pavón kann etliche Nachbarn nen- fen und verprügelten jeden jungen Menschen, den nen, die in den letzten Monaten aus ihrer Straße sie nur zu fassen bekamen – unter den Augen der weggezogen sind. Mene Grande ist ein Dorf, das Polizei, die sich zurückzog und sie gewähren ließ. sich langsam entvölkert. Nach den zwei Stromaus- Einer von jenen, die diesen Gruppen nicht fällen, die weite Teile Venezuelas fünf Tage lang ins entkamen, war Samuel. Sie prügelten gnadenlos Dunkel getaucht haben, ist die Versorgung vieler- auf ihn ein und brachten ihn dann in das Wohn- orts nicht mehr so verlässlich wie vorher. In einigen gebiet Ciudad Socialista La Mora. Zwei Stunden, Orten nimmt der Notstand extreme Ausmaße an. nachdem sie ihn entführt hatten, übergaben sie ihn Luz Marina gibt an, sie habe bis zu 14 Tage Strom- seinen Freunden, durchgeprügelt und blutüber- ausfall ertragen müssen, und das bei Temperaturen strömt, ohne Hemd und ohne Schuhe. Aus nächs- von mehr als 30 Grad. Nur der jüngste ihrer fünf ter Nähe hatten sie ihm in die Brust geschossen Söhne wohnt noch bei ihr. Die anderen vier leben und so seine Wirbelsäule zerstört. Seine Freun- verstreut in der kolumbianischen Hauptstadt Bo- de riefen einen Rettungswagen, doch sie warteten gotá und bitten ihre Mutter unablässig, diesen dem vergebens auf ihn. Als sie Samuel selbst ins Kran- Untergang geweihten Ort zu verlassen, an dem kenhaus gebracht hatten, war er schon tot.11 einst die Zukunft Venezuelas beginnen sollte.13 Außerhalb von Caracas ist den Menschen vie- WARTEN AUF DAS lerorts nichts anderes übriggeblieben, als sich zu- 21. JAHRHUNDERT rück ins 19. Jahrhundert zu begeben. So gingen die erwähnten Stromausfälle im März an den Be- Das Land und die staatlichen Dienste befinden wohnern von Chacopata, einem Dorf im östli- sich mitten in einer humanitären Krise. Ende 2018 chen Bundesstaat Sucre, völlig vorbei. Sie konn- erreichte die Inflation 1 700 000 Prozent. 2019 wird ten sie gar nicht bemerken, weil sie selbst bereits die Zahl der Auswanderer auf vier Millionen stei- seit 50 Tagen keine Elektrizität mehr hatten. gen. Trotz alledem klammert sich Maduro an seine Das ist Venezuela im Jahr 2019. Millionen Men- Macht. In diesem Jahr hat die Unterdrückung der schen überleben irgendwie das Desaster, versuchen Proteste bereits 50 Menschen das Leben gekostet. sich an hunderten Formen des Widerstandes, müs- Inmitten dieses andauernden Belagerungszustan- sen aber auch geliebte Menschen beerdigen oder in des kam es im März 2019 zu zwei landesweiten die Emigration verabschieden. Im Ausland versu- Stromausfällen, die zeigten, dass fehlende Investi- chen Millionen, sich eine neue Existenz aufzubau- tionen, enorme Korruption und Vernachlässigung en und den Daheimgebliebenen zu helfen. Sie alle zum Kollaps der Infrastruktur geführt haben. Da sehnen den Augenblick herbei, in dem Venezuela die Krankenhäuser keine Notstromaggregate ha- endlich das 21. Jahrhundert erreicht. ben, sterben bei jedem Stromausfall Patienten, die gerade eine Dialyse oder künstliche Beatmung er- Übersetzung aus dem Spanischen: Jan Fredriksson, halten oder deren Operation plötzlich unterbro- Herzberg am Harz. chen werden muss.12 In Venezuela gehen unweigerlich die Lichter HÉCTOR TORRES aus. Dies ist kein metaphorisch gemeinter Satz, ist 1968 in Venezuela geboren und Mitherausgeber das können die Menschen in Mene Grande be- von „La vida de nos“, Erzähler, Literaturagent und Redakteur sowie Buchautor. 11 Vgl. Alfredo Morales, Todos lograron huir menos Samuel, lavidadenos@gmail.com 18. 6. 2019, www.lavidadenos.com/todos-lograron-huir-menos- samuel-. ALBOR RODRÍGUEZ. 12 Vgl. Médicos por la Salud confirma 21 fallecidos por apa- ist 1970 in Venezuela geboren und Mitherausgebe- gón, 11. 3. 2019, https://elpitazo.net/salud/medicos-por-la-salud- confirma-21-fallecidos-por-apagon. rin von „La vida de nos“, Journalistin und Redakteu- 13 Vgl. Jhoandry Suárez, How Did We Get To This?, rin sowie Hochschullehrerin und Buchautorin. 16. 6. 2019, www.lavidadenos.com/how-did-we-get-to-this. lavidadenos@gmail.com 10
Venezuela APuZ MACHTKAMPF UM VENEZUELA. ZWEI PERSPEKTIVEN ultrarechten Präsidenten Lateinamerikas folgten Versagen der Diplomatie ihm auf dem Fuß: Kolumbiens Iván Duque etwa oder Brasiliens Jair Bolsonaro. Dass sich ein paar Toni Keppeler Tage später auch die meisten Länder der Europä- ischen Union – darunter Deutschland – und so insgesamt rund 50 Länder hinter Trump aufreih- Es gibt viele faktische Staatschefs auf der Welt, ten, war mindestens ein grober diplomatischer deren demokratische Legitimierung man anzwei- Fehler. feln kann. Man braucht gar nicht Kim Jong-un Ein Blick in die Verfassung Venezuelas hätte in Nordkorea erwähnen oder jeden beliebigen genügt, um Zweifel an der juristischen Grundla- Prinzen oder Scheich von der arabischen Halb- ge der Selbsternennung anzumelden. Guaidó be- insel. In Lateinamerika kann man an Juan Orlan- rief sich auf den Artikel 233 der Verfassung. Für do Hernández denken, der sich mit einem win- den Fall, dass ein gewählter Präsident sein Amt digen Urteil ihm höriger Richter als Präsident nicht antritt, sieht dieser Artikel vor, dass der von Honduras wiederwählen ließ. Oder an Jair Parlamentspräsident für bis zu 30 Tage dessen Bolsonaro in Brasilien, vor dessen Wahl der Fa- Amt übernehme, einzig mit dem Ziel, Neuwah- vorit Luiz Inácio Lula da Silva von einem Un- len zu veranstalten. Als Gründe für den Nichtan- tersuchungsrichter mit unsauberen Tricks ins Ge- tritt eines gewählten Präsidenten werden dessen fängnis geworfen wurde, um dafür dann mit dem Tod, sein Amtsverzicht, seine Absetzung durch Amt des Justizministers belohnt zu werden. Mit den obersten Gerichtshof oder eine dauerhafte all diesen faktischen Staatschefs redet man – nur schwere Erkrankung genannt. Nichts von all dem mit Nicolás Maduro nicht. war gegeben. Maduro war am 10. Januar 2019 für Sicher, Maduros Wiederwahl zum Präsiden- eine weitere Amtszeit vereidigt worden. ten von Venezuela am 20. Mai 2018 war zweifel- Natürlich sehen die Partei von Guaidó und haft. Ein Teil der Opposition boykottierte den andere kleine politisch rechte Parteien das ganz Urnengang, etliche vielleicht mit Chancen verse- anders. Sie erkennen die Wahl Maduros nicht an. hene Politiker saßen in Haft oder waren im Exil. Folglich gab es für sie seit dem 10. Januar keinen Es gab Druck auf die Wähler, vor allem auf solche Präsidenten mehr, der am 5. Januar zum Parla- im Staatsdienst. Und es gibt seit dem 23. Januar mentspräsidenten gewählte Guaidó konnte nach 2019 mit Juan Guaidó einen Mann, der von sich dieser Lesart einspringen. Dieser Fall jedoch ist behauptet, der rechtmäßige Präsident von Vene- in der Verfassung genauso wenig vorgesehen wie zuela zu sein. Das ist nicht neu in Lateinamerika: die Ernennung von Ministern und Botschaftern, Auch der heutige, demokratisch gewählte mexi- wie sie der Selbsternannte eifrig praktiziert. Laut kanische Präsident Andrés Manuel López Obra- Verfassung bleiben die alten Funktionsträger bis dor hat sich 2006 nach einer knappen Niederlage nach einer Neuwahl im Amt. Guaidó aber hat in einer unsauberen Wahl öffentlich zum „recht- bislang noch nicht einmal den Versuch unter- mäßigen Präsidenten“ seines Landes vereidigen nommen, so einen Urnengang zu organisieren. lassen. Mexikanische und internationale Kom- Die 30-Tage-Frist des Artikels 233 ist längst ab- mentatoren nannten ihn damals einen schlechten gelaufen, er aber geriert sich weiterhin als „recht- Verlierer. Guaidó aber, der sich bei einer Oppo- mäßiger Präsident“. sitionskundgebung selbst vereidigte, hatte kaum Dass ausgerechnet Juan Guaidó diese Rolle seinen Schwur beendet, da kam schon aus Wa- übernommen hat, erschien zunächst wie ein pu- shington per Twitter seine Anerkennung durch rer Zufall. Der heute 36-Jährige war zuvor ein US-Präsident Donald Trump. Die rechten und reichlich erfolgloser Jungpolitiker und auch in 11
APuZ 38–39/2019 Venezuela weitgehend unbekannt. Er ist in einer dem Sozialisten Chávez das Land verlassen ha- Familie der gehobenen Mittelschicht an der kari- ben. Die Partei hat beste Kontakte zum Weißen bischen Küste aufgewachsen und hat in Caracas Haus: Tintori wurde genauso von Trump emp- Ingenieurswissenschaften studiert. Danach be- fangen wie Fabiana Rosales, die Ehefrau von suchte er eine private Managerschule und absol- Guaidó. Auch sie ist seit ihren Tagen als Jour- vierte in einem Fernkurs an der Universität von nalismus-Studentin bei VP aktiv, vor allem als Washington einen Studiengang in öffentlicher Propagandistin. Zu den Förderern der Partei in Verwaltung und Politmanagement. Schon als Stu- der US-Administration gehören Außenminister dent hat er gegen den damaligen linken Präsiden- Mike Pompeo, Sicherheitsberater John Bolton ten Hugo Chávez demonstriert. 2009 gehörte er und Elliott Abrams, der Sondergesandte Trumps zu den Gründern der neoliberalen rechten Elite- für Venezuela, der in den 1980er Jahren an der Partei Voluntad Popular (VP). Bei der Wahl 2010 illegalen Finanzierung der antisandinistischen wollte er Parlamentsabgeordneter werden, schei- Contra in Nicaragua – dem sogenannten Iran- terte aber. Die VP bekam damals gerade einmal Contra-Skandal – beteiligt war. Die drei haben 0,37 Prozent der Stimmen. 2012 bewarb er sich dabei geholfen, Guaidó und die sich als First um den Gouverneursposten im Bundesstaat Var- Lady gebende Rosales aufzubauen. Das Paar ist gas, schied aber bereits in den Vorwahlen aus. von einem Beraterstab umgeben, der bis hin zur 2015 wurde er dann mit der Unterstützung des Kleidung alles bestimmt – inklusive öffentlicher Oppositionsbündnisses Mesa de la Unidad De- Auftritte mit der zweijährigen Tochter als Rühr- mocrática (MUD) ins Parlament gewählt und faktor. fristete dort ein Leben als Hinterbänkler – bis Es ist inzwischen bekannt, dass in den Tagen zum 5. Januar 2019. nach der Wahl des neuen Parlamentspräsiden- Dass er an jenem Tag zum Parlamentspräsi- ten stundenlange Telefonate zwischen Washing- denten gewählt wurde, verdankt er einer inter- ton und der Zentrale von VP geführt wurden. nen Abmachung der MUD-Koalition. Danach Der Startschuss zur Selbsternennung von Guai- soll dieser Posten im Jahresrhythmus unter den dó wurde denn auch in Washington gegeben: Am beteiligten Parteien rotieren. Voluntad Popular 22. Januar veröffentlichte US-Vizepräsident Mike war an der Reihe, und weil deren Chef Leopoldo Pence auf verschiedenen Internetplattformen ein López unter Hausarrest stand, wählte man eben Video, in dem er Maduro einen „Diktator ohne Guaidó. Legitimität“ nannte, das Parlament als „letztes Dieser gilt als politischer Ziehsohn von López Refugium der Demokratie in Venezuela“ pries und war lange so etwas wie dessen Privatsekretär. und der Opposition Unterstützung zusicher- López war nach gewaltsamen Demonstrationen te. Mit diesem Rückenwind rief Guaidó zu einer gegen Präsident Maduro 2015 wegen Anstache- Kundgebung am folgenden Tag auf, um dann vor lung zu Gewalt zu fast 14 Jahren Haft verurteilt der Menschenmenge die Hand zum Schwur zu worden, die er ab August 2017 im Hausarrest ab- heben. saß. Seine öffentliche Rolle übernahm seine Ehe- Dass er zuvor ein unbekannter Hinterbänkler frau Lilian Tintori – bis sich Guaidó am 23. Janu- war, half ihm in dieser Stunde. Die immer selben ar zum Präsidenten erklärte. Politiker der Opposition hatten in den vergan- VP zählt zusammen mit noch kleineren rech- genen Jahren immer wieder zu Massendemons ten Parteien zur Minderheit in der Opposition trationen bis zum Sturz von Maduro aufgeru- gegen Maduro. Lange Zeit gaben dort Gemäßig- fen. Die Mobilisierung hatte sich immer wieder tere den Ton an, vor allem die Partei Primero Jus- totgelaufen oder war in gewalttätigen Auseinan- ticia von Henry Capriles. Der hatte oppositionel- dersetzungen mit militanten Maduro-Anhängern le Gruppen immer wieder überredet, an Wahlen und Sicherheitskräften erstickt worden. Und im- teilzunehmen. Nachdem er als Präsidentschafts- mer wieder hatten sich die immer selben Politi- kandidat 2012 gegen Chávez deutlich und 2013 ker untereinander zerstritten, weil es unter ihnen gegen Maduro nur knapp unterlegen war, beka- mehr als nur einen gibt, der gerne Präsident von men die Radikalen die Oberhand. Venezuela wäre. Um noch einmal die Massen auf Die Stärke der VP liegt vor allem in den die Straßen zu bringen, war ein neues, ein frisches USA. Die Partei ist mit dort lebenden rech- und unverbrauchtes Gesicht nötig, und das war ten Exilvenezolanern vernetzt, die schon unter das von Juan Guaidó. 12
Venezuela APuZ Er wusste von Anfang an, dass seine Mobi- vention, wie sie Trump und Guaidó wiederholt lisierungskraft kaum ausreichen würde, um Ma- geäußert haben. Sie verlängern und vertiefen nur duro zu stürzen. „Es ist ausschlaggebend für ei- das Leid der Bevölkerung. nen Regierungswechsel, dass das Militär Maduro Der zweite Versuch der Opposition, die Ar- die Unterstützung entzieht“, schrieb er schon am mee auf ihre Seite zu ziehen, war noch thea 30. Januar 2019 in einem Gastbeitrag in der „New tralischer als der erste. Am frühen Morgen des York Times“. Am 23. Februar hat er vergeblich 30. April 2019 posierte Guaidó zusammen mit versucht, die Uniformierten auf seine Seite zu zie- dem aus dem Hausarrest befreiten López und hen. Es war jener Tag des absurden Theaters an zwei Dutzend Soldaten vor der Luftwaffenbasis der Westgrenze Venezuelas, nahe der kolumbi- La Carlota im Osten von Caracas, live übertragen anischen Stadt Cúcuta. Die US-Regierung hatte auf Internetplattformen. Er suggerierte damit, die Hilfsgüter dorthin fliegen lassen, Guaidó woll- Armee stehe hinter ihm, und rief die Bevölkerung te sie im Triumphzug über die Grenze bringen. auf die Straße. In Washington behaupteten Pom- Doch Maduro ließ die Grenzbrücke mit Con- peo und Bolton, Verteidigungsminister Vladimir tainern abriegeln und dahinter Soldaten aufmar- Padrino und mit ihm der Chef des obersten Ge- schieren. Das Internationale Rote Kreuz hatte richtshofs und der Kommandant der Präsidenten- schon vorher davor gewarnt, Hilfslieferungen in garde hätten die Seiten gewechselt, auf dem Flug- einem politischen Machtkampf zu instrumenta- hafen in der Küstenebene warte ein Flugzeug, das lisieren – und dann später mit Maduro ein Ab- Maduro nach Kuba bringen solle. Der Schwindel kommen über die Lieferung von Medikamenten flog schnell auf. Nach einer guten Stunde wand- abgeschlossen. Das Kalkül von Guaidó aber war ten sich die von Guaidó mitgebrachten Soldaten ein anderes. Er wollte mit dem moralischen Ar- – Mitglieder der Nationalgarde, die eigentlich das gument der „humanitären Hilfe“ die Armee auf Parlament bewachen sollten – exilsuchend an la- seine Seite ziehen. Ein paar Dutzend Fußsolda- teinamerikanische Botschaften. López floh in die ten haben sich damals auch nach Kolumbien ab- Botschaft von Spanien. gesetzt. Mehr aber ist nicht passiert. Dass schon vor diesem Spektakel monatelange Sicher – der venezolanischen Bevölkerung Geheimgespräche zwischen Teilen der Regierung geht es schlecht. Nicht so schlecht wie der von und der Opposition unter der Vermittlung Nor- Haiti oder Guatemala, wo allerdings niemand wegens stattgefunden haben, ist erst später be- von einer „humanitären Katastrophe“ spricht. kannt geworden. Außer diesem Land war kaum Aber sehr viel schlechter als in den guten Jah- mehr ein anderes übrig geblieben, das diese Rolle ren. Nach Angaben der Zentralbank ist das Brut- hätte übernehmen können; allenfalls Mexiko oder toinlandsprodukt zwischen 2013 und 2018 um Uruguay. Die meisten Länder der EU hatten sich 48 Prozent gesunken, bezahlbare Lebensmittel durch ihren Schulterschluss mit Trump längst ins sind knapp, das Gesundheitssystem ist so gut wie diplomatische Abseits gestellt. Sie rudern nun zusammengebrochen und immer wieder fällt im langsam zurück und unterstützen die Oslo-Ver- ganzen Land der Strom aus. Seit 2013 haben vier handlungen, genauso wie die in der Lima-Grup- Millionen Venezolaner das Land verlassen – mehr pe zusammengeschlossenen lateinamerikanischen als zehn Prozent der Bevölkerung. Die Men- Staaten plus Kanada, die ebenfalls vorschnell Gu- schenrechtslage ist katastrophal; die UN-Hoch- aidó anerkannt hatten. Mehr als eine Zuschauer- kommissarin für Menschenrechte Michelle Ba- rolle werden sie bei einer möglichen Lösung des chelet sprach Anfang Juli von mehreren Tausend Konflikts kaum haben. außergerichtlichen Hinrichtungen durch Sicher- Zwar fanden schon ein paar Gesprächsrunden heitskräfte und Maduro-treue paramilitärische statt, zunächst in Oslo, dann auf Barbados. Opti- Gruppen sowie von mehreren Hundert politi- mismus aber wäre verfrüht. Es gab schon in frü- schen Gefangenen. Es gebe Berichte über syste- heren Jahren Dialogversuche, die allesamt schnell matische Folter. Trotzdem oder gerade deshalb wieder abgebrochen wurden. Vielleicht zwingt stehen die Sicherheitskräfte – von bislang weni- nun die aussichtslose Lage – Guaidó ist mit sei- gen Ausnahmen abgesehen – zu Maduro. Da nut- ner Strategie gescheitert und Maduros Regierung zen alle Sanktionen der USA gegen die Ölindus wird von US-Sanktionen mehr und mehr er- trie, Politiker und Generäle genauso wenig wie würgt – beide Seiten zu mehr Geduld und Kom- unverhohlene Drohungen einer US-Militärinter- promissbereitschaft. Wie auch immer eine Lö- 13
APuZ 38–39/2019 sung aussehen könnte, klar ist, dass sie auf freie, faire und international überwachte Neuwahlen Keine einfachen Lösungen hinauslaufen muss. Aber selbst unterstellt, dass sich Regierung Ivo Hernández und Opposition einigen können – das allein ga- rantiert keinen Erfolg, weil entscheidende am Konflikt Beteiligte gar nicht mit am Verhand- Seit Januar 2019 hat Venezuela nicht nur zwei Re- lungstisch sitzen: weder die US-Administration, gierungen, sondern auch zwei Verwaltungen, die noch die venezolanische Armee. Beide können sich im Konflikt befinden und inmitten multipler die Gespräche zum Scheitern bringen. Die Ar- Krisen in fast entgegengesetzte Richtungen ope- mee wird nur eine Lösung akzeptieren, die ihr in- rieren. Auf der einen Seite steht die Verwaltung stitutionelle Garantien gibt und eine Hexenjagd von Nicolás Maduro, Nachfolger von Hugo Chá- ausschließt. Und ohne die schrittweise Aufhe- vez und ehemaliger Präsident von 2013 bis 2019, bung der US-Sanktionen schon im Vorfeld einer der am 20. Mai 2018 versucht hatte, sich durch möglichen Wahl wird es kein Entgegenkommen Wahlen erneut zu legitimieren. Diese wurden von der Regierung geben. Dass Trump nach verschie- einem großen Teil der internationalen Gemein- denen Berichten langsam das Interesse an Vene- schaft, insbesondere der EU und einer Reihe von zuela verliere und anscheinend unzufrieden mit lateinamerikanischen Regierungen, die in der Li- seinen Beratern sei, die ihm einen schnellen Re- ma-Gruppe und der Organisation Amerikani- gimewechsel in Caracas in Aussicht gestellt hat- scher Staaten (OAS) zusammengefasst sind, als ten, mag ein bisschen Hoffnung nähren. Verlass unglaubwürdig bezeichnet und abgelehnt. Ma- ist darauf nicht. duros nationale und internationale Anhänger wi- dersprechen dieser Bewertung und erklären trotz der Vorwürfe der Wahlmanipulation, dass Madu- ro gemäß der venezolanischen Verfassung wie- dergewählt worden wäre. Auf der anderen Seite steht die Opposi- tion, die sich auf Artikel 233 der venezolani- schen Verfassung beruft. Dieser sieht vor, bei „absolute[r] Abwesenheit des Präsidenten“ die- sen durch den Vorsitzenden der Nationalver- sammlung zu ersetzen, um die Exekutive zu besetzen und Neuwahlen zu organisieren. Die Opposition gewann bei den Parlamentswah- len Ende 2015 fast zwei Drittel der Sitze in der Nationalversammlung und stellt seitdem in die- ser Institution die Mehrheit. Aufgrund der eta- blierten Rotation zwischen den Parteien der Nationalversammlung übernahm Juan Guaidó von der Voluntad Popular (VP) ab dem 5. Janu- ar 2019 den Vorsitz in dieser Versammlung, die unter Anwendung von Gewalt durch Angehö- rige des Maduro-Regimes mehrmals daran ge- hindert wurde, sich im Parlamentsgebäude zu treffen. Daher kündigte Guaidó am 23. Januar, an dem alljährlich der Sturz des Diktators Mar- cos Perez Jiménez gefeiert wird, an, das Amt TONI KEPPELER des verantwortlichen Präsidenten zu überneh- ist Journalist und schreibt seit mehr als 30 Jahren men. Hierbei verkündete er drei Ziele für seine über Lateinamerika. Mit einer Kollegin betreibt er Interimspräsidentschaft: erstens die Beendigung das Journalismus-Büro Latinomedia. der „Usurpation“ durch das Maduro-Regime, tkeppeler@latinomedia.de zweitens die Bestätigung einer Übergangsrege- 14
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