AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Venezuela - Bundeszentrale für politische ...

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69. Jahrgang, 38–39/2019, 16. September 2019

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Venezuela
   Héctor Torres · Albor Rodríguez                     Stefan Rinke
 VENEZUELA UND DER MAKEL                       GESCHICHTE UND
 DER VERSPÄTETEN ANKUNFT                      GESCHICHTSBILDER
                                            VENEZUELAS: EINE SKIZZE
   Toni Keppeler · Ivo Hernández
 MACHTKAMPF UM VENEZUELA.                     Alejandro Márquez-Velázquez
     ZWEI PERSPEKTIVEN                     „FLUCH DER RESSOURCEN“?
                                          DIE BEDEUTUNG DES ERDÖLS
           Nikolaus Werz
                                            FÜR DIE VENEZOLANISCHE
      AUẞ ENPOLITIK UND
                                                  WIRTSCHAFT
       INTERNATIONALE
  BEZIEHUNGEN VENEZUELAS                      Minerva Vitti · Andrea Scholz
                                              DER KAMPF INDIGENER
        Claudia Vargas Ribas
                                             VÖLKER UM TERRITORIALE
   AUSWANDERUNGSLAND
                                              RECHTE IN VENEZUELA
       VENEZUELA

                     ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                          FÜR POLITISCHE BILDUNG
                 Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Venezuela - Bundeszentrale für politische ...
Venezuela
                                    APuZ 38–39/2019
HÉCTOR TORRES · ALBOR RODRÍGUEZ                     STEFAN RINKE
VENEZUELA UND DER MAKEL                             GESCHICHTE UND GESCHICHTSBILDER
DER VERSPÄTETEN ANKUNFT                             VENEZUELAS: EINE SKIZZE
Venezuela 2019: Millionen Menschen überleben        Venezuela entwickelte sich von einer Peripherie
irgendwie das Desaster, versuchen sich am Wi-       innerhalb des spanischen Kolonialreichs zum
derstand, müssen aber auch geliebte Menschen        unabhängigen „Wirtschaftswunderland“
beerdigen oder in die Emigration verabschieden.     Lateinamerikas. Zugleich blieb die Geschichte
Sie sehnen den Augenblick herbei, in dem            des Landes von Widersprüchen geprägt, die die
Venezuela das 21. Jahrhundert erreicht.             Grundlage für die heutige Situation bilden.
Seite 04–10                                         Seite 31–39

TONI KEPPELER · IVO HERNÁNDEZ                       ALEJANDRO MÁRQUEZ-VELÁZQUEZ
MACHTKAMPF UM VENEZUELA.                            „FLUCH DER RESSOURCEN“?
ZWEI PERSPEKTIVEN                                   DIE BEDEUTUNG DES ERDÖLS FÜR
Der Machtkampf in Venezuela zwischen der            DIE VENEZOLANISCHE WIRTSCHAFT
amtierenden Regierung und der Opposition            Venezuela ist eines der am stärksten vom Erdöl
ist sowohl eine innervenezolanische als auch        abhängigen Länder. Verlief die wirtschaftliche
diplomatische Herausforderung. Die Autoren          Entwicklung lange positiv, lieferte die Praxis,
blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf      Staatsfonds aufzulösen oder nicht zur Redu-
Hintergründe und mögliche Lösungen.                 zierung der Abhängigkeit zu nutzen, das Land
Seite 11–16                                         einem Fall der Ölpreise jedoch schutzlos aus.
                                                    Seite 41–47
NIKOLAUS WERZ
AU ẞ ENPOLITIK UND INTERNATIONALE                   MINERVA VITTI · ANDREA SCHOLZ
BEZIEHUNGEN VENEZUELAS                              DER KAMPF INDIGENER VÖLKER
Venezuela war lange Finanzier lateinamerikani-      UM TERRITORIALE RECHTE IN VENEZUELA
scher Einheitsbestrebungen. Mittlerweile befindet   Eine indirekte Folge der Krise in Venezuela
sich das Land mit einem amtierenden Präsidenten     ist der massive Ausbau des Bergbaus in weiten
und einem von über 50 Staaten anerkannten           Teilen des Südens des Landes. Davon sind ins-
Interimspräsidenten in einer so noch nicht          besondere die indigenen Gruppen betroffen, die
dagewesenen internationalen Konfliktsituation.      dort seit Jahrzehnten erfolglos um eine rechtliche
Seite 17–22                                         Anerkennung ihrer Territorien kämpfen.
                                                    Seite 49–53
CLAUDIA VARGAS RIBAS
AUSWANDERUNGSLAND VENEZUELA                         KARTE LATEINAMERIKA
In den 1980er Jahren wurde Venezuela von            Seite 23
einem Einwanderungs- zu einem Auswande-
rungsland. Emigrierten Venezolaner bis Anfang       KARTE GROẞ KOLUMBIEN
der 2010er Jahre vor allem aus wirtschaftlichen     Seite 40
Gründen, ist aktuell eine Fluchtbewegung
aufgrund der humanitären Lage zu beobachten.        KARTE VENEZUELA
Seite 24–30                                         Seite 48
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EDITORIAL
Am 10. Januar 2019 trat Nicolás Maduro, Nachfolger des sozialistischen Prä-
sidenten Hugo Chávez, trotz umstrittener Wahlergebnisse und internationaler
Proteste eine weitere Amtszeit als venezolanischer Präsident an. Knapp zwei
Wochen später kündigte Juan Guaidó in seiner Funktion als Präsident der von
der Opposition dominierten Nationalversammlung an, interimsweise das Amt
des Staatsoberhaupts zu übernehmen, bis Neuwahlen stattfinden können. Damit
erreichte der innervenezolanische Machtkampf einen vorläufigen Höhepunkt.
Mit einem amtierenden Präsidenten und einem weiteren, mittlerweile von über
50 Staaten anerkannten Interimspräsidenten befindet sich das Land in einer
international wohl einmaligen Konfliktsituation, deren Ausgang ungewiss ist.
   Neben die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes trat in den
vergangenen Jahren eine humanitäre Krise, die sich in einer massiven Auswan-
derung manifestiert. Dass die Entwicklung Venezuelas vorher durchaus auch
Erfolge zeitigte, zeigt ein Blick in die Geschichte des Landes: Einst Peripherie
des spanischen Kolonialreichs, entwickelte sich Venezuela nach seiner Unab-
hängigkeit im frühen 19. Jahrhundert insbesondere durch die Ausweitung der
Erdölförderung im 20. Jahrhundert zum „Wirtschaftswunderland“ der Region.
Unter Chávez, der sich in die Tradition des Nationalhelden Simón Bolívar
stellte, versuchte sich der Staat Anfang des 21. Jahrhunderts als Finanzier latein-
amerikanischer Einheitsbestrebungen.
   Zugleich ist die Entwicklung Venezuelas von Widersprüchen geprägt. Die
zunehmende Abhängigkeit vom Erdölexport, der Verfall des demokratischen
Systems und historische Konfliktlinien zwischen Stadt und Land sowie Eliten
und Unterschichten, die unter den chavistischen Regierungen vertieft wurden,
haben die venezolanische Gesellschaft wiederholt vor Herausforderungen
gestellt. Die Frage, wie mit diesen umgegangen werden kann, ist nicht neu.
Angesichts der massiven Beeinträchtigungen des politischen, wirtschaftlichen
und alltäglichen Lebens und einer möglichen Destabilisierung der Region stellt
sie sich aktuell mit besonderer Dringlichkeit.

                                                      Frederik Schetter

                                                                                 03
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                  VENEZUELA UND DER MAKEL
                  DER VERSPÄTETEN ANKUNFT
                                 Héctor Torres · Albor Rodríguez

Die 15-jährige Daniela Salomon lebte mit ihrer Mut-      verschmiert, dass man sie kaum auseinanderhalten
ter und ihrem kleinen Bruder in einer bescheidenen       konnte. „Als die Ärztin mir sagte, dass ich mit dem
Wohnung im Bezirk 23 de Enero in San Cristóbal,          Schlimmsten rechnen sollte, fing ich an, auf César
Hauptstadt des Bundesstaates Táchira, im Westen          einzuschlagen. Ich sagte ihm, er sei an allem schuld,
von Venezuela.01 Sie hatte gerade die vierte Klasse      er habe nicht gut genug auf sie aufgepasst“, erin-
des Colegio Simón Bolívar abgeschlossen. Samstags        nert sich Danielas verzweifelte Mutter Nohelia.
half sie der Mutter in ihrem Kosmetiksalon; sonn-            Weder im Falle ihrer Tochter noch bei einem an-
tags ging sie mit der Familie in die Kirche, ging spa-   deren politischen Mord während der Bürgerproteste
zieren oder traf sich gelegentlich mit César, einem      in Venezuela in jenen Tagen ist es zu einem Gerichts-
jungen Mann von 23 Jahren, der seit Januar 2017 ihr      verfahren gekommen, bei dem die Schuld festgestellt
Freund war. Am Nachmittag des 30. Juli machte sie        und jemand verurteilt worden wäre. Die Gruppen
sich auf den Weg zu César.                               bewaffneter Motorradfahrer in Zivilkleidung sind
    An diesem Sonntag hatte Nicolás Maduro die           inzwischen fester Bestandteil des chavistischen Un-
Bildung einer Verfassunggebenden Versammlung             terdrückungssystems und bekannt unter der Be-
veranlasst. Die Opposition lehnte dies gemein-           zeichnung colectivos. Sie handeln unter dem Schutz
sam mit vielen anderen lateinamerikanischen              der Nationalgarde und der Polizei, und haben schon
Staaten ab. Dennoch verfolgte Maduro gegen jede          Razzien in Gebäuden durchgeführt, von denen Wi-
Vernunft weiter seinen Plan, was zu Protesten im         derstand gegen die polizeiliche Repression ausgeht.02
ganzen Land führte, auf die er wiederum mit Re-
pression reagierte.                                                WEGE ZUM „CARACAZO“
    Auf der Straße spürte Daniela die angespann-
te Situation. Als sie ihre Mutter anrief und ihr da-     Der venezolanische Intellektuelle Mariano Picón
von erzählte, sagte diese ihr, sie solle heimkom-        Salas sagte einst, Venezuela sei erst nach dem Tod
men. Zusammen mit César machte sich Daniela              des 1908 an die Macht gelangten Diktators Juan
auf den Rückweg. Unterwegs stießen die beiden            Vicente Gómez im 20. Jahrhundert angekommen.
auf eine Barrikade. Dort protestierte eine kleine        Gómez regierte sein damals noch sehr provinzi-
Gruppe gegen die Wahl, bis plötzlich zwei Klein-         elles Land mit eiserner Faust, bis sein Tod 1935
busse und vermummte Personen auf Motorrädern             den Weg frei machte für die langsame Entstehung
mit verdeckten Kennzeichen auftauchten und auf           eines modernen Staates, der später auch zu einer
die Protestierenden schossen. Hand in Hand rann-         stabilen Demokratie werden sollte. Es war eine
ten Daniela und César davon, und als sie stürzte,        Entwicklung voller Schwierigkeiten, Verschwö-
dachte der junge Mann, seine Freundin sei gestol-        rungen und Unfälle, die ihren vorläufigen Höhe-
pert. Als er sich umdrehte, um ihr zu helfen, sah        punkt und Schluss nach 23 Jahren finden sollte,
er das Blut. Er erschrak, hob sie auf und suchte in      als es zum Sturz von Marcos Pérez Jiménez kam,
den Gassen eines nahen Wohngebiets Schutz vor            Venezuelas zweitem Diktator im 20. Jahrhundert.
den Kugeln. Er wollte sie in ein Krankenhaus brin-           Es ist unter anderem dem beim Pakt von Pun-
gen, aber es kamen weder Taxis noch Privatfahr-          to Fijo festgeschriebenen politischen Konsens der
zeuge vorbei, bis schließlich eine Frau ihm anbot,       damaligen Mehrheitsparteien zu verdanken, dass
sie in ihrem Auto mitzunehmen. Als César Dani-           Venezuela sich zu einer soliden Demokratie ent-
ela in das Krankenhaus trug, waren beide so blut-        wickeln und eine wirtschaftliche Entwicklung er-

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Venezuela APuZ

reichen konnte, die mit großen Erfolgen, aber                    zuelas ein altmodischer Militarismus und Cau-
auch mit der Vernachlässigung von Idealen ver-                   dillismus jeden Fortschritt. Mit der Begnadigung
bunden war. Die Verstaatlichung der Ölindustrie                  des Anführers des ersten Putschversuches, einem
und die steigenden Ölpreise Mitte der 1970er Jah-                damals weitgehend unbekannten Oberstleutnant
re bescherten dem Staat ein Vermögen, das schutz-                namens Hugo Chávez, setzte ab 1994 ein Pro-
los der Korruption jener Personen ausgeliefert war,              zess ein, der noch lange nicht abgeschlossen ist,
die schon damals anfingen, Einnahmen aus staatli-                das alte Venezuela jedoch schon längst zerstört
chen Ressourcen in die eigene Tasche umzuleiten.                 hat.
Bei bestimmten Teilen der Bevölkerung machte                         Die Präsidentschaftswahlen 1998 waren für
sich daher der Eindruck breit, dass sie von diesem               das Land von geradezu schicksalhafter Bedeu-
Reichtum ausgeschlossen waren, und als unsichtba-                tung. Es traten an: eine frühere Schönheitsköni-
re Vertreter der Nation nur alle Jahre wieder zum                gin, ein schillernder Provinzmillionär, ein voll-
Wählen aufgefordert wurden. So stauten sich bei                  kommen uncharismatischer Vorsitzender der
diesen Menschen Ressentiments auf, die eine radi-                Partei Acción Democrática, die sich am Tief-
kale Linke für sich zu nutzen wusste, die lange Zeit             punkt ihrer Entwicklung befand, sowie Hugo
ein Schattendasein geführt hatte, da ihr eine große              Chávez, der agitierend durchs Land zog und sich
Erzählung wie die kubanische Revolution fehlte.                  die Verbitterung vieler Menschen zunutze mach-
    Die Entfremdung der politischen Eliten von                   te, indem er gegen die „verfaulten Eliten“ wet-
den demokratischen Idealen, die das politische                   terte und versprach, das politische Establishment
System mit Leben erfüllt hatten, sowie das Han-                  hinwegzufegen. Mit dem Versprechen, alles zu
deln derjenigen, die der wachsenden Abneigung                    ändern, konnte niemand mehr seinen Sieg aufhal-
von Seiten der Besitzlosen weiter Nahrung gaben,                 ten, zumal gewisse wirtschaftliche und intellek-
führten am 27. Februar 1989 zu einer sozialen Ex-                tuelle Eliten ihn förderten und versprachen, sie
plosion, die unter der Bezeichnung „Caracazo“ in                 würden ihn schon kontrollieren können.
die Geschichtsbücher einging. Ausgangspunkt war                      Chávez trat wie eine Mischung aus evangeli-
eine Erhöhung der Benzinpreise, die zunächst in                  kalem Prediger, Caudillo und Fernsehmoderator
Guarenas, 50 Kilometer östlich von Caracas gele-                 auf, und zwang dem Land seine unberechenba-
gen, Proteste hervorrief. Es kam zu Vandalismus,                 ren und willkürlichen Launen auf. Er verbünde-
die Demonstrationen breiteten sich auf Caracas                   te sich mit den am stärksten benachteiligten Be-
und andere Städte aus, bis die Armee sie schließlich             völkerungsteilen und schwang sich zum Vertreter
niederschlug. Danach war die Demokratie dauer-                   ihrer Interessen auf. Dabei nährte er Rachegelüs-
haft beschädigt, und ihre führenden Persönlich-                  te, die als Forderungen nach sozialer Gerechtig-
keiten waren bereits so korrumpiert, dass sie nicht              keit maskiert daherkamen. Da für ihn die Loyali-
mehr verstanden, was im Land vor sich ging. Der                  tät von Personen wichtiger als ihre Qualifikation
Schaden wurde immer größer, bis es 1992 zu zwei                  war, öffnete er Tür und Tor für die Bildung von
Putschversuchen von Militärs kam, die zwar schei-                Machteliten, die eine Korruption von unvorstell-
terten, aber zeigten, dass die Bevölkerung keinen                baren Ausmaßen in den Verwaltungsapparat tra-
Grund sah, eine Demokratie zu unterstützen, von                  gen sollten. Hinzu kam die enge Beziehung zum
der sie sich nicht geschützt fühlte.                             Kuba Fidel Castros, womit das Ende der venezo-
    Obwohl sich das 21. Jahrhundert am Hori-                     lanischen Demokratie besiegelt war und das Land
zont abzeichnete, blockierte in jener Phase Vene-                in eine tiefe Krise stürzte.

                                                                                         „PA’FUERA“
01 Vgl. dazu und im Folgenden Jacqueline Goldberg, The
Two Wounds of Nohelia Machado, 3. 6. 2019, www.lavidade-
nos.com/the-two-wounds-of-nohelia-machado.
                                                                 Die Geoinformatikerin Ana María Wessolossky
02 Vgl. Crackdown on Dissent. Brutality, Torture, and            zögerte nicht, sich dem Streik in der Ölindust-
Political Persecution in Venezuela, 29. 11. 2017, www.hrw.org/   rie anzuschließen, der im Dezember 2002 seinen
report/2017/11/29/crackdown-dissent/brutality-torture-and-       Anfang nahm.03 Um gegen das Regime zu protes-
political-persecution-venezuela; United Nations Office of the
High Commissoner for Human Rights, Human Rights in the
Bolivarian Republic of Venezuela. Advance Unedited Version,      03 Vgl. dazu und im Folgenden Ana María Wessolossky,
5. 7. 2019, S. 5 ff., www.ohchr.org/EN/Countries/LACRegion/      Un círculo que se cerró 13 años después, 22. 11. 2017, www.
Pages/​VEReportsOHCHR.aspx.                                      lavidadenos.com/un-circulo-que-se-cerro-13-anos-despues.

                                                                                                                               05
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tieren, legte sie ihre Arbeit in der Forschungsab-    Strafgesetzen gar nicht existiert, zu fünf Jahren
teilung des staatlichen Erdölunternehmens Petró-      Haft verurteilt.04
leos de Venezuela nieder.                                 Diese besondere Form der Rechtsprechung
    Chávez regierte das Land, indem er mit sei-       wurde zum Vorbild für andere Institutionen des
ner Präsenz das öffentliche Leben dominierte. In      Chavismus. So tauchten im August 2015 Agenten
seinem sonntäglichen Radio- und Fernsehpro-           des venezolanischen Geheimdienstes in der Woh-
gramm verkündete er Dekrete, kritisierte Gegner       nung von Andrea González auf und verlangten,
und erzählte Anekdoten aus seinem Leben. Mit          sie solle zu dem Tötungsdelikt an Liana Hergueta
dem ihm eigenen Gerechtigkeitssinn enteignete er      aussagen, mit der sie befreundet war und die ein
Unternehmen und Grundbesitzer, rief zur Verlet-       gewisser José Pérez Venta ermordet haben soll.05
zung von Privateigentum auf und vereinigte alle       Andrea sah keinen Grund, misstrauisch zu wer-
Staatsgewalt auf seine Person. Außerdem entließ       den und begleitete die Beamten zum Sitz der poli-
er in aller Öffentlichkeit Arbeitskräfte. Dies galt   tischen Polizei, wo man sie anschließend 859 Tage
auch für beinahe 15 000 Personen, die in der Erd-     lang festsetzte. Wenige Tage nach ihrer „Festnah-
ölindustrie arbeiteten und so wie Ana María an        me“ beschuldigte sie der damalige Gouverneur
dem Streik teilgenommen hatten: Einzeln nann-         des Bundesstaates Aragua, Tareck El Aissami, in
te Chávez in seiner Fernsehshow die Namen der         einer Pressekonferenz, ein Verbrechen zu planen:
Entlassenen, stieß dazu einen Pfiff aus und rief      Sie wolle gemeinsam mit ihrem Freund Dany
dann: „pa’fuera“ – „raus mit dir“. Seine Anhän-       Abreu die Tochter des damaligen Parlamentsprä-
ger jubelten bei jedem Namen.                         sidenten, Daniela Cabello, ermorden. Als einzi-
    Am 9. Februar 2003 war Ana María an der           gen Beweis präsentierte er der Öffentlichkeit eine
Reihe: Sie hatte bereits vor fünf Tagen ihre Stel-    Aussage des mutmaßlichen Mörders von Liana
le verloren, aber nun beschuldigte Hugo Chávez        Hergueta.
sie des Terrorismus, und das nur, weil er sie auf         „Du musst kein Politiker sein, damit sie dich
einem Foto auf der Titelseite einer Zeitung gese-     einsperren. Wenn du in ihren Plan passt, egal wie
hen hatte. Auf dem Bild waren noch mehr Per-          absurd dieser Plan dir auch vorkommt, sper-
sonen, und es hätte jeden von ihnen treffen kön-      ren sie dich ein. Gewissenlos sind die, es ist ih-
nen, denn es stellte eine Menschenmenge dar, die      nen völlig egal, und es wird ihnen garantiert nicht
gegen die Regierung demonstriert hatte und in         leidtun. Sie lochen dich einfach ein, so geht es in
der Ana María mit einem Transparent zu sehen          Venezuela unglaublich vielen Leuten“, sagt Ale-
war.                                                  jandra, die Schwester von Andrea.
    Es war eine Praxis von Chávez, in seinem
Sonntagsprogramm Personen eines Vergehens zu                        BRÖCKELNDE FASSADEN
beschuldigen und gleich auch die entsprechen-
de Strafe vorzuschlagen. So erging es der Richte-     Durch den rapiden Rückgang der Erdöleinnah-
rin María Lourdes Afiuni, die im Dezember 2009        men litt auch die Beliebtheit eines Politikers, der
veranlasste, dass der festgenommene Unterneh-         Ressourcen verteilte, ohne Reichtum zu produ-
mer Eligio Cedeño vorläufig auf freien Fuß ge-        zieren. Doch Chávez‘ Krankheit holte ihn noch
setzt wurde, nachdem die UN-Arbeitsgruppe ge-         schneller ein. Er konnte sich noch um eine vierte
gen willkürliche Inhaftierungen seine Freilassung     Präsidentschaft bewerben, wobei er im Laufe der
empfohlen hatte. Wutentbrannt verlangte Chávez        Kampagne sowohl seine Gesundheit als auch die
im Radio und Fernsehen, die Richterin 30 Jahre        verbliebenen Mittel der Staatskasse opfern sollte.
lang ins Gefängnis zu sperren. Ohne Haftbefehl        Ehe er sich in einer dramatischen Fernsehanspra-
und ohne Gründe zu nennen, holten Polizisten          che von der politischen Bühne verabschiedete,
sie wenig später aus ihrer Wohnung und brach-         bat er seine Anhänger, für „den Genossen Nicolás
ten sie in ein Frauengefängnis außerhalb von Ca-
racas, wo sie entwürdigend behandelt und nach
eigenen Angaben sogar vergewaltigt wurde. Sie         04 Vgl. UN Expert Condemns New Sentence for Jailed Venezu-
                                                      elan Judge as „Another Instance of Reprisal“, 26. 3. 2019, https://
wurde im Juni 2013, drei Monate nach dem Tod
                                                      news.un.org/en/story/2019/03/1035451.
von Chávez, aus humanitären Gründen entlassen,        05 Vgl. dazu und im Folgenden Johanna Osorio Herrera, 859
doch der Prozess gegen sie lief weiter. 2019 wurde    Days Without Seeing the Sky, 28. 2. 2019, www.lavidadenos.com/​
sie für ein Vergehen, das in den venezolanischen      859-days-without-seeing-the-sky.

06
Venezuela APuZ

Maduro“ zu stimmen. Es war sein letzter öffent-       ge.06 Damit wurde deutlich, was schon immer sei-
licher Auftritt, ehe er nach Kuba reiste, um seine    ne Haltung gewesen, aufgrund der Unterstüt-
Krebserkrankung behandeln zu lassen. Er sollte        zung der Wählerschaft bis dahin aber nie offen
nicht mehr lebendig zurückkehren.                     zutage getreten war: Im chavistischen Projekt gab
     Kaum merklich trat Venezuela genau in diesem     es keine Option, die Macht auf friedlichem Wege
Moment in die düsterste Phase dieses schmerzli-       abzugeben – unter keinen Umständen.
chen Kapitels seiner Geschichte ein, wobei noch           Je mehr Zeit verging und je komplizierter die
nicht klar ist, ob am Ende der Bankrott des cha-      wirtschaftliche Lage im Land wurde, desto auto-
vistischen politischen Projekts oder jener des gan-   ritärer wurde Maduro, desto stärker und kom-
zen Landes stehen wird.                               promissloser reagierte er auf Widerspruch und
     In seiner letzten Kampagne im Dezember           Proteste. Zugleich heizten seine wirtschaftlichen
2012 erreichte Chávez 8 Millionen Stimmen, der        Maßnahmen die Inflation an, verschärften die Ver-
Oppositionskandidat Henrique Capriles Radon-          sorgungslage, verschlimmerten die Korruption
ski brachte es auf 6,5 Millionen. Es war spürbar,     und verschlechterten so die Lebensqualität weiter.
dass die Unterstützung für das chavistische Pro-          Die Regale der Supermärkte und Apotheken
jekt langsam zurückging, doch mit dem Amts-           leerten sich zusehends. Die durch die Zerstörung
antritt Maduros im März 2013 beschleunigte            der nationalen Produktion entstandenen Proble-
sich dieser Niedergang enorm. Nur einen Monat         me wurden noch schlimmer, weil die Regierung
später verloren die Chavisten bei den Präsident-      die verbliebenen, mehr oder weniger gut bestück-
schaftswahlen 500 000 Stimmen. Maduro wurde           ten Geschäfte beschuldigte, Waren zu horten, um
mit knapp zwei Prozentpunkten Vorsprung zum           das Land zu destabilisieren und bei jeder Schlan-
Präsidenten ernannt, was seine relativ schwache       ge vor einem Supermarkt oder einer Bäckerei den
politische Position offenbarte.                       Staatsstreich fürchtete. Die Reaktion des Regimes
     Nun bemerkten die Menschen in Venezuela,         war kafkaesk: Es verbot die Schlangen und die
 was sich hinter den teuren Shows mit ihrem im-       leeren Regale, woraufhin die Händler, um nicht
 mer gleichen Moderator verbarg. Ohne Budget          ins Visier der Behörden zu geraten, anfingen, die
 und ohne Popularität wurden hinter der Fassade       Produkte am vorderen Rand der Regalbretter
 zunehmend die Mauern der Gefängnisse sicht-          aufzureihen. Dahinter war Leere.
 bar, ebenso der Tod vieler Menschen, etwa bei            Doch bei manchen Regalen war es nicht mög-
 den Protesten im April 2013, die mit einer Bilanz    lich, das Vorhandensein von Ware zu simulieren
 von 7 Toten, 61 Verletzten und 135 Festnahmen        – zum Beispiel, wenn darauf Medikamente stehen
 endeten. Zugleich wuchs die Gewissheit in der        sollten, die teuer in Dollar bezahlt werden muss-
 chavistischen Wählerschaft, dass der neue Amts-      ten und über das öffentliche Gesundheitssystem
 inhaber nicht in der Lage sein würde, den Fort-      verteilt wurden. Ihr Fehlen brachte viele Patien-
 bestand der „bolivarianischen Revolution“ zu         ten, die nun nicht mehr versorgt waren, dazu, das
­sichern.                                             Land zu verlassen, um zu überleben.
     Der Wendepunkt war kaum eineinhalb Jahre             So war es auch im Falle der zwölfjährigen Zwil-
später erreicht. Bei den Parlamentswahlen vom         linge Sebastián und Jesús Navas, die an der erbli-
 6. Dezember 2015 sollte das Oppositionsbünd-         chen Gerinnungsstörung Hämophilie B litten.07
 nis Mesa de la Unidad Democrática 7,7 Millio-        Der Kühlschrank der Familie Navas war nicht mit
nen Stimmen erzielen, die chavistische Koaliti-       Lebensmitteln gefüllt, sondern mit Faktor IX, dem
on Gran Polo Patriótico Simón Bolívar hingegen        Medikament der Zwillinge. Alle drei Monate fuhr
 nur 5,6 Millionen Stimmen. Die Chavisten hat-        ihr Vater, Rafael, die 365 Kilometer von Barquisi-
ten innerhalb von weniger als drei Jahren beinahe     meto, dem Wohnort der Familie, nach Caracas, um
 2,5 Millionen Stimmen verloren.                      dort bei der venezolanischen Sozialversicherung
     Die Opposition erhielt bei diesen Wahlen 112
von 167 Sitzen der Nationalversammlung, eine          06 Nicolás Maduro, zit. in: Maduro: „No voy a permitir que
Mehrheit, mit der sie die Kontrolle über die ge-      la derecha consolide su golpe fascista electoral“, 16. 12. 2005,
                                                      www.teledoce.com/telemundo/internacionales/maduro-no-voy-
samte Gesetzgebung übernehmen konnte. Nico-
                                                      a-permitir-que-la-derecha-consolide-su-golpe-fascista-electoral.
lás Maduro war außer Rand und Band und droh-          07 Vgl. dazu und im Folgenden Julett Pineda, La vida que espe-
te, er werde „nicht zulassen, dass die Rechte ihren   ra al atravesar el inframundo, 11. 8. 2019, www.lavidadenos.​com/​
faschistischen Wahl-Staatsstreich zu Ende“ brin-      la-vida-que-espera-al-atravesar-el-inframundo.

                                                                                                                    07
APuZ 38–39/2019

das Medikament abzuholen. Dadurch konnte die            Prepara Familia gibt an, dass 2017 aufgrund von
Familie daheim 120 Dosen für die beiden Kinder          Infektionen 24 chronisch nierenkranke Patientin-
bereithalten, was 90 Tagen Behandlung entsprach.        nen und Patienten verstorben sind. Allein im Mai
Allerdings erhielt Rafael innerhalb kurzer Zeit im-     2019 starben vier krebskranke Kinder, die drin-
mer weniger Dosen, bis man ihm schließlich im           gend eine Knochenmarktransplantation benötig-
Dezember 2017 nur noch zwei Faktor-IX-Dosen             ten, die sie aber – auch aufgrund fehlender medizi-
gab, mit dem Kommentar: „Bewahren Sie das für           nischer Infrastrukturen – nie bekamen: Giovanny
den Notfall auf, es gibt keinen Nachschub mehr.“        Figuera (6 Jahre alt), Robert Redondo (7), Yeider-
     Und der Notfall trat ein. Sebastián erlitt,        beth Requena (8) und Erick Altuve (11).08
nachdem er beim Spielen mit seinen Freunden ge-
stürzt war, an seinem linken Bein eine Hämarth-                          WAHLESKALATIONEN
rose am Knie, die mangels Medikamenten nicht
rechtzeitig behandelt werden konnte. Das Gelenk         Seit dem Moment, als sie die Wahlen 2015 ver-
schwoll an wie ein Tennisball, und es sah aus, als      loren hatte, suchte das chavistische Regime nach
würde jeden Moment die Haut platzen.                    Möglichkeiten, die Nationalversammlung als Ge-
     Die venezolanische Hämophiliegesellschaft gibt     setzgebungsorgan zu entmachten. Daher rief die-
an, dass seit 2016, dem Jahr, in dem die Faktor-IX-     se im April 2017 zu einem Protestmarsch auf, was
Lieferungen zum Erliegen kamen, in Venezuela            in der Bevölkerung enormen Anklang fand und
mindestens 44 Menschen an ihrer Hämophilie ge-          zu einer vier Monate langen, enormen Welle von
storben sind. Allein im ersten Halbjahr 2008 star-      Protesten führte, in deren Verlauf Venezuela alle
ben acht Personen, die an der gleichen Erkrankung       nur erdenklichen Formen der Repression erleben
litten wie Jesús und Sebastián. Um nicht ebenfalls      konnte: Menschen wurden öffentlich verprügelt,
in diese Statistik einzugehen, entschied sich die Fa-   auf der Straße ermordet oder entführt; in Zivil ge-
milie Navas, zu emigrieren. Doch sie konnten nicht      kleidete Bewaffnete gingen auf Bürgerinnen und
alle gemeinsam gehen, sodass Rafael schließlich im      Bürger los, es gab illegale Razzien, Gebäude wur-
März 2018 allein mit seinen beiden Söhnen die           den zerstört, es wurde gefoltert und geplündert.
Staatsgrenze zwischen Venezuela und Kolumbien               Die Proteste 2013 hatten mit einer Bilanz von
auf der Simón-Bolívar-Brücke überquerte. Sebas-         sieben Toten geendet, die Proteste 2014 diese Zahl
tián konnte nicht mehr gehen und bewegte sich im        auf 43 erhöht. 2017 kam es zu rund 4000 Verhaftun-
Rollstuhl fort. Der Vater gab ihm ein Kissen, damit     gen und 120 Morden. Zehn dieser Opfer wurden, so
er sein Knie vor den Menschenmassen, die über die       wie auch Daniela Salomón, am 30. Juni 2017 getötet,
Brücke strömten, schützen konnte.                       dem Tag der Wahlen zur Verfassunggebenden Ver-
     Sie blieben in Zipaquirá, einem Ort im Nor-        sammlung. Zu den Unregelmäßigkeiten des Wahl-
den der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.              verfahrens gehörte, dass es kein allgemeines, sondern
Dort erhielten die Söhne die lebensrettende Be-         ein sektorenspezifisches Wahlrecht gab, und dass
handlung. Vier Monate später die legte Mutter,          keine Ratifikation durch die Wahlberechtigten vor-
Kanthaly Ordoñez zusammen mit ihrer vierjäh-            gesehen war. Sogar die Vertreter des Unternehmens
rigen Tochter die 1090 Kilometer zurück, die sie        Smarmatic, das bis zu diesem Jahr das elektronische
von ihren Lieben trennten.                              Wahlsystem zur Verfügung gestellt hatte, klagten
     Längst nicht alle Kinder haben so ein Happy        über Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang.
End erlebt. Das Krankenhaus José Manuel de Los              Die Verfassungsgebende Versammlung, die
Ríos, das die wichtigste kindermedizinische Ab-         letztlich unter der ausschließlichen Kontrolle der
teilung Venezuelas beherbergt, ist zum Schauplatz       Parteigänger von Maduro stand, berief die Präsi-
zahlloser tragischer Geschichten geworden. Vom          dentschaftswahlen von 2018 ein. Dabei waren die
1. Dezember 2018 bis zum 8. Januar 2019 starben         wichtigsten Oppositionsfiguren inhaftiert oder wur-
fünf Kinder zwischen fünf Monaten und 14 Jah-
ren, weil sie Breitbandantibiotika benötigten, die      08 Vgl. Jesús Barreto, Niño del J. M. de los Ríos falleció luego
im Krankenhaus fehlten. Im ersten Quartal 2019          de esperar nueve años por trasplante, 11. 7. 2019, https://elpita-
                                                        zo.​net/​salud/​nino-del-jm-de-los-rios-fallecio-tras-esperar-nueve-
starben außerdem Mariángel Romero, Frandy-
                                                        anos-por-trasplante; Armando Altuve, Murió cuarto niño que
son Torrealba, Harold Alcalá, Víctor Pacheco und        requería trasplante medular en el J. M. de los Ríos, 26. 5. 2019,
Nohemí Oliveros, allesamt Patienten der Abtei-          https://elpitazo.net/salud/murio-cuarto-nino-que-requeria-
lung für Nierenkrankheiten. Die Organisation            trasplante-medular-en-el-j-m-de-los-rios.

08
Venezuela APuZ

den festgesetzt, einigen wichtigen politischen Partei-       die Bürgerinnen und Bürger auf, in ganz Venezu-
en wurde die Teilnahme verweigert und eine externe           ela zu demonstrieren, um Maduro so unter Druck
Wahlbeobachtung und -beurteilung durch Vertreter             zu setzen, dass er seine Usurpation beendete. Die
internationaler Organisationen fand nicht statt.             Menschen folgten dem Aufruf und strömten in die
    Nachdem im Mai 2018 nur zwei wenig re-                   Straßen, die FAES übernahmen gemeinsam mit
präsentative Oppositionskandidaten angetreten                Bewaffneten in Zivilkleidung und vermummten
und mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigten                 Motorradfahrern in der nun einsetzenden neuen
den Urnen ferngeblieben waren, erklärte der Na-              Unterdrückungswelle die Hauptrolle.
tionale Wahlrat Nicolás Maduro zum Sieger. In                     Während Guaidó inmitten einer Massende-
vielen Ländern der Region wurden die Wahler-                 monstration und ohne Zwischenfälle in Caracas
gebnisse ungeduldig erwartet. Der entscheidende              seinen Amtseid als Interimspräsident ablegte, er-
Tag war der 10. Januar 2019, der Tag, an dem das             lebten die Menschen im Zentrum von San Cristó-
Ende der Amtszeit von Nicolás Maduro vorgese-                bal im Bundesstaat Táchira erneut grauenhafte
hen war. Als dieser die Petitionen von Dutzenden             Dinge: Der imposante Oppositionsmarsch, der den
Staaten, die ihn aufgefordert hatten, keine weite-           Bolívar-Platz erreicht hatte, löste sich unter den
re Amtszeit anzutreten, ignorierte und erneut die            Schüssen von Bewaffneten in Zivilkleidung und
Macht ergriff, führte dies dazu, dass diese Länder           Mitgliedern der FAES auf. Alle rannten und such-
ihn nicht (mehr) als Präsidenten anerkannten und             ten Deckung. In kürzester Zeit wurden Dutzende
er fortan als Usurpator bezeichnet wurde.                    Verletzte in das Zentralkrankenhaus der Stadt ge-
    In der Folge kam es zu Protesten in verschiede-          bracht – allesamt von Kugeln getroffen. Es gingen
nen venezolanischen Städten, insbesondere in den             Gerüchte um, zwei von ihnen seien gestorben.
Armenvierteln, wo die Menschen am meisten unter                   Lorena Evelyn Arraíz, Journalistin mit mehr
den Folgen seiner Wirtschaftspolitik zu leiden ha-           als einem Jahrzehnt Erfahrung als Hochschul-
ben. Nacht für Nacht kam es in jenen ersten Janu-            lehrerin an der Universidad de Los Andes, kam
artagen zu immer größeren Demonstrationen der                in einem Chat unter Journalisten an die Namen
Opposition. Maduro schickte daraufhin die Fu-                der Verstorbenen. Nachdem sie Nachrichten von
erzas de Acciones Especiales (FAES) in die Viertel,          besorgten Studierenden erhalten und den Na-
eine schnelle Einsatztruppe der Nationalpolizei,             men eines der beiden Verstorbenen korrigiert
deren Mitglieder in schwarzer Kleidung, maskiert             hatte, musste sie feststellen, dass der andere, Lu-
und mit Gewehren bewaffnet daherkommen und                   igi Guerrero, 24, ihr Student gewesen war. Als er
auf dem Ärmel ein Totenkopfsymbol tragen. Syste-             starb, befand er sich in der letzten Woche seines
matisch unterdrückte die FAES Proteste, indem sie            Studiums. Angesichts der für ihn unerträglichen
die Viertel übernahm, in denen die Demonstratio-             Situation im Land hatte er überlegt, mit seiner
nen geplant worden waren und mithilfe von Vertei-            Mutter und seiner Großmutter nach Kolumbien
lungslisten des staatlichen Lebensmittelprogramms            zu gehen. Er hatte den beiden sogar vorgeschla-
jene Anwohner, die an den Protesten teilgenommen             gen, zuerst dorthin zu gehen, doch die Mutter
hatten, in ihren Wohnungen suchten. Es gab mehre-            wollte lieber warten, bis er seinen Abschluss hat-
re Tote, einige Menschen verschwanden spurlos.09             te, um dann gemeinsam auszuwandern.10
    Unterdessen wählte die Nationalversammlung                    Samuel Enrique Méndez hingegen hatte gar
den Abgeordneten Juan Guaidó als ihren Präsi-                nicht daran gedacht, das Land zu verlassen, ob-
denten für die 2019 beginnende Legislaturperio-              wohl sein Vater, der in Peru lebte, ihn immer wie-
de. Angesichts des Machtvakuums, das durch das               der darum gebeten hatte. Doch eine Entscheidung
Fehlen eines Staatspräsidenten entstanden war,               wurde den beiden aus der Hand genommen. Samu-
erklärte dieser sich zum Interimspräsidenten, bis            el lebte in der Stadt La Victoria, 90 Kilometer von
wieder die Bedingungen hergestellt seien, um                 Caracas entfernt. Auch dort folgten die Menschen
neue Wahlen zu organisieren. Dabei unterstützte              am 30. April dem Aufruf von Guaidó, auf die Stra-
ihn die Mehrheit der europäischen und amerika-               ße zu gehen, um einen gerade stattfindenden Mili-
nischen Staaten. Am 23. Januar 2019 rief Guaidó              täraufstand zu unterstützen. Es entstand eine Men-
                                                             schenmenge, die Flaggen trug, pfiff und auf Töpfe
09 Vgl. Génesis Carrera Soto, The War That Wouldn’t Let
Me Get Home, 6. 5. 2019, www.lavidadenos.com/the-war-that-   10 Vgl. Lorena Evelyn Arráiz, No pueden seguir matándolos,
wouldnt-let-me-get-home.                                     4. 2. 2019, www.lavidadenos.com/no-pueden-seguir-matandolos.

                                                                                                                       09
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schlug, um den Aufstand zu unterstützen. Immer                       zeugen, einem Ort im Bundesstaat Zulia, der be-
mehr Tränengas lag in der Luft. Die Repression un-                   sonders unter der mangelnden Stromversorgung
ter dem Kommando zivil gekleideter Bewaffneter                       leidet. Im Juli 1914 hatte dort die venezolanische
verwandelte den Protestmarsch in einen Höllen-                       Erdölförderung ihren Anfang genommen.
trip. Die Zivilen schossen nicht nur, sondern ergrif-                    Luz Marina Pavón kann etliche Nachbarn nen-
fen und verprügelten jeden jungen Menschen, den                      nen, die in den letzten Monaten aus ihrer Straße
sie nur zu fassen bekamen – unter den Augen der                      weggezogen sind. Mene Grande ist ein Dorf, das
Polizei, die sich zurückzog und sie gewähren ließ.                   sich langsam entvölkert. Nach den zwei Stromaus-
    Einer von jenen, die diesen Gruppen nicht                        fällen, die weite Teile Venezuelas fünf Tage lang ins
entkamen, war Samuel. Sie prügelten gnadenlos                        Dunkel getaucht haben, ist die Versorgung vieler-
auf ihn ein und brachten ihn dann in das Wohn-                       orts nicht mehr so verlässlich wie vorher. In einigen
gebiet Ciudad Socialista La Mora. Zwei Stunden,                      Orten nimmt der Notstand extreme Ausmaße an.
nachdem sie ihn entführt hatten, übergaben sie ihn                   Luz Marina gibt an, sie habe bis zu 14 Tage Strom-
seinen Freunden, durchgeprügelt und blutüber-                        ausfall ertragen müssen, und das bei Temperaturen
strömt, ohne Hemd und ohne Schuhe. Aus nächs-                        von mehr als 30 Grad. Nur der jüngste ihrer fünf
ter Nähe hatten sie ihm in die Brust geschossen                      Söhne wohnt noch bei ihr. Die anderen vier leben
und so seine Wirbelsäule zerstört. Seine Freun-                      verstreut in der kolumbianischen Hauptstadt Bo-
de riefen einen Rettungswagen, doch sie warteten                     gotá und bitten ihre Mutter unablässig, diesen dem
vergebens auf ihn. Als sie Samuel selbst ins Kran-                   Untergang geweihten Ort zu verlassen, an dem
kenhaus gebracht hatten, war er schon tot.11                         einst die Zukunft Venezuelas beginnen sollte.13
                                                                         Außerhalb von Caracas ist den Menschen vie-
                   WARTEN AUF DAS                                    lerorts nichts anderes übriggeblieben, als sich zu-
                   21. JAHRHUNDERT                                   rück ins 19. Jahrhundert zu begeben. So gingen
                                                                     die erwähnten Stromausfälle im März an den Be-
Das Land und die staatlichen Dienste befinden                        wohnern von Chacopata, einem Dorf im östli-
sich mitten in einer humanitären Krise. Ende 2018                    chen Bundesstaat Sucre, völlig vorbei. Sie konn-
erreichte die Inflation 1 700 000 Prozent. 2019 wird                 ten sie gar nicht bemerken, weil sie selbst bereits
die Zahl der Auswanderer auf vier Millionen stei-                    seit 50 Tagen keine Elektrizität mehr hatten.
gen. Trotz alledem klammert sich Maduro an seine                         Das ist Venezuela im Jahr 2019. Millionen Men-
Macht. In diesem Jahr hat die Unterdrückung der                      schen überleben irgendwie das Desaster, versuchen
Proteste bereits 50 Menschen das Leben gekostet.                     sich an hunderten Formen des Widerstandes, müs-
Inmitten dieses andauernden Belagerungszustan-                       sen aber auch geliebte Menschen beerdigen oder in
des kam es im März 2019 zu zwei landesweiten                         die Emigration verabschieden. Im Ausland versu-
Stromausfällen, die zeigten, dass fehlende Investi-                  chen Millionen, sich eine neue Existenz aufzubau-
tionen, enorme Korruption und Vernachlässigung                       en und den Daheimgebliebenen zu helfen. Sie alle
zum Kollaps der Infrastruktur geführt haben. Da                      sehnen den Augenblick herbei, in dem Venezuela
die Krankenhäuser keine Notstromaggregate ha-                        endlich das 21. Jahrhundert erreicht.
ben, sterben bei jedem Stromausfall Patienten, die
gerade eine Dialyse oder künstliche Beatmung er-                     Übersetzung aus dem Spanischen: Jan Fredriksson,
halten oder deren Operation plötzlich unterbro-                      Herzberg am Harz.
chen werden muss.12
    In Venezuela gehen unweigerlich die Lichter                      HÉCTOR TORRES
aus. Dies ist kein metaphorisch gemeinter Satz,                      ist 1968 in Venezuela geboren und Mitherausgeber
das können die Menschen in Mene Grande be-                           von „La vida de nos“, Erzähler, Literaturagent und
                                                                     Redakteur sowie Buchautor.
11 Vgl. Alfredo Morales, Todos lograron huir menos Samuel,           lavidadenos@gmail.com
18. 6. 2019, www.lavidadenos.com/todos-lograron-huir-menos-
samuel-.                                                             ALBOR RODRÍGUEZ.
12 Vgl. Médicos por la Salud confirma 21 fallecidos por apa-
                                                                     ist 1970 in Venezuela geboren und Mitherausgebe-
gón, 11. 3. 2019, https://elpitazo.net/salud/medicos-por-la-salud-
confirma-21-fallecidos-por-apagon.
                                                                     rin von „La vida de nos“, Journalistin und Redakteu-
13 Vgl. Jhoandry Suárez, How Did We Get To This?,                    rin sowie Hochschullehrerin und Buchautorin.
16. 6. 2019, www.lavidadenos.com/how-did-we-get-to-this.             lavidadenos@gmail.com

10
Venezuela APuZ

            MACHTKAMPF UM VENEZUELA.
                ZWEI PERSPEKTIVEN
                                                     ultrarechten Präsidenten Lateinamerikas folgten
   Versagen der Diplomatie                           ihm auf dem Fuß: Kolumbiens Iván Duque etwa
                                                     oder Brasiliens Jair Bolsonaro. Dass sich ein paar
                Toni Keppeler                        Tage später auch die meisten Länder der Europä-
                                                     ischen Union – darunter Deutschland – und so
                                                     insgesamt rund 50 Länder hinter Trump aufreih-
Es gibt viele faktische Staatschefs auf der Welt,    ten, war mindestens ein grober diplomatischer
deren demokratische Legitimierung man anzwei-        Fehler.
feln kann. Man braucht gar nicht Kim Jong-un             Ein Blick in die Verfassung Venezuelas hätte
in Nordkorea erwähnen oder jeden beliebigen          genügt, um Zweifel an der juristischen Grundla-
Prinzen oder Scheich von der arabischen Halb-        ge der Selbsternennung anzumelden. Guaidó be-
insel. In Lateinamerika kann man an Juan Orlan-      rief sich auf den Artikel 233 der Verfassung. Für
do Hernández denken, der sich mit einem win-         den Fall, dass ein gewählter Präsident sein Amt
digen Urteil ihm höriger Richter als Präsident       nicht antritt, sieht dieser Artikel vor, dass der
von Honduras wiederwählen ließ. Oder an Jair         Parlamentspräsident für bis zu 30 Tage dessen
Bolsonaro in Brasilien, vor dessen Wahl der Fa-      Amt übernehme, einzig mit dem Ziel, Neuwah-
vorit Luiz Inácio Lula da Silva von einem Un-        len zu veranstalten. Als Gründe für den Nichtan-
tersuchungsrichter mit unsauberen Tricks ins Ge-     tritt eines gewählten Präsidenten werden dessen
fängnis geworfen wurde, um dafür dann mit dem        Tod, sein Amtsverzicht, seine Absetzung durch
Amt des Justizministers belohnt zu werden. Mit       den obersten Gerichtshof oder eine dauerhafte
all diesen faktischen Staatschefs redet man – nur    schwere Erkrankung genannt. Nichts von all dem
mit Nicolás Maduro nicht.                            war gegeben. Maduro war am 10. Januar 2019 für
    Sicher, Maduros Wiederwahl zum Präsiden-         eine weitere Amtszeit vereidigt worden.
ten von Venezuela am 20. Mai 2018 war zweifel-           Natürlich sehen die Partei von Guaidó und
haft. Ein Teil der Opposition boykottierte den       andere kleine politisch rechte Parteien das ganz
Urnengang, etliche vielleicht mit Chancen verse-     anders. Sie erkennen die Wahl Maduros nicht an.
hene Politiker saßen in Haft oder waren im Exil.     Folglich gab es für sie seit dem 10. Januar keinen
Es gab Druck auf die Wähler, vor allem auf solche    Präsidenten mehr, der am 5. Januar zum Parla-
im Staatsdienst. Und es gibt seit dem 23. Januar     mentspräsidenten gewählte Guaidó konnte nach
2019 mit Juan Guaidó einen Mann, der von sich        dieser Lesart einspringen. Dieser Fall jedoch ist
behauptet, der rechtmäßige Präsident von Vene-       in der Verfassung genauso wenig vorgesehen wie
zuela zu sein. Das ist nicht neu in Lateinamerika:   die Ernennung von Ministern und Botschaftern,
Auch der heutige, demokratisch gewählte mexi-        wie sie der Selbsternannte eifrig praktiziert. Laut
kanische Präsident Andrés Manuel López Obra-         Verfassung bleiben die alten Funktionsträger bis
dor hat sich 2006 nach einer knappen Niederlage      nach einer Neuwahl im Amt. Guaidó aber hat
in einer unsauberen Wahl öffentlich zum „recht-      bislang noch nicht einmal den Versuch unter-
mäßigen Präsidenten“ seines Landes vereidigen        nommen, so einen Urnengang zu organisieren.
lassen. Mexikanische und internationale Kom-         Die 30-Tage-Frist des Artikels 233 ist längst ab-
mentatoren nannten ihn damals einen schlechten       gelaufen, er aber geriert sich weiterhin als „recht-
Verlierer. Guaidó aber, der sich bei einer Oppo-     mäßiger Präsident“.
sitionskundgebung selbst vereidigte, hatte kaum          Dass ausgerechnet Juan Guaidó diese Rolle
seinen Schwur beendet, da kam schon aus Wa-          übernommen hat, erschien zunächst wie ein pu-
shington per Twitter seine Anerkennung durch         rer Zufall. Der heute 36-Jährige war zuvor ein
US-Präsident Donald Trump. Die rechten und           reichlich erfolgloser Jungpolitiker und auch in

                                                                                                       11
APuZ 38–39/2019

Venezuela weitgehend unbekannt. Er ist in einer      dem Sozialisten Chávez das Land verlassen ha-
Familie der gehobenen Mittelschicht an der kari-     ben. Die Partei hat beste Kontakte zum Weißen
bischen Küste aufgewachsen und hat in Caracas        Haus: Tintori wurde genauso von Trump emp-
Ingenieurs­wissenschaften studiert. Danach be-       fangen wie Fabiana Rosales, die Ehefrau von
suchte er eine private Managerschule und absol-      Guaidó. Auch sie ist seit ihren Tagen als Jour-
vierte in einem Fernkurs an der Universität von      nalismus-Studentin bei VP aktiv, vor allem als
Washington einen Studiengang in öffentlicher         Propagandistin. Zu den Förderern der Partei in
Verwaltung und Politmanagement. Schon als Stu-       der US-Administration gehören Außenminister
dent hat er gegen den damaligen linken Präsiden-     Mike Pompeo, Sicherheitsberater John Bolton
ten Hugo Chávez demonstriert. 2009 gehörte er        und Elliott Abrams, der Sondergesandte Trumps
zu den Gründern der neoliberalen rechten Elite-      für Venezuela, der in den 1980er Jahren an der
Partei Voluntad Popular (VP). Bei der Wahl 2010      illegalen Finanzierung der antisandinistischen
wollte er Parlamentsabgeordneter werden, schei-      Contra in Nicaragua – dem sogenannten Iran-
terte aber. Die VP bekam damals gerade einmal        Contra-Skandal – beteiligt war. Die drei haben
0,37 Prozent der Stimmen. 2012 bewarb er sich        dabei geholfen, Guaidó und die sich als First
um den Gouverneursposten im Bundesstaat Var-         Lady gebende Rosales aufzubauen. Das Paar ist
gas, schied aber bereits in den Vorwahlen aus.       von einem Beraterstab umgeben, der bis hin zur
2015 wurde er dann mit der Unterstützung des         Kleidung alles bestimmt – inklusive öffentlicher
Oppositionsbündnisses Mesa de la Unidad De-          Auftritte mit der zweijährigen Tochter als Rühr-
mocrática (MUD) ins Parlament gewählt und            faktor.
fristete dort ein Leben als Hinterbänkler – bis          Es ist inzwischen bekannt, dass in den Tagen
zum 5. Januar 2019.                                  nach der Wahl des neuen Parlamentspräsiden-
    Dass er an jenem Tag zum Parlamentspräsi-        ten stundenlange Telefonate zwischen Washing-
denten gewählt wurde, verdankt er einer inter-       ton und der Zentrale von VP geführt wurden.
nen Abmachung der MUD-Koalition. Danach              Der Startschuss zur Selbsternennung von Guai-
soll dieser Posten im Jahresrhythmus unter den       dó wurde denn auch in Washington gegeben: Am
beteiligten Parteien rotieren. Voluntad Popular      22. Januar veröffentlichte US-Vizepräsident Mike
war an der Reihe, und weil deren Chef Leopoldo       Pence auf verschiedenen Internetplattformen ein
López unter Hausarrest stand, wählte man eben        Video, in dem er Maduro einen „Diktator ohne
Guaidó.                                              Legitimität“ nannte, das Parlament als „letztes
    Dieser gilt als politischer Ziehsohn von López   Refugium der Demokratie in Venezuela“ pries
und war lange so etwas wie dessen Privatsekretär.    und der Opposition Unterstützung zusicher-
López war nach gewaltsamen Demonstrationen           te. Mit diesem Rückenwind rief Guaidó zu einer
gegen Präsident Maduro 2015 wegen Anstache-          Kundgebung am folgenden Tag auf, um dann vor
lung zu Gewalt zu fast 14 Jahren Haft verurteilt     der Menschenmenge die Hand zum Schwur zu
worden, die er ab August 2017 im Hausarrest ab-      heben.
saß. Seine öffentliche Rolle übernahm seine Ehe-         Dass er zuvor ein unbekannter Hinterbänkler
frau Lilian Tintori – bis sich Guaidó am 23. Janu-   war, half ihm in dieser Stunde. Die immer selben
ar zum Präsidenten erklärte.                         Politiker der Opposition hatten in den vergan-
    VP zählt zusammen mit noch kleineren rech-       genen Jahren immer wieder zu Massendemons­
ten Parteien zur Minderheit in der Opposition        trationen bis zum Sturz von Maduro aufgeru-
gegen Maduro. Lange Zeit gaben dort Gemäßig-         fen. Die Mobilisierung hatte sich immer wieder
tere den Ton an, vor allem die Partei Primero Jus-   totgelaufen oder war in gewalttätigen Auseinan-
ticia von Henry Capriles. Der hatte oppositionel-    dersetzungen mit militanten Maduro-Anhängern
le Gruppen immer wieder überredet, an Wahlen         und Sicherheitskräften erstickt worden. Und im-
teilzunehmen. Nachdem er als Präsidentschafts-       mer wieder hatten sich die immer selben Politi-
kandidat 2012 gegen Chávez deutlich und 2013         ker untereinander zerstritten, weil es unter ihnen
gegen Maduro nur knapp unterlegen war, beka-         mehr als nur einen gibt, der gerne Präsident von
men die Radikalen die Oberhand.                      Venezuela wäre. Um noch einmal die Massen auf
    Die Stärke der VP liegt vor allem in den         die Straßen zu bringen, war ein neues, ein frisches
USA. Die Partei ist mit dort lebenden rech-          und unverbrauchtes Gesicht nötig, und das war
ten Exilvenezolanern vernetzt, die schon unter       das von Juan Guaidó.

12
Venezuela APuZ

     Er wusste von Anfang an, dass seine Mobi-        vention, wie sie Trump und Guaidó wiederholt
lisierungskraft kaum ausreichen würde, um Ma-         geäußert haben. Sie verlängern und vertiefen nur
duro zu stürzen. „Es ist ausschlaggebend für ei-      das Leid der ­Bevölkerung.
nen Regierungswechsel, dass das Militär Maduro            Der zweite Versuch der Opposition, die Ar-
die Unterstützung entzieht“, schrieb er schon am      mee auf ihre Seite zu ziehen, war noch thea­
30. Januar 2019 in einem Gastbeitrag in der „New      tralischer als der erste. Am frühen Morgen des
York Times“. Am 23. Februar hat er vergeblich         30. April 2019 posierte Guaidó zusammen mit
versucht, die Uniformierten auf seine Seite zu zie-   dem aus dem Hausarrest befreiten López und
hen. Es war jener Tag des absurden Theaters an        zwei Dutzend Soldaten vor der Luftwaffenbasis
der Westgrenze Venezuelas, nahe der kolumbi-          La Carlota im Osten von Caracas, live übertragen
anischen Stadt Cúcuta. Die US-Regierung hatte         auf Internetplattformen. Er suggerierte damit, die
Hilfsgüter dorthin fliegen lassen, Guaidó woll-       Armee stehe hinter ihm, und rief die Bevölkerung
te sie im Triumphzug über die Grenze bringen.         auf die Straße. In Washington behaupteten Pom-
Doch Maduro ließ die Grenzbrücke mit Con-             peo und Bolton, Verteidigungsminister Vladimir
tainern abriegeln und dahinter Soldaten aufmar-       Padrino und mit ihm der Chef des obersten Ge-
schieren. Das Internationale Rote Kreuz hatte         richtshofs und der Kommandant der Präsidenten-
schon vorher davor gewarnt, Hilfslieferungen in       garde hätten die Seiten gewechselt, auf dem Flug-
einem politischen Machtkampf zu instrumenta-          hafen in der Küstenebene warte ein Flugzeug, das
lisieren – und dann später mit Maduro ein Ab-         Maduro nach Kuba bringen solle. Der Schwindel
kommen über die Lieferung von Medikamenten            flog schnell auf. Nach einer guten Stunde wand-
abgeschlossen. Das Kalkül von Guaidó aber war         ten sich die von Guaidó mitgebrachten Soldaten
ein anderes. Er wollte mit dem moralischen Ar-        – Mitglieder der Nationalgarde, die eigentlich das
gument der „humanitären Hilfe“ die Armee auf          Parlament bewachen sollten – exilsuchend an la-
seine Seite ziehen. Ein paar Dutzend Fußsolda-        teinamerikanische Botschaften. López floh in die
ten haben sich damals auch nach Kolumbien ab-         Botschaft von Spanien.
gesetzt. Mehr aber ist nicht passiert.                    Dass schon vor diesem Spektakel monatelange
     Sicher – der venezolanischen Bevölkerung         Geheimgespräche zwischen Teilen der Regierung
geht es schlecht. Nicht so schlecht wie der von       und der Opposition unter der Vermittlung Nor-
Haiti oder Guatemala, wo allerdings niemand           wegens stattgefunden haben, ist erst später be-
von einer „humanitären Katastrophe“ spricht.          kannt geworden. Außer diesem Land war kaum
Aber sehr viel schlechter als in den guten Jah-       mehr ein anderes übrig geblieben, das diese Rolle
ren. Nach Angaben der Zentralbank ist das Brut-       hätte übernehmen können; allenfalls Mexiko oder
toinlandsprodukt zwischen 2013 und 2018 um            Uruguay. Die meisten Länder der EU hatten sich
48 Prozent gesunken, bezahlbare Lebensmittel          durch ihren Schulterschluss mit Trump längst ins
sind knapp, das Gesundheitssystem ist so gut wie      diplomatische Abseits gestellt. Sie rudern nun
zusammengebrochen und immer wieder fällt im           langsam zurück und unterstützen die Oslo-Ver-
ganzen Land der Strom aus. Seit 2013 haben vier       handlungen, genauso wie die in der Lima-Grup-
Millionen Venezolaner das Land verlassen – mehr       pe zusammengeschlossenen lateinamerikanischen
als zehn Prozent der Bevölkerung. Die Men-            Staaten plus Kanada, die ebenfalls vorschnell Gu-
schenrechtslage ist katastrophal; die UN-Hoch-        aidó anerkannt hatten. Mehr als eine Zuschauer-
kommissarin für Menschenrechte Michelle Ba-           rolle werden sie bei einer möglichen Lösung des
chelet sprach Anfang Juli von mehreren Tausend        Konflikts kaum haben.
außergerichtlichen Hinrichtungen durch Sicher-            Zwar fanden schon ein paar Gesprächsrunden
heitskräfte und Maduro-treue paramilitärische         statt, zunächst in Oslo, dann auf Barbados. Opti-
Gruppen sowie von mehreren Hundert politi-            mismus aber wäre verfrüht. Es gab schon in frü-
schen Gefangenen. Es gebe Berichte über syste-        heren Jahren Dialogversuche, die allesamt schnell
matische Folter. Trotzdem oder gerade deshalb         wieder abgebrochen wurden. Vielleicht zwingt
stehen die Sicherheitskräfte – von bislang weni-      nun die aussichtslose Lage – Guaidó ist mit sei-
gen Ausnahmen abgesehen – zu Maduro. Da nut-          ner Strategie gescheitert und Maduros Regierung
zen alle Sanktionen der USA gegen die Ölindus­        wird von US-Sanktionen mehr und mehr er-
trie, Politiker und Generäle genauso wenig wie        würgt – beide Seiten zu mehr Geduld und Kom-
unverhohlene Drohungen einer US-Militärinter-         promissbereitschaft. Wie auch immer eine Lö-

                                                                                                      13
APuZ 38–39/2019

sung aussehen könnte, klar ist, dass sie auf freie,
faire und international überwachte Neuwahlen             Keine einfachen Lösungen
hinauslaufen muss.
    Aber selbst unterstellt, dass sich Regierung                    Ivo Hernández
und Opposition einigen können – das allein ga-
rantiert keinen Erfolg, weil entscheidende am
Konflikt Beteiligte gar nicht mit am Verhand-         Seit Januar 2019 hat Venezuela nicht nur zwei Re-
lungstisch sitzen: weder die US-Administration,       gierungen, sondern auch zwei Verwaltungen, die
noch die venezolanische Armee. Beide können           sich im Konflikt befinden und inmitten multipler
die Gespräche zum Scheitern bringen. Die Ar-          Krisen in fast entgegengesetzte Richtungen ope-
mee wird nur eine Lösung akzeptieren, die ihr in-     rieren. Auf der einen Seite steht die Verwaltung
stitutionelle Garantien gibt und eine Hexenjagd       von Nicolás Maduro, Nachfolger von Hugo Chá-
ausschließt. Und ohne die schrittweise Aufhe-         vez und ehemaliger Präsident von 2013 bis 2019,
bung der US-Sanktionen schon im Vorfeld einer         der am 20. Mai 2018 versucht hatte, sich durch
möglichen Wahl wird es kein Entgegenkommen            Wahlen erneut zu legitimieren. Diese wurden von
der Regierung geben. Dass Trump nach verschie-        einem großen Teil der internationalen Gemein-
denen Berichten langsam das Interesse an Vene-        schaft, insbesondere der EU und einer Reihe von
zuela verliere und anscheinend unzufrieden mit        lateinamerikanischen Regierungen, die in der Li-
seinen Beratern sei, die ihm einen schnellen Re-      ma-Gruppe und der Organisation Amerikani-
gimewechsel in Caracas in Aussicht gestellt hat-      scher Staaten (OAS) zusammengefasst sind, als
ten, mag ein bisschen Hoffnung nähren. Verlass        unglaubwürdig bezeichnet und abgelehnt. Ma-
ist darauf nicht.                                     duros nationale und internationale Anhänger wi-
                                                      dersprechen dieser Bewertung und erklären trotz
                                                      der Vorwürfe der Wahlmanipulation, dass Madu-
                                                      ro gemäß der venezolanischen Verfassung wie-
                                                      dergewählt worden wäre.
                                                          Auf der anderen Seite steht die Opposi-
                                                      tion, die sich auf Artikel 233 der venezolani-
                                                      schen Verfassung beruft. Dieser sieht vor, bei
                                                      „absolute[r] Abwesenheit des Präsidenten“ die-
                                                      sen durch den Vorsitzenden der Nationalver-
                                                      sammlung zu ersetzen, um die Exekutive zu
                                                      besetzen und Neuwahlen zu organisieren. Die
                                                      Opposition gewann bei den Parlamentswah-
                                                      len Ende 2015 fast zwei Drittel der Sitze in der
                                                      Nationalversammlung und stellt seitdem in die-
                                                      ser Institution die Mehrheit. Aufgrund der eta-
                                                      blierten Rotation zwischen den Parteien der
                                                      Nationalversammlung übernahm Juan Guaidó
                                                      von der Voluntad Popular (VP) ab dem 5. Janu-
                                                      ar 2019 den Vorsitz in dieser Versammlung, die
                                                      unter Anwendung von Gewalt durch Angehö-
                                                      rige des Maduro-Regimes mehrmals daran ge-
                                                      hindert wurde, sich im Parlamentsgebäude zu
                                                      treffen. Daher kündigte Guaidó am 23. Januar,
                                                      an dem alljährlich der Sturz des Diktators Mar-
                                                      cos Perez Jiménez gefeiert wird, an, das Amt
TONI KEPPELER                                         des verantwortlichen Präsidenten zu überneh-
ist Journalist und schreibt seit mehr als 30 Jahren   men. Hierbei verkündete er drei Ziele für seine
über Lateinamerika. Mit einer Kollegin betreibt er    Interimspräsidentschaft: erstens die Beendigung
das Journalismus-Büro Latinomedia.                    der „Usurpation“ durch das Maduro-Regime,
tkeppeler@latinomedia.de                              zweitens die Bestätigung einer Übergangsrege-

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